Die Dämme sind gebrochen, die Überzeugungsarbeit von Generationen von Literaten, Kritikern, Literaturwissenschaftlern und Lesern ist Makulatur. Die Versicherung, ja: Erkenntnis, dass das namenlose Erzähl-Ich eines Romans oder einer Erzählung nicht identisch ist mit dem Autor, der Autorin wird zusehends pulverisiert. Ende der 1970er Jahre vom französischen Schriftsteller und Literaturprofessor Serge Doubrovsky entdeckt und geprägt, begann es mit dem Genre der Autofiktion. Mit ihm wurde das im autobiographischen Schreiben vorhandene Spannungsverhältnis zwischen Autor und Erzähl-Ich verschoben zu Gunsten der Lesart, dass das »Ich« (nahezu) identisch mit dem Autor ist. Der literarische Akt lag in der Ausgestaltung des Ereigneten. Beispielhaft für autofiktionales Schreibens ist die 2022 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnete Annie Ernaux. Ihrem letzten Buch Ein junger Mann stellte sie ihr Schreibgesetz voran: »Wenn ich die Dinge nicht aufschreibe, sind sie nicht zu ihrem Ende gekommen, sondern wurden nur erlebt.«
Anfangs begrüßte das Feuilleton diesen biographistischen Ansatz, weil es ihm die lästige Suche nach der Literarizität von Prosatexten ersparte. Man brauchte nur die Lebensdaten des Verfassers mit dem Geschriebenen zu vergleichen. Nach dem (nie wirklich relevanten) »Tod des Autors« begann die Dominanz der Verschmelzung zwischen Verfasser und Erzähler, die Herrschaft der Authentizität und des Plots. Die aktuelle Debatte um Identitäten verstärkt den Trend der Autofiktion, obwohl inzwischen längst die meisten Kritiker davon erschöpft sind.
Michel Houellebecq war bisher kein Autor autofiktionalen Schreibens. Zwar gab es vereinzelt Parallelen zwischen ihm und seinen Figuren (Literaturvorlieben oder gesellschaftspolitische Sichtweisen), aber niemand wäre ernsthaft auf die Idee gekommen, beispielsweise den Literaturprofessor François aus Unterwerfung als Alter ego Houellebecqs zu sehen. Mit seinem neuesten Buch mit dem harmlos anmutenden Titel Einige Monate in meinem Leben (Übersetzung von Stephan Kleiner) sieht das alles ganz anders aus. Houellebecq zerstört mit diesem Buch jegliche Distanz zwischen sich und dem Erzähl-Ich, zwischen den tatsächlichen Ereignissen und den Schilderungen im Buch. Er schreibt eine ultimative Nichtfiktion. Dass das Buch keine Genrebezeichnung trägt, ist nur konsequent. Der Untertitel lautet Oktober 2022 – März 2023. Aber ein Tagebuch oder Journal ist es auch nicht. Gegen Ende spricht er selber von einem »Bericht«; aufgeschrieben zwischen dem 31. März und dem 16. April 2023.
Es geht im Wesentlichen um zwei Ereignisse, die Houellebecqs Leben zwischen Herbst 2022 und Frühjahr 2023 bestimmt haben. Zum einen versucht er klarzustellen, dass seine von vielen als provokativ und diskriminierend interpretierten Äußerungen über Muslime im Gespräch mit Michel Onfray in einer Sonderausgabe der Zeitschrift Front Populaire ungenau, ja falsch gewesen wären. Der Eindruck, er hätte die Muslime und/oder den Islam pauschal beleidigen wollen, möchte er korrigieren. Das Gespräch sei nicht gegengelesen worden. Die Schuld für diese missverständlichen Äußerungen gibt sich Houellebecq ausdrücklich selber. Er erwähnt zwei Stellen, zitiert zunächst die umstrittenen Passsagen, um dann seine am Schreibtisch formulierten Korrekturantworten zu geben. Es mündet alles in der Aussage: »Das Problem [in Frankreich] ist nicht der Islam, es ist die Kriminalität.« In Anbetracht der aktuellen Ereignisse erscheinen die Äußerungen in einem etwas anderen Licht.
