Der Naturwissenschaftler Hermann Funk (geboren 1934) verabredet sich im Jahr 2006* mit der Übersetzerin Katharina Fischer. Fischer soll einen englischen Touristen, der sich für die mitteleuropäische
Marcel Beyer: KaltenburgVogelwelt interessiert, durch Dresden und Umgebung führen und sie möchte hierfür ihre ornithologischen Kenntnisse verbessern – sowohl in der Bestimmung der Tiere als auch in der lateinischen und englischen Übersetzung. Funk war jahrelang Assistent von Professor Ludwig Kaltenburg, einer Koryphäe auf dem Gebiet der Ornithologie – und weit darüber hinaus. Kaltenburg ist auch Verfasser des Buches »Urformen der Angst«, in dem er sich mit der menschlichen Psyche (vielleicht…eher notgedrungen) beschäftigt. Im Laufe des »Unterrichts« kommen die beiden sehr schnell vom eigentlichen Gegenstand ab; sie geraten ins Erinnern, treffen sich noch Monate danach, schlendern durch Dresden und das Elbtal, nehmen alte Gebäude und Gegenden in Augenschein, schauen den Vogelschwärmen zu und verknüpfen dabei ihre Erinnerungen an Zeiten und Personen; sie rekapitulieren und spekulieren und beschwören das Vergangene.
So könnte man in Kürze »Kaltenburg« zusammenfassen und hätte noch nicht einmal annährend den Rahmen dieses Buches entworfen, geschweige denn eine Ahnung bekommen von Marcels Beyers Sprache und Erzählstil.
Die einzige Angst, die ich jetzt noch habe, ist die, zu vergessen. So beginnt dieses Buch. Jenseits des Vergessens ist die Zeitlosigkeit. Und jenseits der Zeit die Ewigkeit. Aber schon im Erinnern, dem Versuch, nicht zu vergessen, steckt die Gefahr der Verschollenheit: Ist die Erinnerung entrückt, in den Gedächtniskammern eingeschlossen? Die Erinnerung an den unwirklichsten Sommer zweitausendzwei. Und der »Preis« für die Erinnerung: Geht der [Sommer] immer und nie vorbei?
Trostlosigkeit – Vergessen ist ein matter, haltloser Landstrich, der zu nichts führt – und Hoffnung, dass hinter jenem Landstrich noch ein zweiter läuft, wie alles noch ein Zweites hat, vielleicht sogar sein Drittes, Viertes. Ein andrer Landstrich in einem andren Land, wo das Vergessen sich sammelt, konzentriert, besinnt.
Ulla Berkéwicz umkreist das Vergessen in diesem Buch – und natürlich nicht nur das. Es geht ums Sterben und den Tod (und damit um das Leben) und es geht – dezent und diskret – um Liebe. Aber es ist mehr als ein Lebens‑, Liebes‑, Todes- oder Totenbuch, mehr als somnambule (und dann doch gelegentlich affektierte) Litanei einer Witwe, mehr als metaphysische (Selbst-)Tröstung, mehr als eine Kritik an den Verhältnissen unserer Krankenhäuser, mehr als expressionistisch-assoziative Klagerede (mit Spucke auf einem Stein statt lutherischem Tinten- oder cantervillschem Blutfleck). Ja, es ist alles das. Und eben mehr. Viel mehr.
Xaver Bayer: Heute könnte ein glücklicher Tag seinDer Ich-Erzähler in »Heute könnte ein glücklicher Tag sein« bleibt namenlos. Er ist Student, wohnt in Wien (was ist deprimierender als Wien?), aber man erfährt nicht, was er studiert. Da ziemlich viel von Literatur die Rede ist und eine melancholische Faszination für das Bild des toten Robert Walser im Schnee besteht, vermutet man irgendwann, dass es Literatur oder Germanistik ist. Die Vorlesungen besucht er so gut wie nie. Sein Lernplan ist chaotisch; selbstgesteckte Ziele hält er nicht ein. Trotzdem macht der die »Scheine« und ist irgendwann fertig. Er beginnt seine Diplomarbeit, die jedoch von seinem »Betreuer« als essayistisch und nicht wissenschaftlich genug abgelehnt wird. Wie es dann weitergeht, bleibt unausgesprochen.
