Mit den drei Stücken Reich des Todes, Baracke und Lapidarium, die im soeben erschienenen Band Lapidarium versammelt sind und der parallel dazu publizierten Textsammlung wrong beendet der Schriftsteller Rainald Goetz seine sechsteilige Schlucht-Reihe, jenen 2007 begonnenen »Versuch der Erkundung der Dunkelzeit der Nullerjahre«, bestehend aus »Klage, Tagebuchessay; loslabern, Bericht; Johann Holtrop, Abriß der Gesellschaft, Roman; ...
Michel Houellebecq: Einige Monate in meinem Leben
Die Dämme sind gebrochen, die Überzeugungsarbeit von Generationen von Literaten, Kritikern, Literaturwissenschaftlern und Lesern ist Makulatur. Die Versicherung, ja: Erkenntnis, dass das namenlose Erzähl-Ich eines Romans oder einer Erzählung nicht identisch ist mit dem Autor, der Autorin wird zusehends pulverisiert. Ende der 1970er Jahre vom französischen Schriftsteller und Literaturprofessor Serge Doubrovsky entdeckt und geprägt, begann es mit dem Genre der Autofiktion. Mit ihm wurde das im autobiographischen Schreiben vorhandene Spannungsverhältnis zwischen Autor und Erzähl-Ich verschoben zu Gunsten der Lesart, dass das »Ich« (nahezu) identisch mit dem Autor ist. Der literarische Akt lag in der Ausgestaltung des Ereigneten. Beispielhaft für autofiktionales Schreibens ist die 2022 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnete Annie Ernaux. Ihrem letzten Buch Ein junger Mann stellte sie ihr Schreibgesetz voran: »Wenn ich die Dinge nicht aufschreibe, sind sie nicht zu ihrem Ende gekommen, sondern wurden nur erlebt.«
Anfangs begrüßte das Feuilleton diesen biographistischen Ansatz, weil es ihm die lästige Suche nach der Literarizität von Prosatexten ersparte. Man brauchte nur die Lebensdaten des Verfassers mit dem Geschriebenen zu vergleichen. Nach dem (nie wirklich relevanten) »Tod des Autors« begann die Dominanz der Verschmelzung zwischen Verfasser und Erzähler, die Herrschaft der Authentizität und des Plots. Die aktuelle Debatte um Identitäten verstärkt den Trend der Autofiktion, obwohl inzwischen längst die meisten Kritiker davon erschöpft sind.
Michel Houellebecq war bisher kein Autor autofiktionalen Schreibens. Zwar gab es vereinzelt Parallelen zwischen ihm und seinen Figuren (Literaturvorlieben oder gesellschaftspolitische Sichtweisen), aber niemand wäre ernsthaft auf die Idee gekommen, beispielsweise den Literaturprofessor François aus Unterwerfung als Alter ego Houellebecqs zu sehen. Mit seinem neuesten Buch mit dem harmlos anmutenden Titel Einige Monate in meinem Leben (Übersetzung von Stephan Kleiner) sieht das alles ganz anders aus. Houellebecq zerstört mit diesem Buch jegliche Distanz zwischen sich und dem Erzähl-Ich, zwischen den tatsächlichen Ereignissen und den Schilderungen im Buch. Er schreibt eine ultimative Nichtfiktion. Dass das Buch keine Genrebezeichnung trägt, ist nur konsequent. Der Untertitel lautet Oktober 2022 – März 2023. Aber ein Tagebuch oder Journal ist es auch nicht. Gegen Ende spricht er selber von einem »Bericht«; aufgeschrieben zwischen dem 31. März und dem 16. April 2023.
Vor drei Jahren erschien Michel Houellebecqs Roman »Serotonin«. Er handelte, kurz zusammengefasst, von Florent, einem sich als Versager empfindenden Mann von 46 Jahren, der in seiner Midlife-Crisis Stationen seines bisherigen Lebens aufsuchte (hauptsächlich Menschen), um sich am Ende in seine selbsthasserfüllten Dystopien einzurichten. Der Roman – sicherlich einer der schwächeren von Houellebecq – lebt von ...