Durch eine Vermittlung des Oberrabbiners kam es zu einem klärenden Gespräch zwischen Houellebecq und dem Leiter der Großen Moschee von Paris, bei dem er sich schließlich bedankt, »diese Richtigstellung zu akzeptieren«. Gleichzeitig attestiert Houellebecq ihm, dass er »ohne Zweifel der gemäßigten Mehrheit« angehöre. Der Satz endet dann doch ironisch, weil er sogar »die Möglichkeit seiner Ermordung durch ein Mitglied der extremistischen Minderheit in Betracht« zieht. Wie auch immer, seine »ewigen Zankereien mit den Muslimen« scheinen beigelegt. Als er dann jedoch wenig später von anderer Seite wieder angegriffen wird und Onfray bittet, die Neuauflage des Magazinbands zu stoppen, da sie die inzwischen revidierten Aussagen weiter enthalten würden, kommt es zum Zerwürfnis zwischen den beiden.
Das zweite Ereignis dominiert die knapp einhundert Seiten. Es geht um den sogenannten »Houellebecq-Porno«. Dabei, so lernt der Leser später, sind es eigentlich zwei Filme. Der eine basiert auf einer zweistündigen »sexuellen Begegnung« mit ihm, seiner Frau und einer gewissen Jini van Rooijen, die ihm anfangs als Philosophiestudentin vorgestellt wurde. Sie wünschte, dass die Begegnung gefilmt würde, um, wie es heißt, »ihren Onlyfans1-Account mit Material zu versorgen«. Houellebecq war dies am Anfang angetan davon; hielt sie für eine »rechtschaffende Exhibitionistin«. Gefilmt wurde von jemanden, den Houellebecq im Buch durchgängig als »Kakerlak« bezeichnet. Dabei handelt es sich um den niederländischen Konzeptvideokünstler Stefan Ruitenbeek, bekannt als Mitstreiter innerhalb des sogenannten KIRAC-Kollektivs (»Keeping It Real Art Critics«), einer Vereinigung von moralpusseligen Kunstaktivisten.
Warum Houellebecq überhaupt auf die Idee eines pornographischen Films mit sich in der Hauptrolle kam, bleibt trotz vieler Exkurse unklar. Man erfährt von einer nicht stattgefundenen Reise nach Marokko, was zur Folge hatte, dass das für ihn zusammengestellte »sexuelle Programm mit verschiedenen marokkanischen Prostituierten« bedauerlicherweise abgesagt werden musste. Er räsoniert über den Unterschied zwischen kommerziellen und amateurhaften Pornos und erläutert, wann er beim Filmen sexueller Tätigkeiten eine Erektion bekommt und wann nicht.
Der zweistündige Dreier verlief im wörtlichen Sinn für ihn eher unbefriedigend. Ausgiebig erzählt Houellebecq über die anscheinend nicht besonders guten sexuellen Fähigkeiten der jungen Frau, die nach seinem Urteil nicht »würdig« sei, das Attribut »Schlampe« zu tragen und die er der Einfachheit halber durchgängig als »die Sau« betitelt. Plötzlich wollte er auch nicht mehr, dass der Film auf Onlyfriends online gestellt würde, weil er herausbekommen hatte, dass der Exhibitionismus der Frau »auf Käuflichkeit« beruhte.