Zwar nimmt er sporadisch monatsweise Jobs an, aber die ökonomische Versorgung ist nebulös. Er geht sehr oft aus, konsumiert Alkohol und Drogen in beträchtlichem Ausmass; unterhält ein Auto und reist gelegentlich. Es bleibt unklar, wie er diesen Lebenswandel finanziert.
Ein Buch mit einem geradezu kathedralen Überbau: »Reading-Room« der FAZ (ein hässlicher Anglizismus – dennoch: hörenswert das Lesen von Christian Berkel), Marginalienband mit Interviews, Graphiken und textinterpretatorischem Rüstzeug, eigene Webseite (noch ausführlichere Dokumente als im Marginalienband), und fast jedes Feuilleton äussert sich. Und wenn man das Buch mit seinen fast 1.400 Seiten vor sich liegen hat und in den Händen wiegt, dann fragt man sich, ob die Erwartungen ob dieses Monumentalismus überhaupt eingelöst werden können. Oder ob da nicht ein Autor Opfer seiner eigenen Hybris wird.
Jonathan Littell: Die Wohlgesinnten
»Die Wohlgesinnten« sind die fiktiven Memoiren von Dr. Maximillian Aue, Jahrgang 1913, deutsch-französischer Herkunft, promovierter Jurist und am Ende, 1945, SS-Obersturmbannführer. Aue ist Ich-Erzähler, was als »neu« in Bezug auf die »Täterperspektive« hingestellt wird. Das stimmt in dieser Absolutheit natürlich nicht und wird nicht besser, in dem man es dauernd wiederholt. Jeder zweite Krimi schiebt heutzutage den Täter und dessen Motivation in den Vordergrund – meist als Brechung zum Alltag des Kommissars. Hinsichtlich der Shoa stimmt das auch nicht. Man kann nicht so tun, als sei die »Sprache der Täter« zu erfinden. Es gibt sie längst – sowohl im Original, als auch in zahlreichen Fiktionen, die längst in die Weltliteratur und ‑dramatik eingeflossen sind.
Michael Ondaatje: DivisaderoZiemlich genau in der Mitte erfahren wir die unterschiedlichen Deutungsmöglichkeiten des Begriffs Divisadero (und ganz am Ende erfahren wir, welche Musik diesem Buch mehr oder weniger zugrunde liegt). Einerseits ist das eine Strasse in San Francisco (eine der Protagonistinnen, Anna, wohnte dort). Andererseits kann es auch vom spanischen división – Teilung, Trennung kommen, denn früher einmal bezeichnete diese Strasse die Grenze zwischen San Francisco und den Feldern von Presidio. Oder – und da kommt man der Sache vermutlich ganz nahe – der Name leitet sich her von ‘divisar’, was bedeutet: »etwas aus der Ferne betrachten«…Er bezeichnet also eine Stelle, von der aus man weit in die Ferne sehen kann.
Als die Kahlschlagliteraten der Gruppe 47 sich wohlfeil um Petitessen stritten oder an ihren Legenden strickten oder »Aufarbeitung« betrieben – da sass Walter Kempowski in Bautzen im Zuchthaus. Als er 1956 entlassen wurde, kümmerte er sich erst einmal um sein Privatleben. Ein ehemaliger Häftling aus der »Zone« hätte auch nicht besonders gut ins politische Konzept gepasst. Der Zweck der Gruppe 47 war rund zwanzig Jahre später erfüllt – das Spinnen eines literarischen Netzwerkes, dass bis heute noch anhält (sofern die beteiligten Personen noch leben). Kempowski kam zu spät und aus der falschen Richtung. Aber es bedarf wenig prophetischer Kraft anzunehmen, dass er sich unter den Selbstdarstellern dort nicht besonders wohlgefühlt hätte.
