- Ich konnte mich wirklich nicht erinnern, wann ich ihn zum ersten Mal getroffen habe. Er war wie der Geist dieser Stadt. Er verkörperte sie: grau, unscheinbar, fast durchsichtig. Der erstgeborene Sohn der Alltäglichkeit, von Geburt an im Scheitern bewandert. Aber man mußte ihn nur anschauen, den Blick auf ihn heften, um nicht durch ihn hindurchzusehen, und schon war er ein anderer. Wenn jemand ihn wahrnahm, wurde er sichtbar. Er sammelte sich, geriet in Spannung, seine Gegenwart verdichtete sich. Er war überall, sah und wußte alles, den Rest ahnte er.
Die Rede ist von Władek. Er und der Erzähler, Pawel, kaufen und verkaufen hauptsächlich Textilien (Paris – London – New York) auf den Wochen- und Jahrmärkten Osteuropas. Sie sind die (selbsternannten) Könige des Plunders. Dabei müssen sie sich zusehends mit den Anbietern der asiatischen Produkte messen, diesem Ramsch und Tand von erbärmlicher Qualität. Kleidungsstücke, die schon nach kurzer Zeit nur noch als Putzlappen taugen. In den besten Momenten vernimmt man im Hintergrund dieser zum Teil rüden Beschimpfungen des asiatischen Billigkrams ein zwischen Ehrfurcht und Fetischismus changierendes Sentiment zum das Ding, das, trotz aller kommerziellen Attitüden, mehr ist als nur schnödes Handelsobjekt. (Oder ist man jetzt schon auf die Władek’sche Werbung reingefallen?)
Sie tummeln sich mit anderen Händlern, Karusselbesitzern, Marktschreiern, Zuhältern, Kleinkriminellen, Dorf-Mafiosi und den wankelmütigen, preisbewussten Kunden. Auf den Märkten ist es flirrend heiß oder es regnet in Strömen. Unterbrechungen gibt es nur durch den großen Beschwichtiger, dem Winter, wobei sich die Protagonisten bei Temperaturen von null Grad fragen, wann er denn endlich komme. Die besuchten Orte sind nicht die gängigen Metropolen; man »tingelt« durch und nach Nyíregyháza, Máriavalva, Tiszajenes, Zborov, Svidník, Monastyrzynski oder Satu Mare. Aber vor allem Medziborie – eigentlich ein kleines, lächerliches Kaff, aber für Pawel und Władek so etwas wie die heimliche Hauptstadt Osteuropas. (Wobei der fiktive Ort Medziborie offensichtlich keine Spielform von Międzybórz darstellt, sondern, wie die Übersetzerin bemerkt, eine Variante von Medzilaborce sein soll – des Wohnortes von Andy Warhols Eltern).
Andrzej Stasiuk entwirft in dieser »Road-Novel« eine Landschaftstopographie in epischen Bildern und Assoziationen, die ein Land jenseits aller Nationalgrenzen evoziert. Ein großer, elegischer Abgesang auf das »alte« Osteuropa. Ein Osteuropa, das im Interregnum nach dem Zusammenbruch des Kommunismus zu einem einzigen großen (Wirtschafts-)Raum wurde. Grenzen haben keine Bedeutung mehr: Polen, Slowakei, Tschechien, Rumänien (das Land der unbegrenzten Möglichkeiten), Ungarn, die nach Billigkram gierende Ukraine – Pawel und Władek sind mit ihrem Ducato moderne Cowboys des Ostens. Sie müssen vor allem die einzelnen Währungskurse im Kopf haben und blitzschnell umrechnen können; für Profis kein Problem. Und wenn alle Kriterien versagen, greift die Formel 20 kg Schrott = 1 Liter Benzin. Man besucht Importeure und Zwischenhändler mit ihren zum Teil unermesslich großen Lagern, die bei uns noch nicht einmal als Schrotthalden angesehen würden. Aber alles wird irgendwann von irgendwem gebraucht werden – und dafür hebt man es auf. Logisch, dass da neuproduzierte Billigware stört.
