Um­ber­to Eco: Der Fried­hof in Prag

Umberto Eco: Der Friedhof in Prag
Um­ber­to Eco: Der Fried­hof in Prag

Rund 650.000 Ex­em­pla­re sind von Um­ber­to Ecos »Der Fried­hof in Prag« seit Ok­to­ber 2010 in Ita­li­en ver­kauft wor­den. In An­be­tracht des­sen, wel­che Bü­cher in Deutsch­land Mil­lio­nen­auf­la­gen er­zie­len, spricht das zu­nächst ein­mal deut­lich für die Kul­tur­na­ti­on Ita­li­en. In 40 Spra­chen soll das Buch über­setzt wer­den. Mit der deut­schen Aus­ga­be zieht der Han­ser-Ver­lag al­le Re­gi­ster sei­ner Mar­ke­ting-Kunst. Es gibt für das Kri­ti­ker­volk so­gar ein »Ein­le­se­buch« – un­ter an­de­rem mit Per­so­nen- und Zeit­re­gi­ster zum Ro­man und ei­nem Auf­satz über Ver­schwö­rungs­theo­rien von Phil­ipp Blom. Die­ser schreibt, es sei letzt­lich gleich­gül­tig, ob Verschwörungs­theorien wahr sei­en oder nicht. Sie müss­ten nur »aus­reichend viel Wahr­heit be­inhal­ten, um plau­si­bel zu sein«, aber ih­re »ei­gent­li­che Kraft« lä­ge im »emo­tio­na­len Sog…im Ver­spre­chen von Sinn, von ei­nem Gan­zen, an das man glau­ben kann und des­sen Teil man wird«. Das ist na­tür­lich nicht falsch, er­klärt aber nicht den Sog von Ver­schwörungstheorien, die, je nach La­ge, kom­pli­zier­te Vor­gän­ge ra­di­kal ver­ein­fa­chen oder auch ein­fa­che Er­eig­nis­se mit Kom­ple­xi­tät auf­la­den.

Wei­ter­le­sen ...

Ma­nue­la Fuel­le: Fen­ster auf, Fen­ster zu

Manuela Fuelle: Fenster auf, Fenster zu
Ma­nue­la Fuel­le:
Fen­ster auf, Fen­ster zu

An­fangs denkt man es geht um Wal­ter, Elas Va­ter. Der Va­ter, der »Mut­ter und Va­ter in ei­nem war«. Der Va­ter und sei­ne Schrul­len. »Epi­ku­reisch« nennt ihn Ela, die Ich-Er­­zäh­le­rin. Das stimmt nur be­dingt. Ob­wohl: Die Sparsam­keit geht schein­bar in skur­ril-krea­ti­vem Geiz über. Die Bröt­chen sind ihm zu teu­er. Nach ei­nem Ge­spräch mit dem Bäcker holt er für Klein­geld die »al­ten« Bröt­chen ab. Und steht ab so­fort um 2 Uhr mor­gens da­für auf. Dumm ist er auch nicht. Er be­schäf­tigt sich mit Spi­no­za oder He­gel. Hil­fe kann er nicht aus­hal­ten; die Rücken­schmer­zen wer­den ver­tuscht.

Aber es bleibt nicht bei den An­ek­do­ten. 1968 ist Ela fünf Jah­re alt, als sich die El­tern schei­den las­sen. Sie und ih­re Ge­schwi­ster soll­ten sich ent­schei­den – für den Va­ter oder die Mut­ter. Jetzt und so­fort. Dass die El­tern zu­sam­men­blei­ben soll­ten – ihr Wunsch – war nicht vor­ge­se­hen. Sie, die Äl­te­ste, ent­schied sich für den Va­ter. Jahr­zehn­te spä­ter wohnt Ela in Tü­bin­gen und er­hält mah­nen­de Brie­fe von ih­ren Ge­schwi­stern: Der Va­ter sei ver­wirrt, be­dür­fe der Hil­fe. Und weil sie, Ela, die­sem Ur­teil über ih­ren Va­ter im­mer wi­der­spro­chen ha­be, soll sie ihn su­chen. Denn er ist spur­los ver­schwun­den – we­der in der Stadt noch auf sei­nem Hof im Groß­raum Ber­lin auf­find­bar; kein Le­bens­zei­chen. Da­bei hat­ten die Ge­schwi­ster Pro­ble­me Ela tele­fonisch zu er­rei­chen. Die ging nicht an den Ap­pa­rat. Der Ap­fel, der nicht all­zu weit vom Stamm fällt.

Wei­ter­le­sen ...

