Anfangs denkt man es geht um Walter, Elas Vater. Der Vater, der »Mutter und Vater in einem war«. Der Vater und seine Schrullen. »Epikureisch« nennt ihn Ela, die Ich-Erzählerin. Das stimmt nur bedingt. Obwohl: Die Sparsamkeit geht scheinbar in skurril-kreativem Geiz über. Die Brötchen sind ihm zu teuer. Nach einem Gespräch mit dem Bäcker holt er für Kleingeld die »alten« Brötchen ab. Und steht ab sofort um 2 Uhr morgens dafür auf. Dumm ist er auch nicht. Er beschäftigt sich mit Spinoza oder Hegel. Hilfe kann er nicht aushalten; die Rückenschmerzen werden vertuscht.
Aber es bleibt nicht bei den Anekdoten. 1968 ist Ela fünf Jahre alt, als sich die Eltern scheiden lassen. Sie und ihre Geschwister sollten sich entscheiden – für den Vater oder die Mutter. Jetzt und sofort. Dass die Eltern zusammenbleiben sollten – ihr Wunsch – war nicht vorgesehen. Sie, die Älteste, entschied sich für den Vater. Jahrzehnte später wohnt Ela in Tübingen und erhält mahnende Briefe von ihren Geschwistern: Der Vater sei verwirrt, bedürfe der Hilfe. Und weil sie, Ela, diesem Urteil über ihren Vater immer widersprochen habe, soll sie ihn suchen. Denn er ist spurlos verschwunden – weder in der Stadt noch auf seinem Hof im Großraum Berlin auffindbar; kein Lebenszeichen. Dabei hatten die Geschwister Probleme Ela telefonisch zu erreichen. Die ging nicht an den Apparat. Der Apfel, der nicht allzu weit vom Stamm fällt.
Aber dann macht sie sich auf den Weg mit dem Zug, verpasst ihren Zielbahnhof, wird zu spät geweckt und geht die ganzen sieben Kilometer mit ihrem Rollkoffer zu Fuß zurück. Mehr als die Hälfte des Buches geht Ela auf der Bahnstrecke in die Dämmerung hinein und assoziiert dabei ihre Kindheit und Jugend in der DDR mit diesem Vater, Tante Helga (der ewigen Freundin), dem verwilderten Garten, den Haustieren bis hin zu Ziegen und all den anderen Ideen des manchmal arg müden Vaters, der im Beruf politisch neutral war, im Leben aber streitbar. Er war sogar ein Schulgegner und glaubte, die Kinder besser selber unterrichten zu können. Dennoch: Kein dezidiert falsches Leben.
So heftig sind diese Erinnerungseruptionen Elas, dass manchmal vorletzte und letzte Worte eines Satzes verschluckt werden (man ergänzt das Fehlende problemlos). Am Ende immer mehr. Auch wenn es rückblickend nicht nur Idyllen sind – »glückliche Kinder« seien sie doch gewesen, so lautet Elas Resumé. Aber manchmal weiß man nicht, ob vielleicht die Erzählerin noch ein bisschen neurotischer als ihr Vater ist. Beispielsweise als sie im Jeepfahrer, der sie vom Bahnhof zum Hof bringt, plötzlich alle Anzeichen eines Massenmörders zu erkennen glaubt.
Manuela Fuelle changiert zwischen kurzen, stakkatohaften und längeren, Thomas-Bernhard-ähnlichen eliptischen Sätzen. Ihr beschwörendes, mäanderndes, sich zuweilen Kausalketten verweigerndes Erzählen ist nicht immer nur luftig und die Lockerheit des Anfangs weicht irgendwann einer gewissen, zur (absichtsvollen) Redundanz neigenden Erinnerungs-Verbissenheit. Und doch überwiegt der Eindruck, etwas Schönes und vor allem Einzigartiges gelesen zu haben. Ein so ganz anderes Refugienbürgertum wie das der Familie Hoffmann aus Uwe Tellkamps »Turm«.
Ist es ein Fehler oder Absicht, dass der Vater 84 Jahre alt ist, aber zwischen 1929 und 1930 geboren ist? Phantasiert da eine Erzählerin in die Zukunft hinein? Wie auch immer: »Fenster auf, Fenster zu« ist ein elegischer, zärtlicher Abgesang auf eine Kindheit in der ehemaligen DDR, die mit dem Tod des Vaters droht, endgültig verloren zu gehen und noch einmal – fast rhapsodisch – evoziert und mit ruppiger Behutsamkeit vor dem endgültigen Vergessen gerettet wird.
Das Schlussbild bleibt lange im Kopf. Ela steht vor dem mit einer Kette verschlossenen Tor vor dem »Hof« des Vaters – kein Zeichen, kein Licht, niemand ist da. Und dann beginnt es auch noch zu regnen und »alles Wasser fällt aus dem Himmel, und dann fällt der Himmel.« Am Ende macht man sich wirklich Sorgen um den Vater. Und dann um die Tochter im fallenden Himmel.
Ein unglaubliches Buch, das einen so schnell nicht los lässt – je tiefer man drin ist. Und diese Besprechung von Gregor Keuschnig zeigt mir, dass da dem Leser viel Interpretations-Spielraum bleibt. Sehr empfehlenswert!
Ich bewundere Sie immer noch dafür, dass Sie all diese Bücher – die offenbar nur sehr wenige interessieren – tatsächlich lesen, darüber nachdenken und auch noch lange fundierte Kommentare darüber verfassen. Sie wissen doch auch, dass all diese erfolglosen Bücher (Eine Vater-Tochter-Geschichte; na und?) nach einem halben Jahr auf dem Grabbeltisch landen. Hier um die Ecke schließt gerade wieder eine Bücherei. Zuletzt hatte der laden noch versucht, Bücher zum halben Preis auf Tischen vor dem Laden an die Leute zu verhökern. Ich hätte ja gerne mit einem Kauf geholfen, nur das, was mit interessierte, hatte ich schon und der Rest – wie solche Vater-Tochter-Geschichten von irgendwelchen deutschen Namenlosen – interessierte mich nicht.
Ich weiß: es ist traurig. Als ich mal las, wieviele Bücher ich im Leben tatsächlich lesen kann, und zwar aus Zeitgründen: man lebt ja nur eine gewisse Zeit, habe ich mich entschlossen, nur das zu lesen, was wirklich für mich wichtig ist. Und Elternprobleme hatte ich (wie wohl jeder) selbst, sowas muss ich später nicht auch noch nachlesen.
Dann doch lieber einen der vielen Klassiker nachholen. Und, ja, ich gebe es zu: Lesen muss mir Spaß machen. Und das vollbringt nun mal eher ein P.G. Wodehouse als all die vielen Deutsch schreibenden Problembehandler oder gar Herr Handke.
Ich bewundere Ihre Ausdauer. Es macht Ihnen offenbar Freude, all dies zu lesen.
Der Webmaster dieses literarischen Salons hier nimmt den vorangegangenen Kommentar #2 zum Anlaß, gleichfalls (und diesmal auch öffentlich) dem Hausherrn seine Bewunderung auszusprechen für die dreifache Mühe des Lesens, Reflektierens und Kritisierens dicker Bücher am laufenden Band. Sicher, der Lohn seiner Mühe sind (zumeist) Diskurse mit der Leserschaft auf sehr hohem Niveau, aber die Vorleistung ist gleichwohl mehr als bemerkenswert. Meiner einer hat nach exakt sechs Jahren bunt bebilderten Bloggens neulich die eigene virtuelle Bude zugenagelt, weil sich – gerade bei den ausführlicheren Texten – die Arbeit daran oft über mehr Zeit erstreckte als der zugrundeliegende Anlaß selbst!
Ein Nachtrag zum Thema »Klassiker« sei mir noch erlaubt: Seit ich meinen Kindle besitze und so gut wie stets in griffbereiter Reichweite habe, lese, ja fräse ich mich gerne durch die großen Klassiker der Weltliteratur: Die gibt es beim größten Online-Buchhändler allesamt für 0,00 EUR zu kaufen und in Sekundenschnelle auf den angenehm ablesbaren Digitalpapier-Schirm gebeamt. Die Zahl der für lau erhältlichen gemeinfreien Werke (deren Autoren schon länger als 70 Jahre nicht mehr unter uns weilen) geht in die ‑zigtausende. Da findet sich mehr als genug bildende und erbauliche Lektüre für jeden Anspruch und jeglichen Geschmack.
Sage mir jetzt keine(r), das wäre ein den Reclam-Heftchen inferiores Vergnügen: Im Gegenteil, es eröffnet (mir zumindest) neue Welten, ohne mich Geld und wertvollen Regalplatz zu kosten, der schon mit (Papier-)Büchern aus fünf Jahrzehnten Lesens mehr als vollgestellt ist...
Tja, Jeeves, »Vater-Tochter-Geschichte, na und?« – das könnte man immer und überall und zu allem sagen, finden Sie nicht? Schwingt in Ihrer Antwort nicht zu viel Kulturpessimismus mit? Dann dieses – sorry für dieses Wort – vergiftete Lob einer Bewunderung. Als würde ich eine Art Opfer für irgendwen bringen (oder für irgendwas). Sollte diese Intention jemals bei mir als Pflänzchen vorhanden gewesen sein, ist sie längst hinweggemäht von der Alltäglichkeit einer Welt, die mit Buchbesprechungen und ‑eindrücken weiß Gott zugedeckt wird.
Ich hatte neulich ein ähnliches Gespräch in einer Runde. Als man dann etwas ins Detail ging, fühlten sich andere Diskutanten urplötzlich »ausgegrenzt«. Da es sich nicht um ein Fernsehprogramm handelte was man hätte wegzappen können, wurde die Diskussion beendet und fast bekam man das Gefühl, sich entschuldigen zu müssen, jenseits von Klatsch und Tratsch gesprochen zu haben.
Wie Sie das wissen: Die deutschen »Problembehandler«. Neulich sprach Gottschalk mit Kehlmann. Gottschalk wußte auch, dass die deutsche Literatur problembeladen sei – und gab gleichzeitig zu, seit ‑zig Jahren kein deutschsprachiges Buch der üblichen Verdächtigen mehr gelesen zu haben. Er lobte Kehlmann und war ganz überrascht. Wie oft wäre er wohl bei anderen Büchern »überrascht« gewesen?
Lieber Ralph, danke für die Zeilen, aber Bewunderung ist nicht nötig. Noch macht es Freude und erweitert zuweilen auch meinen Horizont.
Ich glaube, die Sache mit dem Kindle überzeugt mich (die Klassiker derart »abrufbereit« zu haben, ist verlockend). Schau’mer mal...
@jeeves
Wie wollen Sie wissen, ob nicht unter den Büchern, die Sie nicht lesen, gerade das Buch ist, das für Sie enorm wichtig gewesen wäre und noch ist? In diesem Jahr sind wirklich ganz hervorragende deutschsprachige Bücher erschienen. Das fängt bei A. Klüssmann an und geht über J. Scharlansky, E. Ruge, P. Kurzek, S. Lewitscharoff bis M. Kumpfmüller. Das ist für jeden etwas dabei und es gibt noch mehr spannende und sprachlich hervorragende Bücher in diesem Jahr. Viele Klassiker sind zwar lesenswert, aber oft sind einzelne Klassiker schon ein Mythos durch Verfilmungen und ausufernde Interpretationen, so dass sie eigentlich nichts mehr im Leser bewegen. Jedenfalls sind sie nicht die Axt in uns, wie Kafka es von einem wichtigen Buch gefordert hat.
