Li­te­ra­tur­kri­tik spie­len

Nach dem Fa­t­­wa-Text ei­nes ge­wis­sen Edo Re­ents über Ju­dith Her­mann (am Ran­de ging es dort auch um ihr Buch »Al­ler Lie­be An­fang«) gab es aus dem er­lauch­ten Kreis nach zeit­li­cher Ver­zö­ge­rung nur zwei Stim­men, die sich ge­nö­tigt sa­hen zu wi­der­spre­chen. Die ei­ne ist Iris Ra­disch in der »Zeit«, de­ren Text zur Si­cher­heit erst gar nicht ...

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Mit Mil­de und Me­lan­cho­lie

Wie Jo­sef Wink­ler sei­nen Er­in­ne­rungs­kos­mos er­wei­tert

»Re­qui­em für ei­nen Va­ter« un­ter­ti­tel­te Jo­sef Wink­ler sei­ne Er­zäh­lung »Rop­pon­gi« aus dem Jahr 2007. Auf ei­ner Vor­trags­rei­se in Ja­pan er­fährt der Ich-Er­zäh­ler, der gro­ße Ähn­lich­kei­ten mit Jo­sef Wink­ler be­sitzt, vom Tod sei­nes Va­ters, je­nem über- und all­mächtigen »Acker­mann aus Kärn­ten« mit dem Wink­ler in sei­nen Bü­chern, vor al­lem in den er­sten Ro­ma­nen, wuch­tig, ex­pres­siv und an­kla­gend groll­te. Der Va­ter sym­bo­li­sier­te En­ge, Ar­cha­ik und Stumpf­sinn, atem­los wird ei­ne schreck­li­che Kind­heit und Ju­gend aus dem schreck­li­chen Dorf Ka­me­ring in Kärn­ten in den 1950er/1960er Jah­ren er­zählt. Der »Acker­mann aus Kärn­ten« wur­de zum Ar­che­typ für ei­ne gan­ze Re­gi­on, ei­ne gan­ze Epo­che. Auf­fal­lend in »Rop­pon­gi« war aber die Mil­de mit der Wink­ler er­zähl­te, ei­ne Mil­de, die zwar die Schrecken der Kind­heit und Ju­gend im­mer wie­der blitz­ar­tig auf­leuch­ten ließ, aber am En­de dann doch vor dem 99jährigen To­ten (Jahr­gang 1905) den Re­spekt nicht ver­sag­te. Der Ich-Er­zäh­ler sei­ner Bü­cher hat­te sich von sei­nem Lei­den eman­zi­piert, los­ge­schrie­ben und konn­te da­mit nun vor­ur­teils­frei­er auf sei­ne Fi­gu­ren blicken und, in Gren­zen, ih­re Mo­ti­va­tio­nen er­for­schen. Die Ex­pres­si­vi­tät ver­schwand nicht, wur­de aber auf­ge­füllt mit an­ek­do­ti­schem. Da­hin­ter durch­aus spür­bar: die Furcht, der Fluch des Va­ters, nach sei­nem Tod kön­ne er, der Sohn, nicht mehr schrei­ben, weil er nie­man­den mehr ha­be, über den er schrei­ben kön­ne, könn­te sich viel­leicht er­fül­len.

Sechs Jah­re spä­ter leuch­tet Wink­ler ei­ne wei­te­re Fa­cet­te sei­nes Kind­heit und Ju­gend aus, die im Ti­tel schon an­klingt: »Mut­ter und der Blei­stift«. Wie so man­ches Wink­ler-Buch ist auch die­se knapp 60seitige Er­zäh­lung ein Tri­pty­chon. Vor­an­ge­stellt ist ihr als ei­ne Art Pro­log ei­ne klei­ne­re Er­zäh­lung (30 Sei­ten) mit dem Ti­tel »Da flog das Wort auf«. Mit Zi­ta­ten von Il­se Ai­chin­ger wird ei­ne dü­ste­re Welt evo­ziert, die nach den Schrecken des Krie­ges (die Groß­mutter müt­ter­li­cher­seits ver­sank in Apa­thie, als sie kurz hin­ter­ein­an­der die Bot­schaft er­reich­te, dass drei ih­rer Söh­ne – 18, 20 und 22 Jah­re alt – im Krieg »ge­fallen« wa­ren) nicht mehr got­tes- son­dern sa­tans­fürch­tig wur­de und (für Wink­ler­sche Ver­hält­nis­se) früh mit 60 Jah­ren an »ge­bro­che­nem Her­zen« starb.

