Rai­nald Goetz: wrong

Mit den drei Stücken Reich des To­des, Ba­racke und La­pi­da­ri­um, die im so­eben er­schie­ne­nen Band La­pi­da­ri­um ver­sam­melt sind und der par­al­lel da­zu pu­bli­zier­ten Text­samm­lung wrong be­en­det der Schrift­stel­ler Rai­nald Goetz sei­ne sechs­tei­li­ge Schlucht-Rei­he, je­nen 2007 be­gon­ne­nen »Ver­such der Er­kun­dung der Dun­kel­zeit der Nuller­jah­re«, be­stehend aus »Kla­ge, Ta­ge­buch­es­say; los­la­bern, Be­richt; Jo­hann Hol­trop, Ab­riß der Ge­sell­schaft, Ro­man; ...

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Mi­chel Hou­el­le­becq: Ei­ni­ge Mo­na­te in mei­nem Le­ben

Michel Houellebecq: Einige Monate in meinem Leben
Mi­chel Hou­el­le­becq: Ei­ni­ge Mo­na­te in mei­nem Le­ben

Die Däm­me sind ge­bro­chen, die Über­zeu­gungs­ar­beit von Ge­ne­ra­tio­nen von Li­te­ra­ten, Kri­ti­kern, Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­lern und Le­sern ist Ma­ku­la­tur. Die Ver­si­che­rung, ja: Er­kennt­nis, dass das na­men­lo­se Er­zähl-Ich ei­nes Ro­mans oder ei­ner Er­zäh­lung nicht iden­tisch ist mit dem Au­tor, der Au­torin wird zu­se­hends pul­ve­ri­siert. En­de der 1970er Jah­re vom fran­zö­si­schen Schrift­stel­ler und Li­te­ra­tur­pro­fes­sor Ser­ge Dou­brov­sky ent­deckt und ge­prägt, be­gann es mit dem Gen­re der Au­to­fik­ti­on. Mit ihm wur­de das im au­to­bio­gra­phi­schen Schrei­ben vor­han­de­ne Span­nungs­ver­hält­nis zwi­schen Au­tor und Er­zähl-Ich ver­scho­ben zu Gun­sten der Les­art, dass das »Ich« (na­he­zu) iden­tisch mit dem Au­tor ist. Der li­te­ra­ri­sche Akt lag in der Aus­ge­stal­tung des Er­eig­ne­ten. Bei­spiel­haft für au­to­fik­tio­na­les Schrei­bens ist die 2022 mit dem Li­te­ra­tur­no­bel­preis aus­ge­zeich­ne­te An­nie Er­naux. Ih­rem letz­ten Buch Ein jun­ger Mann stell­te sie ihr Schreib­ge­setz vor­an: »Wenn ich die Din­ge nicht auf­schrei­be, sind sie nicht zu ih­rem En­de ge­kom­men, son­dern wur­den nur er­lebt.«

An­fangs be­grüß­te das Feuil­le­ton die­sen bio­gra­phi­sti­schen An­satz, weil es ihm die lä­sti­ge Su­che nach der Li­te­r­a­ri­zi­tät von Pro­sa­tex­ten er­spar­te. Man brauch­te nur die Le­bens­da­ten des Ver­fas­sers mit dem Ge­schrie­be­nen zu ver­glei­chen. Nach dem (nie wirk­lich re­le­van­ten) »Tod des Au­tors« be­gann die Do­mi­nanz der Ver­schmel­zung zwi­schen Ver­fas­ser und Er­zäh­ler, die Herr­schaft der Au­then­ti­zi­tät und des Plots. Die ak­tu­el­le De­bat­te um Iden­ti­tä­ten ver­stärkt den Trend der Au­to­fik­ti­on, ob­wohl in­zwi­schen längst die mei­sten Kri­ti­ker da­von er­schöpft sind.

Mi­chel Hou­el­le­becq war bis­her kein Au­tor au­to­fik­tio­na­len Schrei­bens. Zwar gab es ver­ein­zelt Par­al­le­len zwi­schen ihm und sei­nen Fi­gu­ren (Li­te­ra­tur­vor­lie­ben oder ge­sell­schafts­po­li­ti­sche Sicht­wei­sen), aber nie­mand wä­re ernst­haft auf die Idee ge­kom­men, bei­spiels­wei­se den Li­te­ra­tur­pro­fes­sor Fran­çois aus Un­ter­wer­fung als Al­ter ego Hou­el­le­becqs zu se­hen. Mit sei­nem neue­sten Buch mit dem harm­los an­mu­ten­den Ti­tel Ei­ni­ge Mo­na­te in mei­nem Le­ben (Über­set­zung von Ste­phan Klei­ner) sieht das al­les ganz an­ders aus. Hou­el­le­becq zer­stört mit die­sem Buch jeg­li­che Di­stanz zwi­schen sich und dem Er­zähl-Ich, zwi­schen den tat­säch­li­chen Er­eig­nis­sen und den Schil­de­run­gen im Buch. Er schreibt ei­ne ul­ti­ma­ti­ve Nicht­fik­ti­on. Dass das Buch kei­ne Gen­re­bezeich­nung trägt, ist nur kon­se­quent. Der Un­ter­ti­tel lau­tet Ok­to­ber 2022 – März 2023. Aber ein Ta­ge­buch oder Jour­nal ist es auch nicht. Ge­gen En­de spricht er sel­ber von ei­nem »Be­richt«; auf­ge­schrie­ben zwi­schen dem 31. März und dem 16. April 2023.

