Ka­tha­ri­na Hacker: Die Ha­be­nicht­se

Katharina Hacker: Die Habenichtse
Ka­tha­ri­na Hacker: Die Ha­be­nicht­se

Isa­bel­le, seit dem frü­hen Krebs­tod ih­rer Che­fin Han­na Mit­in­ha­be­rin ei­ner Gra­phik­agen­tur be­geg­net Ja­kob, ih­rem Ver­eh­rer und Lieb­ha­ber aus frü­he­ren Ta­gen wie­der. Ja­kob, ein An­walt mit Kar­rie­re­per­spek­ti­ve, ver­lässt we­gen des Ren­dez­vous-Ter­mins mit Isa­bel­le ei­ni­ge Ta­ge vor dem 11. Sep­tem­ber 2001 New York in Rich­tung Ber­lin. Sein Freund Ro­bert ver­tritt ihn dort – und kommt beim An­schlag auf die Zwil­lings­tür­me ums Le­ben. An­dras, der Kol­le­ge Isa­bel­les, ein un­ga­ri­scher Ju­de mit Iden­ti­täts­pro­ble­men, him­melt Isa­bel­le an, trö­stet sich mit Mag­da mehr recht als schlecht und fin­det sich schliess­lich da­mit ab, als Ja­kob Isa­bel­le hei­ra­tet. Jim, ein Dro­gen­dea­ler und Klein­kri­mi­nel­ler und sei­ne Freun­din Mae schla­gen sich in der Lon­do­ner Un­ter­welt durch. Und Da­ve und sei­ne klei­ne Schwe­ster Sa­ra, die von ih­rem Va­ter mit äu­sser­ster Bru­ta­li­tät ver­prü­gelt und wie ei­ne Ge­fan­ge­ne ge­hal­ten wird, träu­men von ei­ner bes­se­ren Zu­kunft.

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Hand­ke, Rat­ten­tö­ten und Ka­tho­li­zis­mus

Jo­sef Wink­ler, Büch­nerpreis­trä­ger 2008, in Neuss

Nach der Le­sung aus ei­nem Buch »Rop­pon­gi« wur­de Jo­sef Wink­ler aus dem Pu­bli­kum ge­fragt, ob er ei­nen Grund nen­nen kön­ne, war­um so vie­le, ei­gent­lich die mei­sten wort­mäch­tig­sten, zeit­ge­nös­si­schen Schrift­stel­ler deut­scher Spra­che aus Öster­reich kom­men wür­den (Hand­ke, Je­li­nek, Tho­mas Bern­hard und na­tür­lich auch Wink­ler).

Wink­ler über­leg­te kaum, ant­wor­te­te sehr schnell, an­fangs mit ei­ner Art Stot­tern oder, bes­ser, Stam­meln, als hät­te er die Fra­ge schon Wo­chen vor­her ge­wusst. Na­ja, sag­te er, es gä­be doch auch ei­ni­ge sehr gu­te Schrift­stel­ler aus der Schweiz. Ge­läch­ter im Pu­bli­kum. Dann hat­te Wink­ler sei­ne Ge­dan­ken sor­tiert. Hand­ke, Je­li­nek, Bern­hard – das sei­en eu­ro­päi­sche Aus­nah­me­erschei­nun­gen. Ins­be­son­de­re Hand­ke.

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Mar­cel Bey­er: Kal­ten­burg

Der Na­tur­wis­sen­schaft­ler Her­mann Funk (ge­bo­ren 1934) ver­ab­re­det sich im Jahr 2006* mit der Über­set­ze­rin Ka­tha­ri­na Fi­scher. Fi­scher soll ei­nen eng­li­schen Tou­ri­sten, der sich für die mit­tel­eu­ro­päi­sche

Marcel Beyer: Kaltenburg
Mar­cel Bey­er: Kal­ten­burg
Vo­gel­welt in­ter­es­siert, durch Dres­den und Um­ge­bung füh­ren und sie möch­te hier­für ih­re or­ni­tho­lo­gi­schen Kennt­nis­se ver­bes­sern – so­wohl in der Be­stim­mung der Tie­re als auch in der la­tei­ni­schen und eng­li­schen Über­set­zung. Funk war jah­re­lang As­si­stent von Pro­fes­sor Lud­wig Kal­ten­burg, ei­ner Ko­ry­phäe auf dem Ge­biet der Or­ni­tho­lo­gie – und weit dar­über hin­aus. Kal­ten­burg ist auch Ver­fas­ser des Bu­ches »Ur­for­men der Angst«, in dem er sich mit der mensch­li­chen Psy­che (vielleicht…eher not­ge­drun­gen) be­schäf­tigt. Im Lau­fe des »Un­ter­richts« kom­men die bei­den sehr schnell vom ei­gent­li­chen Ge­gen­stand ab; sie ge­ra­ten ins Er­in­nern, tref­fen sich noch Mo­na­te da­nach, schlen­dern durch Dres­den und das Elb­tal, neh­men al­te Ge­bäu­de und Ge­gen­den in Au­gen­schein, schau­en den Vo­gel­schwär­men zu und ver­knüp­fen da­bei ih­re Er­in­ne­run­gen an Zei­ten und Per­so­nen; sie re­ka­pi­tu­lie­ren und spe­ku­lie­ren und be­schwö­ren das Ver­gan­ge­ne.