Josef Winkler: Mutter und der Bleistift
Jo­sef Wink­ler:
Mut­ter und der Blei­stift
In »Mut­ter und der Blei­stift« wer­den die Ein­drücke über die Mut­ter des Er­zäh­lers do­mi­nant, ei­ner Mut­ter, die bis­her in den Bü­chern Wink­lers kei­ne we­sent­li­che Rol­le spiel­te. Das könn­te dar­an lie­gen, dass er, der Er­zäh­ler, die Mut­ter scho­nen woll­te und jetzt, nach­dem sie um 2012 ge­stor­ben ist (wenn die Da­ten denn stim­men, wo­bei Wink­ler ein­mal [ab­sichts­voll!] schreibt, die Mut­ter sei mit 86 ge­stor­ben und ein­mal mit 87) mehr er­zäh­len möch­te. Zum an­de­ren war sie für vie­le Jah­re, aus de­nen schließ­lich zwei Jahr­zehnte wur­den, wie ih­re Mut­ter in Apa­thie und Schwer­mut ver­fal­len und träum­te sich da­bei in ei­ne To­ten­welt hin­ein. Zwar er­le­dig­te sie ih­re haus­frau­li­chen Tä­tig­kei­ten (was groß­ar­tig evo­ziert wird, bei­spiels­wei­se wenn sie ihn, den »Seppl«, durch­aus mit In­brunst ver­prü­gel­te), aber al­les nur schwei­gend bzw. na­he­zu schwei­gend, wo­bei es dann pass­te, dass sie am Hof ei­ne taub-stum­me Magd hat­ten, die aber trotz­dem mehr re­de­te als die Mut­ter. Je­des Wort, das die Mut­ter sprach wur­de zum Er­eig­nis, zur Ma­ni­fe­sta­ti­on und ihr »Na!« (Nein) als der Va­ter nach der Ge­burt des Nach­züg­lers mit noch ei­nem wei­te­ren, ei­nem 7. Kind ko­ket­tier­te, grenz­te schon an Auf­leh­nung. Die na­he­zu schwei­gen­de Mut­ter leb­te »völ­lig zurückge­zogen«, d. h. aus­schließ­lich auf dem Hof, be­trat kei­ne an­de­ren Hö­fe im Dorf. Be­su­che gab es auch fast kei­ne (nur die bei­den Schwe­stern ab und an).

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Der Wald und die Bäu­me (X)

Post­skrip­tum »Auf­klä­rung ist der Aus­gang des Men­schen aus sei­ner selbst­ver­schul­de­ten Unmündig­keit.« Seit ich die­sen be­rühm­ten De­fi­ni­ti­ons­satz zum er­sten Mal las, und das ist nun schon ziem­lich lan­ge her, fra­ge ich mich im­mer aufs Neue, in­wie­fern die von Kant kon­sta­tier­te Un­mün­dig­keit denn selbst­ver­schul­det sei. Ich ha­be bis heu­te kei­ne Ant­wort ge­fun­den. Mit ei­ner zu­sätz­li­chen De­fi­ni­ti­on er­läu­tert ...

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Der Wich­tig­tu­er

Um es vor­weg zu sa­gen. Ich ha­be Ju­dith Her­manns Ro­man »Al­ler Lie­be An­fang« nicht ge­le­sen. Ich ken­ne nur ih­re drei Ge­schich­ten­bän­de. Als ganz gro­ße Li­te­ra­tur ka­men mir Her­manns Ge­schich­ten nicht vor. Aber in ih­ren be­sten Mo­men­ten spie­gel­ten sie sehr wohl ei­ne ge­wis­se Stim­mung ei­ner Ge­ne­ra­ti­on und zeig­ten der äl­te­ren Ge­ne­ra­ti­on (aus de­nen sich vie­le Kri­ti­ker rekrutier[t]en) ei­ne neue, bis­her un­be­kann­te Welt.

»Al­ler Lie­be An­fang« wur­de mit gro­ßem Mar­ke­ting vor­ge­stellt. End­lich hat die Ge­schich­ten­er­zäh­le­rin ei­nen Ro­man ge­schrie­ben. Der Ro­man gilt (völ­lig unverständlicher­weise) als Kö­nigs­dis­zi­plin im Li­te­ra­tur­be­trieb. Dass die Li­te­ra­tur­kri­tik die­se Fi­xie­rung im­mer wie­der mo­niert, ist et­was heuch­le­risch, weil ge­fühlt die zwei­te Fra­ge an Ge­schich­ten­schrei­ber im­mer wie­der lau­tet, wann denn der er­ste Ro­man kommt. Für mich hat­te ich be­schlos­sen, die­ses Buch nicht zu le­sen, zu­mal mich auch das ver­meint­li­che The­ma (Stal­king) nicht be­son­ders in­ter­es­siert.