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Mi­chel Hou­el­le­becq: Ver­nich­ten

Vor drei Jah­ren er­schien Mi­chel Hou­el­le­becqs Ro­man »Se­ro­to­nin«. Er han­del­te, kurz zu­sam­men­ge­fasst, von Flo­rent, ei­nem sich als Ver­sa­ger emp­fin­den­den Mann von 46 Jah­ren, der in sei­ner Mi­d­­li­fe-Cri­­sis Sta­tio­nen sei­nes bis­he­ri­gen Le­bens auf­such­te (haupt­säch­lich Men­schen), um sich am En­de in sei­ne selbst­hass­erfüll­ten Dys­to­pien ein­zu­rich­ten. Der Ro­man – si­cher­lich ei­ner der schwä­che­ren von Hou­el­le­becq – lebt von ...

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Si­sy­phos auf dem Pla­teau ‑6/8-

Ein­blicke in die Aben­teu­er ei­nes be­frei­ten Le­sers

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Pe­ter Hand­ke ge­hört zu den Au­toren, von de­nen ich je­de Neu­erschei­nung frü­her oder spä­ter le­se; manch­mal spä­ter, wenn die Er­schei­nung nicht mehr ganz neu ist, als Nicht-Kri­ti­ker kann ich mir das er­lau­ben. Den Ak­tua­li­täts­streß, die Hy­ste­rie des Pu­bli­zie­rens, den mar­tia­li­schen Kon­kur­renz­kampf um Auf­merk­sam­keit, all das ha­be ich in mei­nem Sayon­a­ra-Es­say be­schrie­ben. Ich le­se im­mer wie­der mal die »User­kom­men­ta­re« in den Fo­ren von Ta­ges­zei­tun­gen und stel­le dann fest, wie sehr ein Teil des Pu­bli­kums die­se Hy­ste­rie ver­in­ner­licht hat: Jour­na­li­sten sind beim klei­nen Mann un­ten durch, wenn sie ein, zwei Stun­den spä­ter als an­de­re Jour­na­li­sten in an­de­ren Me­di­en an ei­nem »Er­eig­nis« dran sind. Als gin­ge es ih­nen nicht um den In­halt ei­ner Nach­richt, son­dern dar­um, er­ster zu sein, der das Ding – meist feh­ler­haft in der On­line-Aus­ga­be – in die Ta­sta­tur klap­pert. Und dar­um geht es dem User auch, die Nach­richt selbst er kaum, nur den Reiz der Groß­buch­sta­ben nimmt er auf. Das In­ter­net, die di­gi­ta­le Ver­füg­bar­keit, po­ten­ziert sol­ches Ver­hal­ten, da je­der je­der­zeit ALLES »ver­glei­chen« kann.

Ge­nau das sind die neur­al­gi­schen Punk­te, an de­nen un­ser­eins Ab­stand und Lang­sam­keit ein­for­dern müß­te (Stif­ter- oder Hand­ke-Lek­tü­re kann Be­reit­wil­li­ge ein we­nig da­für schu­len). Ich konn­te mich nach der spät ge­wor­de­nen Lek­tü­re der Obst­die­bin nicht dar­an hin­dern, doch wie­der mal ei­ne Art Kri­tik zu schrei­ben, als Nicht­kri­ti­ker so­zu­sa­gen. Ge­nau ge­nom­men ist es je­doch ein iro­nisch-dia­lek­ti­scher Es­say ge­wor­den, den man in der Li­te­ra­tur­zeit­schrift ma­nu­skrip­te (Heft 224) nach­le­sen kann – ei­ne In­halts­an­ga­be will ich hier nicht lie­fern. Als Ti­tel hat­te ich mir »Im Wech­sel­bad der Ge­füh­le« ein­fal­len las­sen, und ha­be da­mit zwei Be­deu­tungs­ebe­nen ein­ge­zo­gen: die er­ste be­trifft den Text und sei­ne Mach­art, die zwei­te mei­ne Ge­füh­le bei der Lek­tü­re. Zwei Flie­gen auf ei­nen Schlag so­zu­sa­gen.

