Der Wald und die Bäu­me (IX)

Ab­len­kung

Un­ab­weis­bar ist die Struk­tur­ähn­lich­keit zwi­schen dem di­gi­ta­len Win­do­wing und je­ner Mo­de­krank­heit, die man ab­kür­zend und von den Din­gen ab­len­kend als ADHS be­zeich­net. Leu­te aus mei­nem Be­kann­ten­kreis, die an sy­ste­ma­ti­schen Auf­merk­sam­keits­stö­run­gen und zu­gleich an Hy­per­ak­ti­vi­tät lei­den, ge­hen in ih­rem All­tag häu­fig an ei­nen Ort (zum Bei­spiel in der Kü­che oder auf dem Bal­kon) und er­in­nern sich, wenn sie an­kom­men, nicht mehr, was sie dort ei­gent­lich woll­ten. Not­ge­drun­gen ge­hen sie wei­ter an den näch­sten Ort, aber dort ge­schieht ih­nen das glei­che. Sie kön­nen sich nicht an das er­in­nern, was sie vor­hat­ten, und oft auch nicht an das, was sie kurz zu­vor ge­tan ha­ben. Auch das Ver­ges­sen ei­nes Plans oder Plan­ele­ments ist im Grun­de ge­nom­men ein Ver­ges­sen von seit kur­zem Ver­gan­ge­nem. Ganz ähn­lich ver­hal­ten wir uns, wenn wir »sur­fen«: Ziem­lich rasch ver­ges­sen wir, wo­hin wir »ei­gent­lich« woll­ten und was wir dort zu su­chen hat­ten. Wer vor­sätz­lich surft, et­wa zu Un­ter­hal­tungs­zwecken, strebt die­se Art des Ver­ges­sens an. Für Men­schen, die un­ter ADHS lei­den, sind die­se Sym­pto­me al­ler­dings kein Ver­gnü­gen, son­dern eben Stö­run­gen, die sie an ei­nem halb­wegs be­frie­di­gen­den Le­ben hin­dern kön­nen.

Das Wort »Mo­de­krank­heit« ist un­ge­recht, es klingt ver­ächt­lich. Bes­ser, ich neh­me es zu­rück. An­schei­nend hat aber je­de Zeit be­stimm­te Krank­hei­ten, die ih­re ge­sell­schaft­li­chen Wi­der­sprü­che und Ge­bre­chen auf in­di­vi­du­el­ler Ebe­ne aus­drücken. In­so­fern wird man viel­leicht be­haup­ten kön­nen, daß ADHS die Krank­heit des di­gi­ta­len Zeit­al­ters sei. Wei­ter­le­sen

Wolf­gang Kör­ner: No­wack

Wolfgang Körner: Nowack

Wolf­gang Kör­ner: No­wack

Har­ry S. No­wack lebt im Ruhr­ge­biet, ist frei­er Fo­to­graf und kann sich die Art sei­ner je­wei­li­gen Un­frei­heit da­her aus­su­chen. Wenn er an­nimmt, sei­ne Bil­der wä­ren nicht nur Nach­rich­ten, son­dern gül­ti­ge Deu­tun­gen der Er­eig­nis­se bie­tet er sie Bild­agen­tu­ren oder Lo­kal­zei­tun­gen an. An­son­sten schlägt er sich durch mit klei­nen Auf­trä­gen un­ter an­de­rem auch von der Po­li­zei, der er an­son­sten skep­tisch ge­gen­über­steht, durch. No­wack ist trotz stets dro­hen­der Mit­tel­lo­sig­keit Künst­ler, Bon­vi­vant, Frau­en­held und auch ein biss­chen ein Re­vo­luz­zer, der sich von lin­ken po­li­ti­schen Heils­idealen noch nicht ganz ent­fernt hat. Aber vor al­lem ist No­wack ein Phan­tast, der al­le Er­schei­nun­gen so­fort in sur­rea­le Traum- und auch ge­le­gent­lich Alptraum­szenarien ver­wan­delt und sie un­ent­wirr­bar mit der Rea­li­tät ver­knüpft. Die­se Bil­der, die­se wil­den, psy­che­de­li­schen As­so­zia­ti­ons­ge­wit­ter und skur­ri­le Wirk­lich­keits­ver­zer­run­gen, bil­den den Kern von Wolf­gang Kör­ners Ro­man »No­wack«.