So könn­te man in Kür­ze »Kal­ten­burg« zu­sam­men­fas­sen und hät­te noch nicht ein­mal an­näh­rend den Rah­men die­ses Bu­ches ent­wor­fen, ge­schwei­ge denn ei­ne Ah­nung be­kom­men von Mar­cels Bey­ers Spra­che und Er­zähl­stil.

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Ul­la Ber­ké­wicz: Üb­er­leb­nis

Ulla Berkéwicz: Überlebnis
Ul­la Ber­ké­wicz: Üb­er­leb­nis

Die ein­zi­ge Angst, die ich jetzt noch ha­be, ist die, zu ver­ges­sen. So be­ginnt die­ses Buch. Jen­seits des Ver­ges­sens ist die Zeit­lo­sig­keit. Und jen­seits der Zeit die Ewig­keit. Aber schon im Er­in­nern, dem Ver­such, nicht zu ver­ges­sen, steckt die Ge­fahr der Ver­schol­len­heit: Ist die Er­in­ne­rung ent­rückt, in den Ge­dächt­nis­kam­mern ein­ge­schlos­sen? Die Er­in­ne­rung an den un­wirk­lich­sten Som­mer zwei­tau­send­zwei. Und der »Preis« für die Er­in­ne­rung: Geht der [Som­mer] im­mer und nie vor­bei?

Trost­lo­sig­keit – Ver­ges­sen ist ein mat­ter, halt­lo­ser Land­strich, der zu nichts führt – und Hoff­nung, dass hin­ter je­nem Land­strich noch ein zwei­ter läuft, wie al­les noch ein Zwei­tes hat, viel­leicht so­gar sein Drit­tes, Vier­tes. Ein and­rer Land­strich in ei­nem and­ren Land, wo das Ver­ges­sen sich sam­melt, kon­zen­triert, be­sinnt.

Ul­la Ber­ké­wicz um­kreist das Ver­ges­sen in die­sem Buch – und na­tür­lich nicht nur das. Es geht ums Ster­ben und den Tod (und da­mit um das Le­ben) und es geht – de­zent und dis­kret – um Lie­be. Aber es ist mehr als ein Lebens‑, Liebes‑, To­des- oder To­ten­buch, mehr als som­nam­bu­le (und dann doch ge­le­gent­lich af­fek­tier­te) Li­ta­nei ei­ner Wit­we, mehr als me­ta­phy­si­sche (Selbst-)Tröstung, mehr als ei­ne Kri­tik an den Ver­hält­nis­sen un­se­rer Kran­ken­häu­ser, mehr als ex­pres­sio­ni­stisch-as­so­zia­ti­ve Kla­ge­re­de (mit Spucke auf ei­nem Stein statt lu­the­ri­schem Tin­ten- oder can­ter­vill­schem Blut­fleck). Ja, es ist al­les das. Und eben mehr. Viel mehr.

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Xa­ver Bay­er: Heu­te könn­te ein glück­li­cher Tag sein / Die Alas­ka­stra­ße

Xaver Bayer: Heute könnte ein glücklicher Tag sein
Xa­ver Bay­er: Heu­te könn­te ein glück­li­cher Tag sein
Der Ich-Er­zäh­ler in »Heu­te könn­te ein glück­li­cher Tag sein« bleibt na­men­los. Er ist Stu­dent, wohnt in Wien (was ist de­pri­mie­ren­der als Wien?), aber man er­fährt nicht, was er stu­diert. Da ziem­lich viel von Li­te­ra­tur die Re­de ist und ei­ne me­lan­cho­li­sche Fas­zi­na­ti­on für das Bild des to­ten Ro­bert Wal­ser im Schnee be­steht, ver­mu­tet man ir­gend­wann, dass es Li­te­ra­tur oder Ger­ma­ni­stik ist. Die Vor­le­sun­gen be­sucht er so gut wie nie. Sein Lern­plan ist chao­tisch; selbst­ge­steck­te Zie­le hält er nicht ein. Trotz­dem macht der die »Schei­ne« und ist ir­gend­wann fer­tig. Er be­ginnt sei­ne Di­plom­ar­beit, die je­doch von sei­nem »Be­treu­er« als es­say­istisch und nicht wis­sen­schaft­lich ge­nug ab­ge­lehnt wird. Wie es dann wei­ter­geht, bleibt un­aus­ge­spro­chen.