Der Sittich der spanischen Übersetzerin dieeses Buchs hat hier seine Spuren hinterlassen © Leopold Federmair
Der Sit­tich der spa­ni­schen Über­set­ze­rin die­ses Bu­ches hat hier sei­ne Spu­ren hin­ter­las­sen © Leo­pold Fe­der­mair

Es kommt beim Le­sen nicht sel­ten vor, daß die Ge­füh­le un­si­cher und wech­sel­haft sind; gu­te, ris­kan­te, her­aus­for­dern­de oder neu­ar­ti­ge Li­te­ra­tur ruft sie eher her­vor als ge­fäl­li­ge, die be­strebt ist, den Le­ser zu »packen«. Das Buch, das ich jetzt, wäh­rend ich die­sen Text ab­schrei­be, le­se, Der Riß der Zeit geht durch mein Herz von Her­tha Pau­li, ein Er­in­ne­rungs­buch an den An­schluß Öster­reichs an Deutsch­land, an Ödön von Hor­vath und Jo­seph Roth, an Flucht und Exil in Pa­ris, ist ge­fäl­lig, span­nend, jung­mäd­chen­haft, gut­ge­launt trotz al­ler Schick­sals­schlä­ge. Ich le­se es gern, wiß­be­gie­rig, mit Zu­nei­gung zu den mei­sten Fi­gu­ren, aber ins Schwan­ken bringt es mei­ne Ge­füh­le und Ur­tei­le nicht.1) Li­te­ra­tur­kri­ti­ker ver­schwei­gen sol­che Ge­füh­le in der Re­gel, sie müs­sen zu ei­ner Be­wer­tung kom­men, drei Ster­ne von fünf, oder doch drei­ein­halb… Bei an­de­ren Au­toren ist der Wech­sel der Le­se­ge­füh­le über die lan­ge Rei­he ih­rer Bü­cher ver­teilt, ei­ni­ge da­von ge­fal­len mir, an­de­re nicht. Bei Ha­ru­ki Mu­ra­ka­mi ist die­se Un­si­cher­heit selbst ein Grund, im­mer wie­der et­was von ihm zu le­sen. Kaf­ka am Strand fand ich sehr gut, ein post­mo­der­ner, viel­schich­ti­ger und trotz­dem leicht­le­bi­ger Mix, pu­ber­tä­re Li­te­ra­tur à la Her­mann Hes­se, mag sein (Mu­ra­ka­mis Held ist der Pu­ber­tät ge­ra­de eben ent­wach­sen); Karl-Mar­kus Gauß, ei­ner der tap­fer­sten und aus­dau­ernd­sten Li­te­ra­tur­kri­ti­ker, hat sich in die­sem Sinn ge­äu­ßert, aber ich ha­be mich bei der Lek­tü­re gut un­ter­hal­ten und Zu­nei­gung zu ein­zel­nen Fi­gu­ren ge­faßt.2 Gut mög­lich, daß Mu­ra­ka­mi sei­ne Fi­gu­ren, auch die Bö­se­wich­te, zu sehr liebt, daß er sie ver­hät­schelt und manch­mal ver­dirbt: ty­pi­scher Fall von amay­a­ka­su, von ka­wai­ga­ru – bei­de Wör­ter ver­wei­sen auf ja­pa­ni­sche Stär­ken, die sich un­merk­lich in Übel ver­wan­delt ha­ben: ka­waii und amae, die klei­nen hüb­schen Din­ge und das Lieb-und-an­ge­paßt-Sein. Die Lek­tü­re von Kaf­ka am Strand hat mir durch­aus Mo­men­te der Er­kennt­nis ge­währt, in de­nen Zu­sam­men­hän­ge auf­ge­gan­gen sind, ja, so­gar et­was wie Er­leuch­tung ahn­bar ge­wor­den ist.