Die Stim­men der Kri­tik zu »Al­ler Lie­be An­fang« wa­ren fast al­le ver­hal­ten bis ab­leh­nend; bei Hel­mut Böt­ti­ger, Eber­hard Falcke oder Ijo­ma Man­gold gut be­grün­det.

Aber die­se li­te­ra­risch ori­en­tier­ten Kri­ti­ken ge­fal­len dem stell­ver­tre­ten­den Feuil­le­ton­chef der FAZ Edo Re­ents nicht. Mit gro­ßem Aplomb hat er ver­meint­li­che Kri­tik zu dem Buch ge­schrie­ben, die in Wahr­heit die Au­torin tref­fen soll. Re­ents Text ist von ei­ner Nie­der­tracht, die ein biss­chen ge­nau­er be­trach­tet wer­den soll (al­le Kur­siv­set­zun­gen aus dem Text):

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Der Wald und die Bäu­me (IX)

Ab­len­kung

Un­ab­weis­bar ist die Struk­tur­ähn­lich­keit zwi­schen dem di­gi­ta­len Win­do­wing und je­ner Mo­de­krank­heit, die man ab­kür­zend und von den Din­gen ab­len­kend als ADHS be­zeich­net. Leu­te aus mei­nem Be­kann­ten­kreis, die an sy­ste­ma­ti­schen Auf­merk­sam­keits­stö­run­gen und zu­gleich an Hy­per­ak­ti­vi­tät lei­den, ge­hen in ih­rem All­tag häu­fig an ei­nen Ort (zum Bei­spiel in der Kü­che oder auf dem Bal­kon) und er­in­nern sich, wenn sie an­kom­men, nicht mehr, was sie dort ei­gent­lich woll­ten. Not­ge­drun­gen ge­hen sie wei­ter an den näch­sten Ort, aber dort ge­schieht ih­nen das glei­che. Sie kön­nen sich nicht an das er­in­nern, was sie vor­hat­ten, und oft auch nicht an das, was sie kurz zu­vor ge­tan ha­ben. Auch das Ver­ges­sen ei­nes Plans oder Plan­ele­ments ist im Grun­de ge­nom­men ein Ver­ges­sen von seit kur­zem Ver­gan­ge­nem. Ganz ähn­lich ver­hal­ten wir uns, wenn wir »sur­fen«: Ziem­lich rasch ver­ges­sen wir, wo­hin wir »ei­gent­lich« woll­ten und was wir dort zu su­chen hat­ten. Wer vor­sätz­lich surft, et­wa zu Un­ter­hal­tungs­zwecken, strebt die­se Art des Ver­ges­sens an. Für Men­schen, die un­ter ADHS lei­den, sind die­se Sym­pto­me al­ler­dings kein Ver­gnü­gen, son­dern eben Stö­run­gen, die sie an ei­nem halb­wegs be­frie­di­gen­den Le­ben hin­dern kön­nen.

Das Wort »Mo­de­krank­heit« ist un­ge­recht, es klingt ver­ächt­lich. Bes­ser, ich neh­me es zu­rück. An­schei­nend hat aber je­de Zeit be­stimm­te Krank­hei­ten, die ih­re ge­sell­schaft­li­chen Wi­der­sprü­che und Ge­bre­chen auf in­di­vi­du­el­ler Ebe­ne aus­drücken. In­so­fern wird man viel­leicht be­haup­ten kön­nen, daß ADHS die Krank­heit des di­gi­ta­len Zeit­al­ters sei.