Also, G. Keuschnig, ruhig weiterhin neue Bücher rezensieren.
@Jeeves
Ich wundere mich auch: Vorher weiß man es doch nicht, sonst müsste man doch nicht mehr lesen – das einzige was wir haben sind Vorurteile in ihrem besten Sinn!
Hm, und das »namenlos«, warum steht das eigentlich da?
Gregor, würde ich sagen, teil hier (s)eine Leidenschaft mit uns (wofür wir ihm sehr dankbar sind).
@Norbert
Die Aussage, dass »viele Klassiker« (welche?) beim Leser »eigentlich nichts mehr bewegen« ist kühn. Sie ist auch m. E. abwegig. Michael Kohlhaas, Die Leiden des jungen Werthers, Effi Briest, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Krieg und Frieden, Berlin Alexanderplatz, Der Zauberberg – das sind (zum Beispiel) alles »Klassiker«, die zeitlos sind und weit entfernt, nur noch als Mythos ihre Berechtigung zu erhalten. Dagegen die neue deutschsprachige Literatur anzuführen ist mindestens verfrüht; im Falle von Schalansky garantiert abwegig.
@ Gregor Keuschnig
Nun, den Kühnen gehört die Literaturwelt. Aber im Ernst. Wer liest denn noch den »Alexanderplatz«? Für mich einer der besten Großstadtromane und Romane über die Zeit der Weimarer Republik, die es gibt. Es gibt hervorragende Ausgaben, auch als Taschenbuch, aber gelesen? Effi Briest, wurde und wird vielen durch die Schule verleidet. Anna Karenina und Krieg und Frieden wurden jetzt neu übersetzt. Ich kenne die Auflagen nicht, aber ich bezweifle, ob jeweils 10000 Ex. verkauft wurden. Das beste Beispiel ist doch »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit.« Auch hier, das ist Literatur die ich persönlich hervorragend finde, die einzelnen Beobachtungen und Schilderungen der Salongespräche, die Naturschilderungen usw., usf. Aber wer hat denn tatsächlich die 7 Bände gelesen? Sie mögen in vielen Regalen stehen, aber ungelesen. Daselbe gilt doch für Kleist, Thomas Mann und andere Autoren. Gab es nicht kürzlich eine Germanistin, die unverblümt bekannte, nichts von Kleist zu kennen? Als höhere Unterhaltung auf Parties etc. mögen Klassiker in besseren Kreisen immer noch dienen, ich kenne mich da nicht so aus. Aber viele kennen sie durch Verfilmungen, Lexika und Wikipedia, aber nicht durch eigene Lektüre. Ich persönlich meine nicht, das war vielleicht ein Mißverständnis, dass man Klassiker nicht mehr lesen sollte, aber ich habe meine Zweifel, dass eine relevante Menge von Interessenten gibt, die diese Bücher lesen.
In der »Welt« war vor ein paar Tagen ein faszinierendes Gespräch zwischen Alexander Kluge und Joseph Vogl über »Moby Dick«. Es gibt zwei neue hervorragende Übersetzungen, aber ich bezweifle, ob tatsächlich eine nennenswerte Zahl von Lesern zu den Büchern greift, obwohl es sich für jeden lohnen würde. Sie merken, ich bin eigentlich ein Anhänger der Klassiker, habe sie in meinen Regalen und auch fast alle gelesen, aber wenn ich mich umhöre, wer noch gelesen hat, Schweigen wie im Universum. Das wird in der Zukunft nicht anders werden, weil sehr viele sich Büchern mit komplexem Inhalt über, sagen wir mal, 300 Seiten, nicht mehr aussetzen werden.
Über Schalansky sind wir verschiedener Meinung, aber da können wir beide nicht anders.
Vielleicht konnte ich mit diesen Ausführungen, das verursachte Mißverständnis ausräumen. Also ja zu der Relevanz und Aktualität von Klassikern, aber auch zu neuen Büchern, Skepsis hinsichtlich vieler Leser und einer unverstellten Lektüre der Klassiker.
Sorry, da hatte ich Sie dann ein wenig falsch verstanden. Wenngleich ich diesen kulturpessimistischen Duktus nicht ganz nachvollziehen kann – vielleicht aber auch, weil ich es nicht will. Aber: Dass sich Frau Bünger neulich als in Sachen Kleist Unkundige geoutet hat, spricht ja nicht gegen Kleist. (Es spricht gegen diese Dame und gegen dieses Studium, was eine derartige Halbbildung zuläßt.) Und dass sie von »normalen Leuten« nicht gelesen werden, sagt auch nichts gegen diese Bücher.
Jeeves trifft ja mit seinem Einwurf einen richtigen Kern: An sehr viele der von mir genannten Bücher (es gibt natürlich noch wesentlich mehr) kommen etliche der hier besprochenen Bücher nicht heran. Und werden es auch nie. Aus manchen Talenten wird nichts; andere Autoren haben nach ein, zwei Büchern ihr Pulver »verschossen«. Wieder andere Autoren interessieren mich nicht mehr – die Gründe vermag ich nicht einmal zu nennen (Wilhelm Genazino ist so einer).
Dass ich Neuerscheinungen lese, ist einerseits Neugier, andererseits durchaus auch ein gewisser Trotz. Ich habe nie einen Hehl daraus gemacht, dass dieses Aktualitätenkabinett irgendwann sicherlich zu Gunsten der noch im Regal stehenden (oder auf einem noch besorgenden Kindle abgespeicherten) Klassiker zurückgefahren werden dürfte. Und zwar in dem Moment, wenn die Mittelmässigkeit zu sehr dominiert. Aber noch gibt es interessante Anknüpfungen. Noch.
Es ist m. E. wichtig, Neuerscheinungen bzw. zeitgenössische Literatur immer dort »abzuholen«, wo sie steht. Tellkamps »Turm« kann man durchaus mit den Buddenbrooks vergleichen (vor allem literarisch – nicht thematisch). Das Buch von Manuela Fuelle natürlich nicht. Das macht das Buch aber nicht schlechter (oder besser). Natürlich braucht man eigentlich nach Goethes Faust und einigen Shakespeare-Dramen keine anderen Theaterstücke mehr anzusehen. Warum macht man es trotzdem?
Ich glaube im übrigen auch nicht an die häufig vorgebracht Ausrede, man habe einem die Literatur im Deutschunterricht ausgetrieben. Dies mag für 20jährige gelten, die froh sind, dem Schulstress entkommen zu sein. Für einen 50jährigen gilt das nicht mehr. Was aber eigentlich auch nicht schlimm ist. Nicht jeder kann sich für Literatur interessieren. Aber man sollte dies offensiv erklären und nicht anderen in die Schuhe schieben. Mir sind im Netz manche Fußballblogs mit ihren Beiträgen und Kommentaren lieber als die Klappentextabschreiber und Sternchenvergeber, die sich als »Leseratte« oder »Bücherwurm« bezeichnen.
@ Gregor Keuschnig
Vielleicht gehöre ich zu einer aussterbenden Spezies von Lesern und Buchliebhabern, was ja oft zusammenkommt. Ich lese seit über vierzig Jahren gerne Thomas Mann, A. Döblin, H. Hesse, R. Walser, von Goethe und Schiller die für mich wichtigen Werke, G.Grass, U. Johnson, P. Handke, Th. Bernhard, H. v. Doderer, aber auch A. V. Thelen usw. usf, internationale Literatur von Nabokov, Tolstoj, Bulgakow, Bunin, Tschechow, Ph.Roth, Hamsun, Garcia Marquez usw., usf. Ich bin auch, glaube ich, was Neuerscheinungen von Literatur und neue Übersetzungen betrifft, auf dem Laufenden. Ich habe in einigen Foren versucht, Gespräche über Literatur anzustoßen, nur Leere und Stille, es werden irgendwelche Fantasieromane gelesen oder andere Unterhaltungsromane. Von Lyrik will ich erst gar nicht reden. Auf Ihren Blog bin ich durch den Handkebiographen gestossen. Er ist wirklich für mich der einzig gute Literaturblog. Ja, ich bin pessimistisch oder besser traurig und melancholisch, weil ich, als jemand mit pädagogischer Ader, immer für Bücher werben möchte. Meine beiden, jetzt erwachsenen, Töchter haben sich beklagt, ich hätte ihnen zu früh Kafka und die Blechtrommel empfohlen. Beide lesen heute trotzdem Bücher, nicht immer die, die ich empfehle, aber beide wünschen sich ausdrücklich von mir zum Geburtstag und zu Weihnachten einen von mir ausgewählten Roman. Ein ganz klein wenig Resonanz habe ich erreicht, aber sonst sehe ich wirklich schwarz. Allerdings glaube ich auch nicht, dass Klassiker für die Ewigkeit geschrieben wurden, auch sie haben ihre Zeit. Erklärt uns Krieg und Frieden über heutige zwischenstaatliche Probleme wirklich so viel? Halt sagen Sie, da gibt es noch die Gesellschafts- ‚Umbruchs- und Liebesgeschichten. Aber sind diese wirklich exemplarisch für unsere Verhältnisse. Was auf jeden Fall bleibt, ist die sprachliche Schilderung und die Feinheiten der Charaktere und die psychologische Sezierungen, aber unter uns, kennt man bestimmte Verfahrensweisen nicht nach dem 2 oder 3 Roman doch bereits? Deshalb hat mich ja auch diese ganz andere Schilderung der Figur der Frau Lohmark und ihre darwinistische Sicht so überzeugt, weil überrascht. Aber, das ist ja wieder ein weites Feld. Machen Sie doch ein paar Mal im Jahr unter der Rubrik wiedergelesen oder lesenswert ein Klassikerbesprechung. Ich würde mich freuen und bestimmt auch kommentieren.
Ich bin ja gar nicht mehr sicher, ob eine gewisse Resignation – mindestens jedoch Melancholie – zum Leben eines »Kulturmenschen« dazugehört. Die pädagogische Ader habe ich mir längst schon abgewöhnt, was vielleicht an meiner Kinderlosigkeit liegt. Zu Büchern, die ich verschenke, erfahre ich nachträglich einfach zu wenig (außer, dass sie seltenst gelesen werden; es gibt da eigentlich nur eine Ausnahme im Freundeskreis). Da kommt einem dann schnell das Bild mit den Tierchen und den Perlen vor die Augen...
Sie haben natürlich recht wenn Sie sagen, dass die Klassiker nicht als »Klassiker« geschrieben wurden – trotz aller Selbstbehauptungen und Egomanien der Dichter (zu jeder Zeit). Auch bei den Zweifelnden gab es gewisses Kokettieren: Kafka wollte ja seine Werke vernichtet haben. Aber konnte er nicht ahnen, dass Brod das nicht tut bzw. nahm es das nicht in Kauf? (Ein Glück für uns heute.) Goethes italienische Reise ist natürlich nicht mehr »aktuell« wie damals – literarisch-stilistisch jedoch immer noch sehr interessant.