Weitere Unklarheiten folgen. Warum Houellebecq (mit seiner Frau) im Dezember nach Amsterdam fährt und warum er dort einen Vertrag mit KIRAC unterschreibt, der, wie seine niederländische Anwältin später feststellt, einem Tier mehr Rechte einräumen würde als ihm, überrascht – zumal wenn man den Text des Vertrags kennt (er ist abgedruckt). Dennoch lässt er sich abermals auf einen Film ein, diesmal mit einer »nichtssagenden Schönheit«, die er »die Pute« nennt. Der Film endet im Fiasko; Houellebecq gelingen nur ein paar Zärtlichkeiten. Man scheidet im Streit: »Beleidigungen wurden ausgetauscht, ohne dass es zu Handgreiflichkeiten gekommen wäre«.
Er entdeckt, dass der Vertrag, den er unterschrieben hat, auch rückwirkend gilt. Als er Honeypot2 anschaut, ein pornografischer Film der Gruppe mit dem als allgemein rechtslastig eingestuften Philosophen Sid Lukkassen (Autor des kontrovers diskutierten Buches Abendland und Identität), entwickelt sich gegenüber KIRAC ein veritabler Hass. Er fürchtet nun, erpresst oder, ähnlich wie Lukkassen, bloßgestellt zu werden und versucht, die Veröffentlichung des Films mit ihm, die für den 11. März 2023 angekündigt wurde (einen Tag zuvor erschien in den Niederlanden Vernichten) mit gerichtlichen Mitteln zu verhindern. Die Angelegenheit wurde sogar von der New York Times aufgegriffen, was genüsslich auf der Webseite von KIRAC ausgebreitet wird.
Bis zum Ende seiner Notizen scheitert Houellebecq zwei Mal vor Gericht, was natürlich Wasser auf seine Mühlen ist – der Justiz vertraut er weder in Frankreich noch in den Niederlanden; private Rache lehnt er jedoch ab. Das Sarkozy-Wort von den »kleinen Erbsen« (für Richter) wird gelobt. Das passt zum Duktus dieses Buches, den Bezeichnungen für die KIRAC-Protagonisten (der »Kakerlak« wird gegen Schluss zum »menschlichen Scheißhaufen« degradiert), der »Meute der Medienschwachköpfe«, ergo den Journalisten (er nennt einige Namen, aber um diese einzuordnen sind Detailkenntnisse französischer Publizistik notwendig), den Biografen (eine »dumme und bösartige Spezies«) wie auch der Literaturkritik (Houellebecq rätselt vor allem über Pierre Assoulines »erbitterten Hass« auf ihn). Allenfalls Bernhard-Henri Lévy und, gegen Ende, Gérard Depardieu stehen ihm bei – was immer das auch bedeutet.
Einerseits ist sich Houellebecq bewusst, dass durch dieses Buch die von ihm so verachteten Protagonisten vermutlich »unsterblich« werden. Andererseits beugt er der Intensität des Skandalons durch seine Offenheit vor. Ich muss allerdings bekennen, dass mich die sexuellen Vorlieben und/oder Perversionen von Schriftstellern (und auch anderen Personen) nicht interessieren, vor allem wenn sie wie hier als halbwegs schlechter Schulaufsatz (mit zahlreichen Abschweifungen) ohne jegliche literarische Form daherkommen.
Wie Nektar saugt der Leser aus einigen abseitigen Bemerkungen des Autors Nektar, etwa wenn von John Grisham und Houellebecqs Vorliebe zu dessen Anwaltsthrillern erzählt, Theodor Fontane und Thomas Mann Verehrung entgegengebracht oder über Pablo Picasso, diesen »dauererigierten Kretin« mit seiner »hässlichen Seele«, hergezogen wird. Auch seine lose formulierten Gedanken zur Sterbehilfe, die er im Buch durchgängig »Euthanasie« nennt oder sein wie beiläufig hingeschriebenes Bekenntnis zu einer »materialistischen Ontologie« könnten Interesse erzeugen, retten dieses Buch jedoch nicht.