Der Stallgeruch fehlte
In seinen letzten Interviews sprach der todkranke Kempowski viel von seiner späten Anerkennung. Von der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes. Seine Augen blitzten, als damals alle Leute für ihn aufgestanden waren. Späte Genugtuung eines Schriftstellers, der wie kaum ein anderer die Kluft zwischen »Kritik« und »Publikum« widerspiegelte. Jahrelang verramschte die Kritik seine Bücher – auch noch, als »Tadellöser & Wolff« von Eberhard Fechner kongenial und wunderbar verfilmt wurde. Man rümpfte in bestimmten Kreisen die Nase, weil Kempowski keinen »Stallgeruch« hatte. Den Büchnerpreis hat er nie bekommen – ein Skandal! Seine Prosa war weder experimentell noch Betroffenheitskitsch und widersprach lange dem gesellschaftspolitischen Zeitgeist. Man hatte sich in einer Jugendzeit im Nationalsozialismus nicht irgendwie wohlzufühlen gehabt. Kempowski hat sich – glücklicherweise für die Literatur! – niemals diesen Imperativen gebeugt. Er war und blieb das, was man einen unabhängigen Geist nannte. Seine Flucht war nicht die in die Literatur, sondern – umgekehrt zu vielen anderen – die in den Schuldienst. Kempowski war aber kein Studienrat, der auch schrieb – er war ein Schriftsteller, der Lehrer war.
1990 wurde Kempowski in einer üblen Kampagne des Plagiats bezichtigt. Endlich nahm sich die Grosskritik seiner an – Hellmuth Karasek stellte die Fakten klar und entlastete Kempowski in einem fulminanten Artikel im »Spiegel«. Zu dieser Zeit steckte Kempowski in einem riesigen Projekt, dem »Echolot«. 1999 erschienen die ersten vier Bände dieses »Echolots«. Es sollten noch weitere acht Bände folgen.
Ariane Breidenstein: Und nichts an mir ist freundlich
Ein Assoziationsrausch. Korallenbäume des Erzählens. Eine mitreissende Suada. Vielleicht ein Menetekel. Manchmal mit feiner Ironie und manchmal (wie die ganz frühe Jelinek) sprachspielerisch-kalauernd (Nahrung, Nehrung, Kurische). Und vor allem mit fast im wörtlichen Sinne wahnsinniger Sprache mit einer gleichzeitig anmutenden, anheimelnden Sprachmelodie; ein in den besten Szenen rhythmisch-poetisches Wutgedicht in Prosaform (die manchmal eigenwillige Kommasetzung will erst erlesen werden). Und dabei meilenweit von einer faulen Entrüstungsmetaphorik oder schalem Gewitzel entfernt. Ein Buch für die sprichwörtliche Insel – es verlangt nach mehrmaliger, intensiver Lektüre und jedes Mal erscheint ein neuer Aspekt, ein neues Detail, ein neuer Ton, der alles vorherige nicht konterkariert, sondern ergänzt und man wird und wird mit dem schmalen Büchlein so schnell nicht fertig.
Am Anfang begeht man vielleicht noch den Fehler, der Frau, der offensichtlich jedes soziale Verhalten fremd ist, einfach eine Krankheit anhängen zu wollen, nach ihr zu fahnden, zu diagnostizieren. Ihre Somnambulität einerseits und rastlose Unruhe andererseits; ihr animistisches Denken, ihre Betrachtungsversessenheit (wer hat jemals eine zermatsche Erdbeere am Boden so schön und metaphorisch geradezu zelebriert?), ihre Baumliebe, die in den Wunsch gipfelt, zu einem Baum zu werden (auch hier eine Bilderfülle), ihre Begeisterung für Jane Campions »Piano«. Man sammelt eine Zeit lang Indizien. So, als müsse man allem gleich einen Stempel aufdrücken, um es / um sie dann besser beherrschen zu können. Aber dann wird man glücklicherweise irgendwann endgültig verzaubert. Verzaubert und gebannt, hineingesogen in diese Wortkaskaden, in dieses wilde Getümmel, welches oft genug scheinbar unzusammenhängendes herbeiphantasiert und verbindet.
Die Demütigungen passierten immer unerwartet und wie nebenbei. Es waren ja nur Scherze, das Ganze war nicht so gemeint gewesen, der Betreffende – in diesem Falle ich – hatte es selbst durch seine Lügen, sein Selbstlob, sein »Eindruckschinden«, mit einem Wort: durch sein ganzes Wesen herausgefordert. Diejenigen, die sich im Quälen am meisten auszeichneten, stellte ...