Peter Handke gehört zu den Autoren, von denen ich jede Neuerscheinung früher oder später lese; manchmal später, wenn die Erscheinung nicht mehr ganz neu ist, als Nicht-Kritiker kann ich mir das erlauben. Den Aktualitätsstreß, die Hysterie des Publizierens, den martialischen Konkurrenzkampf um Aufmerksamkeit, all das habe ich in meinem Sayonara-Essay beschrieben. Ich lese immer wieder mal die »Userkommentare« in den Foren von Tageszeitungen und stelle dann fest, wie sehr ein Teil des Publikums diese Hysterie verinnerlicht hat: Journalisten sind beim kleinen Mann unten durch, wenn sie ein, zwei Stunden später als andere Journalisten in anderen Medien an einem »Ereignis« dran sind. Als ginge es ihnen nicht um den Inhalt einer Nachricht, sondern darum, erster zu sein, der das Ding – meist fehlerhaft in der Online-Ausgabe – in die Tastatur klappert. Und darum geht es dem User auch, die Nachricht selbst er kaum, nur den Reiz der Großbuchstaben nimmt er auf. Das Internet, die digitale Verfügbarkeit, potenziert solches Verhalten, da jeder jederzeit ALLES »vergleichen« kann.
Genau das sind die neuralgischen Punkte, an denen unsereins Abstand und Langsamkeit einfordern müßte (Stifter- oder Handke-Lektüre kann Bereitwillige ein wenig dafür schulen). Ich konnte mich nach der spät gewordenen Lektüre der Obstdiebin nicht daran hindern, doch wieder mal eine Art Kritik zu schreiben, als Nichtkritiker sozusagen. Genau genommen ist es jedoch ein ironisch-dialektischer Essay geworden, den man in der Literaturzeitschrift manuskripte (Heft 224) nachlesen kann – eine Inhaltsangabe will ich hier nicht liefern. Als Titel hatte ich mir »Im Wechselbad der Gefühle« einfallen lassen, und habe damit zwei Bedeutungsebenen eingezogen: die erste betrifft den Text und seine Machart, die zweite meine Gefühle bei der Lektüre. Zwei Fliegen auf einen Schlag sozusagen.
Es kommt beim Lesen nicht selten vor, daß die Gefühle unsicher und wechselhaft sind; gute, riskante, herausfordernde oder neuartige Literatur ruft sie eher hervor als gefällige, die bestrebt ist, den Leser zu »packen«. Das Buch, das ich jetzt, während ich diesen Text abschreibe, lese, Der Riß der Zeit geht durch mein Herz von Hertha Pauli, ein Erinnerungsbuch an den Anschluß Österreichs an Deutschland, an Ödön von Horvath und Joseph Roth, an Flucht und Exil in Paris, ist gefällig, spannend, jungmädchenhaft, gutgelaunt trotz aller Schicksalsschläge. Ich lese es gern, wißbegierig, mit Zuneigung zu den meisten Figuren, aber ins Schwanken bringt es meine Gefühle und Urteile nicht.1) Literaturkritiker verschweigen solche Gefühle in der Regel, sie müssen zu einer Bewertung kommen, drei Sterne von fünf, oder doch dreieinhalb… Bei anderen Autoren ist der Wechsel der Lesegefühle über die lange Reihe ihrer Bücher verteilt, einige davon gefallen mir, andere nicht. Bei Haruki Murakami ist diese Unsicherheit selbst ein Grund, immer wieder etwas von ihm zu lesen. Kafka am Strand fand ich sehr gut, ein postmoderner, vielschichtiger und trotzdem leichtlebiger Mix, pubertäre Literatur à la Hermann Hesse, mag sein (Murakamis Held ist der Pubertät gerade eben entwachsen); Karl-Markus Gauß, einer der tapfersten und ausdauerndsten Literaturkritiker, hat sich in diesem Sinn geäußert, aber ich habe mich bei der Lektüre gut unterhalten und Zuneigung zu einzelnen Figuren gefaßt.2 Gut möglich, daß Murakami seine Figuren, auch die Bösewichte, zu sehr liebt, daß er sie verhätschelt und manchmal verdirbt: typischer Fall von amayakasu, von kawaigaru – beide Wörter verweisen auf japanische Stärken, die sich unmerklich in Übel verwandelt haben: kawaii und amae, die kleinen hübschen Dinge und das Lieb-und-angepaßt-Sein. Die Lektüre von Kafka am Strand hat mir durchaus Momente der Erkenntnis gewährt, in denen Zusammenhänge aufgegangen sind, ja, sogar etwas wie Erleuchtung ahnbar geworden ist.