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  1. Von Anfang an hörte ich aus diesem Buch einen bestimmten Ton, der sich bis zum Ende durchzieht: den fast mädchenhaften Ton der guten Laune, der selbstständigen, lebensfrohen jungen. Hertha Pauli hat das Buch im Alter von sechzig Jahren geschrieben, die "Erlebnisse" – sie nennt es tatsächlich "Erlebnisbuch" –, von denen die Rede ist, zeigen sie um 1938/39 im Alter von 31, 33 Jahren, da ist sie wirklich frei und ungebunden, doch als Halbjüdin und österreichische Patriotin auch bedroht, ohne Zukunftsaussichten. Der Widerspruch – Elend und Gefälligkeit – ist in diesem Fall nicht wirklich produktiv, die Erzählung zu linear und einsinnig, um mehr entstehen zu lassen als einen Bericht, den man gern verschlingt, weil man natürlich wissen will, wie die Geschichte einer Flucht ausgeht, und zweitens, weil die Frau so viele interessante Bekannte hatte, die meisten von ihnen Schriftsteller. Hier ein Beispiel für den unbekümmerten Ton. Pauli beschreibt eine Kellnerin in einem Dorf in Südwestfrankreich: "Da ihre Oberlippe zu kurz war, um über die vorstehenden Zähne zu reichen, blieb ihr Mund stets wie fragend offen. Auch Sanftmut und Wehrlosigkeit hatte sie mit einem Kaninchen gemein. So war Paulette die allgemeine Jagdbeute des Ortes, und als sie schließlich ein Kind gebar, war wohl der ganze Burschenstammtisch der Papa." In Zeiten von Me too kaum vorstellbar, daß eine emanzipierte Frau und Anftifaschistin so naiv und spaßhaft über die sexuellen Umtriebe einer Dorfjugend und so "lookistisch" über eine hart arbeitende junge Kellnerin schreibt. Da könnten glatt Rufe nach Zensur und Ächtung laut werden… Lest dieses Buch, das in der Reihe "Die Frau in der Literatur" – 1990, lang ist's her – neu aufgelegt wurde, bloß nicht! Aber nein, Frauensolidarität geht vor, lest es oder kauft es zumindest. Dank Google – danke! – erfahre ich, daß erst vor kurzem ein Roman von Hertha Pauli über ein Mädchen, welches das KZ überlebt hat, erschienen ist, und zwar in einem sogenannten Frauenverlag. Die Geschichte erinnert ein wenig an die von Ariel Magnus' Großmutter. (Inzwischen habe ich sie zu lesen begonnen. Der Riß der Zeit lohnt die Lektüre unbedingt; Jugend nachher, Paulis Nachkriegsroman über die Schicksale eines Mädchens, das das KZ überlebt hat, eher nicht. Der Titel verweist ungeschickt auf Jugend ohne Gott von Ödön von Horvath, den die Autorin in jungen Jahren heiß geliebt hatte. Einiges über diese alles in allem unglückliche Liebe kann man in Der Riß der Zeit erfahren. 

  2. Daß Hesse von den Snobs mit größter Hartnäckigkeit niedergemacht wird, ist eine andere Geschichte. Meine Tochter liest gerade Unterm Rad, das allein ist für mich ein Grund, meinen sicherlich verschmutzten Wertungsfilter wieder einmal zu reinigen. Ich erinnere mich an eine sehr ferne Lektüre von Narziß und Goldmund. Auch dieses Buch hat in meinem Tiefengedächtnis Spuren hinterlassen und erinnert mich immer – besser: für immer – an den unauflösbaren Konflikt mit meinem Bruder. "Erinnert mich", heißt in diesem Fall: beeinflußt meine Art, mit diesem Konflikt umzugehen. Überhaupt kriege ich Lust, das Pubertäre, Unreife in Schutz zu nehmen – und denke auch gleich an einen Vorläufer, Witold Gombrowicz, den Verfechter der Unreife. 

Mi­chel Hou­el­le­becq: Se­ro­to­nin

Michel Houllebecq: Serotonin
Mi­chel Houl­le­becq:
Se­ro­to­nin

Es war gar nicht so schwer, all die Ur­tei­le und Kri­ti­ken zum neu­en Hou­el­le­becq zu igno­rie­ren. Zu­mal ich im­mer we­ni­ger die­ses Per­len­tau­cher-Efeu-Feuil­le­ton aus FAZ, Zeit, SZ, taz, und­so­wei­ter re­zi­pie­re, es in­ter­es­siert mich fast gar nicht mehr. Si­cher­lich, ich be­kam ei­ni­ge Schlag­zei­len mit und dann je­ne üb­li­chen Ver­däch­ti­gen, die sich stolz be­kann­ten, das Buch nicht ge­le­sen zu ha­ben, oder je­ne, die er­klär­ten, war­um man die­ses Buch nicht le­sen braucht, es sei von ei­nem »al­ten, wei­ßen Ty­pen«, so ei­ne Li­te­ra­tur­ak­ti­vi­stin, und man sol­le bes­ser an­de­re Au­torin­nen le­sen, z. B. Si­ri Hust­vedt, die aber, wenn man ge­nau nach­schaut, äl­ter ist als Hou­el­le­becq und eben­falls weiß und ich fra­ge mich nun, ob man Si­ri Hust­vedt als »al­te, wei­ße Typ­in« oder »al­te, wei­ße Frau« be­zeich­nen darf, oh­ne von der Sprach­po­li­zei ver­ur­teilt zu wer­den.