An­drzej Sta­si­uk: Hin­ter der Blech­wand

Andrzej Stasiuk: Hinter der Blechwand
An­drzej Sta­si­uk:
Hin­ter der Blech­wand
    Ich konn­te mich wirk­lich nicht er­in­nern, wann ich ihn zum er­sten Mal ge­trof­fen ha­be. Er war wie der Geist die­ser Stadt. Er ver­kör­per­te sie: grau, un­schein­bar, fast durch­sichtig. Der erst­ge­bo­re­ne Sohn der All­täg­lich­keit, von Ge­burt an im Schei­tern be­wan­dert. Aber man muß­te ihn nur an­schau­en, den Blick auf ihn hef­ten, um nicht durch ihn hin­durch­zu­se­hen, und schon war er ein an­de­rer. Wenn je­mand ihn wahr­nahm, wur­de er sicht­bar. Er sam­mel­te sich, ge­riet in Span­nung, sei­ne Ge­gen­wart ver­dich­te­te sich. Er war über­all, sah und wuß­te al­les, den Rest ahn­te er.

Die Re­de ist von Wła­dek. Er und der Er­zäh­ler, Pa­wel, kau­fen und ver­kau­fen haupt­säch­lich Tex­ti­li­en (Pa­ris – Lon­don – New York) auf den Wo­chen- und Jahr­märk­ten Ost­eu­ro­pas. Sie sind die (selbst­er­nann­ten) Kö­ni­ge des Plun­ders. Da­bei müs­sen sie sich zu­se­hends mit den An­bie­tern der asia­ti­schen Pro­duk­te mes­sen, die­sem Ramsch und Tand von er­bärm­li­cher Qua­li­tät. Klei­dungs­stücke, die schon nach kur­zer Zeit nur noch als Putz­lap­pen tau­gen. In den be­sten Mo­men­ten ver­nimmt man im Hin­ter­grund die­ser zum Teil rü­den Be­schimp­fun­gen des asia­ti­schen Bil­lig­krams ein zwi­schen Ehr­furcht und Fe­ti­schis­mus chan­gie­ren­des Sen­ti­ment zum das Ding, das, trotz al­ler kom­mer­zi­el­len At­ti­tü­den, mehr ist als nur schnö­des Han­dels­ob­jekt. (Oder ist man jetzt schon auf die Władek’sche Wer­bung rein­ge­fal­len?)

Wei­ter­le­sen ...

Leif Randt: Schim­mern­der Dunst über Co­by Coun­ty

Ein sil­ber­nes Fast-Qua­drat und grau-sil­ber­far­be­ne, ver­tief­te Buch­sta­ben auf wei­ßem Grund: Sel­ten hat ein Co­ver die Stim­mung ei­nes Bu­ches der­art kon­ge­ni­al be­bil­dert. Denn der­art asep­tisch er­scheint das Le­ben in der fik­tiv-uto­pi­schen Stadt Co­by­Coun­ty in Leif Randts Ro­man.

Leif Randt: Schimmernder Dunst über Coby County
Leif Randt: Schim­mern­der Dunst über Co­by Coun­ty

Tat­säch­lich heißt es auf den Ti­tel­sei­ten noch »Co­by Coun­ty« – im Buch gibt es dann über­all die­se schicken Bin­nen­ma­jus­keln, vom Ku­chen­bring­dienst Bak­ery­Ex­press über das Mu­se­um Cony­Coun­ty­Art­house, ei­ner ehe­ma­li­gen Fa­brik (Coleman&Aura), den Hü­geln der Stadt (Co­lem­anHills) und der Ei­sen­bahn­ge­sell­schaft CC.MetroExpress. Und na­tür­lich heißt es jetzt Co­by­Coun­ty, die­ser im geo­gra­fi­schen Nie­mands­land an­ge­sie­del­te Ort, we­der USA noch Eu­ro­pa. Ein Ort, in dem der Früh­ling En­de Fe­bru­ar be­ginnt und ei­ne ganz spe­zi­el­le Jah­res­zeit zu sein scheint – warm, mit vie­len Tou­ri­sten und Un­men­gen von Par­tys und Ver­an­stal­tun­gen.

Wei­ter­le­sen ...

Ju­dith Schal­an­sky: Der Hals der Gi­raf­fe

Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe
Ju­dith Schal­an­sky:
Der Hals der Gi­raf­fe

In­ge Loh­mark ist Leh­re­rin am »Charles-Dar­win-Gym­na­si­um« in ei­nem nicht nä­her ge­nann­ten Ort in Vor­pom­mern – schein­bar ei­ne Re­gi­on zwi­schen Wild­ostphantasien und deut­schem Mez­zo­gior­no. Loh­mark gibt als Klas­sen­leh­re­rin Bio­lo­gie und Sport in der neun­ten Klas­se – für nur noch zwölf Schü­ler – fünf Jun­gen, sie­ben Mäd­chen. Es gibt kei­ne Kin­der mehr; erst recht kei­ne Gym­na­si­um-Taug­li­chen. Es ist die letz­te neun­te Klas­se die­ser Schu­le, die in ei­ni­gen Jah­ren ge­schlos­sen wer­den soll. Nach­mit­tags be­her­bergt das Ge­bäu­de heu­te schon die Volks­hoch­schu­le (was von tei­len des Kol­le­gi­ums nicht gern ge­se­hen ist).

