Flo­ri­an Il­lies: 1913

Florian Illies: 1913
Flo­ri­an Il­lies: 1913

»Jetzt geht’s los«, »Was macht…« oder »Nun aber schal­ten wir…« – so ani­miert Flo­ri­an Il­lies in »1913« den Le­ser und man wähnt sich tat­säch­lich zu­wei­len wie in der Bun­des­li­ga­kon­fe­renz im Ra­dio, nur eben schal­tend zu Ma­lern, Schrift­stel­lern, an­ge­hen­den »Po­li­ti­kern« oder son­sti­gen An­ge­hö­ri­gen der »Bo­he­me« (Il­lies ver­mei­det aus un­er­find­li­chen Grün­den die kor­rek­te Schreib­wei­se Bo­hè­me) in den »Front­städ­ten der Mo­der­ne« im Jahr 1913. Statt Tor­schreie gibt’s klei­ne Ge­burts­an­zei­gen von Pe­ter Fran­ken­feld, Ro­bert Lembke, Ma­ri­ka Rökk, Al­bert Ca­mus und Burt Lan­ca­ster. Zwi­schen­durch er­fährt man, dass Jo­sef Sta­lin in der si­bi­ri­schen Ver­ban­nung friert, wie Franz Kaf­ka sei­nen Hei­rats­an­trag doch noch zur Post bringt, wie viel Adolf Hit­ler für sein Abend­essen aus­ge­ge­ben hat und wie der Ta­ges­ab­lauf von Tho­mas Mann ist. Und noch viel mehr.

Bei Il­lies gibt es kei­ne Zu­rück­nah­me des Kom­po­si­teurs, wie bei­spiels­wei­se in Kem­pow­skis »Echo­lot«. Er ist all­wis­sen­der, ord­nen­der und kom­men­tie­ren­der Er­zäh­ler. Da­durch wird dem Le­ser auch gleich die Re­fle­xi­on über das Ge­le­se­ne weit­ge­hend ab­ge­nom­men und die Schleu­sen hin zum blo­ßen Le­se­kon­sum ge­öff­net. Stu­den­ten­fut­ter statt krea­ti­ver Kü­che. Die Spra­che ist eng an­ge­lehnt an den in­zwi­schen üb­li­chen groß­kot­zig-ari­sto­kra­ti­schen Feuil­le­ton-Iro­nis­mus, ir­gend­wo zwi­schen Fritz J. Rad­datz und Ha­rald Schmidt. Lei­der wirkt es zu oft be­müht und setzt den po­sie­ren­den Er­zäh­ler ziem­lich im­per­ti­nent in den Vor­der­grund, wo es doch um die Prot­ago­ni­sten von 1913 ge­hen soll­te.

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Ver­su­che über die Be­ginn­lo­sig­keit

Ei­ni­ge Ge­dan­ken zu Rai­ner Ra­bow­skis bril­lant-kom­­p­le­­xem Er­zähl­band »Un­se­re Sa­che« Sie hei­ßen Yvonne, Hel­ga, Ra­pha­e­la, auch No­vi­ko­va und An­gé­li­que oder – ge­heim­nis­voll – »H.N« und spie­len in fünf von sechs Er­zäh­lun­gen des Ban­des »Un­se­re Sa­che« ei­ne ent­schei­den­de Rol­le. Ober­flächlich be­trach­tet mit so­zio­lo­gi­schem Blick da­her­kom­mend sind es Er­in­ne­run­gen an ver­gan­ge­ne Be­­kannt- und Freund­schaf­ten aus ei­ner zurückge­lassenen Zeit. ...

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Ri­chard Ford: Ka­na­da

Richard Ford: Kanada
Ri­chard Ford: Ka­na­da

Dell Par­sons ist 1945 ge­bo­ren. Er er­zählt im Jahr 2011, als pen­sio­nier­ter Leh­rer, über die Zeit zwi­schen Au­gust und Ok­to­ber 1960. Ei­ne Zeit, die sein Le­ben ra­di­kal ver­än­dert und ge­prägt hat. Der durch­aus fu­ri­os da­herkommende An­fang lässt hof­fen: »Zu­erst will ich von dem Raub­überfall er­zäh­len, den mei­ne El­tern be­gan­gen ha­ben. Dann von den Mor­den, die sich spä­ter er­eigneten.« Fast la­ko­nisch wird er­gänzt: »Der Raub­überfall ist wich­ti­ger, denn er war ei­ne ent­scheidende Wei­chen­stel­lung in mei­nem Le­ben und in dem mei­ner Schwe­ster«.