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Zu Schalanskys Buch: Ich nehme der Autorin diese Frau Lohmark nicht ab. Sie hat alles dafür getan, sie zu denunzieren und bloßzustellen. Das ist meines Erachtens eine Todsünde eines Autors. Natürlich kann und darf man eine bösartige Figur zur Heldin machen, aber man muß sie in ihrer Boshaftigkeit Ernst nehmen. Zur Satire reicht es aber auch nicht; hierfür ist es auch viel zu lang. Die Kritik weidet sich an Lohmarks ausgestelltes Weltbild, weil es gleichzeitig auch lächerlich gemacht wird. Das beginnt bei der Namengebung der Schule und setzt sich in den plakativen Verbalausbrüchen fort.
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Der Gedanke der Klassiker-Neulesung ist sehr gut. Ich werde dies vermutlich aufgreifen. Danke.
Ich möchte den zweiten Kommentar zum Anlass nehmen und meine Sicht zum ‘Begleitschreiben’ mitteilen, denn »einfach so« passt ein Lob, eine Respektäußerung nicht so unbedingt ins Feld der Buchbesprechungen. Ich bin sehr froh, vor drei oder vier Jahren diesen Blog entdeckt zu haben. Auch wenn ich viele vorgestellte Bücher nie lesen werde, nicht aus Interesse, sondern aus Zeitgründen, so nehme ich die Rezensionen und Gedanken des Blogherren als Anlass, Dinge zu reflektieren, die mir im umtriebigen Alltag untergegangen wären oder die ich nie gesehen hätte. Begleitschreiben pflegt in meinen Augen ein hohes Niveau, aber dran bleiben Herr Keuschnig, unbedingt dranbleiben! Gottschalks haben wir genug um uns herum. Und die Idee mit den Klassikern ... ist gut!
Kurzer Einwurf, ohne stören zu wollen: Kann es sein, dass der Pessimismus bzw. die Melancholie eine Art Selbstvergewisserung darstellen, die Bedeutung und Besonderheit des eigenen Tuns, der Interessen betonen sollen?
Und es ist schon so, dass es neben dem Bücherlesen etliche andere, reichhaltige, schöne und tiefsinnige Beschäftigungen gibt (ich lese gerade sehr wenig, habe das früher aber anders gehalten).
An Klassiker-Neulesungen wäre ich sehr interessiert.
Ich möchte das werte Publikum auf den Foren-Beitrag »Die Wiederentdeckung wunderbarer Autoren« hinweisen. Die digitale (= umstandslose und mobile) Verfügbarkeit von »Klassikern« (im weitesten Sinne) beschert heute vielen verblichenen Autoren neue Aufmerksamkeit und ein interessiertes Publikum, was man selbst vielleicht gar nicht so wahrnimmt. So ganz pessimistisch muß man die Entwicklung also vielleicht gar nicht sehen: Gelesen wird immer, und nicht immer nur Seichtes und Schund!
Sehr interessanter Link. Danke, Ralph.
@ metepsilonema
Beginnen wir mit der Selbstvergewisserung. Ich glaube nicht, zumindest ist mir dies nicht bewußt, dass diese Melancholie von diesem Motiv her bestimmt ist. Ich nehme es eher als eine unbestimmte Trauer über diese Moderne mit den neuen technischen Medien, der zunehmenden Geschwindigkeit und Beschleunigung bei gleichzeitiger Informationsfülle und zunehmender Oberflächlichkeit?, die mich, als älteren Zeitgenossen befallen hat.
Natürlich weiß ich, dass ich mich dagegen nicht wehren und diese Entwicklungen erst gar nicht stoppen kann. Für meinen kleinen Bereich versuche ich es, das muss nicht das Lesen von Büchern sein, ich verbringe sofort meine Zeit mit meiner Enkeltochter und lege jedes Buch beiseite, wenn sie kommt. Das kann auch jede andere Betätigung sein, die Muße, Denken und, von mir aus auch Kontemplation, fördert.
Das mit der Melancholie interessiert mich. Ich frage mich aber, inwiefern die nicht eher mit der eigenen Lebenszeit synchron geht als mit Gründen zu einem wirklichen Pessimismus.
(Zum Pessimismus nur kurz: Man sollte ihn als eingeführt-liebgewonnene Haltung von Kulturmenschen wahrscheinlich ablehnen, schlicht weil er letztlich nicht weiterführt – außer manchmal zu schöner Literatur, etwa Fernando Pessoas „Buch der Unruhe“.
Die Gründe dafür, die Zeichen für Niedergang, sind wohl zahlreich genug und offensichtlich. Und Niedergang war eben immer schon, seit Platon auch schon in der Kultur und ihren Medien. Es gibt aber parallel immer auch die guten Entwicklungen, und es ist, wenn nicht Entscheidungssache, eine Gewohnheitssache, worauf man sich fokussiert: Immerhin hat man die Freiheit. Die objektive Misere erwischt einen früh genug. )
Es ist wie beim Fernsehprogramm, wenn es 40 Kanäle gibt und man nie etwas für sich findet. Dann kann man wohl einen gewissen Druck empfinden zuzugeben, dass es an einem selber liegen muss. Mich macht das manchmal melancholisch, mit einer meiner langjährigsten, verlässlichsten Freuden mehr und mehr allein zu sein. (Dabei sind die meisten Leute, mit denen ich freiwillig zu tun habe Leser, und ich könnte mir auch mal wieder die Mühe machen, jemanden zu etwas überzeugen zu wollen. Letztlich bin ich Teil der Kraft, die an den Gründen für die Melancholie nichts ändert.)
Die Melancholie über einen Bedeutungsverlust läge so weniger in dem geschätzten Medium (es wird noch laaange Bücher geben, siehe bei Schallplatten), als in der Ahnung, damit tendenziell an kaum noch einer allgemeineren (um nicht zu sagen gesellschaftlichen) Relevanz- oder Konsensbildung teilzuhaben: Man nähert sich sozusagen der Minderheit, die man selber einmal final sein wird. Nähert sich hier etwas seinen Schwundstufen – oder war es da schon immer? Waren die Schriftsteller früher besser als heute und hatten deshalb auch höhere Auflagen? (War die Bildung „tiefer“ – aber hat man annähernd so viel wie heute gewusst? Aber was für eine lächerliche Clique war etwa die „Gruppe 47“ aus heutiger Sicht! Was für kleinmütige Bücher wurden mal hierzulande verfasst!)
Dabei kommt es auch immer noch, immer wieder zu ästhetischen Neuerungen, der Markt für alles weitet sich tendenziell sogar aus, heute kann jeder seine eigenen Lebenserinnerungen drucken, auch ohne demand, und Leute schreiben Bücher, von denen man im TV-Interview eigentlich keinen Satz zuende sagen hören möchte. Die moderne Unentscheidbarkeit auch in dieser Frage macht mich manchmal melancholisch.
Ansonsten bin ich, glaube ich, in meinem Grundverständnis nahe bei G.K. Meine Lieblingsschriftsteller lese ich eh regelmäßig wieder. Doch kommen eben immer noch auch wieder neue, aufregende dazu. Und die Eintracht mit „Leseratten und Bücherwürmern“ fiele mir wohl auch eher schwer. Stattdessen glaube ich etwa an den Roman als Kunstform einer komplexen ästhetischen Hervorbringung, die mit ihren Möglichkeiten je und je ganz eigenes Bewusstsein oder Vergnügen schaffen kann – und damit letztlich auch Neuigkeitswerte und gesellschaftliches Fortkommen und also wieder Relevanz.
(Ansonsten, so meine Erfahrung, hilft gegen solche Leute wie Gottschalk, die das Wort führen, Strenge. Immer wird sich einer darauf herausreden, dass er „die Lacher auf seiner Seite hat“.)
***
Vielleicht noch ein Beispiel: Als es seinerzeit um die leidige Heine-Preisverweigerung für Handke in unserem Städtchen ging, war ich einigermaßen erschüttert über die Blödheit der Nachplappereien in einer Runde auch von lokalen Künstlern: „Ach das ist doch der mit seinem Jugoslawien usw.“ Sie waren auf dem gleichen Nachrichtenstand wie Hinz und Kunz. Ich habe dann kurz darauf an einem Abend in unserem Gesprächskreis statt meines vage im Kopf vorbereiteten Themas ein paar meiner „Stellen“ aus einem der Journale Handkes gelesen, einfach so, ohne eine weitere „Verteidigung“. Die Leute, sonst durchaus eloquent, waren einigermaßen vor dne Kopf gestoßen ob der vorherigen Unbedarftheit ihrer Urteile.
Was man nicht kennt, kann man auch nicht schätzen. Und leider sind die meisten Wege der Vermittlung schon ein Ärgernis an sich oder ein Gähnen machendes Hindernis. Es kommt eben auch auf ein gewisses Engagement für seine Sache an, eine Ausdrücklichkeit, eine Mühewaltung, eine heraus sich selber wahr-sprechende Leidenschaft. (Oder ein lesenswertes Blog.)
Ich habe mir übrigens vorgenommen den „Mann ohne Eigenschaften“ dieses Jahr noch mal zu lesen, für mich. Ich empfinde ihn nicht als Klassiker. Das erste Lesen hatte ich geradezu zaghaft angefangen, und es wurde dann eine große Sache, die mich über Wochen begleitete – ich erinnere diesen Zeitabschnitt in meinem Leben eben an / als parallel dieser Lektüre. (Wahrscheinlich wie manche sich an einen „schönen Fußballsommer“ erinnern würden zu irgendeiner Weltmeisterschaft.) Die zweite Lektüre war dann eine völlig andere, auch „kritischere“, anderswie für mich gültige. Es ist diese zweibändige Dünndruckausgabe von Rowohlt. Sie und ich knistern in beiderseitiger Erwartung.
Die Sachen, die man liebt, sind nicht für jeden. Und das ist irgendwie auch gut.
@Norbert
Ich fragte, weil ich aus anderen Bereichen ähnliche Wortmeldungen kenne und das manchmal als Selbstbestätigung empfinde (und es hin und wieder selbst einmal tue). Aber möglicher Weise hat en-passant recht, dass die eigene Lebenszeit eine bedeutende Rolle spielt. Und vielleicht auch, dass Melancholie ein Zustand ist, den ich selbst zumindest, als einen wertvollen auch »schöpferisch« nutzbaren erlebe; jedenfalls keinen, den ich weg haben wollte, wenn ich darüber bestimmen könnte. Ein Moment intensiven Erlebens auf jeden Fall.
Oh, ich glaube man kann sich sehr wohl (in gewissen Grenzen) gegen die Beschleunigung wehren, ich versuche das selbst und bin durchaus erfolgreich (natürlich nicht immer). Jedenfalls sind Phänomene wie Stress und Hektik auch selbst verschuldet (weil man nicht verzichten will oder kann).