Pawel und Władek sind zugleich Symbole für ein Osteuropa, welches bedroht ist von den Dämonen der Globalisierung, die wiederum symbolisiert werden durch Chinesen oder Vietnamesen. Aber die Konnotationen, die hier mitschwingen, gehen tiefer: Das »Chinesische« steht synonym für eine seelenlose Ökonomisierung des Gesellschaftlichen. Mit Wonne und in aller Ausführlichkeit wird die Geschichte erzählt, als ein Vietnamese auf einem Markt von einem Schwein angegriffen, in die Kehle gebissen und getötet wird. Das Motiv wird gegen Ende noch einmal bemüht, als sich Władek am »Grauen«, einem kleinen, lokalen Gangsterboss, rächt, in dem er ihn von einer Balustrade hinunterstösst und den dort in elendem Zustand vegetierenden Schweinen buchstäblich zum Fraß vorwirft. Nein, zimperlich geht es in diesem Buch nicht zu und Stasiuks Metaphorik ist gerade an diesen Stellen arg dick aufgetragen.
Mit der Zeit rückt dieser Władek immer mehr in das Zentrum dieses durchaus dem Abschweifen nicht abgeneigten Romans. Er bleibt dabei unnahbar, denn Pawel, der Erzähler, sein Fahrer und Gehilfe, der zuweilen Mühe hat, dessen Stimmungen nachzuvollziehen, betrachtet ihn mit einer gehörigen Portion Ehrfurcht. Władek ist Kettenraucher, Vieltrinker, ein großer Improvisationskünstler, gewitzter Anekdotenerzähler und von einer Sturheit, die allen Hoffnungslosen eigen ist. Er ist gewinnend bei Kunden (wie er seine Ware anpreist!), ein Denkmal des Frühkapitalismus und Unternehmertums – und gleichzeitig sprunghaft und anstrengend, zuweilen jähzornig und schreckt dabei mit einer renitenten Furchtlosigkeit weder vor verbaler noch physischer Gewalt auch gegenüber scheinbar übermächtigen Gegnern nicht zurück. Władek ist ein Prototyp jener aussterbenden Spezies von Händlern, die ihre Kunden noch ehrlich beschummeln und gegen jede Ungerechtigkeit unmittelbar zu Felde ziehen.
Diese chaotische Welt wird mit großer Melancholie, die zuweilen durchaus in Resignation umschlägt, erzählt. Ich liebte die Resignation heißt es einmal fast programmatisch. Und als die Geschäfte immer schlechter gehen und man sich schließlich auf Menschenschmuggel einlässt, haben die beiden die Aura der Krämerromantik längst verloren. Dennoch folgt man den Helden willig und gebannt, wenn sie Pakistani »hinter der Blechwand« ihres Autos transportieren (daher rührt der seltsame deutsche Titel). Diese Pakistani bleiben – abermals stark metaphorisch – unsichtbar und weitgehend unhörbar. In der Zukunft läge das Geschäft mit Menschen, hören sie. Aber das wollen sie nicht. Und fast wäre auch noch alles schiefgegangen.
Schließlich trennen sich die Wege der beiden aber Pawel versucht, von anderen mehr über diesen Władek zu erfahren, mit dem er all die Jahre durch das große Osteuropa gefahren ist. Da gab es diesen groß angelegten Kaffeeschmuggel noch zu Zeiten des »Schusters« in Rumänien (gemeint ist Nicolae Ceaușescu) und schließlich fährt Pawel mit dem Boss im alten Ducato (auch er längst zu einem Sinnbild für das dem Untergang geweihte heimeligen Osteuropas geworden), mit seinem altmodischen analogen Sound des Kassettenrekorders (den wird es nie mehr geben), durch diesen Halbkontinent – bis nach Istanbul.
Denn dort lebt Władek inzwischen mit seiner Rummelplatzliebe, der Kassiererin Eva und tatsächlich treffen sie ihn mit einiger Verspätung (man ist unterschiedlicher Meinung ob es 12 oder 16 Stunden sind) und unzähligen Runden im Kreisverkehr am Taksimplatz in Istanbul. Zusammen mit der schwangeren Eva und vollgestopften Plastiktüten machen sie sich wieder auf den Weg. Da ist der von mehreren Ebenen hierher auflaufende Roman auch schon zu Ende und die Übersetzerin macht noch ein paar sparsame Anmerkungen, unter anderem die, dass der Roman im Original »Taksim« heißt.