Von Anfang an hörte ich aus diesem Buch einen bestimmten Ton, der sich bis zum Ende durchzieht: den fast mädchenhaften Ton der guten Laune, der selbstständigen, lebensfrohen jungen. Hertha Pauli hat das Buch im Alter von sechzig Jahren geschrieben, die "Erlebnisse" – sie nennt es tatsächlich "Erlebnisbuch" –, von denen die Rede ist, zeigen sie um 1938/39 im Alter von 31, 33 Jahren, da ist sie wirklich frei und ungebunden, doch als Halbjüdin und österreichische Patriotin auch bedroht, ohne Zukunftsaussichten. Der Widerspruch – Elend und Gefälligkeit – ist in diesem Fall nicht wirklich produktiv, die Erzählung zu linear und einsinnig, um mehr entstehen zu lassen als einen Bericht, den man gern verschlingt, weil man natürlich wissen will, wie die Geschichte einer Flucht ausgeht, und zweitens, weil die Frau so viele interessante Bekannte hatte, die meisten von ihnen Schriftsteller. Hier ein Beispiel für den unbekümmerten Ton. Pauli beschreibt eine Kellnerin in einem Dorf in Südwestfrankreich: "Da ihre Oberlippe zu kurz war, um über die vorstehenden Zähne zu reichen, blieb ihr Mund stets wie fragend offen. Auch Sanftmut und Wehrlosigkeit hatte sie mit einem Kaninchen gemein. So war Paulette die allgemeine Jagdbeute des Ortes, und als sie schließlich ein Kind gebar, war wohl der ganze Burschenstammtisch der Papa." In Zeiten von Me too kaum vorstellbar, daß eine emanzipierte Frau und Anftifaschistin so naiv und spaßhaft über die sexuellen Umtriebe einer Dorfjugend und so "lookistisch" über eine hart arbeitende junge Kellnerin schreibt. Da könnten glatt Rufe nach Zensur und Ächtung laut werden… Lest dieses Buch, das in der Reihe "Die Frau in der Literatur" – 1990, lang ist's her – neu aufgelegt wurde, bloß nicht! Aber nein, Frauensolidarität geht vor, lest es oder kauft es zumindest. Dank Google – danke! – erfahre ich, daß erst vor kurzem ein Roman von Hertha Pauli über ein Mädchen, welches das KZ überlebt hat, erschienen ist, und zwar in einem sogenannten Frauenverlag. Die Geschichte erinnert ein wenig an die von Ariel Magnus' Großmutter. (Inzwischen habe ich sie zu lesen begonnen. Der Riß der Zeit lohnt die Lektüre unbedingt; Jugend nachher, Paulis Nachkriegsroman über die Schicksale eines Mädchens, das das KZ überlebt hat, eher nicht. Der Titel verweist ungeschickt auf Jugend ohne Gott von Ödön von Horvath, den die Autorin in jungen Jahren heiß geliebt hatte. Einiges über diese alles in allem unglückliche Liebe kann man in Der Riß der Zeit erfahren. ↩
Daß Hesse von den Snobs mit größter Hartnäckigkeit niedergemacht wird, ist eine andere Geschichte. Meine Tochter liest gerade Unterm Rad, das allein ist für mich ein Grund, meinen sicherlich verschmutzten Wertungsfilter wieder einmal zu reinigen. Ich erinnere mich an eine sehr ferne Lektüre von Narziß und Goldmund. Auch dieses Buch hat in meinem Tiefengedächtnis Spuren hinterlassen und erinnert mich immer – besser: für immer – an den unauflösbaren Konflikt mit meinem Bruder. "Erinnert mich", heißt in diesem Fall: beeinflußt meine Art, mit diesem Konflikt umzugehen. Überhaupt kriege ich Lust, das Pubertäre, Unreife in Schutz zu nehmen – und denke auch gleich an einen Vorläufer, Witold Gombrowicz, den Verfechter der Unreife. ↩
Es war gar nicht so schwer, all die Urteile und Kritiken zum neuen Houellebecq zu ignorieren. Zumal ich immer weniger dieses Perlentaucher-Efeu-Feuilleton aus FAZ, Zeit, SZ, taz, undsoweiter rezipiere, es interessiert mich fast gar nicht mehr. Sicherlich, ich bekam einige Schlagzeilen mit und dann jene üblichen Verdächtigen, die sich stolz bekannten, das Buch nicht gelesen zu haben, oder jene, die erklärten, warum man dieses Buch nicht lesen braucht, es sei von einem »alten, weißen Typen«, so eine Literaturaktivistin, und man solle besser andere Autorinnen lesen, z. B. Siri Hustvedt, die aber, wenn man genau nachschaut, älter ist als Houellebecq und ebenfalls weiß und ich frage mich nun, ob man Siri Hustvedt als »alte, weiße Typin« oder »alte, weiße Frau« bezeichnen darf, ohne von der Sprachpolizei verurteilt zu werden.