Dreh- und An­gel­punkt von No­wacks Un­ter­neh­mun­gen ist ne­ben sei­ner Kel­ler­woh­nung das Ca­fé Ca­poc­ci, in dem er die mit Spitz­na­men be­zeich­ne­ten Prot­ago­ni­sten trifft: Jack the Rip­per, Dr. Stein, Dr. Sei­ler, Fer­do Gawri­lo­wicz, Dro­gen­pe­ter. Und na­tür­lich die Frau­en, die ent­we­der ir­gend­wann vor sei­ner Tür ste­hen, wie die Sechs­zwölf­tel­jung­frau, die ihn stets in auf­rei­zen­der De­si­gner-Gar­de­ro­be auf­sucht und ih­ren ver­mö­gen­den Mann ver­las­sen will (es kommt dann in ei­ner ur­ko­mi­schen Sze­ne ein we­nig an­ders), das Schreib­ma­schi­nen­mäd­chen Bea­te, die er im Pfand­haus ken­nen- und dann auch lie­ben lernt oder sei­ne Ex-Ge­lieb­te Mo­ni­ka, die er vor al­lem beim Bei­schlaf mit den an­de­ren Frau­en ein­fach nicht ver­ges­sen kann.

Tat­säch­lich ist die Ver­an­ke­rung No­wacks im Ruhr­ge­biet es­sen­ti­ell für die­sen Ro­man. Es geht um lo­ka­le Er­eig­nis­se, die ih­re Schat­ten vor­aus wer­fen: Das so­ge­nann­te Ze­chen­ster­ben und die da­mit ver­bun­de­nen mas­si­ven Än­de­run­gen in der Le­bens- und Ar­beits­welt der Men­schen vor Ort. Da­her kann »No­wack« nicht in Ham­burg oder Mün­chen spie­len. Sei­ne sur­rea­le Bil­der­welt, die im­mer wie­der auf­bricht und prak­tisch kei­ne Sze­ne na­tu­ra­li­stisch zu En­de er­zählt, ist hin­ge­gen jen­seits geo­gra­phi­scher Ver­or­tun­gen. Wei­ter­le­sen

Der Wald und die Bäu­me (VIII)

Ver­ges­sen

Fried­rich Nietz­sche, der sei­ne Lauf­bahn als Hi­sto­ri­ker des grie­chi­schen Al­ter­tums be­gann, schrieb ei­ne Ab­hand­lung über den »Nut­zen und Nach­teil der Hi­sto­rie für das Le­ben«. Das in­di­vi­du­el­le wie auch das kol­lek­ti­ve Ge­dächt­nis, so lau­tet sei­ne The­se, wer­de in be­stimmten Pha­sen der Mensch­heits­ent­wick­lung hy­per­troph und be­gin­ne, das Le­ben ein­zu­schrän­ken, am En­de so­gar zu ver­nich­ten. Es kom­me dar­auf an, schöp­fe­risch zu sein und et­was Neu­es zu schaf­fen. Zu die­sem Zweck sei es im­mer wie­der nö­tig, sich vom Über­lie­fer­ten und, ge­ne­rel­ler, von der Last des Den­kens frei zu ma­chen. Mu­sil drück­te es so aus: »Ge­le­gent­lich sind wir al­le dumm; wir müs­sen ge­le­gent­lich auch blind oder halb­blind han­deln, oder die Welt stün­de still; und woll­te ei­ner aus den Ge­fah­ren der Dumm­heit die Re­gel ab­lei­ten: ‘Ent­hal­te dich in al­lem des Ur­teils und des Ent­schlus­ses, wo­von du nichts ver­stehst!’, wir er­starr­ten.« Er­in­nern und Ver­ges­sen, Nach­den­ken und Han­deln, Mög­lich­kei­ten Son­die­ren und Ideen ver­wirk­li­chen: bei­de Sei­ten hän­gen in der prä­di­gi­ta­len Kul­tur aufs eng­ste zu­sam­men. Die über­gro­ße, un­ge­ord­ne­te, vom Sub­jekt – dem Ver­brau­cher – nicht mehr dif­fe­ren­zier­ba­re und in­so­fern gleich­gül­ti­ge Da­ten­men­ge kann zwar zur Un­ter­hal­tung die­nen, zum so­ge­nann­ten In­fo­tain­ment, wo man Be­lie­bi­ges und Be­lieb­tes aus­wählt, doch sie steht jen­seits der von Nietz­sche her­aus­ge­ar­bei­te­ten Dia­lek­tik. Die Er­in­ne­rungs­schwa­chen ha­ben nichts zu ver­ges­sen. Wenn die Ge­hir­ne den di­gi­ta­len Me­di­en end­gül­tig an­ge­paßt wor­den sind, er­üb­rigt sich nicht nur das Erinnerungs­vermögen, son­dern auch die Fä­hig­keit des Ver­ges­sens, es kommt zu ei­ner si­mul­ta­nen Dau­er­prä­senz von gleich­gül­ti­gen Din­gen und ei­ner sub­jek­ti­ven Trance, die ge­wis­sen, sa­kra­len oder pro­fa­nen, in der Ge­schich­te oft­mals ge­prie­se­nen Er­lö­sungs­zu­stän­den äh­nelt.

© Leo­pold Fe­der­mair

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Der Wald und die Bäu­me (VII)

Ge­ni­al!