Der Leser wird Gratwanderungen und Stimmungsschwankungen unterworfen. Mal lacht man schallend auf, mal ist man schockiert. Mal nervt diese kleinmachende Großkotzerei der Händler, mal ist man amüsiert. Manchmal schüttet der Regen dermaßen stark, dass man ihn zu spüren scheint. Oder man hustet fast vom Kohlenrauch in der kalten Luft im Winterquartier Pawels. Und dann wiederum gibt sich der Erzähler fast bukolisch der Landschaft hin – die schönsten und eindringlichsten Stellen, die lange nachhallen. Gleichzeitig verhütet dieses muntere und virtuos arrangierte Wechselspiel der Orte, Perspektiven und Stimmungen weitgehend das Auftreten der manchmal bedrohlich nahekommenden Osteuropa-Klischees. Fast nebenbei ist »Hinter der Blechwand« ein Zeitdokument einer Ära, die sich nur noch für einige wenige Momente parallel zum allumfassende[n] europäische[n] Frieden von Brüssel und dessen Auswirkungen stemmen kann. Gekonnt balanciert Andrzej Stasiuk zwischen zivilisationskritisch angehauchter Sentimentalität, einer ewig-gleichen Tristesse und unbändiger Lebenslust seiner Protagonisten. Und man bildet sich ein, nach dieser Lektüre ein klein wenig klüger zu sein.
Die kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.
Da ich Sie gelegentlich als gründlichen Leser kennen gelernt habe, wundere ich mich, dass Sie folgende Sätze Stasiuks unkritisch zitieren und sogar anpreisend an den Anfang stellen: »Er war wie der Geist dieser Stadt. Er verkörperte sie: grau, unscheinbar, fast durchsichtig. Der erstgeborene Sohn der Alltäglichkeit, von Geburt an im Scheitern bewandert.« Ich würde sagen: unanschaulicher Schwulst, Allegorien der Beliebigkeit (mein Gott, Alltäglichkeit- was is dat denn? ) , schiefe Metaphern, eine nach der anderen. Zumal zwei Sätze später dann gesagt wird: »Wenn jemand ihn wahrnahm, wurde er sichtbar.« Also ich bitte Sie, Herr K., da ich nicht einmal ein Foto von Ihnen besitze, bleiben sie mir unsichtbar, ich stelle Sie mir aber vor. Daraif käms an Herr Stasiuk. Hic salta!! Aber weiter:
»Er sammelte sich, geriet in Spannung, seine Gegenwart verdichtete sich.«
Aha, die konkrete Nase Wladeks entsteht enstpringt aus einer Abstraktion: der Gegenwart, der Alltäglichkei, dem Geist der Stadt. Nö. Lieber n Stück Wurst für den Lektüre- Hunger. Oder n’ dolles Weib? Kommt sie noch?
Stasiuk hat einen fatalen Hang zum Heroischen, er sucht in jedem Kehrricht das Pathetische, Bedeutende und landet oft im Grauen der Abstraktion. Dieser Wladek wird angekündigt wie ein Halbgott, er ist die Inkarnation des Geistes einer Stadt. Um Himmels Willen.
Dann später: Dieser Satz von Ihnen, der bei mir auch nicht durchgeht. Er zerstört Sinn eher, als solchen zu wahren.
»Diese chaotische Welt wird mit großer Melancholie, die zuweilen durchaus in Resignation umschlägt, erzählt.«
Groß freilich muss bei uns Heutigen alles angekündigt, alles sein,was dann zuweilen umschlägt ins Eigene, Jammerlappenhafte, das wir schöner mit »Resignation« bezeichnen können.
Nein, ich bin nicht einverstanden mit Ihrer Kritik. Sie gehen m‑E. einem Heroenkitsch auf den Leim.
Dennoch nichts für ungut
P.Z.
@Peter Zwey
Literaturkritik ist nie frei von Subjektivität, insofern kann man auch getrost anderer Meinung sein als Herr Keuschnig.
Aber ich kann Ihrer Argumentation nicht folgen, sie erscheint mir nicht schlüssig bzw. nachvollziehbar. Wer mit diesem »Heroenkitsch«, wie Sie es nennen, nichts anfangen kann, was solls?
Mag es heroisch sein, (was ich übrigens nicht so empfinde) mir gefällt die Sprache und mir gefallen die Bilder, die diese Sprache bei mir hervorrufen. Ich fühle mich glänzend unterhalten. Fernab von jedem literaturwissenschaftlichen Ansatz, es ist – zumindestens für mich- mal etwas Neues und anderes und abseits des Mainstreams gewesen, dieses Buch zu lesen. Meine Zeit für dieses Buch war nicht verschenkt. Aber jedem das Seine...