Schließ­lich gab es noch ei­nen Text, den ich auf Face­book ver­linkt fand, der im Teaser vor­schlug, das Auf­kom­men an Hou­el­le­becq-Be­spre­chun­gen und da­mit die Auf­merk­sam­keit für die­sen Au­tor be­wusst klein zu hal­ten, aber da­für muss­te auch die­ser Text erst ein­mal Auf­merk­sam­keit auf Hou­el­le­becq len­ken, um zu sa­gen, dass man auf kei­nen Fall Hou­el­le­becq Auf­merk­sam­keit schen­ken darf. Und dann, wie mir ein Freund sag­te, war da die­ser Zeit-Feuil­le­to­nist zu der Er­kennt­nis ge­kom­men, dass Hou­el­le­becq ein »neu­rech­ter Den­ker« sei (ver­mut­lich we­gen sei­ner dür­ren Speng­ler­re­de) und ich dach­te an die­sen dampf­plau­dern­den ehe­ma­li­gen Spie­gel-Ko­lum­ni­sten, der sei­ner­zeit Chri­sti­an Kracht als »Neu­rech­ten« dif­fa­mier­te und da­nach seufz­te ich ob der Le­bens­zeit, die man mit der Be­schäf­ti­gung sol­cher Seins-Nicht­se wie Diez oder So­boc­zyn­ski ver­schwen­det.

Die Er­kennt­nis, dass die mei­sten Feuil­le­ton­be­spre­chun­gen ins­be­son­de­re was Hou­el­le­becq an­geht, nicht das Pa­pier wert sind, auf dem sie ge­druckt wur­den, keim­te bei mir spä­te­stens nach »Un­ter­wer­fung« auf. Vie­le Re­zen­sen­ten woll­ten sich mit der in der Ge­schich­te an­ge­leg­ten po­li­tisch-ge­sell­schaft­li­chen Fra­ge, ab wann sich die De­mo­kra­tie so­zu­sa­gen sel­ber zum Scha­fott führt, nicht be­schäf­ti­gen, son­dern de­kla­rier­ten das Buch ein­fach zur »Sa­ti­re«. An­de­re be­schäf­tig­ten sich mit der un­plan­ba­ren Par­al­le­le zwi­schen Erst­ver­öf­fent­li­chung des Bu­ches und den An­schlä­gen auf die Ma­cher des Sa­ti­re­ma­ga­zins »Char­lie Heb­do«. Bei­des hat­te we­nig bis nichts mit dem Buch zu tun. Dass für der­ar­ti­ge Ar­beits­ver­wei­ge­run­gen die Zu­stim­mungs­ra­ten im­mer mehr sin­ken, darf nie­man­den mehr ver­wun­dern.

Nun al­so »Se­ro­to­nin«. Dem deut­schen Le­ser fällt auf: wie­der ein­mal Ste­phan Klei­ner als Über­set­zer. Ich glau­be, es gibt in­zwi­schen vier oder fünf Über­set­zer von Hou­el­le­becq ins Deut­sche und ich fra­ge mich, war­um es im­mer wie­der ein an­de­rer sein muss. Gibt es da­für Grün­de? Wird die Po­si­ti­on aus­ge­schrie­ben und der gün­stig­ste ge­nom­men? Aber viel­leicht ist das nur ein Ne­ben­gleis. Wie üb­lich wird ei­nem so­fort der »Held« des Bu­ches vor­ge­stellt: er heisst Flo­rent-Clau­de und hasst die­sen Vor­na­men (ich nen­ne ihn da­her nur noch Flo­rent), aber, und das ist durch­aus neu, er hasst sei­ne El­tern nicht, im wei­te­ren Ver­lauf des Bu­ches spie­len die El­tern ei­ne wich­ti­ge Ne­ben­rol­le, aber da­zu spä­ter.

Flo­rent, der Ich-Er­zäh­ler, 46 Jah­re alt, lässt den Le­ser nicht ei­ne Se­kun­de dar­über im Zwei­fel dass er ein Ge­schei­ter­ter ist, ein »sub­stanz­lo­ses Weich­ei«, in »un­er­träg­li­che Lee­re« und »fried­voll, ge­fe­stig­ter Trau­rig­keit« le­bend, mit über­mä­ssi­gem Ni­ko­tin- und Al­ko­hol­kon­sum, aber eben in­zwi­schen auch ei­ne Ta­blet­te mit dem Na­men »Cap­to­rix« kon­su­mie­rend, ein neu­es Pro­dukt, wel­ches Stim­mun­gen auf­hel­len soll, ein An­ti-De­pres­si­va oh­ne die gän­gi­gen Ne­ben­wir­kun­gen die­ser Prä­pa­ra­te. Hier kommt Se­ro­to­nin ins Spiel, je­nes Hor­mon, dass vor al­lem für die Ge­las­sen­heit, den psy­chi­schen Aus­gleich zu­stän­dig ist, und so fühlt sich denn auch Flo­rent, ob­wohl er ei­gent­lich de­pres­siv ist und sich an­fangs bei­spiels­wei­se nur müh­sam zur Kör­per­pfle­ge auf­raf­fen kann.