Aus dem hoffnungslosen Romantiker, der in seinen besten Romanen (die Gunnar Decker zutreffend »Unabhängigkeitserklärungen des träumerischen Einzelnen« nannte) gegen den einen unausweichlichen Zeitgeist der Konformität das freie Individuum setzte, ist ein wehleidiger Narzisst geworden, der für seine selbstverschuldeten Dummheiten in Selbstmitleid badend zu versinken droht. Der Höhepunkt dieser Jeremiaden stellt die degoutante Feststellung dar, dass er »zum ersten Mal etwas [erspüre], was mir den Schilderungen von Frauen zu ähneln schien, die Opfer einer Vergewaltigung wurden.«
Es bleibt die Hoffnung, dass Einige Monate in meinem Leben ein Ausrutscher war.
Nach meinem bescheidenen Dafürhalten war der autobiographische Hintergrund (so sagte man früher) des Houellebecqschen Schreibens spätestens seit »Ausweitung der Kampfzone« klar. Die Sex-Obsessionen, zu Beginn seiner Karriere vor allem der Sexualhunger und die sexuellen Erniedrigungen, diese Eigenschaften haben die Protagonisten mit dem Autor gemein, ebenso die Neugier für pornographische Darstellung und Promiskuität sowie die Neigung zur Depression. Der Ich-Erzähler seines ersten Romans hat übrigens wie H. selbst Agronomie studiert und ist in Informatik beschlagen.
Allerdings war mir der Begriff »Autofiktion« suspekt, seit er Verbreitung gefunden hat. Literatur spielt sich sowieso im weiten Feld zwischen Selbstdarstellung, vulgo Selbstausdruck, und Fiktion, vulgo Erfindung, ab. Reine Selbstdarstellung ist selten bzw. oft gar keine Literatur, und ich-lose Fiktion wird man nicht einmal in SF-Romanen finden.
Ist, nur zum Beispiel, Ulrich im »Mann ohne Eigenschaften« gleich Musil? Antwort: Natürlich ja. Zweite Antwort: Natürlich nein. Also ja und nein. In zahlenverliebten Zeiten wird manch einer Mischverhältnisse bestimmen oder Skalen erstellen wollen. Viel Glück!
Dass Texte von Schriftstellern mal mehr mal weniger autobiographisch grundiert sind, ist nicht zu bestreiten. Aber indem diese Grundierung eben befragbar ist, der Text nicht Eins zu Eins einfach übertragen werden kann, macht dieses Schreiben eben zur Fiktion (selbst bei einem Ich-Erzähler). Bei einer Autofiktion nähert sich der Verfasser der eigenen Lebensrealität und den Ereignissen im Roman an. Es ist kein Zufall, dass dieser Begriff in den 1970ern geprägt wurde, als beispielsweise in der deutsch(sprachig)en Literatur die »Neue Subjektivität« aufkam, die auch mal gerne als »Nabelschau« abqualifiziert wurde. Dass er sich in Deutschland nicht durchsetzte, könnte damit zu tun haben, dass man den Schein der Fiktionalität wahren wollte. Ansonsten hätte man beispielsweise Thomas Bernhards autobiographischen Bücher entsprechend schon einordnen müssen. Wir glauben bis heute, dass sich alles so ereignet hat, wie es Bernhard schreibt. Der Mehrwert dieser Prosa liegt allerdings auch darin, dass er dies aus einer gewissen zeitlichen Entfernung fasst.
Houellebecq stellt in seinem neuen Buch keine Distanz mehr zwischen Erzähl-Ich und Lebens-Ich her. Vieles ist direkt nachvollziehbar, zum Teil auch im Internet; es werden Original-Namen genannt (und dann verballhornt). Das Buch hat im Prinzip keinen literarischen Wert mehr.
Dass die Figuren in den früheren Romanen von MH Sex-Obsessionen des Autors waren, kann man gut und gerne mutmaßen – aber kann man es wissen? Und: Sollte man es wissen?