Zwar nimmt er spo­ra­disch mo­nats­wei­se Jobs an, aber die öko­no­mi­sche Ver­sor­gung ist ne­bu­lös. Er geht sehr oft aus, kon­su­miert Al­ko­hol und Dro­gen in be­trächt­li­chem Aus­mass; un­ter­hält ein Au­to und reist ge­le­gent­lich. Es bleibt un­klar, wie er die­sen Le­bens­wan­del fi­nan­ziert.

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Jo­na­than Lit­tell: Die Wohl­ge­sinn­ten

I. Mocku­men­ta­ry
II. Ernst Nol­te als Spi­ri­tus rec­tor
III. Die Buch­ver­ste­her

Ein Buch mit ei­nem ge­ra­de­zu ka­the­dra­len Über­bau: »Re­a­ding-Room« der FAZ (ein häss­li­cher An­gli­zis­mus – den­noch: hö­rens­wert das Le­sen von Chri­sti­an Ber­kel), Mar­gi­na­li­en­band mit In­ter­views, Gra­phi­ken und text­in­ter­pre­ta­to­ri­schem Rüst­zeug, ei­ge­ne Web­sei­te (noch aus­führ­li­che­re Do­ku­men­te als im Mar­gi­na­li­en­band), und fast je­des Feuil­le­ton äu­ssert sich. Und wenn man das Buch mit sei­nen fast 1.400 Sei­ten vor sich lie­gen hat und in den Hän­den wiegt, dann fragt man sich, ob die Er­war­tun­gen ob die­ses Mo­nu­men­ta­lis­mus über­haupt ein­ge­löst wer­den kön­nen. Oder ob da nicht ein Au­tor Op­fer sei­ner ei­ge­nen Hy­bris wird.

Jonathan Littell: Die Wohlgesinnten
Jo­na­than Lit­tell: Die Wohl­ge­sinn­ten

»Die Wohl­ge­sinn­ten« sind die fik­ti­ven Me­moi­ren von Dr. Ma­xi­mil­li­an Aue, Jahr­gang 1913, deutsch-fran­zö­si­scher Her­kunft, pro­mo­vier­ter Ju­rist und am En­de, 1945, SS-Ober­sturm­bann­füh­rer. Aue ist Ich-Er­zäh­ler, was als »neu« in Be­zug auf die »Tä­ter­per­spek­ti­ve« hin­ge­stellt wird. Das stimmt in die­ser Ab­so­lut­heit na­tür­lich nicht und wird nicht bes­ser, in dem man es dau­ernd wie­der­holt. Je­der zwei­te Kri­mi schiebt heut­zu­ta­ge den Tä­ter und des­sen Mo­ti­va­ti­on in den Vor­der­grund – meist als Bre­chung zum All­tag des Kom­mis­sars. Hin­sicht­lich der Shoa stimmt das auch nicht. Man kann nicht so tun, als sei die »Spra­che der Tä­ter« zu er­fin­den. Es gibt sie längst – so­wohl im Ori­gi­nal, als auch in zahl­rei­chen Fik­tio­nen, die längst in die Welt­li­te­ra­tur und ‑dra­ma­tik ein­ge­flos­sen sind.

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Mi­cha­el On­da­at­je: Di­vi­sade­ro

Michael Ondaatje: Divisadero
Mi­cha­el On­da­at­je: Di­vi­sade­ro
Ziem­lich ge­nau in der Mit­te er­fah­ren wir die un­ter­schied­li­chen Deu­tungs­mög­lich­kei­ten des Be­griffs Di­vi­sade­ro (und ganz am En­de er­fah­ren wir, wel­che Mu­sik die­sem Buch mehr oder we­ni­ger zu­grun­de liegt). Ei­ner­seits ist das ei­ne Stra­sse in San Fran­cis­co (ei­ne der Prot­ago­ni­stin­nen, An­na, wohn­te dort). An­de­rer­seits kann es auch vom spa­ni­schen di­vi­sión – Tei­lung, Tren­nung kom­men, denn frü­her ein­mal be­zeich­ne­te die­se Stra­sse die Gren­ze zwi­schen San Fran­cis­co und den Fel­dern von Pre­si­dio. Oder – und da kommt man der Sa­che ver­mut­lich ganz na­he – der Na­me lei­tet sich her von ‘di­vi­sar’, was be­deu­tet: »et­was aus der Fer­ne betrachten«…Er be­zeich­net al­so ei­ne Stel­le, von der aus man weit in die Fer­ne se­hen kann.