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Wolf­gang Kör­ner: No­wack

Wolfgang Körner: Nowack
Wolf­gang Kör­ner: No­wack

Har­ry S. No­wack lebt im Ruhr­ge­biet, ist frei­er Fo­to­graf und kann sich die Art sei­ner je­wei­li­gen Un­frei­heit da­her aus­su­chen. Wenn er an­nimmt, sei­ne Bil­der wä­ren nicht nur Nach­rich­ten, son­dern gül­ti­ge Deu­tun­gen der Er­eig­nis­se bie­tet er sie Bild­agen­tu­ren oder Lo­kal­zei­tun­gen an. An­son­sten schlägt er sich durch mit klei­nen Auf­trä­gen un­ter an­de­rem auch von der Po­li­zei, der er an­son­sten skep­tisch ge­gen­über­steht, durch. No­wack ist trotz stets dro­hen­der Mit­tel­lo­sig­keit Künst­ler, Bon­vi­vant, Frau­en­held und auch ein biss­chen ein Re­vo­luz­zer, der sich von lin­ken po­li­ti­schen Heils­idealen noch nicht ganz ent­fernt hat. Aber vor al­lem ist No­wack ein Phan­tast, der al­le Er­schei­nun­gen so­fort in sur­rea­le Traum- und auch ge­le­gent­lich Alptraum­szenarien ver­wan­delt und sie un­ent­wirr­bar mit der Rea­li­tät ver­knüpft. Die­se Bil­der, die­se wil­den, psy­che­de­li­schen As­so­zia­ti­ons­ge­wit­ter und skur­ri­le Wirk­lich­keits­ver­zer­run­gen, bil­den den Kern von Wolf­gang Kör­ners Ro­man »No­wack«.

Dreh- und An­gel­punkt von No­wacks Un­ter­neh­mun­gen ist ne­ben sei­ner Kel­ler­woh­nung das Ca­fé Ca­poc­ci, in dem er die mit Spitz­na­men be­zeich­ne­ten Prot­ago­ni­sten trifft: Jack the Rip­per, Dr. Stein, Dr. Sei­ler, Fer­do Gawri­lo­wicz, Dro­gen­pe­ter. Und na­tür­lich die Frau­en, die ent­we­der ir­gend­wann vor sei­ner Tür ste­hen, wie die Sechs­zwölf­tel­jung­frau, die ihn stets in auf­rei­zen­der De­si­gner-Gar­de­ro­be auf­sucht und ih­ren ver­mö­gen­den Mann ver­las­sen will (es kommt dann in ei­ner ur­ko­mi­schen Sze­ne ein we­nig an­ders), das Schreib­ma­schi­nen­mäd­chen Bea­te, die er im Pfand­haus ken­nen- und dann auch lie­ben lernt oder sei­ne Ex-Ge­lieb­te Mo­ni­ka, die er vor al­lem beim Bei­schlaf mit den an­de­ren Frau­en ein­fach nicht ver­ges­sen kann.

Tat­säch­lich ist die Ver­an­ke­rung No­wacks im Ruhr­ge­biet es­sen­ti­ell für die­sen Ro­man. Es geht um lo­ka­le Er­eig­nis­se, die ih­re Schat­ten vor­aus wer­fen: Das so­ge­nann­te Ze­chen­ster­ben und die da­mit ver­bun­de­nen mas­si­ven Än­de­run­gen in der Le­bens- und Ar­beits­welt der Men­schen vor Ort. Da­her kann »No­wack« nicht in Ham­burg oder Mün­chen spie­len. Sei­ne sur­rea­le Bil­der­welt, die im­mer wie­der auf­bricht und prak­tisch kei­ne Sze­ne na­tu­ra­li­stisch zu En­de er­zählt, ist hin­ge­gen jen­seits geo­gra­phi­scher Ver­or­tun­gen.

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Der Wald und die Bäu­me (VIII)

Ver­ges­sen Fried­rich Nietz­sche, der sei­ne Lauf­bahn als Hi­sto­ri­ker des grie­chi­schen Al­ter­tums be­gann, schrieb ei­ne Ab­hand­lung über den »Nut­zen und Nach­teil der Hi­sto­rie für das Le­ben«. Das in­di­vi­du­el­le wie auch das kol­lek­ti­ve Ge­dächt­nis, so lau­tet sei­ne The­se, wer­de in be­stimmten Pha­sen der Mensch­heits­ent­wick­lung hy­per­troph und be­gin­ne, das Le­ben ein­zu­schrän­ken, am En­de so­gar zu ver­nich­ten. Es kom­me ...

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Der Wald und die Bäu­me (VII)

Ge­ni­al! Die ka­ka­ni­sche Welt, die der Mann oh­ne Ei­gen­schaf­ten be­schreibt, ist ei­ne ge­lähm­te. Zwar wird be­haup­tet, ein gro­ßes Er­eig­nis sei im Ent­ste­hen, aber dann geht nie et­was wei­ter. Die ge­hemm­ten Ak­teu­re ver­hal­ten sich im we­sent­li­chen nicht an­ders als Ul­rich, auch wenn ih­nen des­sen gei­sti­ge Sou­ve­rä­ni­tät, sei­ne Iro­nie und Spott­lust feh­len. In den er­sten Ka­pi­teln des ...

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