Aber nun be­ginnt ein un­end­lich in die Län­ge ge­zo­ge­nes, zä­hes Re­ka­pi­tu­lie­ren über sich sel­ber, sei­ne Zwillings­schwester Ber­ner und ih­re El­tern, Va­ter Bev (geb. 1923), sei­ne Frau Nee­va (geb. 1926), über Gre­at Falls, Mon­ta­na (die Fa­mi­lie lebt seit ei­ni­gen Jah­ren dort) und die pre­kä­re fi­nan­zi­el­le Si­tua­ti­on. Der Va­ter, einst Flie­ger in der Ar­mee (er warf Bom­ben auf Ja­pan im Zwei­ten Welt­krieg), ver­lor sei­nen Cap­tain-Rang und wur­de ent­las­sen (al­ler­dings mit be­lo­bi­gen­der Ur­kun­de).

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Ralph Dohr­mann: Kron­hardt

Ralph Dohrmann: Kronhardt
Ralph Dohr­mann: Kron­hardt
Ob­wohl mit Kron­hardt in Ralph Dohr­manns Buch ei­gent­lich im­mer nur leicht ab­fäl­lig der Stief­va­ter von Wil­lem Kron­hardt be­zeich­net wird, ist Wil­lem die Haupt­fi­gur die­ses Ro­mans. Er ist po­ten­ti­el­ler Er­be der (fik­ti­ven) traditions­reichen Bre­mer Tex­til­fa­bri­ka­ti­on glei­chen Na­mens. Sein Va­ter ver­starb als Wil­lem Kind war un­ter my­ste­riö­sen Um­stän­den fast vor sei­nen Au­gen wäh­rend ei­ner Boots­fahrt. Die re­so­lu­te, herrsch­süch­tig auf­tre­ten­de Mut­ter hei­ra­te­te den Bru­der. Der Ro­man be­ginnt am Ein­schu­lungs­tag Wil­lems, den er we­gen ei­nes In­fekts »schwän­zen« muss. Das ist um 1957 her­um; die Hün­din Lai­ka er­reg­te ge­ra­de Auf­se­hen. In Bre­men sind im­mer noch die Trüm­mer sicht­bar und »ver­kohl­te Spu­ren ein­gefleischter Ge­schich­te« stei­gen aus ih­nen auf. Wil­lem geht aufs Gym­na­si­um und ist an­ders als die an­de­ren Wirt­schaftswunderkinder. Im­mer wie­der trau­ert er um sei­nen ver­stor­be­nen Va­ter, ei­nen Künst­ler, des­sen Cha­rak­ter im kras­sen Ge­gen­satz zur dran­g­­sa­lie­rend-ner­vö­sen Mut­ter und des au­to­ri­tä­ren Stief­va­ters steht. Im­mer wie­der ent­flieht Wil­lem der von den »Al­ten« vor­ge­zeich­ne­ten Lauf­bahn, die­sem Zwang zum Funk­tio­nie­ren. Er mei­det die Klün­gel der hö­her­ge­stell­ten Bu­ben und Töch­ter und freun­det sich mit Schlos­ser an, der par­al­lel zur Schu­le noch auf dem Schrott­platz für 7,50 Mark am Tag ar­bei­tet. Schlos­sers Mut­ter ist ge­stor­ben und er ver­sorgt nun sei­ne Zwil­lings­ge­schwi­ster nebst trin­ken­dem, zu­wei­len jäh­zor­ni­gen Va­ter.

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Rai­nald Goetz: Jo­hann Hol­trop