@en-passant
Schöner Kommentar!
[Administrativer Hinweis: Norberts Kommentar zur Schalansky —> hierhin verschoben]
@en-passant
Nun also zur Melancholie. Wollte ich negativ beginnen, könnte man Benjamins »Linke Melancholie« durchaus mit als Beispiel anführen. Ja, es ist schon teilweise ein Rückbezug auf sich selbst, aber ohne die angestrebte Scheinradikalität Kästners. Vielmehr fühle ich mich eher zu dem 19. und frühen 20. Jh. hingezogen. Ich weiß, dass dabei eine gehörige Portion Ignoranz hinsichtlich der politischen und sozialen Realität mitspielt. Aber der Mensch lebt nun mal auch von seinen Gefühlen und die sind halt bei mir mehr auf die Aspekte der Einfachheit und klaren Strukturen ausgerichtet. Die Welt von Thomas Mann und Hermann Hesse, also die Zeit des Bürgertums, hat es mir angetan. Es sind Gerüche von ungepflasterten Wegen, von Blumen und Obst im Garten, von jahreszeitlich bedingten Handlungen und Aktivitäten, die heute nicht mehr vorkommen und den meisten Jüngeren unbekannt sind.
Dazu zählt eben auch die Literatur. Auch hier kenne ich natürlich die Gegenbeispiele, aber heute zählt für die viele Leser doch nur die Massenware der Bestsellerlisten.
Ich bin allerdings nicht der Meinung, dass es sich um einen allgemeinen Niedergang handelt, dem man melnacholisch nachtrauert. Politisch ja auf keinen Fall, denkt man an Demokratie, Mitbestimmung etc. Auch technisch wird man die heutige Zeit nicht als Niedergang begreifen können. Trotzdem fühle ich mich unwohl, sehne mich nach ruhigeren Zeiten. Anders ausgedrückt, nach einem gelingenden Leben. Das kann ich zwar beeinflussen, aber ich kann mich andererseits nicht der schnelllebigen Zeit entziehen.
Natürlich habe ich ein Handy, wenn ich es auch selten und nur zum Telefonieren benutzte, nie SMS sende, Fotos mache etc. Das ist zum Beispiel so ein Punkt. Viele glauben, alles festhalten zu können, indem sie es speichern, auf dem Handy, dem Laptop, dem PC. Diesem Gefühl des Bedauerns, etwas nicht präsent zu haben, dem trauere ich schon nach. Etwas erinnern zu müssen, sich an den Dingen zu freuen, die man eben jetzt nur hat. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich verständlich ausdrücke, aber es hat viel mit Gefühl und dem Begrenztsein des Menschen zu tun, ohne aber die religiöse Komponente.
Ich bin der festen Überzeugung, dass die Globalisierung den Menschen überfordert, auch die Forderung, man müsse alles andere anerkennen und akzeptieren. Der Mensch ist auf kleine soziale Gruppen angelegt. (Hier könnte man wieder einen Schlenk zu Schalansky machen.)
Ausdrücklich stimme ich zu, dass die »modernen Unentscheidbarkeit « melnacholisch macht. Auch Unübersichtlichkeit, wie sie schon Habermas kritisierte, macht melancholisch. Allerdings sehe ich keine ästhetischen Neuerungen, welche sollte das sein? Dass jeder semiprominente Fußballer oder Serienschauspieler meint, seine von einem Ghostwriter geschriebenen Memoiren veröffentlichen zu müssen? Ich bekomme schon keine Wut mehr über solchen Tendenzen, wie die Bürger in Stuttgart, sondern nehme es schulterzuckend in Kauf, was mich ärgert.
Lediglich die Literatur und Religionsfragen lassen meinen Blutdruck noch steigen, aber auch da habe ich fast nur negative Erfahrungen gemacht. Gerade in Foren oder allgemein im Internet meinen viele urteilen zu können, ohne überhaupt über das notwendige Wissen oder das Differenzierungsvermögen zu verfügen.
Kommen wir zur Gruppe 47. Seit einiger Zeit ist es schick geworden, diese Gruppe zu kritisieren, zuletzt Martin Mosebach. Die Gruppe 47 hat tatsächlich mit den Büchern von Grass, Johnson, Enzensberger, Bachmann, Böll die Fenster der koservativen oder reaktionären BRD weit geöffnet, zumindest was den literaischen Bereich anging. Ja, ich weiß, Arno Schmidt, A,V. Thelen, Celan und die Exilierten wurden nicht gerne gesehen. Aber was war denn die Alternative des Bürgertums oder der Konservativen?
Bergengruen, G. von le Fort, Lernet-Holenia Ed. Schaper, Gerd Gaiser u.a.
Nehmen wir noch das Handkebeispiel. Ich bin Handkeleser seit seinem »Kurzen Brief zum langen Abschied.« Viele Bücher fand ich hervorragend, andere weniger. So weit, so gut. Aber seine Ausführungen zu Srebrenica konnte ich nicht mehr verstehen. Ich trenne deutlich seine politischen Äußerungen von seinen Romanen, das sind zwei verschiedene Sachen. Aber auch die Verteidiger von Handke, wie P. Hamm, haben doch einseitig nur Phrasen gedroschen, von den bösen NATO-Angriffen , dem bösen J. Fischer usw. Bis auf die »Kuckkucke von Velika Horca« habe ich alle Texte von Handke dazu gelesen. Beide Seiten zu hören, ist das einzige, was man noch machen kann. Hört man sich Radovan Mladic im TV vor Gericht an, was er zu Srebrenica sagt, es habe kein Verbrechen gegeben, so etwas Ungeheuerliches dürfe man ihm nicht vorwerfen, dann fällt mir natürlich Handke ein und ich kann nur den Kopf schütteln.
Zum »Mann ohne Eigenschaften« kann ich nur gratulieren, der Roman lohnt sich, aber ich finde es schade, wenn man mit dieser Lektüre alleine bleibt. Da bietet doch eigentlich das Internet eine Riesenmöglichkeit, mit Gleichgesinnten über die Lektüre zu kommunizieren. Ich würde zum Beispiel gerne noch einmal den »Moby Dick« lesen, weil er für mich sehr viele Probleme der heutigen Zeit behandelt, zumindest in übertragenen Sinne: Hybris, Natur, Kampf mit der Natur, Religion, Mythos usw.
Letzte Anmerkung, den Fernando Pessoa sollte man lieber im Frühjahr und nicht im Herbst oder Winter lesen, denn »Die Unruhe ...« ist zwar ein wunderbares Buch, aber wer für diese Stimmung empfänglich ist, kommt nur schwer wieder heraus und das wäre schade, denn trotz aller Melancholie, frei nach Roberto Benigni: La Vita è bella!
Sehr schöne Kommentare. Ein kurzer Einwurf @Norbert zu Handke:
Handke hat niemals Srebrenica in irgendeiner Form nivelliert oder gar geleugnet. Er war mehrfach dort und hat in zwei Büchern hierüber erzählt (»Sommerlicher Nachtrag« und »Unter Tränen fragend«). Er hat auch in Interviews und diversen Artikeln keinen Zweifel daran gelassen, dass es sich bei Srebrenica um das größte Verbrechen in Europa nach dem 2. WK handelt. Evtl. Aussagen von Mladic oder Karadzic, die in eine andere Richtung gehen, würde er niemals unterstützen. Daher verstehe ich Ihr Kopfschütteln in Bezug auf Handke bei Mladics Aussagen in Den Haag nicht.
Ich halte es für fatal, die sogenannten Jugoslawien-Reisebücher von Handkes anderem Werk zu trennen. Handkes Hinwendung zu Jugoslawien als sein Arkadien (auch politisch – nicht nur hinsichtlich seiner Herkunft) begann 1986 mit der Erzählung »Die Wiederholung«. Die Sezessionen, die zu Beginn der 90er Jahre zur Implosion Jugoslawiens führten, stand er von Anfang an negativ gegenüber. Die Gründe hierfür sind in seinen Büchern nachzulesen. Wichtig ist: Nach 1986 gibt es praktisch kein Buch mehr, in dem nicht in irgendeiner Form dieses Thema bei Handke eine Rolle spielt.
Zur Melancholie vielleicht später. Sehr interessantes Thema.
@ Norbert
Ich wollte es eigentlich vermeiden – es wird dann rasch sehr speziell und läuft doch, wg. den vielen Spuren, bald auseinander – aber ich denke wirklich, dass die gesamte Melancholie-Tradition seit Dürer bei uns bis heute eine Rolle spielt. Radikal vereinfacht gesagt, dass also Geistesleben und Erkenntnis unweigerlich die Entzauberung der Welt befördern (und der Verlust besonders dieses persönlichen, des ewig bewahrten Zaubers aus der eigenen Kindheit in Form engrammatischer Erinnerungen, die immer wieder als Ressource abgearbeitet wird... immer wieder, sodass man irgendwann darüber bemerken muss, wie man sie selber verfälscht und an ihrer Löschung mithilft und also an der Eigenen Trauer darüber.)
(Falls das jemand interEssiert übrigens ausdrücklicher Tipp von mir: Laszlo Földenyi, ein Ungar hat darüber sehr lesenswert und aufschlussreich gearbeitet.)
Ich meinte hier allerdings auch besonders die Melancholie der Modern (ja, Globalisierung, Überkomplexität, Überforderungen... die tendenziell größer gewordenen Unerfassbarkeit der Welt spielt da rein, das ist natürlich der andere starke Komplex an Gründen).
Die ästhetischen Neuerungen sehe ich überall: Von der elaborierten Lyrik-Zelle bis zum Cannes.Film – und dabei zu bleiben – „Melancholia“ von Lars von Trier. (Der Idiotismus dass es in einer hochstaplerisch genannten Sendung wie „Kulturzeit“ dann nur wieder mit der Unkultur des Zitats des blöden Skandälchens geht... macht mich melancholisch.)
Aber um auf Literatur zurückzukommen. Was ist mit den Südamerikanern? Nouveau roman? Oder aktueller: Ich halte jemanden wie Rainald Goetz – bezeichnenderweise in seinem Scheitern an den traditionellen Formen – für eine ästhetische Neuerung. Oder zum Teil auch Leute aus der DDR. Oder so manche Österreicher in der Folge Oswald Wieners. (Ob man das alles goutiert ist eine andere Sache. Ich merke es aber gerade wieder wie viel Spaß so eine verjährte und sonderbare Type wie Arno Schmidt einem macht!)
(Dass es im Internet überall so viele Unbedarfte gibt, die sich dennoch äußern – geschenkt; es ist der Preis, dass man selber reden darf. Immerhin gibt es also auch Winzigforen und solche die auch abseitigen Interessen bedienen, die es wert sind.)
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Dass es modisch ist, auf die „Gruppe 47“ zu schimpfen, mag sein, aber es hat wohl auch damit zu tun, dass der Blickwinkel heute ein weiter aufgemachter ist, und dass es genug neues Material über sie zu wissen gibt.