Schließlich gab es noch einen Text, den ich auf Facebook verlinkt fand, der im Teaser vorschlug, das Aufkommen an Houellebecq-Besprechungen und damit die Aufmerksamkeit für diesen Autor bewusst klein zu halten, aber dafür musste auch dieser Text erst einmal Aufmerksamkeit auf Houellebecq lenken, um zu sagen, dass man auf keinen Fall Houellebecq Aufmerksamkeit schenken darf. Und dann, wie mir ein Freund sagte, war da dieser Zeit-Feuilletonist zu der Erkenntnis gekommen, dass Houellebecq ein »neurechter Denker« sei (vermutlich wegen seiner dürren Spenglerrede) und ich dachte an diesen dampfplaudernden ehemaligen Spiegel-Kolumnisten, der seinerzeit Christian Kracht als »Neurechten« diffamierte und danach seufzte ich ob der Lebenszeit, die man mit der Beschäftigung solcher Seins-Nichtse wie Diez oder Soboczynski verschwendet.
Die Erkenntnis, dass die meisten Feuilletonbesprechungen insbesondere was Houellebecq angeht, nicht das Papier wert sind, auf dem sie gedruckt wurden, keimte bei mir spätestens nach »Unterwerfung« auf. Viele Rezensenten wollten sich mit der in der Geschichte angelegten politisch-gesellschaftlichen Frage, ab wann sich die Demokratie sozusagen selber zum Schafott führt, nicht beschäftigen, sondern deklarierten das Buch einfach zur »Satire«. Andere beschäftigten sich mit der unplanbaren Parallele zwischen Erstveröffentlichung des Buches und den Anschlägen auf die Macher des Satiremagazins »Charlie Hebdo«. Beides hatte wenig bis nichts mit dem Buch zu tun. Dass für derartige Arbeitsverweigerungen die Zustimmungsraten immer mehr sinken, darf niemanden mehr verwundern.
Nun also »Serotonin«. Dem deutschen Leser fällt auf: wieder einmal Stephan Kleiner als Übersetzer. Ich glaube, es gibt inzwischen vier oder fünf Übersetzer von Houellebecq ins Deutsche und ich frage mich, warum es immer wieder ein anderer sein muss. Gibt es dafür Gründe? Wird die Position ausgeschrieben und der günstigste genommen? Aber vielleicht ist das nur ein Nebengleis. Wie üblich wird einem sofort der »Held« des Buches vorgestellt: er heisst Florent-Claude und hasst diesen Vornamen (ich nenne ihn daher nur noch Florent), aber, und das ist durchaus neu, er hasst seine Eltern nicht, im weiteren Verlauf des Buches spielen die Eltern eine wichtige Nebenrolle, aber dazu später.
Florent, der Ich-Erzähler, 46 Jahre alt, lässt den Leser nicht eine Sekunde darüber im Zweifel dass er ein Gescheiterter ist, ein »substanzloses Weichei«, in »unerträgliche Leere« und »friedvoll, gefestigter Traurigkeit« lebend, mit übermässigem Nikotin- und Alkoholkonsum, aber eben inzwischen auch eine Tablette mit dem Namen »Captorix« konsumierend, ein neues Produkt, welches Stimmungen aufhellen soll, ein Anti-Depressiva ohne die gängigen Nebenwirkungen dieser Präparate. Hier kommt Serotonin ins Spiel, jenes Hormon, dass vor allem für die Gelassenheit, den psychischen Ausgleich zuständig ist, und so fühlt sich denn auch Florent, obwohl er eigentlich depressiv ist und sich anfangs beispielsweise nur mühsam zur Körperpflege aufraffen kann.