Rainald Goetz: Johann Holtrop
Rai­nald Goetz: Jo­hann Hol­trop

»Auf al­len Ka­nä­len volks­psy­cho­lo­gi­sches Ge­fa­sel über die Gier« – so lau­tet ein No­tat von Pe­ter Slo­ter­di­jk am 18. Ok­to­ber 2008, ver­öf­fent­licht in »Zei­len und Ta­ge«. Wei­ter heißt es: »Kein Mensch will be­grei­fen, daß nicht die Gier an der Macht ist, son­dern der Feh­ler…« Auch Rai­nald Goetz’ Er­zäh­ler in »Jo­hann Hol­trop« schreibt über die Gier, die die Welt steue­re, ei­ne Gier, sich dau­ernd ir­gend­ei­nen Vor­teil für sich zu ver­schaf­fen, am lieb­sten na­tür­lich in Form von Geld, ge­nau dar­in aber, in ih­rem Kal­kül auf Ei­gen­nutz, um­ge­kehrt sel­ber kal­ku­lier­bar, aus­re­chen­bar und aus­beut­bar zu­letzt, das war die Ba­sis der ab­strak­ten Geld­ma­schi­ne, die hier re­si­dier­te. »Hier« ist der fik­ti­ve Ort Kr­öl­pa, Sitz der »As­s­perg AG«, ei­nes welt­weit agie­ren­den Me­di­en­kon­zer­nes de­ren Vorstands­vorsitzender Dr. Jo­hann Hol­trop ist. Welch ein Wort­spiel zu Be­ginn (ei­nes von vie­len): »As­s­perg« er­in­nert an das Asper­ger-Syn­drom, wo­mit das Mi­lieu wohl durch­gän­gig cha­rak­te­ri­siert wer­den soll (ich kom­me spä­ter noch hier­auf zu­rück). Und dann zucken die Par­al­le­len (auch dort, wo es sie ab­sichts­voll nicht gibt): »As­s­perg« hat ei­ni­ges von Ber­tels­mann und ei­ni­ges nicht; Hol­trop er­in­nert an Mid­del­hoff und auch wie­der nicht, Ka­te As­s­perg und der »Al­te« an Liz und Rein­hard Mohn. Ei­ni­ges stimmt, an­de­res nicht; ir­gend­wann be­ginnt man die Par­al­le­len nicht mehr zu su­chen, weil es egal ist, ob Ga­brie­le Heint­zen nun Made­lei­ne Schicke­danz ist, Hol­trops Ver­mö­gens­be­ra­ter Mack an Jo­sef Esch er­in­nert, die Fi­gur Binz an Leo Kirch und mit dem Gosch-Im­pe­ri­um der Sprin­ger Ver­lag ge­meint ist. Die Fi­gu­ren und Or­ga­ni­sa­tio­nen wer­den ge­konnt bis zur Un­kennt­lich­keit ste­reo­ty­pi­siert. Mit dem Spiel mit der Rea­li­tät, dem Ge­we­se­nen, schafft man im­mer­hin se­mi-ehr­gei­zi­gen Germanist(inn)en ei­ne Spiel­wie­se und da passt es ganz gut, dass es zwei Li­sten gibt, die hier be­hilf­lich sind: ei­ne Fi­gu­ren­li­ste und ei­ne Über­sicht »Schau­platz und Ge­sche­hen»1 (»hol­tropp­lag« zur Be­gut­ach­tung der Dok­tor­ar­beit Hol­trops fehlt viel­leicht noch.)

Die Ge­schich­te der Nuller­jah­re will Rai­nald Goetz hier (fort)schreiben; das Über­buch heißt »Schlucht«; der Werk­kon­text ist ganz vor­ne im Buch ab­ge­druckt. »Ab­riss ei­ner Gesell­schaft« lau­tet der mehr­deu­ti­ge Un­ter­ti­tel zum Hol­trop-Buch, ziem­lich frei und doch auch er­in­nernd an »Ver­fall ei­ner Fa­mi­lie«. Am­bi­tio­niert al­so.

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  1. Beide Links zu den Listen sind per 06.08.2015 nicht mehr abrufbar. 

Karl Heinz Boh­rer: Gra­nat­split­ter

Ein »neu­es Spiel« ir­gend­wann 1939 oder 1940: Das Su­chen, Fin­den und Sor­tie­ren von Gra­nat­split­tern. Das Be­wun­dern der bi­zar­ren Far­ben und For­men, das Leuch­ten­de. Und, im Ge­gen­satz zu den ge­schlif­fe­nen Schmuck­stücken der Mut­ter, das Ris­si­ge der schar­fen Rän­der. Der Jun­ge ist sechs oder sie­ben Jah­re alt und die­se Gra­nat­split­ter er­in­nern ihn an die Mu­scheln, die man ...

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Ur­su­la Kre­chel: Land­ge­richt