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Wal­ter Kem­pow­ski ist ge­stor­ben

Als die Kahl­schlag­li­te­ra­ten der Grup­pe 47 sich wohl­feil um Pe­ti­tes­sen strit­ten oder an ih­ren Le­gen­den strick­ten oder »Auf­ar­bei­tung« be­trie­ben – da sass Wal­ter Kem­pow­ski in Baut­zen im Zucht­haus. Als er 1956 ent­las­sen wur­de, küm­mer­te er sich erst ein­mal um sein Pri­vat­le­ben. Ein ehe­ma­li­ger Häft­ling aus der »Zo­ne« hät­te auch nicht be­son­ders gut ins po­li­ti­sche Kon­zept ge­passt. Der Zweck der Grup­pe 47 war rund zwan­zig Jah­re spä­ter er­füllt – das Spin­nen ei­nes li­te­ra­ri­schen Netz­wer­kes, dass bis heu­te noch an­hält (so­fern die be­tei­lig­ten Per­so­nen noch le­ben). Kem­pow­ski kam zu spät und aus der fal­schen Rich­tung. Aber es be­darf we­nig pro­phe­ti­scher Kraft an­zu­neh­men, dass er sich un­ter den Selbst­dar­stel­lern dort nicht be­son­ders wohl­ge­fühlt hät­te.

Der Stall­ge­ruch fehl­te

In sei­nen letz­ten In­ter­views sprach der tod­kran­ke Kem­pow­ski viel von sei­ner spä­ten An­er­ken­nung. Von der Ver­lei­hung des Bun­des­ver­dienst­kreu­zes. Sei­ne Au­gen blitz­ten, als da­mals al­le Leu­te für ihn auf­ge­stan­den wa­ren. Spä­te Ge­nug­tu­ung ei­nes Schrift­stellers, der wie kaum ein an­de­rer die Kluft zwi­schen »Kri­tik« und »Pu­bli­kum« wider­spiegelte. Jah­re­lang ver­ramsch­te die Kri­tik sei­ne Bü­cher – auch noch, als »Ta­dellöser & Wolff« von Eber­hard Fech­ner kon­ge­ni­al und wun­der­bar ver­filmt wur­de. Man rümpf­te in be­stimm­ten Krei­sen die Na­se, weil Kem­pow­ski kei­nen »Stall­ge­ruch« hat­te. Den Büch­nerpreis hat er nie be­kom­men – ein Skan­dal! Sei­ne Pro­sa war we­der ex­pe­ri­men­tell noch Be­trof­fen­heits­kitsch und wi­der­sprach lan­ge dem ge­sell­schafts­po­li­ti­schen Zeit­geist. Man hat­te sich in ei­ner Ju­gend­zeit im Na­tio­nal­so­zia­lis­mus nicht ir­gend­wie wohl­zu­füh­len ge­habt. Kem­pow­ski hat sich – glück­li­cher­wei­se für die Li­te­ra­tur! – nie­mals die­sen Im­pe­ra­ti­ven ge­beugt. Er war und blieb das, was man ei­nen un­ab­hän­gi­gen Geist nann­te. Sei­ne Flucht war nicht die in die Li­te­ra­tur, son­dern – um­ge­kehrt zu vie­len an­de­ren – die in den Schul­dienst. Kem­pow­ski war aber kein Stu­di­en­rat, der auch schrieb – er war ein Schrift­stel­ler, der Leh­rer war.

1990 wur­de Kem­pow­ski in ei­ner üb­len Kam­pa­gne des Pla­gi­ats be­zich­tigt. End­lich nahm sich die Gross­kri­tik sei­ner an – Hell­muth Ka­ra­sek stell­te die Fak­ten klar und ent­la­ste­te Kem­pow­ski in ei­nem ful­mi­nan­ten Ar­ti­kel im »Spie­gel«. Zu die­ser Zeit steck­te Kem­pow­ski in ei­nem rie­si­gen Pro­jekt, dem »Echo­lot«. 1999 er­schie­nen die er­sten vier Bän­de die­ses »Echo­lots«. Es soll­ten noch wei­te­re acht Bän­de fol­gen.

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