(Ich sagte das übrigens mit einem Auge auf Gerd Gaiser. Eigentlich wollte ich seinerzeit etwas zu dem Essay G.Ks zu ihm sagen, aber ich hatte einfach nicht die Zeit. Doch habe ich seit Jahren ein Buch Gerd Gaisers im Regal, und mir wurde klar, im Licht des Essays einerseits, im kurzen Wiederanlesen des Buches – des etwas sehr Modernes hat – andererseits, wie so ein mobiler Geist wie G.Gaiser, mit seinem Erfahrungshintergrund und seinen internationalen Kontakten (er war in seinen späten Jahren ja vielleicht mehr Künstler als Schriftsteller), bei den deutschen Spießerinstanzen nur auf nachgetragene Moralität stoßen konnte statt auf ästhetische Aufnahmebereitschaft. – Vielleicht komme ich noch mal dazu, das auszuarbeiten.)
Jedenfalls – sehr verkürzt und überspitzt gesagt – erscheint mir die Gruppe 47 heute als die Art Öffentlichkeit, die wir heute haben: Konsenssüchtig, kleinlich, in der Gewissheit ihrer das Schwierigere auszugrenzen versuchenden Urteile immer schon tendenziös. Deutsche Enge, eine geistig-künstlerische Impotenz, Ignoranz bei allem modernistischen Dünkel.
Es geht wohl nicht darum im Nachhinein eine Alternative zu fordern – die gab es übrigens durchaus, in den Unabhängigen und dezidierten Einzelgängern und auch wiederum bei den Österreichern etwa. Und natürlich muss man die Zeitverhaftetheit der Urteile und ihrer Bedingungen sehen. Aber was man zumindest monieren muss, ist ein mangelndes Bewusstsein für eben die eigene Bedingtheit, für das Wissen um das eigenen Abgehängtsein von internationalen Modernismen und damit der das in (wieder mal) falschem Glauben überkommenden Ungute weiterführenden Kontinuitäten. Ästhetische Blindheit ist zum Teil immer auch eigenes Verschulden. Und sowieso bei Leuten, die sich als Instanzen setzen aber in ihrem Verhalten eher Vereinsmeier sind.
Zu Handke. Selbst wenn man ihn nicht versteht – und wer könnte das immer behaupten einen zu verstehen, der derart unbeirrt und zunehmend singulär sein Ding macht – hat man doch seine künstlerische Potenz zu achten und kann ihn nicht mit Mediensimpelheiten (sich) abtun lassen. (Von mir aus wie – ja, schlechtes Beispiel – so jemand wie Ernst Jünger. Hätte ich den nicht gelesen – obwohl ich ihn meist nicht mag, und mit den Jahren immer weniger -, fehlte mir was. Es sind doch solche Art Köpfe, die die Konsensöffentlichkeit braucht.)
Ich vermute, den Kopf schütteln muss man eigentlich immer.
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Interessant noch das mit den eigenen Hingezogenheiten. Da haben Sie mich auf etwas gebracht. Bei mir sind das teils ganz seltsame, gar nicht begründbare Sympathien – über deren Verlust – obwohl er mich in nichts angeht – ich trauere. Ein für mich lebendiges Beispiel sind die Filme Michelangelos Antonionis aus der mittleren Phase (der frühen 60er Jahre).
Ich war gerade erst auf der Welt, ich habe später das mondän-unruhige (statt dem goethischen) Italien mit seiner spezifischen Mischung aus der Archaik des Mezzogiorno und dem Stadtleben nie mehr gefunden (ich bin es suchen gegangen), ich weiß wie geschmäcklerisch heute vielen Leuten diese Filme vorkommen, weil sie gewisse Dinge darin nicht sehen. Und doch ist es, als wären sie ein eigener Ort in mir, den ich vermisse – in dem Ort, den ich vermisse. Ich meine also diese Art Melancholie, die in den Subjekten und deren Geistesleben zu einem gewissen Zusammenhang schaffenden Klima wird.
(Ein weites Beispiel wäre das Buenos Aires aus den Jahren, als Borges, Gombrowicz und Onetti darüber geschrieben haben. Ich hätte in einer Zeit, als ich öfter in Brasilien war, leicht mal hinfahren können, und einmal hatte ich sogar schon das Ticket. Aber dann wollte ich mir doch lieber diesen mentalen Ort bewahren. Das reale heutige Buenos Aires zu sehen dagegen wäre sicher nut Tourismus und auch der macht mich seit Langem nur noch melancholisch.)
(Sorry, falls ich mich hier zu breit mache...)
@ Gregor Keuschnig
Warum habe ich oft das Pech, bei Handke-Gegnern ihn zu verteidgen zu sollen und bei Handke-Anhängern doch Einwände zu äußern? Genauso geht es mir mit der Religion.
Nun also.
Zuerst eine Klarstellung, ich bezog mich auf Interviews und Einzeläußerungen, als ich schrieb, ich trennte den Schriftsteller Handke von dem politischen Handke. Alle Bücher sind für mich Literatur, ob rein fiktional oder durch persönliche Erfahrungen geprägt, spielt dabei keine Rolle.
Handke schreibt in seinem Buch »Eine winterliche Reise..«, S. 41: « Diese, so war es jedenfalls nicht selten zu sehen, »posierten« zwar nicht, doch waren sie, durch den Blick- oder Berichtsblickwinkel, deutlich in eine Pose gerückt: wohl wirklich leidend, wurden sie gezeigt in einer Leidenspose.«
Dass ist keine Relativierung des Leidens der eingepferchten Menschen? Oder wenn er ein paar Sätze später schreibt: »...nahmen sie für für die Linsen und Hörknöpfe der internationalen Belichter und Berichter, von diesen inzwischen angeleitet, gelenkt, eingewinkt (»He, Partner!«), sicherlich wie gefügig die fremdgewünschten Martermienen und ‑haltungen ein.«
»Gefügig fremdgewünschte Martermienen und ‑haltungen« ist nicht eine völlig unangemessene Darstellung der gefangenen Menschen?
Noch ein Beispiel sei zitiert, ich könte noch viele weitere Stellen anführen. In dem Buch »Sommerlicher Nachtrag...« schreibt er S. 14: « (Handke u. Begleiter) deren Reiseziel oder Hinter- und Hauptgedanke es jedenfalls nicht war, weitere Worte und Sätze zuzuhäufeln zu der Sage von ihrem Volke als einem von Vergewaltigern, Schlächtern und uneuropäischen Barbaren – und so: »Sretan put! Glückliche Fahrt!«
Wird hier nicht Schlächter und Vergewaltiger durch den Zusammenschluß mit Sage relativiert?
Er bestreitet nicht Srebenica, aber relativiert dieses Verbrechen in meinen Augen, wenn er, wie z.B. oben zitiert, dieses Verbrechen immer wieder hinterfragt, wie es zu diesem Verbechen kam, wer der Aggressor war, usw. Ich müsste noch einmal meine Bücher durchforsten, um weitere Stellen zu belegen, ich meine aber, dass dies nicht nötig ist.
Ich fasse noch einmal meine Meinung zu Handke zusammen. In derDebatte oder Auseinandersetzung um Serbien hat Handke eine Position bezogen, die man von seiner Herkunft und seinen Erfahrungen durchaus in der Schuldfrage diskussions-würdig nennen kann. Daneben hat er aber sich zu Aussagen über militärischen Aktionen und Verbechen und über die Anführer der Serben, über die militärischen Aktionen der NATO, über die Berichterstattung der Medien hinreißen lassen, die ich nur noch kopfschüttelnd zur Kenntnis nehmen kann, aber für die ich kein Verständnis habe.
Er wollte als Zeuge für Milosevic auftreten, besuchte Milosevic etc. Erinnern Sie sich, wie man es Hamsun übelnahm, Hitler besucht zu haben, damit will ich keinesfalls Milosevic zu einem Hitler machen. Aber er war neben den beiden K, und M. für viele Verbrechen verantwortlich.
Trotzdem sind die Bücher seit 1996, wie Sie ja richtig schreiben, von diesem Konflikt stark beeinflusst. Ich lese ihn selbstverständlich weiterhin , verstehe aber nicht, wie er, der eigentlich das Politische ablehnt, sich dazu so exzessiv äußern konnte.
Ich ahne und weiß im Grunde , dass ich mit meinen Ausführungen Ihren Widerspruch herausfordere, aber ist es nicht möglich, dass keiner von uns beiden in diesem Fall die Wahrheit kennt bzw. sie besitzt und man es dabei bewenden lassen sollte? Wenn man sich zu 90% über Handke wahrscheinlich einig ist, warum müssen die restlichen 10% so ausschlaggebend sein und alles bestimmen?
@Norbert
Zunächst einmal: Ich bin kein »Verteidiger«. Ich bin ein Leser.
Kurz: Die Stellen, die Sie aus der Winterlichen Reise zitieren, haben mit Srebrenica nichts zu tun. Sie beziehen sich auf Handkes Sprach- und Medienkritik zur Berichterstattung der Jugoslawienkriege generell. Sie suggerieren, als seinen die Reiseberichte Handkes bezogen auf das Srebrenica-Massaker. Das ist ausdrücklich falsch. Sie werden kein Zitat zur Relativierung von Kriegsverbrechen bei ihm finden – es sei denn, Sie wollen es bewusst als solches auslegen. Handke hat die mediale Inszenierung der Alleinschuld der Serben an der Implosion Jugoslawiens befragt. Seine zum Teil wütenden und polemischen Ausführungen haben einen durchaus wahren Kern: Die Darstellungen in den Medien zu Gunsten der Sezessionen Sloweniens und Kroatiens (später Bosniens und des Kosovo) waren einseitig und zum Teil durch geschickte Propaganda der entsprechenden Staaten bzw. einiger Privatleute gesteuert (hierüber gibt es Belege). Das relativiert die Verbrechen der Serben nicht – etwas, was übrigens Handke auch nie getan hat.
Es ist auch falsch zu behaupten, dass Handke als »Zeuge« im Haager Milosevic-Prozess auftreten wollte. Das Gegenteil ist richtig (es steht in den »Tablas von Daimiel«): Die Verteidigung hatte Handke (unter rund eintausend anderen Personen) als potentiellen Zeugen benannt. Handke – von Natur aus neugierig – fragte sich warum und wollte sich ein Bild davon machen und hat Milosevic im Gefängnis besucht. In den »Tablas« ist das sehr genau beschrieben – bis hinein in die Monologe Milosevics, die ihn (Handke) gar nicht interessieren. Eine wie auch immer geartete Zeugenschaft hatte Handke dann explizit abgelehnt. Er ist übrigens nie so weit gegangen wie Pinter, der sogar Milosevics Freilassung forderte.
Den Vergleich mit Hamsun, der nach der Bestätigung des Karadzic-Besuches durch Malte Herwigs Biographie vereinzelt aufkam, bezeichnete Handke zutreffend als »Parallelenschwindel«.
Es geht im übrigen nicht darum, die »Wahrheit« zu kennen. Es geht um sorgfältiges Lesen, damit Verschlagwortungen sich nicht festsetzen. Bei Handke ist dies nicht gelungen – was zum Teil auch an ihm selber liegt.