Zu­nächst hat man den Ein­druck da er­zäh­le je­mand aus der Zu­kunft, denn die Prä­si­dent­schaft Macrons wird ein­mal als in der Ver­gan­gen­heit lie­gend ge­mut­maßt, aber die Rech­ne­r­ei­en, die Hou­el­le­becq dem Le­ser an­bie­tet le­gen den Schluss na­he, dass da je­mand aus der Per­spek­ti­ve des Jah­res 2018, viel­leicht 2019, er­zählt und Flo­rent ist da­mit 1972/73 ge­bo­ren, in gu­ten Ver­hält­nis­sen (der Va­ter war No­tar), be­hü­tet auf­ge­wach­sen. Er stu­dier­te auf ei­ner pri­va­ten Land­wirt­schafts­schu­le, ar­bei­te­te in gut do­tier­ten An­stel­lun­gen (bei Monsan­to und dann im fran­zö­si­schen Land­wirt­schafts­mi­ni­ste­ri­um). Obe­re Mit­tel­schicht al­so. Zu Be­ginn der Er­zäh­lung lebt er von ei­nem üp­pi­gen Ge­halt, wel­ches je­doch für Mie­te ei­ner gro­ßen Woh­nung in Pa­ris und das Aus­hal­ten sei­ner ja­pa­ni­schen Ge­lieb­ten na­mens Yu­zu zu 90% auf­ge­braucht wird. Da­ne­ben be­sitzt er ein Er­be, wel­ches ei­nen Kon­to­stand von rund 700.000 Eu­ro aus­weist.

Nach kur­zem Vor­spiel be­ginnt es mit der Schil­de­rung der Los­lö­sung von Yu­zu. In­ter­es­sant, dass aus­ge­rech­net sie die ein­zi­ge Prot­ago­ni­stin im Buch ist, die man als Pro­fi­teu­rin der Glo­ba­li­sie­rung be­zeich­nen könn­te, denn so­lan­ge sie in Frank­reich lebt, le­ben kann (ihr Ge­halt ist bei wei­tem nicht aus­rei­chend für ihr Lu­xus­le­ben), muss sie nicht zu­rück nach Ja­pan, wo wohl schon ei­ne ar­ran­gier­ter Ehe auf sie war­tet. Bei­de ha­ben sich je­doch ent­frem­det, er schläft schon län­ger nicht mehr mit ihr aber als er auf ih­rem PC por­no­gra­fi­sche Vi­de­os ent­deckt (vom Gang­bang in sei­ner Woh­nung bis zur So­do­mie ist al­les da­bei), be­schliesst er, sie zu ver­las­sen und so­zu­sa­gen rück­stands­los zu ver­schwin­den. Er gibt sei­nen Job auf, kün­digt die Woh­nung und be­sorgt sich bei ei­ner an­de­ren Bank ein neu­es Kon­to. Das geht bin­nen ei­nes Ta­ges. Schwie­ri­ger – drei Ta­ge! – ist es, ein neu­es Do­mi­zil zu fin­den. Der chro­ni­sche Ni­ko­tin­süch­ti­ge be­nö­tigt ein Rau­cher­zim­mer, was, wie sich her­aus­stellt, kom­pli­ziert ist, zu­mal auch noch der Pa­ri­ser Be­zirk der neu­en Wohn­statt nicht ganz un­wich­tig ist. Als er sein Ho­tel ge­fun­den hat, ver­schwin­det er aus sei­ner Woh­nung und lässt Yu­zu gruß- und mit­tei­lungs­los zu­rück.

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Ju­lia En­cke: Wer ist Mi­chel Hou­el­le­becq

Julia Encke: Wer ist Michel Houllebecq?
Ju­lia En­cke:
Wer ist Mi­chel Houl­le­becq?