Wenn man über Zusammenhänge zwischen Schöpfer und Werk überhaupt reden will, ist man immer wieder auf Mutmaßungen angewiesen. Macht ja nichts, man muß nicht alles beweisen oder auch nur belegen. Man kann aber, wenn man sich ausführlich mit einem Werk beschäftigt, Muster feststellen und parallelen zu biographischen Daten oder Dynamiken.
Nach meiner Erinnerung hat der Begriff »Autofiktion« im deutschen Sprachraum erst lange nach der sog. Neuen Innerlichkeit Verbreitung gefunden; ich glaube, erst in den Neunzigern. Und in Frankreich dominierten zuvor Post/Strukturalismus und im akademischen Bereich dann Gérard Genette. Handkes »Wunschloses Unglück« von 1972 wird man in diesem engeren Sinn vermutlich als Autofiktion bezeichnen können. Auf sehr spezielle Art hersgestellt, durch Kombination von persönlicher Auseinandersetzung mit einer wirklich gelebt habenden Figur, mit vielen autobiographischen Erinnerungen, und auf der anderen Seite Darstellung und Kritik von Sozial- und Sprachmustern. Die wirklich subjektivistische, intimistische Literatur, oder wie man’s nennen soll, repräsentierte damals eine gewisse Karin Struck (»Die Mutter«, »Lieben« etc.). Handke hat sie mit einer Rezension im Spiegel buchstäblich vernichtet. Vermutlich war ihm das dann zu »auto-«, zu selbstbezüglich.
Ich fürchte, der Begriff »Autofiktion« ist bei solchen Überlegungen nicht sehr hilfreich.
Wunschloses Unglück spielt auf zwei Ebenen. Zunächst ist es ein Versuch, dem Leben der Mutter eine gewisse Gerechtigkeit zukommen zu lassen. Und dann kommt die Einsicht, hieran (zunächst) zu scheitern – daher der Satz, später Genaueres schreiben zu wollen. Es ist eben keine »Autofiktion«, weil der Autor ständig im Reflexionsprozess und nicht im Berichtsmodus ist; es ist »autobiographisch«, insofern die Schreibmodalitäten des Autors verhandelt werden. Der Lebensweg, den er von seiner Mutter zeichnet, ist subjektiv – wie sollte es auch anders sein.
Dass dieser Begriff später erst in das deutsche Feuilleton schwappte, hatte ich geschrieben. Meine Idee war zunächst, MHs Buch als »Autofiktion« zu sehen (ähnlich wie bspw. Knausgaard mit seinem Min Kamp-Zyklus). Aber das geht eben nicht, weil es hier überhaupt keine Abstraktion vom eigenen Ich mehr gibt.
Der Hinweis auf Karin Struck ist sehr gut. Handke rezensierte im Spiegel seinerzeit Die Mutter. Die Autorin hatte zuvor mit Klassenliebe einen großen Erfolg gehabt. Er beginnt seinen Text denn auch mit dem vorherigen Buch und stellt dann die Unterschiede fest: »Das Höchstpersönliche von ›Klassenliebe‹ hat sie in der ›Mutter‹ als Rolle angenommen – das Ungearbeitete, Dahingeschriebene erscheint jetzt als hergestellt. An ›Klassenliebe‹ war nur der hinzugefügte Titel schematisch; ›Die Mutter‹ aber ist schon ein durch und durch schematisches Buch das Höchstpersönliche als Schema.« Die Figuren spielten, so der Kernvorwurf, »nur Rollen mit längst bekannten Geschichten«. (Dass Handke am Ende persönlich wird, ist natürlich ein Affront.)
Das trifft verblüffenderweise auch auf das Buch von MH zu.
Wird der sog. Autofiktion irgendwo in der einschlägigen Literatur Berichtsmodus zugeschrieben? Reflexion soll in Autofiktion keinen Platz haben? Das leuchtet mir gar nicht ein, vermutlich wird man sowohl bei Knausgaard als auch bei Ernaux jede Menge davon finden (z. B. der von Ihnen eingangs zitierte Satz von Ernaux).