@en-passant
Ich glaube, dass die Melancholie irgendwann noch so etwas wie ein Schutz gegen den sich immer mehr in einem ausbreitenden Zynismus darstellt. Der Melancholiker ist noch nicht verloren an die Dauer-Bespaßer und Dauer-Ironiker – und gleichzeitig noch nicht in tiefe Depression verfallen (das andere Extrem). Genau hier liegt die Intellektualität des Melancholikers, der sich dem Schnellen, Griffigen und Aktionistischen (vorläufig) entzieht – aber reflexiv und nicht als Affekt gegen (oder für) etwas. Ob das schon ein Verstecken vor der Welt ist, wie der Verlag zu dem Földényi-Buch sagt? Ich weiss es nicht – ich müsste es dafür lesen. Andererseits beharre ich immer auf meiner Sicht des Dürer-Engels: Ist auf seinem Gesicht nicht auch ein Anflug von Lächeln zu erahnen, was noch eine gewisse Portion Zuversicht mindestens als Möglichkeit einräumt?
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Was Sie zur Gruppe 47 sagen, ist sehr hart – aber es ist wahrscheinlich zutreffend. Noch zutreffender dürfte der Rekurs auf die sich hier aufzeigende Diskurs-Tradition Konsenssüchtig, kleinlich, in der Gewissheit ihrer das Schwierigere auszugrenzen versuchenden Urteile immer schon tendenziös. Deutsche Enge, eine geistig-künstlerische Impotenz, Ignoranz bei allem modernistischen Dünkel. Ich glaube nicht, dass es noch prägnanter geht, wenn man Medien im allgemeinen und das Feuilleton im besonderen beschreiben möchte. (Diese »Kulturzeit«-Macher stoßen mir mit ihrem mainstreammäßigen Kleingeist schon seit Jahren unangenehm auf; schon wieder eine vergebene Chance.)
Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, wie sehr ich an Ihren Ausführungen zu Gaiser interessiert wäre. Eine Reaktion auf diesen Essay war ein (inzwischen verschwundener) Beitrag in einem anderen Blog mit der Überschrift (sinngemäss) »Warum ich Gerd Gaiser nicht lesen werde« – wobei der Autor sein Urteil ausschließlich mit der Sekundärliteratur über Gaiser begründete (und meinen Essay als »homo laber«-Geschwätz rubrizierte). Dabei machte er genau das, was ich als schweigenden Grundkonsens in sogenannten links-liberalen Kreisen immer wieder beobachte: man pauschalisiert aufgrund überlieferter Daten. Politisch oder sonstwie unbequeme Figuren werden auf diese Art ausgesondert. So lassen sich mit geringstem Aufwand die entsprechenden Gesinnungs-Pünktchen gewinnen. Billiger geht’s nicht mehr.
Melancholie ... interessant, dass sie von mehreren Seiten mit Überforderung, Globalisierung, Schnelllebigkeit und Überkomplexität in Verbindung gebracht wird, bei mir lösen diese Zustände und Erfahrungen Fragmentiertheit, Abgeschlagenheit, Zerstreutheit, Erschöpfung, usw. aus, aber eigentlich keine Melancholie, auch keine Trauer.
Melancholie, stellt sich vielleicht ein, wenn man etwas oder jemand, dem man sich verbunden fühlt oder gar liebte beim Schwinden, Dahinscheiden, beim Sterben zu sehen muss, man erfährt, dass etwas unweigerlich dahin gehen muss. Ist es das was die oben genannten Erfahrungen vielleicht auch sagen?
Ich kenne Melancholie von anderswo: Wie ein Loch in das man fällt, eine Kraft, ein Zustand, der wegbricht und man sitzt drinnen. Seine Melancholieen drängender Kräfte ertragen können, heisst Mensch sein! (Peter Altenberg, Pròdrŏmŏs). Das scheint mir manchmal sehr zutreffend: Wenn die Kräfte dahin sind, wenn wir nichts ändern können, matt und müde (schwer!) werden, dann gesellt sie sich zu uns.
Ich weiß garnicht, wie ich das ausdrücken soll: habe selten so eine persönliche und bewegende Diskussion im Netz gelesen!? Ich habe heute auch eine restaurierte Fassung von »Im Westen nichts Neues« (USA 1930, von Lewis Milestone) auf YouTube gesehen:
Soviel zu den ’schönen’ Dingen, die man neben Lesen treiben kann, @metepsilonema. Abgesehen von den aktiven Kreativitäten wie Schreiben. Die aporetische Handlungs- und Entscheidungslähmung des »modernen« Menschen, von der @en-passant in #18 sprach, ist, glaube ich, so alt wie die Zivilisation. Der Wandel der Gestalten, die rasche Folge von Bildern und Ereignissen, das Sterben und Verwesen der Geliebten und Angehörigen quälen und verunsichern auch den altägyptischen Dichter der Totenlieder. Man muß sich auch fragen, ob bronzezeitliche Menschen, die auf Land- und Seereisen über Tausende von Kilometern hinweg industriemäßig Ware handelten, tatsächlich mehr »Zeit« und weniger Streß hatten, als der »moderne« Mensch. Oder ob der Alltag nicht genauso vertaktet und ausgefüllt war – mit exakten Geschäftsplänen und zeitabhängigen Gewinnzielen. Ich deute hier an, woraus sich meine persönliche Melancholie hauptsächlich speist: aus einer flüchtigen Ahnung der langen Distanz, die die Menschheit seit ihrem Anfang (wann?) zurückgelegt und vielleicht noch vor sich hat – und wie qualvoll, ja pathologisch diese Reise oft verlaufen ist. Die Geschichtsschreibung ist für mich eigentlich die Textgattung, in der der Mensch seine eigene Ungeheuerlichkeit im Sinne von Monstrosität zu fassen versucht – mit fließenden Übergängen zur Literatur. Das Bewußtsein für die linguistische Konstruktion aller Text- und Sprachgebilde, für ihre Begrenztheit in der Relation zur kosmischen Potenz, hat mich schon einmal in die pure Verzweiflung getrieben, buchstäblich. Hier von Melancholie zu sprechen, wäre eine Nettigkeit. Wer kann mit Sprache eine Butterblume ausschöpfen? Und wer kann mit Sprache Auschwitz ausschöpfen?
Daß gerade Mosebach als Vertreter eines biedermeierlich gedrechselten Kunsthandwerks die Gruppe 47 gerügt hat, wie @Norbert #21 schreibt, hat wohl eher etwas mit Rollback und Marktnische für den heimatorientierten Sehnsuchtsleser zu tun (was momentan aufgrund einer Vormärz-Stimmung megaout sein dürfte ...). Ich halte es da eher mit dem positiven Urteil von @Norbert über die Gruppe 47, bei aller Selbstabschottung und Dünkelhaftigkeit, auch Grobheiten gegenüber Celan, die mich persönlich sehr schmerzen, ist ihre Wirkung und Bedeutung für das junge Deutschland nach Auschwitz eindeutig. Was hätte man nach der vollständigen Zerstörung aller geistigen und moralischen Werte mehr erwarten dürfen? Vielleicht mehr Verständnis für das Leiden eines Celan. Aber war das überhaupt möglich? Ist das heute überhaupt möglich? »Konsenssüchtig, kleinlich, in der Gewissheit ihrer das Schwierigere auszugrenzen versuchenden Urteile immer schon tendenziös. Deutsche Enge, eine geistig-künstlerische Impotenz, Ignoranz bei allem modernistischen Dünkel.« Dieses Urteil über die Gruppe 47 von @en-passant #23 könnte auch über die Ästhetik des Nationalsozialismus gefällt werden, der ja Elemente zumindest der technizistischen, futuristischen Moderne kennt. Woher stammen denn die deutsche Klaustrophobie, die Amputation des Mitgefühls, die Gehässigkeit und der Lebensekel, die allesamt die Kunst verunmöglichen? Ich behaupte: sie stammen aus den Granattrichtern, in denen sich schon Hitler und Jünger in die Erde krallten, sie führen zu den Verbrennungsgruben des Genozids und sie tragen bis heute zur anhaltenden Verstörung des Menschen bei. Diese Verstörung, wenn sie denn nicht in Worte gefaßt werden kann, hat ein Gesicht:
http://www.youtube.com/watch?v=SS1dO0JC2EE&feature=related
@en passant
Erst einmal einen ganz herzlichen Dank. Beim Lesen lief mir tatsächlich ein Schauer über den Rücken, wegen der vielen Erinnerungen, die der Beitrag ausgelöst hat. Ich kann jedem Satz nur zustimmen, soweit ich die Beispiele überhaupt einschätzen kann – bei Filmen ist das schwierig, weil nicht so mein Metier – , aber alle literarischen Beispiele wie Arno Schmidt, Ernst Jünger und seine Tagebücher und frühen Sachen , R. Goertz das Tagebuch usw.
Die Gruppe 47 wird doch etwas unterschätzt. Besonders was ihre Toleranz und Offenheit betrifft, zumindest in der Anfangsphase, später, mit den Verlegern, war es tatsächlich ein closed shop. Man muss neben der Gruppe 47 einmal die Attacken der Nicht-47er- gegen Thomas Mann, Briefwechsel anlässlich der Aufforderung zur Rückkehr, die Attacken im Bundestag gegen Brecht, Boykottdrohungen gegen Brechtaufführungen, Strafanzeigen gegen Wagenbach, sein Rausschmiß bei S. Fischer, die Hetze? gegen DDR/»Sowjetzonenschriftsteller« wie A. Seghers sehen, um alles richtig einzuordnen.
Richtig ist auch, ich kann mich sehr wohl erinnern, dass auch im linken Spektrum sehr engstirnig gedacht und geurteilt wurde. A. Andersch schrieb zu Solschenizyn, man solle ihn nicht lesen, weil er die deutschen Verhörer den russischen hinsichtlich der Wahrheitsuche vorgezogen habe. H. Mayer sprach sein Diktum gegen Dopderer aus. Das waren radikale Ausgrenzungen, aber oft gab es auch Gegenstimmen. Liest man heute alte Magazin- oder Feuilletonbeispiele, ist man manchmal verwundert oder auch entsetzt, über die damaligen Debatten. Als Letztes nur noch den Hinweis auf die berühmt-berrüchtigte Rede E. Staigers über die moderne Literatur. Die Gruppe 47 hatte es wahrlich nicht einfach mit dem Feuilloton und der Wissenschaft. Denken Sie daran, wer damals an den Unis lehrte und wie die Stellen ausgekungelt wurden. Genug. Übrigens, Sie hätten auch doppelt so lang schreiben können, jeder Satz ein Genuss und ein Appetithappen für mehr!
Mit der Entzauberung der Welt treffen Sie mein Gefühl sehr gut. Gerade wenn wieder einmal die kritische Literaturhaltung überhand genommen hatte, fehlte danach etwas. Deshalb habe ich auch nie meine frühen »Dichter« verleugnet, Hesse zum Beispiel, da konnten noch so viele Kitsch schreien oder ihn im Vergleich mit Th Mann abqualifizieren. Natürlich ändert sich auch hier mit der Zeit manche Einschätzung, sei es einzelne Werke oder gar eine Person betreffend, aber ich habe mich nie, oder wenn nur kurz, von Zeitströmungen beeinflussen lassen.