@Peter Zwey
Ich will mich in meiner Replik nicht mit dem vermeintlich Subjektiven der Literaturkritik herausreden. Was Sie als »jammelappenhaft« oder schwülstig anführen, überzeugt mich nicht. Natürlich verfällt Stasiuk gelegentlich in einen Veteranenton, der ein bisschen altersklug das Vergangene in den Vordergrund schiebt. Aber kann man hier nicht auch eine gewisse Ironie des Erzählers herauslesen?
Wenn man die Literatur rein positivistisch sieht, ist ein Satz wie »Wenn jemand ihn wahrnahm, wurde er sichtbar« unmöglich. Aber was soll damit ausgedrückt werden? Dass die Figur unscheinbar erscheint und erst, wenn man ihn beachtet, eine Präsenz bekommt. Ich habe das in grösserer Runde schon mehrfach erfahren: jemand, der mir zunächst nicht auffiel, macht eine Bemerkung und entwickelt erst dann eine gewisse Bedeutung, obwohl er vielleicht wieder in den Hintergrund tritt.
Ihr Vorwurf des Heroenkitsches ist absurd. Alleine schon, wenn man sich der einzelnen Schauplätze des Buches vergewissert. Die »Helden« in diesem Buch sind kaputt, ohne besonderen Intellekt (aber sehr, sehr clever), entkommen immer geradeso ihren Verfolgern und stehen am Ende genau so da, wie vorher.
Schöne Besprechung von Ihnen, Herr Keuschnig, die ich allein schon wegen ihres Sounds sehr gern gelesen habe. Ich kenne die »Blechwand« nicht, fühle mich aber aufgrund Ihrer Charakterisierung des Textes stark an Stasiuks »Dukla« erinnert: ein besonderes Interesse am Dinglich-Konkreten (des Verfalls) und Ätherisch-Geisterhaften gleichermaßen, so eine Art magischer Historismus oder spiritueller Realismus, auch märchenhaft-lyrische Stilleben von (polnischen) Wäldern, Menschen und Dörfern.
Herr Zwey schrieb: »Stasiuk hat einen fatalen Hang zum Heroischen, er sucht in jedem Kehrricht das Pathetische, Bedeutende und landet oft im Grauen der Abstraktion.« Ich glaube zu ahnen, was Herrn Zwey stört. Man muß Stasiuks Blick auf »sein« Osteuropa mögen und sich ein wenig auf seine Tarkowski-hafte Wahrnehmung einlassen wollen, sonst kann man die rostigen Nägel im morschen Gebälk einer Scheune oder die Patina einer Museumswaffe nicht wertschätzen. Herr Stasiuk scheint hinter den Dingen eine andere Wirklichkeit zu sehen, auch, wenn er dies auf meine direkte Nachfrage während einer Literaturveranstaltung spöttisch geleugnet hat. Die einzige spirituelle Wirklichkeit, die er erkennen könne, sei der Alkohol, hat er geantwortet. Wenn man Stasiuks kerniges, kampfnarbiges, knast- und krisengegerbtes, schnapsgewohntes Gesicht gesehen hat, wird man ihm automatisch ein gerüttelt Maß an Heros und Pathos zugestehen. Nicht zu vergessen Traurigkeit, die vielleicht osteuropäisch strapaziert (kitschig), aber schön sein mag.
@Michael Plattner
Danke für’s Lob. Hier ist eine enthusiastische Besprechung von Martin Becker (mp3; ca. 10 Minuten), der sinngemäss sagt, wer Stasiuk bisher nicht leiden konnte, wird ihn nach diesem Buch hassen. Ja, auch bei mir kam dieser Dukla-Ton manchmal durch, wenngleich es hier doch sehr viel »dynamischer« zugeht; die Helden sind ja andauernd unterwegs oder reflektieren dieses Unterwegssein mindestens.
Dass ein Autor in eigener Sache aus mehreren Gründen nicht immer der zuverlässigste Auskunftgeber ist, brauche ich Ihnen sicherlich nicht zu erzählen. Manchmal wirkt ja ein Dementi wie das Gegenteil.