Zunächst hat man den Eindruck da erzähle jemand aus der Zukunft, denn die Präsidentschaft Macrons wird einmal als in der Vergangenheit liegend gemutmaßt, aber die Rechnereien, die Houellebecq dem Leser anbietet legen den Schluss nahe, dass da jemand aus der Perspektive des Jahres 2018, vielleicht 2019, erzählt und Florent ist damit 1972/73 geboren, in guten Verhältnissen (der Vater war Notar), behütet aufgewachsen. Er studierte auf einer privaten Landwirtschaftsschule, arbeitete in gut dotierten Anstellungen (bei Monsanto und dann im französischen Landwirtschaftsministerium). Obere Mittelschicht also. Zu Beginn der Erzählung lebt er von einem üppigen Gehalt, welches jedoch für Miete einer großen Wohnung in Paris und das Aushalten seiner japanischen Geliebten namens Yuzu zu 90% aufgebraucht wird. Daneben besitzt er ein Erbe, welches einen Kontostand von rund 700.000 Euro ausweist.
Nach kurzem Vorspiel beginnt es mit der Schilderung der Loslösung von Yuzu. Interessant, dass ausgerechnet sie die einzige Protagonistin im Buch ist, die man als Profiteurin der Globalisierung bezeichnen könnte, denn solange sie in Frankreich lebt, leben kann (ihr Gehalt ist bei weitem nicht ausreichend für ihr Luxusleben), muss sie nicht zurück nach Japan, wo wohl schon eine arrangierter Ehe auf sie wartet. Beide haben sich jedoch entfremdet, er schläft schon länger nicht mehr mit ihr aber als er auf ihrem PC pornografische Videos entdeckt (vom Gangbang in seiner Wohnung bis zur Sodomie ist alles dabei), beschliesst er, sie zu verlassen und sozusagen rückstandslos zu verschwinden. Er gibt seinen Job auf, kündigt die Wohnung und besorgt sich bei einer anderen Bank ein neues Konto. Das geht binnen eines Tages. Schwieriger – drei Tage! – ist es, ein neues Domizil zu finden. Der chronische Nikotinsüchtige benötigt ein Raucherzimmer, was, wie sich herausstellt, kompliziert ist, zumal auch noch der Pariser Bezirk der neuen Wohnstatt nicht ganz unwichtig ist. Als er sein Hotel gefunden hat, verschwindet er aus seiner Wohnung und lässt Yuzu gruß- und mitteilungslos zurück.
»Porträt eines Provokateurs« nennt der Verlag (?) Julia Enckes Buch »Wer ist Michel Houellebecq«. Und fast hätte es dazu geführt, dass ich es nicht gelesen hätte, denn »Provokateur« oder dann die im Inhaltsverzeichnis kapitelmässigen Überschriften wie »Der Schriftsteller«, »Der Romantiker« oder gar »Der Visionär« lassen das Schlimmste befürchten. Derart konditioniert bin ich dann doch ans Lesewerk gegangen. Und am Ende aufatmend: Nein, dieses Buch ist kein feuilletonistischer Schmock, keine mit Aufdeckerpose verfasste, sensationsheischende Pseudodeutungsmaschinerie. Julia Encke gelingt – so viel sei vorweg genommen – ein dezidiertes Bild über Leben und Werk eines der am meisten zitierten zeitgenössischen europäischen Schriftstellers.
Schon im Vorwort zeigt die Verfasserin wie Houellebecq in der Öffentlichkeit »planmässig die Grenzen von Figuren- und Autorenrede« verwischt und vorgibt »die daraus resultierende allgemeine Aufregung nicht zu verstehen«. Dabei werden die medialen Aufgeregtheiten, die meist aufgrund von Äußerungen in Interviews und Gesprächen hochkochen, von ihm nicht nur in kauf genommen, sondern regelrecht gepflegt. »Was er [Houellebecq] in Abrede stellt, ist eine Übereinkunft: nämlich die, dass Literatur und öffentliche Rede zwei unterschiedliche Orte des Sprechens sind, mit denen sich auch unterschiedliche Regeln des Sprechens verbinden«. Der Nachteil dieses Verfahrens ist die Verschmelzung von Werk bzw. den Hauptprotagonisten in seinen Werken (die sehr häufig den Vornamen »Michel« tragen) mit der realen Person Houllebecq. Literaturwissenschaftlich ist dies mindestens in Deutschland fast ein Sakrileg, aber Houellebecq schert sich, wie Encke deutlich macht, um solche Befindlichkeiten nicht. Der Preis dafür ist gewollt: Missverständnisse, Vereinnahmungen, voreilige Rückschlüsse von realer Person auf Protagonisten und vice versa. Aber eben auch Aufmerksamkeit.