Ursula Krechel: Landgericht
Ur­su­la Kre­chel: Land­ge­richt
Ri­chard Kor­nit­zer ist 1903 ge­bo­ren, stu­diert Ju­ra, lebt in Ber­lin und will un­be­dingt Rich­ter wer­den. Er pro­mo­viert, wird Mit­glied der Pa­tent- und Ur­he­ber­rechts­kam­mer beim Land­ge­richt I in Ber­lin und hei­ra­tet 1930 Clai­re Pahl. Clai­re ist Ge­schäfts­füh­re­rin ei­ner Fir­ma, die Wer­bung für Ki­nos pro­du­ziert. Al­les läuft be­stens. Sie be­kom­men zwei Kin­der, Ge­org (1932) und Sel­ma (1935). Aber bei Sel­mas Ge­burt ist das Le­ben der Kor­nit­zer be­reits exi­sten­ti­ell be­droht, denn Ri­chard ist das, was man im Na­zi-Jar­gon ei­nen Voll­ju­den nennt. Da spielt es auch kei­ne Rol­le, dass er sich nicht ein­mal als ein rich­ti­ger Ju­de fühl­te (er be­zeichnet sich als Ju­de von Hit­lers Gna­den). Das Paar er­lebt die im­mer per­fi­der wer­den­den »Ge­set­ze« und »Ver­ord­nun­gen«, die ge­gen Ju­den seit 1933 in Kraft ge­setzt wer­den. Ri­chard wird schnell in den Ru­he­stand ver­setzt und ar­bei­tet in ei­ner Glüh­lam­pen­fa­brik. Clai­re wird auf schmut­zi­ge Art und Wei­se ih­re Fir­ma ab­ge­nom­men, weil sie, die Protes­tantin, zu ih­rem Mann steht und sich nicht schei­den läßt. Man spürt förm­lich, wie die Luft zu At­men schwin­det und die Dro­hun­gen phy­si­scher wer­den. Auch die Frei­zeit hat ih­re Un­be­schwert­heit längst ver­lo­ren. Ge­stern noch im Wann­see ge­ba­det, ist dies am näch­sten Tag plötz­lich ver­bo­ten. Rüh­rend, wie Clai­re ein an­de­res Frei­bad sucht.

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Hart­mut Abend­schein: Dran­mor

Hartmut Abendschein: Dranmor
Hart­mut Abend­schein: Dran­mor
Ein na­men­lo­ser Ich-Er­zäh­ler in ei­nem Miets­haus im Beau­montweg in Bern. Beim Auf­räu­men in sei­ner Woh­nung ent­deckt er ei­nen al­ten Zei­tungs­schnip­sel mit ei­nem Ge­dicht. Der Au­tor ist ein ge­wis­ser Dran­mor, der Lud­wig Fer­di­nand Schmid hieß, und 1888 mit 64 Jah­ren starb. Schmid war ein weit­ge­rei­ster Schwei­zer Ge­schäfts­mann, der un­ter sei­nem Pseud­onym Ge­dich­te schrieb. Er leb­te un­ter an­de­rem in Pa­ris und auch meh­re­re Jah­re in Bra­si­li­en, be­vor er ver­armt ein Jahr vor sei­nem Tod in sei­ne Hei­mat­stadt Bern zu­rück­kehr­te. Der Er­zäh­ler in Hart­mut Abend­scheins Er­zäh­lung (oder ist es ei­ne No­vel­le?) fühlt sich an­ge­zo­gen von Dran­mors Ge­dich­ten und sei­nem kosmopo­litischem Le­ben und be­ginnt ein Ex­zerpt über die Idee um die Fik­tio­na­li­tät Dran­mors zu ent­wer­fen. Er re­cher­chiert, wo­bei das Aus­for­schen ein Fai­ble des Er­zäh­lers ist, der sich plötz­lich as­so­zia­tiv an ei­ne Gim­mick-Zeit­schrift in der Ju­gend er­in­nert, die un­ter an­de­rem auch De­tek­tiv-De­vo­tio­na­li­en lan­cier­te und bei ihm ein lan­ges, in­ten­si­ves Spiel er­zeug­te. An­fangs sucht er in Ar­chi­ven um über Dran­mor Pri­mär- und Se­kun­där­li­te­ra­tur zu ent­decken. Er fin­det mit­tels Te­le­fon­an­ru­fen so­gar ei­ne mög­li­che Ur­en­ke­lin ei­nes Bio­gra­phen, die ei­nen Ki­osk be­treibt. Der Be­such wird al­ler­dings zu ei­nem Fi­as­ko; die Frau ist ah­nungs­los, was Dran­mor an­geht und nur müh­sam ver­mag er sich ih­rem ag­gres­si­ven se­xu­el­len Ver­lan­gen durch Flucht zu ent­zie­hen.

Wer ist die­ser Er­zäh­ler? Im Lau­fe des Bu­ches ent­deckt der (sei­ner­seits zum De­tek­tiv wer­den­de) Le­ser zwar im­mer mehr Mo­sa­ik­stein­chen, die sich je­doch nur zu ei­nem opa­ken Bild for­men. Zu Be­ginn wird ein Vor­stel­lungs­ge­spräch be­stan­den und ei­ne Ar­beit in ei­nem Kul­tur­bü­ro (oder ei­ner Bü­che­rei?) auf­ge­nom­men, wo man für das In­bü­cher­hein­schau­en be­zahlt wird.

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