»Por­trät ei­nes Pro­vo­ka­teurs« nennt der Ver­lag (?) Ju­lia En­ckes Buch »Wer ist Mi­chel Hou­el­le­becq«. Und fast hät­te es da­zu ge­führt, dass ich es nicht ge­le­sen hät­te, denn »Pro­vo­ka­teur« oder dann die im In­halts­ver­zeich­nis ka­pi­tel­mä­ssi­gen Über­schrif­ten wie »Der Schrift­stel­ler«, »Der Ro­man­ti­ker« oder gar »Der Vi­sio­när« las­sen das Schlimm­ste be­fürch­ten. Der­art kon­di­tio­niert bin ich dann doch ans Le­se­werk ge­gan­gen. Und am En­de auf­at­mend: Nein, die­ses Buch ist kein feuil­le­to­ni­sti­scher Schmock, kei­ne mit Auf­decker­po­se ver­fass­te, sen­sa­ti­ons­hei­schen­de Pseu­do­deu­tungs­ma­schi­ne­rie. Ju­lia En­cke ge­lingt – so viel sei vor­weg ge­nom­men – ein de­zi­dier­tes Bild über Le­ben und Werk ei­nes der am mei­sten zi­tier­ten zeit­ge­nös­si­schen eu­ro­päi­schen Schrift­stel­lers.

Schon im Vor­wort zeigt die Ver­fas­se­rin wie Hou­el­le­becq in der Öf­fent­lich­keit »plan­mä­ssig die Gren­zen von Fi­gu­ren- und Au­toren­re­de« ver­wischt und vor­gibt »die dar­aus re­sul­tie­ren­de all­ge­mei­ne Auf­re­gung nicht zu ver­ste­hen«. Da­bei wer­den die me­dia­len Auf­ge­regt­hei­ten, die meist auf­grund von Äu­ße­run­gen in In­ter­views und Ge­sprä­chen hoch­ko­chen, von ihm nicht nur in kauf ge­nom­men, son­dern re­gel­recht ge­pflegt. »Was er [Hou­el­le­becq] in Ab­re­de stellt, ist ei­ne Über­ein­kunft: näm­lich die, dass Li­te­ra­tur und öf­fent­li­che Re­de zwei un­ter­schied­li­che Or­te des Spre­chens sind, mit de­nen sich auch un­ter­schied­li­che Re­geln des Spre­chens ver­binden«. Der Nach­teil die­ses Ver­fah­rens ist die Ver­schmel­zung von Werk bzw. den Haupt­prot­ago­ni­sten in sei­nen Wer­ken (die sehr häu­fig den Vor­na­men »Mi­chel« tra­gen) mit der rea­len Per­son Houl­le­becq. Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­lich ist dies min­de­stens in Deutsch­land fast ein Sa­kri­leg, aber Hou­el­le­becq schert sich, wie En­cke deut­lich macht, um sol­che Be­find­lich­kei­ten nicht. Der Preis da­für ist ge­wollt: Miss­ver­ständ­nis­se, Verein­nahmungen, vor­ei­li­ge Rück­schlüs­se von rea­ler Per­son auf Prot­ago­ni­sten und vice ver­sa. Aber eben auch Auf­merk­sam­keit.

Deut­lich wird En­cke wenn es um die all­zu ein­fa­che Ver­knüp­fung zwi­schen Fik­ti­on und Au­to­bio­gra­phi­schem geht: »Die Be­zü­ge sind da, und na­tür­lich schöpft er schrei­bend aus dem Vol­len. Bloß prä­sen­tiert er…dabei zum ei­nen im­mer nur ei­ne Wahr­heit, näm­lich sei­ne ei­ge­ne. Zum an­de­ren wählt er aus, ver­frem­det, über­treibt. Er fik­tio­na­li­siert; und er­zeugt da­mit je­nen Be­deu­tungs­spiel­raum, mit dem er Ge­wiss­hei­ten – und das heißt auch: bio­gra­phi­sche Ge­wiss­hei­ten – er­schüt­tern will und den Zwei­fel nährt. Das Spiel mit wie­der­erkenn­ba­ren De­tails, die auf das Le­ben oder die Per­son des Au­tors ver­wei­sen, ge­hört so­mit zu sei­nen li­te­ra­ri­schen Ver­fah­ren.«

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Mi­chel Hou­el­le­becq: Un­ter­wer­fung