In einer Autofiktion findet sehr viel weniger Verfremdung statt als in einem autobiographisch grundierten Text. Das ist durchaus gewollt. Hiermit soll eine möglichst große Authentizität und Nähe zum Autor erzeugt werden. Ich habe diese Verfremdung »Reflexion« genannt, weil sie auch immer einen Abstand zur Figur zur Folge hat. (Der zitierte Satz von Ernaux ist ein Motto, dass sie ihrem letzten Buch vorangestellt hat. Ich kenne ihre Bücher nicht, habe aber einiges von Knausgaard gelesen.)
Bei Knausgaard ist kaum noch zwischen realem Ereignis und Verfremdung zu unterscheiden. Das bedeutet natürlich nicht, dass er sein Handeln nicht bedenkt oder befragt.
Dennoch gibt es fiktionale Elemente (sonst würde es nicht Autofiktion heißen). In Houellebecqs Buch bekommt man den Eindruck, dass rein gar nichts fiktional ist. Und das ist im Vergleich zu seinen bisherigen Büchern eben neu.
Und wenn man einfach sagt, daß H.s Buch schwach ist? Daß es wehleidig ist (wie Sie eh schreiben)? Reine Autobiographien wie z. B. die dreibändige von Canetti haben doch auch literarischen Wert, aber eben weil sie nicht wehleidig sind, und nicht die eigenen Irrtümer rechtfertigen wollen. Oder nehmen Sie ein Buch wie »Aufleuchtende Details« von Péter Nádas, das ist großartige Literatur, großartig erzählt, aber – zumindest behauptet er das – keine Fiktion. Während der Lektüre habe ich mich oft gefragt, ob er tatsächlich diese zahllose Details rettende Erinnerungskraft besitzt und arbeiten läßt, oder ob nicht doch die Erinnerung gemeinsame Sache mit der Phantasie macht.
(Tatsächlich kommt überhaupt kein Erzählen, sobald es größere Bögen zieht, ganz ohne Fiktion aus. Auch nicht mündliche Erzählungen.)
Warum soll man denn nicht die Genre-Frage stellen dürfen? Natürlich gibt es immer Verwischungen, Ausnahmen von Regeln. Mit Binsenweisheiten kann man alles totschlagen. Reich-Ranicki hätte gesagt, dass ihn das nicht interessiert; ich hätte schreiben können, dass das Buch schlecht ist. Ist das der Anspruch?
Natürlich können Autobiographien literarischen Wert besitzen. Autofiktionen auch. Das Buch von Nádas kenne ich nicht (anderes von ihm fand ich langweilig, betulich). Es gibt einen anderen Autor, einen sogenannten »Pop-Literaten«, Wolfgang Welt, der behauptete, dass alles, was er aufschreibe, zu 99% wahr gewesen ist. Aber hier kommt eben die Sprache ins Spiel. Houellebecqs Buch hat schlichtweg keine Sprache; sein Buch hat – Im Gegensatz zu dem, was Sie über Nádas schreiben – eben keine »Phantasie«. Es interessiert ihn einfach nicht. Das Buch dient lediglich dazu, einen sich anbahnenden Skandal (die Veröffentlichung eines Pornofilms mit ihm in der Hauptrolle), zu verwässern. Daher macht er u. a. die beteiligte Frau herunter, nennt sie »Sau«.
Eines habe ich allerdings vergessen: Es ist ein schönes Cover.