In­ge Loh­mark ist seit drei­ßi­ge­in­halb Jah­ren Leh­re­rin und vom al­ten Schlag. Wenn sie »Set­zen« sagt, set­zen sich die Schü­ler; die Sport­stun­de be­ginnt sie mit ei­nem zünf­ti­gen »Still­ge­stan­den«. Ihr Un­ter­richt ist krei­de­la­stig und fron­tal. Sie kennt kei­ne zärt­li­che Nach­gie­big­keit, denn es lohnt sich nicht, die Schwa­chen mit­zu­schlei­fen. Sie wa­ren nur Bal­last, der das Fort­kom­men der an­de­ren be­hin­der­te. Ge­bo­re­ne Wie­der­ho­lungs­tä­ter. Pa­ra­si­ten am ge­sun­den Klas­sen­kör­per. Nach we­ni­gen Sei­ten er­kennt man, wie der Na­me der Schu­le et­was mit dem Welt­bild von In­ge Loh­mark zu tun ha­ben soll (er­ste Skep­sis).

Wei­ter­le­sen ...

Das gro­ße Ver­sa­gen

Char­lot­te Ro­ches Schlam­pen­pa­la­ver »Schoß­ge­be­te«, der neue Neo-Rea­lis­mus der Li­te­ra­tur­kri­tik und ein klei­ner Aus­flug

»Schoß­ge­be­te« be­rich­tet von drei Ta­gen aus dem Le­ben der Eliza­beth Kiehl (33), die mit ih­rem Mann Ge­org (50) und 7jähriger Toch­ter Li­za in ei­ner »anale[n] Woh­nung« in ei­ner deut­schen Groß­stadt in der »Jo­na­than-Sa­fran-Foer-Ära« (d. i. die Ge­gen­wart) lebt. Li­zas Va­ter ist Eliza­beths Fast-Ehe­mann Ste­fan. Fast-Ehe­mann, weil drei Brü­der von Eliza­beth bei der An­rei­se zur Hoch­zeit töd­lich ver­un­glück­ten; die Mut­ter wur­de schwer­ver­letzt. Die Hoch­zeit wur­de ab­ge­sagt; die Be­zie­hung zer­brach. Li­za wur­de, wie Eliza­beth er­zählt, prak­tisch als letz­tes Mit­ein­an­der zwi­schen den bei­den ge­zeugt. Fast gleich­zei­tig lern­te Eliza­beth den Ga­le­ri­sten Ge­org ken­nen, der da­mals noch mit ei­ner an­de­ren Frau ver­hei­ra­tet war und Va­ter vom fast gleich­alt­ri­gen Max ist. (Die Verwandtschaftsver­hältnisse von Eliza­beth sind noch kom­pli­zier­ter, weil ih­re Mut­ter Liz mit drei Män­nern ver­hei­ra­tet war.)

Wei­ter­le­sen ...

Ma­ja Ha­der­lap: En­gel des Ver­ges­sens

Am En­de re­ka­pi­tu­liert die ein­mal von ih­rem Va­ter Mic ge­nann­te Er­zäh­le­rin, dass der En­gel des Ver­ges­sens schlicht­weg ver­ges­sen ha­be, die Spu­ren der Ver­gan­gen­heit aus ih­rem Ge­dächt­nis zu til­gen. Die Schutz­en­gel, die das Kind be­hü­ten soll­ten und von der Mut­ter als klei­ne Bild­chen am Kin­der­bett an­ge­bracht wur­den, ha­ben ih­re Ge­stalt ver­lo­ren und wer­den – was für ...

Wei­ter­le­sen ...

Ali­ce Mun­ro: Zu viel Glück

Alice Munro: Zu viel Glück
Ali­ce Mun­ro: Zu viel Glück

Es gibt Au­toren, die seit Jah­ren der­art in­nig ge­lobt wer­den, dass man ih­nen ir­gend­wann nicht ent­kom­men kann. Die über die Jah­re auf­ge­bau­te Er­war­tungs­hal­tung (»Literaturnobelpreis­kandidat!«) führt fast zwangs­läu­fig in ei­ne Ent­täu­schung (zu­meist mitt­le­rer Di­men­si­on): Na­ja, nicht schlecht – aber gleich No­bel­preis?

Es ge­hört zu den letzt­lich un­er­klär­li­chen Ge­heim­nis­sen ei­nes Le­ser­le­bens, war­um man sich aus­ge­rech­net für die­sen oder je­nen Au­toren be­gei­stert. Ist man dem Au­tor, der Au­torin na­he? Oder ist es das Ge­gen­teil, die un­er­reich­ba­re Di­stanz? Ergriffen­heit ver­sus Aben­teu­er­lust? Su­chen nach Par­al­le­len oder Flucht aus dem Be­kann­ten? Auf­ge­ho­ben­sein oder Stell­ver­tre­ter­le­ben?

Wei­ter­le­sen ...