Zu den Beispielen der Neuerungen kann ich bezüglich der Filme nichts beitragen. Ich bin auf dem Gebiet sehr schmalbrüstig. Ich liebe zwar auch Filme wie La Strada oder die Fahrraddiebe, Wilde Errdbeeren, überhaupt Bergmann und von den modernen Filmen sehe ich Woody Allen Filme gerne.
Die südamerikanischen Romane sind aber unabhängig von der deutschen Literatur entstanden und besonders von M Straussfeld und anderen erst bekanntgemacht worden. Hier hat der Suhrkamp-Verlag wirklich Hervorragendes geleistet.
O. Wiener, da kann man auch G. Fritsch nennen, sind dann doch eher Einzelgänger.
Zu Handke als einem Beispiel für Kopfschütteln. Liegt es nicht auch daran, dass wir ganz idealistisch meinen, ein Dichter/Schriftsteller mit der nachweisbaren Sensibilität im Sprachlichen und der Beobachtung müsse auch auf dem politischen Sektor Wichtiges zu sagen haben bzw. könne sich doch kaum irren? Mir geht es oft so, dass mein erster Reflex Verteidigung ist, danach bröckelt meine Selbstgewissheit immer mehr. Mein Beispile ist Martin Walser und der Vorwurf des Antisemitismus. Dies betrifft sowohl die Rede in der Frankfurter Paulskirche als auch den Roman »Tod eines Kritikers«.
Das Beispiel des Tourismus, das Sie erwähnen, ist völlig berechtigt, aber hat auch einen Anflug von eleitärem? Wissen um die Aura von Orten. Mir ist es so in Griechenland oder Ägypten gegangen, wenn viele dieser magischen Orte buchstäblich von den meisten Touristen nur auf ihrer Liste, was man gesehen haben muss, abgehakt wurden.
Nochmal, es hat mir große Freude bereitet und wieviele Gefühle und Erinnerungen wurden durch die Beispiele geweckt, davon zehre ich länger als von vielen Büchern!
@Gregor Keuschnig
Also viel Lächeln kann ich bei dem Engel nicht erkennen – aber ich glaube, ich weiß ungefähr, was Sie meinen: Noch nicht bitter, zur Selbstdistanzierung fähig und von daher um die Relativität auch der eigenen Stimmungslagen wissend... insgesamt aber auch schon nach einem Moll hin getönt. Und ja, darin liegt dann wohl eine gewisse Intellektualität, die um die eigenen Vergeblichkeiten weiß und sie also mit untersuchen muss wie ihre Bedingtheit. Und die Melancholie mag dann auch eine Schutzfunktion sein – und ist zuletzt gegen die Unbedachtheiten oder Leidenschaftlichkeiten der Menschen nicht auszuspielen, sondern je Ergänzung wie individuelle Spielart. Und ja, das sollte eine Grundzuversicht nicht ausschließen, sie vielleicht sogar selber in die melancholische Haltung mit einschließen, als eben eine bedingte angesichts, dass es immerhin auch starke Zugewinne dadurch gibt.
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Zu Gerd Gaiser vielleicht die Kurzversion. Ich hatte mich beim Lesen Ihres Essays wohl gleich an ihn erinnert – allerdings auch nicht sehr genau. So hatte ich mir eigentlich eine Re-Lektüre vorgenommen, komme aber seit Längerem einfach nicht dazu. Meine Einschätzung beruht also aktuell nur auf diesem einen erwähnten Buch und kommt mir von daher etwas hochstaplerisch vor. Aber trotzdem.
Es ist also „Ortskunde“, 1977 bei Hanser erschienen – also wohl postum. (Man kriegt es auch noch.)
Im Blättern darin aber fand ich sofort wieder, was mich angesprochen hatte: Reiselust, Neugier, Weltoffenheit. Und das ausgedrückt als etwas durchgehend Modernes, als eine gedankliche Offenheit, eine „Polykontexturalität“ der Bezüge. Das Schreiben scheint mir keinem bekannten eindeutigen Modell zu folgen – oder besser: keinem Text-Modell. Sehr wohl aber einem Geöffnetsein in Werken der bildenden Kunst. (Picasso, überhaupt Malerei und anderes Kunstmachen, die Kraft von Materialien Besonderheiten an Orten und diese selber etc. kommen immer wieder vor. Zugleich, so empfinde ich es, existiert in dem Schreiben eine Dimension des hier neulich mal angesprochenen Dystopischen.)
Das also, dazu ein Atem und eine Sinnlichkeit, abgelöst von der drögen deutschen Themendurcharbeitung, dem Thesenroman, der anschlussfähig gemachten Richtigkeitsprosa, sehe ich bei Gaiser – und bei anderen deutschen Autoren aus der Zeit und besonders der Gruppe 47 doch eher wenig. (Wobei ich sofort einschränkend sagen will, dass ich sicher nicht alles kenne und hier sehr stark vereinfache.)
Meine Überlegung also ist, dass die historisch bedingte (und sicher auch grundlegend zu befragende) Zwiespältigkeit von Gaisers Lebenslauf und Haltungen den herrschenden Instanzen nicht erlaubte sein Wesentlicheres, das andere – weil doch letztlich Überdauerndere, das künstlerisch Verwandelnde – zu sehen. Oder dass sie es eben nicht konnte mangels eigener künstlerischer Eingeschränktheit wenn nicht Impotenz – und von daher einer eigenen Bezweifelbarkeit.
Denn hätte man nicht eben versuchen müssen, auch solche umstürzlerische aber sie bezeugen könnende Erfahrungen und individuelle Brüche hereinzuholen? Sie als Bedingung oder zumindest Fallhöhe zu einer künstlerischen Anstrengung anzuerkennen von ihrem Ergebnis her? Es ist tatsächlich wie das, was auch heute allseits passiert, man spricht von „Integration“, aber erlaubt anderen nicht ihre Eigenständigkeit und kann diese nicht als Bereicherung und Selbsterweiterung begreifen. Als ob es kein Recht auf Fremdheit geben dürfe, an dem die Mehrheit sich verunsichern lassen könnte um zu lernen! Es ist also dieser Aspekt von behaupteter aber nicht gelebter Moralität, das Beharren letztlich gegen Verwandlung, dass ich gegen die Gruppe ins Feld führen würde. Außerdem: Der Vorwurf der Anrüchigkeit gegen zu große Eigenständigkeit – das ist ja oft ein Muster in Gruppen, die schon von durchgesetzten Alphatieren bestimmt sind -, das ist das klassische Mobbing bzw. „Fremdenfeindlichkeit“. (Die riechen nicht wie wir, die essen nicht das gleiche Essen wie wir – undeutsch, weg damit!)
Wobei ich sofort zugeben würde, dass „damals“ anfangs sicher Besinnung und auch so jemand wie Wolfgang Borchert notwendig war. Aber was weiter? Und Literatur – und das wäre die Verfehlung, das nicht gesehen oder dem nicht Wege geöffnet zu haben – sollte eben nicht per se und dann durchgängig vereinnahmt werden für moralische Restauration (obwohl sie da auch etwas leisten kann). Mit der „Kahlschlag“- Strömung wäre aber vielleicht noch mehr möglich gewesen: Wenn schon keine Anknüpfung an die ästhetische Moderne so vielleicht eben die Bereitung des Vorfelds eines wirklichen neuen Anfangs. (Aber, na ja, da bin ich vielleicht auch schon etwas unrealistisch.)
***
Nachsatz 1: Interessant vielleicht, wie das ins Persönliche spielt bei den aktuellen Besprechungen zu Oskar Roehler, der aus dem Inneren der Gruppe 47 etwas erzählt. „Letztlich waren das auch nur – wie immer höchst fehlerhafte – Menschen.“
Nachsatz 2: (auch @ Norbert)
Zu den Ausgrenzungen und Vorurteilen, der notwendigen Zeitverhaftetheit, mit der man das eigentlich sehen und das eigene Urteil relativieren müsste. Ja, das sehe ich auch. Und es gibt ja diese Gedankenfigur, dass alle Nachkommenden mit ihren arroganten oder hochherzlichen Urteilen das alte Unrecht quasi noch einmal erneuern. (Unrecht türmt sich über Unrecht... und kann einen melancholisch machen).
Aber eine erneuerbare Unschuld in der Geschichte gibt es eben auch nicht. Der Unterschied scheint mir, dass man seinerseits schon genug erfahren diesen doppelten Blickwinkel, die eigene Relativität hätte mehr sehen müssen. Und sie dann in ihren Urteilen gegen Missliebige unter den Autoren auch anwenden. Was übrigbleibt von einer Zeit ist ja oft genug etwas ganz anderes als das in ihr Gefeierte.
Nachsatz 3: @ Metepsilonema
Ja, auch ich bringe Melancholie eher mit der Zeit, ihrem Schwinden in Verbindung als mit dem (sich anderswie verändernden) Raum. Die von mir gegebenen Beispiele funktionieren dann auch eher als „Orte in der Zeit“, als Markierungen. Und sicher steht das Vermissen von so manchem eher in Zusammenhang mit so etwas wie persönlichen Phantomschmerzen. Aber womöglich ist Melancholie in solchen Effekten dann auch so etwas wie eine Bindekraft, die Möglichkeit eines Übergreifens und Anschließens. (Vielleicht so, wie eine Trauer als „Arbeit“ etwas bewältigen hilft.)
Ich glaube, dass man nachträglich die »Gruppe 47« einfach zu sehr aufgewertet hatte. Zunächst einmal war es nichts anderes als ein Einladungskränzchen einer Privatperson. Die Zeit war so, dass man dem folgen konnte (mangels anderer Möglichkeiten). Einige konnten dem nicht folgen, weil sie im Knast saßen (Kempowski in Bautzen); sie haben später schwer oder kaum Anschluß erhalten. Schien man nicht etwas nachholen zu müssen nach der Zeit dieser großen Barbarei? Da war das, was man heute »politische Korrektheit« nennt, doch als Kriterium vorprogrammiert. Im günstigsten Fall wollte man die eigenen Verstrickungen mit einem gewissen moralischen Rigorismus camouflieren (Richter, Andersch, Koeppen, Grass). Dabei blieb natürlich häufig das Literarische zu Gunsten des Politischen auf der Strecke. Leute wie Hermann Lenz, die »nur« Literatur schrieben, hatten keine Chance. Die Gretchenfrage hieß »Wie hält’s du’s mit dem Politischen«? Dass dann jemand wie Gaiser, der mindestens zeitweise derart offensiv mit den Nazis sympathisiert hatte, sofort persona-non-grata war, ist logisch. Vielleicht beruhte aber in Fällen wie bei Gaiser die Abneigung auch auf beiden Seiten; das sollte man mindestens der Fairneß halber erwägen.