Michel Houellebecq: Unterwerfung
Mi­chel Hou­el­le­becq: Un­ter­wer­fung

Mi­chel Hou­el­le­becqs Ro­man »Unter­werfung« wur­de nicht zu­letzt we­gen der wenn auch län­ger zurück­liegenden kri­ti­schen, zum Teil durch­aus be­leidigenden Äu­ße­run­gen des Au­tors zum Is­lam arg­wöh­nisch un­ter­sucht. Die Ko­in­zi­denz zwi­schen der Erstver­öffentlichung und den schreck­li­chen Mor­den von Pa­ris liegt na­tür­lich au­ßer­halb des Ein­flus­ses des Au­tors. Was ei­ni­geR Hy­ste­ri­ker nicht da­von ab­hält, Hou­el­le­becq von nun an ei­ne Art Mit­ver­ant­wor­tung für das Ver­gan­ge­ne bzw. so­gar das Zu­künf­ti­ge zu­zu­wei­sen. Da­bei ist spä­te­stens seit Rush­dies »Sa­ta­ni­schen Ver­sen« klar, dass Ter­ro­ri­sten, Po­li­ti­ker und die mei­sten Me­di­en­ver­tre­ter bei al­len Dif­fe­ren­zen in ei­nem Punkt ei­ne Gemeinsam­keit ha­ben: Sie brau­chen das Werk bzw. die Re­ak­tio­nen dar­auf, die sie skandali­sieren und in­stru­men­ta­li­sie­ren nur als An­lass; ei­ne Lek­tü­re ist dann doch zu auf­wen­dig. Das hat in er­schüt­tern­der Wei­se die Dis­kus­si­on in Frank­reich ge­zeigt, in der Hou­el­le­becq die Ver­brei­tung rechts­extre­mer The­sen und so­gar Ras­sis­mus vor­ge­wor­fen wur­de.

Auch in Deutsch­land über­schlu­gen sich die Re­zen­sen­ten be­reits vor Er­schei­nen des Bu­ches mit ih­ren Ur­tei­len. Da­bei wur­de auch hier mit Akri­bie auf ei­ne po­ten­ti­el­le Is­lam­feind­lich­keit des Tex­tes bzw. des Au­tors ge­ach­tet, was aber­mals zeigt, dass das Feuil­le­ton zu­neh­mend die Rol­le des po­li­ti­schen An­stands­wau­waus wahr­neh­men möch­te, weil sich da­mit am mei­sten Di­stink­ti­on er­ar­bei­ten lässt. Noch selt­sa­mer als die­ser Ge­sin­nungs- und Re­zen­si­ons­wett­lauf mu­te­te die zu­wei­len auf­kom­men­de (ge­spiel­te?) Nai­vi­tät an, die fragt, war­um ei­gent­lich al­le jetzt plötz­lich ein li­te­ra­risch der­art mit­tel­mä­ssi­ges Buch be­spre­chen. Da­bei spielt es kei­ne Rol­le, dass das Ur­teil der li­te­ra­ri­schen Me­dio­kri­tät fast im­mer nur be­haup­tet wird; hand­fe­ste Be­le­ge feh­len zu­meist.

Ver­stopf­te Wasch­becken und Feh­ler in der Steu­er­erklä­rung

Der Plot des Ro­mans ist schnell er­zählt. Der Le­ser wird trans­for­miert in das Früh­jahr des Jah­res 2022. Fran­çois, ein mü­der fran­zö­si­scher Uni­ver­si­täts­pro­fes­sor an der Pa­ri­ser Sor­bon­ne, bald 44 Jah­re alt, der über Jo­r­is-Karl Huys­mans dis­ser­tiert hat­te, weiß nicht mehr so recht, was er tun soll: »Mein In­ter­es­se für das Gei­stes­le­ben war sehr ab­ge­flaut, mei­ne ge­sell­schaft­li­che Exi­stenz war nicht zu­frie­den­stel­len­der als mei­ne kör­per­li­che, die ei­ne wie die an­de­re war ei­ne Ab­fol­ge klei­ner Wid­rig­kei­ten – ein ver­stopf­tes Wasch­becken, ei­ne nicht funk­tio­nie­ren­de In­ter­net­ver­bin­dung, Straf­punk­te für schlech­tes Fah­ren, be­trü­ge­ri­sche Putz­frau­en, Feh­ler in der Steu­er­erklä­rung -, die mich oh­ne Un­ter­lass quäl­ten und nie zur Ru­he kom­men lie­ssen.« Sei­ne Lie­bes­af­fä­ren sind im Semester­rhythmus ge­tak­tet. Nur mit der halb so al­ten My­ri­am ver­bin­det ihn mehr.

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String­tan­ga vs. Un­ter­ho­se

Ali­ce Schwar­zer irrt, weil sie den letz­ten Satz nicht ge­le­sen hat: In dem Ar­ti­kel von Iris Ra­disch in der ZEIT über die neue­ste An­ti-Por­no­gra­phie-Kam­pa­gne der »Emma«-Herausgeberin dreht Ra­disch meh­re­re rhe­to­ri­sche Pi­rou­et­ten, lan­det dann in den Ar­men des »Bild«-Girls – aber (und hier irrt Frau Schwar­zer eben) sie stimmt ihr nicht zu: Die Käl­te, die ei­ne Durch­sexua­li­sie­rung der Ge­sell­schaft zur Fol­ge hat, lässt sich mit den al­ten Waf­fen des Ge­schlech­ter­kamp­fes nicht mehr be­sie­gen steht da. Heisst über­setzt: Frau Schwar­zer, das schaf­fen wir auch oh­ne ih­re an­ti­quier­ten Me­tho­den.

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