Wir knüpfen hier fast schon zu viele Überlegungen an ein Büchlein, das es womöglich nicht wert ist. Das Büchlein selbst habe ich nicht gelesen, wohl aber sonst vieles von H. Und da drängt sich mir auf, daß viele seiner Hauptfiguren oder autornahen Figuren ressentimentgeladen sind. Und wenn man ein paar biographische Daten über den jungen H. zusammenkratzt, liegt die Vermutung nahe, daß sich infolge seiner emotionalen Vernachlässigung in der Kindheit und später durch die Erfahrung von Arbeitslosigkeit und Nicht-akzeptiert-Sein solche Ressentiments, z. B. gegen Frauen, in ihm festgesetzt haben. Schon in den ersten Romanen sind die Frauen oft »salopes«, Schlampen. Anscheinend hat der Autor das nie überwunden, oder positiv gesagt: Er zehrt bis heute davon. (Noch einmal positiv: seine grundlegende Qualität ist, daß er ein in der Gesellschaft verbreitetes Befinden aufgespürt und benannt hat, das bis dahin kaum eine Sprache hatte oder peinlich oder verpönt war.)
Anderer Zugang: Es gibt ja immer noch so etwas wie Dokumentarliteratur. Nicht nur sozial engagierte Autoren haben welche geschrieben, sondern auch ein David Foster Wallace. Seine Reportagen sind mir persönlich lieber als seine Romane, in denen er sich m. E. übernimmt. Nur ist in solcher Dokumentarliteratur die Distanz wichtig, es geht in der Regel auch nicht um den Autor selbst, und moralische Urteile unterbleiben weitgehend. Das alles scheint »Einige Monate...« zu ignorieren. Vielleicht ist es dasjenige Buch von H., in dem ihm der mediale Effekt und das eigene Image am wichtigsten ist? Dieser Gesichtspunkt hat im Lauf der Jahre bei H. überhand genommen; das ist m. E. der eigentliche Grund seines literarischen Niedergangs.
Ich habe insbesondere seine frühen Bücher immer als Sehnsuchtsromane gelesen. Sehnsucht nach individuelle Refugien des Menschlichen. Sie strahlten eine merkwürdige Liebesbedürftigkeit aus. Am Ende blieb dann häufig nur der Sex, der sich in Swinger-Clubs in allen Variationen zeigte und das Letzte blieb, was den Menschen von Klonen zu unterscheiden vermochte. Der Schluß von Vernichten zeigt noch einmal die romantische Seite.
In Unterwerfung zeigte er, wie korrumpierbar der moderne, aber metaphysisch zutiefst unzufriedene Intellektuelle sein kann. Ich habe es unmittelbar mit der Machtübernahme der Nazis 1933 in Verbindung gebracht, als die Berliner Akademie der Dichtung in Windeseile Opportunisten produzierte. Dass Houellebecq eine Islamische Republik Frankreich konstruierte veranlasste die moralinsaure Kritik, das Buch »islamophob« zu nennen, was es natürlich nicht ist. Ähnliches hätte man auch bei einer Präsidentschaft von Le Pen geschrieben. Der Kniff bestand darin, dass die Demokraten, die Le Pen verhindern wollten, eine andere Autokratie installieren halfen.
Elementarteilchen und Unterwerfung sind die beiden Romane, die bleiben werden. Man mache sich nichts vor: Danach ist Houellebecq vor allem in Interviews bzw. im Mail-Austausch mit anderen bekannt und vor allem berüchtigt geworden. Man fragte ihn kaum mehr nach seinen Figuren, seinem Schreiben, sondern wollte politische Kommentare, je unkorrekter, desto besser. Das ist das, was Sie als Image bezeichnen. Ich sehe ihn irgendwo an einem Rastplatz sitzen und darüber philosophieren (?), dass wir alle nicht in einer Demokratie leben; die gebe es nur in der Schweiz. Das ist das, was man von ihm hören wollte. Und er fällt darauf herein.
Das neue Buch ist fast nur noch ein Korrekturtext, der sich zu Anschuldigungen (Islam) und Mutmaßungen (Porno) äußert. Ihm ist, so scheint mir, eine literarische Kunstfertigkeit abhanden gekommen.
Das war jetzt eine alternative bzw. ergänzende Rezension, lieber Gregor Keuschnig. Thx.
Ich danke für diese Erörterungen, damit erspare ich mir den Kauf des Buches.