Und ist es nicht so, wie Norbert in #29 sagt, dass es einfach ein Irrtum ist, das Intellektuelle per se die besseren Politiker wären? Oder kommt es uns einfach nur so vor, weil sie doch so häufig den bequemem Weg der Utopie zu Gunsten des steinigen Pfads der »Normalität« oder Alltäglichkeit gehen können? Grass’ inflationäres Eintreten für oder gegen fast alles kommt mir da in den Sinn. Diese Verzettelungen, die zumeist in plakative Thesen mündeten, die einem Mann des Wortes eigentlich suspekt hätten sein müssen. Und dann gibt es ja die »üblichen Verdächtigen«, deren Literatur mit spitzen Fingern angefasst wird, weil sie so gar nicht der stillschweigenden politischen Übereinkunft entsprechen und daher scheinbar die Literatur beschädigen. Als würden Leute ihre Autos auch immer erst gegen polizeiliches Führungszeugnis des Händlers kaufen.
Ist das nicht alles nur ein Affekt aus einer Selbstenttäuschung heraus? Und wie sich diese Affekte in Überzeugungen verwandeln, erkennt man ja regelmässig an den kruden Vereinfachungen, die dann in den Feuilletons als Etiketten vergeben und somit zu »Wahrheiten« werden.
Letztlich waren wohl die »Gruppe 47«-Sitzungen konstituierende Treffen für das, was heute Literaturbetrieb genannt wird. Das ausgerechnet Handkes »Rede« in Princeton nachträglich als Epilog gesehen wird, ist mehr als interessant, weil er ja auf die schwindende Literarizität der Texte der Gruppe hingewiesen hatte. Reich-Ranicki hat ihm dies und den kleinen Aufsatz von 1968, in dem er ihn als den unwichtigsten aller Kritiker bezeichnet hatte, nie vergessen. Ein schönes Beispiel dafür, wie hermetisch dieser Verein (= der »Betrieb«) war und eigentlich bis heute ist. Das Problem ist, dass letztlich niemand an diese Ränkespielchen vorbeikommt, der etwas erreichen will. Aber das ist eben ein Erkennungszeichen hermetischer Zirkel: sie verlangen nach Affirmation.
(Danke en-passant für die Gaiser-Interpretation. Das Buch werde ich mir besorgen.)
[Weitere Kommentare über Gaiser habe ich hierhin verschoben und in diesem Thread gelöscht.]
@en-passant
Mir scheint Melancholie, obwohl sie »schwer« macht, auch wieder Kraft zu schenken, ein Aufbäumen zu ermöglichen; ja, in diesem Sinn ein Anschließen, ein Zurückkehren und wieder weiter machen (ganz anders Verzweiflung, und auch Trauer, deren Überwindung anders von statten gehen muss).
@metepsilomena
Melancholie als ein Zwischenstadium sozusagen, das wieder einen Neuanfang bedeutet oder neue Kraft tanken lässt, glaube ich nicht. Gerade das Gefühl des unwiederbringlich Verlorenen macht doch die Melancholie aus. Sei es, dass man sich z.B. an die eigene Jugend mit ganz anderen Sehnsüchten, Erwartungen, körperlichen Möglichkeiten erinnert oder an Zeiten, die ebenso vorbei sind, wie z.B. die 60/70er Jahre mit der Aufbruchsstimmung in allen Bereichen und der Stimmung, alles ist möglich. Gerade auch das Wissen, dass man damals sich und die Möglichkeiten des Menschen, der Natur etc. überchätzt hat oder welche Möglichkeiten man hat verstreichen lassen, lässt mich dann in eine melancholische Stimmung kommen.
Man sollte auch die Melancholie von ihrer Schwester der Schwermut und der noch düsteren Depression unterscheiden, obwohl sicherlich der Übergang manchmal fließend ist.
Man sollte auch die Melancholie von ihrer Schwester der Schwermut und der noch düsteren Depression unterscheiden
Das ist wirklich sehr wichtig. Unbedingt.
@ Gregor Keuschnig #25
Grundsätzlich ist es richtig, dass er in den Reisebüchern « Eine winterliche Reise...« und »Sommerlicher Nachtrag...« nicht explizit zu Srebenica schreibt. Aber auch Sie wissen, dass passiert zumindest bei mir, wenn er sich dermaßen herablassend zur Leidenspose (S. 41) äußert, sich immer auch Srebenica in den Blick schiebt.
Er hat sehr wohl die Zeugenaussage erwogen. So schreibt er in »Die Tablas... S. 7f: »Dabei habe ich den Zeugenstand, Tribunal hin, Tribunal her, eine Zeitlang durchaus erwogen.«
Wie er dann begründet, warum er die Zeugenaussage nicht mehr machen will, nicht mehr machen kann, ist schon, neben sicherlich berechtigter Kritik an vielen Medien, eine Meisterleistung der Unterstellungen und Verharmlosungen der serbischen Akteure.
Lassen Sie mich zum Abschluss ein Zitat aus einem Interview mit Ulrich Greiner anführen. Dort sagt Handke, angesprochen auf Srebrenica: »Zum ersten Mal kommt einer wie ich nach Srebrenica und erzählt von einer Mutter, nicht von den Müttern. Ja, es ist ein unverzeihlicher Racheakt, was die serbische Armee da veranstaltet hat. Aber es ist eine Rache gewesen an den zerstörten Dörfern rund um Srebenica. Für mich habt ihr Deutschen große Schuld auf euch geladen, schon mit der Anerkennung Kroatiens.«
Wie, Rachakt für zerstörte Dörfer? Die systematische Aussonderung und kaltblütige Ermordung von 7000 Männern, die vor den Augen der niederländischen UN-Truppen und der medialen Öffentlichkeit abgeführt wurden, war nur ein Rachakt. Und die serbische Armee hat kein Massaker, kein Verbrechen begangen, sondern hat da etwas « veranstaltet«. Diese Äußerungen sind keine Relativierung des Vebrechens? Ein Schriftsteller wie Handke, dessen sprachliche Sensibilität zu recht gerühmt wird, sagt so etwas, ohne dass er weiß, was er damit insinuiert?
Lassen wir es dabei bewenden. Er war kein Täter und auch kein Befürworter des Krieges, aber eine angemessene, weil differenzierte Darstellung des Konfliktes oder gar ein Ruhmesblatt seines Schreibens sind seine Ausführungen in den Reisebüchern und auch den anderen Texten zum Komplex Serbien, Milosevic, ganz sicher nicht.
@Norbert
Komisch, dass Sie es immer bewenden lassen wollen, nachdem Sie eine Replik geschrieben haben.
Dass Handke den Zeugenstand erwogen hat ist etwas anderes als das, was Sie sagten: Er wollte als Zeuge für Milosevic auftreten. Das ist – mit Verlaub – etwas anderes.
Die Gründe sind auch keine »Relativierung« (ich verstehe das Wort in diesem Zusammenhang auch gar nicht). Gerade in den »Tablas« steht ja, wie notwendig Handke die Aufarbeitung der Verbrechen erartet, allerdings das Verfahren um Milosevic als mediale Inszenierung ohne jedes »Aufklärungspotential« (mein Wort) betrachtet. Alleine schon deswegen kommt für ihn wohl eine Zeugenschaft nicht in Betracht. Es geht – so Handkes These zum Milosevic-Verfahren – gar nicht um eine neutrale Aufarbeitung des Geschehenen, sondern nur darum, festgefügte Vor-Urteile zu bestätigen.
Handkes These von einem »Racheakt« der Serben in Srebrenica basiert auf den »Aktionen« eines gewissen Naser Oric (bosniaker Kommandant) und seiner Kamerilla, die zwischen 1992 und 1995 in insgesamt rd. 190 Dörfern gewütet und die Zivilbevölkerung massakriert haben sollen (bzw. haben). Hier die Veröffentlichung des ICTY zu seiner Verhaftung 2003. Oric wurde zunächst verurteilt, dann jedoch 2008 in allen Punkten freigesprochen.
Medial hat man von diesem Vorgang wenig bis nichts gehört. Die Übergriffe bzw. Massaker dürfte es gegeben haben; die Zuständigkeit ist nicht geklärt. Im »Sommerlichen Nachtrag« betont Handke, dass Rache keine Entschuldigung darstellt. Aber sie liefert vielleicht eine Erklärung. Wobei Erklärung keine Rechtfertigung ist. Auch das steht im »Sommerlichen Nachtrag« schon.
Das Thema ist übrigens das Buch von Frau Fuelle. Dahin sollten wir zurückkehren.
@Norbert
Ich verstehe nicht ganz: Einerseits schreiben Sie, dass man Melancholie von Schwermut und Depression trennen sollte (da gehe ist sofort mit), andererseits glauben Sie nicht, dass man durch sie auch wieder zu Kraft kommen kann. Aber warum nicht? Wenn Melancholie, wie oben schon angedeutet (und auch in Dürers Engel zu sehen ist), ein Zustand von Betrachtung, von Reflexion ist...
Ich glaube, die Neigung zur Melancholie ist eine Charaktereigenschaft. Sie hat viel zu tun mit einer anderen Weltwahrnehmung, vielleicht auch mit einem Übermaß an Nachdenklichkeit und Beschäftigung mit der conditio humana. Deshalb verwies ich auf die Geschichtsschreibung. Das Wort »Melancholie« erinnert mich immer an »Melodie«, so als eine Art Hintergrundmusik des Alltags. Sie ist der Ausgangspunkt für den Absturz in die Depression und Verzweiflung, ein prämorbider, chronifizierter Zustand. Sie kann vielleicht auch ein zarter, kreativer Antrieb sein, die Melancholie z.B. durch Kunst zu dämpfen (Kunst als Versuch der Vergegenwärtigung oder Verarbeitung des Vergangenen). Dieses Antriebsvermögen bricht bei der Depression und Verzweiflung völlig weg.
@metepsilonema
Wenn Sie Melancholie vor allem als Reflexion sehen, dann haben Sie natürlich recht, dass man daraus Kraft schöpfen kann. Ich sehe Melancholie vor allem als Beschäftigung mit der Erinnerung, Vergänglichkeit und auch mit der Begrenztheit des Menschen und der Natur.
Dürers Melancholie trifft nicht so meine Intention.
Um aktiv zu werden, muss ich mich aus dieser melancholischen Stimmung reißen, ich schöpfe keine Kraft aus ihr, höchstens das Bewußtsein, dass ein zu langes Verweilen rasch abgleiten kann in Schwermut. Ich sage mir vielmehr, trotzdem auf ein Neues, aber ganz frei bin ich nie von ihr.
@Norbert
Naja, nicht vor allem, ich kenne sie nur nicht ohne dieses betrachtende Element. Aber: Dieses Wissen um Begrenztheit, um Vergänglichkeit, um Vergebenes und die »Trauer« darüber, kann das nicht ein Trotzdem anstoßen? Weiter zu machen, weil es etwas gibt, das des Weitermachens wert ist.
Ja, abgleiten kann man, völlig richtig.
@Gregor Keuschnig # 36
Warum komisch? Als höflicher Mensch fühlte ich mich verpflichtet, auf Ihre Antwort wiederun zu antworten, zumal Sie meines Erachtens immer haarscharf neben der Frage antworteten.
Sie sehen, inhaltlich kommt nichts mehr.