Deutlich wird Encke wenn es um die allzu einfache Verknüpfung zwischen Fiktion und Autobiographischem geht: »Die Bezüge sind da, und natürlich schöpft er schreibend aus dem Vollen. Bloß präsentiert er…dabei zum einen immer nur eine Wahrheit, nämlich seine eigene. Zum anderen wählt er aus, verfremdet, übertreibt. Er fiktionalisiert; und erzeugt damit jenen Bedeutungsspielraum, mit dem er Gewissheiten – und das heißt auch: biographische Gewissheiten – erschüttern will und den Zweifel nährt. Das Spiel mit wiedererkennbaren Details, die auf das Leben oder die Person des Autors verweisen, gehört somit zu seinen literarischen Verfahren.«
Michel Houellebecqs Roman »Unterwerfung« wurde nicht zuletzt wegen der wenn auch länger zurückliegenden kritischen, zum Teil durchaus beleidigenden Äußerungen des Autors zum Islam argwöhnisch untersucht. Die Koinzidenz zwischen der Erstveröffentlichung und den schrecklichen Morden von Paris liegt natürlich außerhalb des Einflusses des Autors. Was einigeR Hysteriker nicht davon abhält, Houellebecq von nun an eine Art Mitverantwortung für das Vergangene bzw. sogar das Zukünftige zuzuweisen. Dabei ist spätestens seit Rushdies »Satanischen Versen« klar, dass Terroristen, Politiker und die meisten Medienvertreter bei allen Differenzen in einem Punkt eine Gemeinsamkeit haben: Sie brauchen das Werk bzw. die Reaktionen darauf, die sie skandalisieren und instrumentalisieren nur als Anlass; eine Lektüre ist dann doch zu aufwendig. Das hat in erschütternder Weise die Diskussion in Frankreich gezeigt, in der Houellebecq die Verbreitung rechtsextremer Thesen und sogar Rassismus vorgeworfen wurde.
Auch in Deutschland überschlugen sich die Rezensenten bereits vor Erscheinen des Buches mit ihren Urteilen. Dabei wurde auch hier mit Akribie auf eine potentielle Islamfeindlichkeit des Textes bzw. des Autors geachtet, was abermals zeigt, dass das Feuilleton zunehmend die Rolle des politischen Anstandswauwaus wahrnehmen möchte, weil sich damit am meisten Distinktion erarbeiten lässt. Noch seltsamer als dieser Gesinnungs- und Rezensionswettlauf mutete die zuweilen aufkommende (gespielte?) Naivität an, die fragt, warum eigentlich alle jetzt plötzlich ein literarisch derart mittelmässiges Buch besprechen. Dabei spielt es keine Rolle, dass das Urteil der literarischen Mediokrität fast immer nur behauptet wird; handfeste Belege fehlen zumeist.
Verstopfte Waschbecken und Fehler in der Steuererklärung
Der Plot des Romans ist schnell erzählt. Der Leser wird transformiert in das Frühjahr des Jahres 2022. François, ein müder französischer Universitätsprofessor an der Pariser Sorbonne, bald 44 Jahre alt, der über Joris-Karl Huysmans dissertiert hatte, weiß nicht mehr so recht, was er tun soll: »Mein Interesse für das Geistesleben war sehr abgeflaut, meine gesellschaftliche Existenz war nicht zufriedenstellender als meine körperliche, die eine wie die andere war eine Abfolge kleiner Widrigkeiten – ein verstopftes Waschbecken, eine nicht funktionierende Internetverbindung, Strafpunkte für schlechtes Fahren, betrügerische Putzfrauen, Fehler in der Steuererklärung -, die mich ohne Unterlass quälten und nie zur Ruhe kommen liessen.« Seine Liebesaffären sind im Semesterrhythmus getaktet. Nur mit der halb so alten Myriam verbindet ihn mehr.
Alice Schwarzer irrt, weil sie den letzten Satz nicht gelesen hat: In dem Artikel von Iris Radisch in der ZEIT über die neueste Anti-Pornographie-Kampagne der »Emma«-Herausgeberin dreht Radisch mehrere rhetorische Pirouetten, landet dann in den Armen des »Bild«-Girls – aber (und hier irrt Frau Schwarzer eben) sie stimmt ihr nicht zu: Die Kälte, die eine Durchsexualisierung der Gesellschaft zur Folge hat, lässt sich mit den alten Waffen des Geschlechterkampfes nicht mehr besiegen steht da. Heisst übersetzt: Frau Schwarzer, das schaffen wir auch ohne ihre antiquierten Methoden.