Die ka­ka­ni­sche Welt, die der Mann oh­ne Ei­gen­schaf­ten be­schreibt, ist ei­ne ge­lähm­te. Zwar wird be­haup­tet, ein gro­ßes Er­eig­nis sei im Ent­ste­hen, aber dann geht nie et­was wei­ter. Die ge­hemm­ten Ak­teu­re ver­hal­ten sich im we­sent­li­chen nicht an­ders als Ul­rich, auch wenn ih­nen des­sen gei­sti­ge Sou­ve­rä­ni­tät, sei­ne Iro­nie und Spott­lust feh­len. In den er­sten Ka­pi­teln des Ro­mans ist auf­fäl­lig oft von »Be­deu­ten­dem« die Re­de, das Epi­the­ton »be­deu­tend« wird in ver­schie­den­ste Kon­tex­te ein­ge­schleust. In sei­ner Re­de über die Dumm­heit, die Mu­sil 1937 in Wien vor un­ge­wöhn­lich zahl­rei­chem Pu­bli­kum hielt, kam er zum Schluß auf das Kon­zept des Be­deu­ten­den zu spre­chen. Be­deu­tungs­lo­ses Wis­sen, so ver­ste­he ich sei­ne Äu­ße­run­gen, kann eben­so nütz­lich wie schäd­lich sein. Die Wort­wahl fin­de ich nicht glück­lich, ich wür­de eher von Sinn­ge­bung spre­chen, es geht um die be­wuß­te Wer­tung von Da­ten und de­ren Ein­ord­nung in Kon­tex­te, Pro­jek­te, Ho­ri­zon­te. So hät­te Mu­sil sich auch die be­dau­ern­de Ge­ste spa­ren kön­nen, die er an den Tag leg­te, be­vor er sich von sei­nen Zu­hö­rern ver­ab­schie­de­te: Mit dem Ge­sag­ten sei »durch­aus noch kein Er­ken­nungs- und Un­ter­schei­dungs­zei­chen des Be­deu­ten­den ge­ge­ben«. Nun, es wird nie ein si­che­res Zei­chen da­von ge­ben, da es sich um ein un­end­li­ches Ge­spräch han­delt: Was be­deu­tend ist und was nicht, was für uns sinn­voll ist und was nicht, muß im­mer wie­der aufs neue durch­dacht und be­spro­chen und so­zu­sa­gen ver­han­delt wer­den. Dies gilt für ei­nen li­te­ra­ri­schen oder mu­si­ka­li­schen Ka­non eben­so wie für die Fra­ge, durch wel­che Tech­ni­ken wir En­er­gie für un­se­ren wirt­schaft­li­chen Be­darf er­zeu­gen und von wel­chen wir Ab­stand neh­men wol­len. Die Dumm­heit der di­gi­ta­len Welt be­steht dar­in, daß sie auf der­lei müh­sa­me Un­ter­schei­dun­gen ver­zich­ten zu kön­nen vor­gibt. Was gut ist und was nicht, ist in die­ser Welt oh­ne­hin in Ran­kings fest­ge­legt, und was mir ge­fällt, brau­che ich nicht zu be­grün­den. Die we­nig­sten wis­sen, wie Ran­kings zu­stan­de kom­men, die mei­sten neh­men sie ge­dan­ken­los auf und re­pro­du­zie­ren sie. Un­ter sol­chen Be­din­gun­gen ist al­les be­deu­tend, ei­ne Kunst­fi­gur wie Con­chi­ta Wurst gilt gleich wie ein Shake­speare-Dar­stel­ler. Ei­ne Fi­gur gilt, wenn sie »er­folg­reich« ist. Was er­folg­reich ist, ent­schei­den die Ran­kings des Markts. Al­les und nichts ist be­deu­tend, die dia­lek­ti­sche Span­nung ist ver­schwun­den, die Mü­he, die Mu­sil einst auf das Be­deu­tend-Sein und Be­deu­tend-Ma­chen ver­wand­te, heu­te kaum noch ver­ständ­lich. Er ahn­te die fer­ne­ren Ent­wick­lun­gen, als er sich Ge­dan­ken über ge­nia­le Bo­xer und Renn­pfer­de mach­te.

© Leo­pold Fe­der­mair

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Wie dann doch al­les schief­ge­gan­gen ist: Chri­sto­pher Clarks Schlaf­wand­ler

Christopher Clark: The Sleepwalkers

Chri­sto­pher Clark:
The Sleep­wal­kers

Der Er­folg von Clarks »Schlaf­wand­lern« (Spie­gel-Top10; Nr. 1‑Bestseller auf Ama­zon) in Deutsch­land ist auch ein Tri­umph des Mar­ke­tings und der stra­te­gi­schen Pro­dukt­pla­nung. Ge­nau zum rich­ti­gen Zeit­punkt, am An­fang des gro­ßen Ge­denk­ma­ra­thons zum WWI, wird das Buch mit um­fang­rei­chen Wer­be- und PR-Ma­te­ria­li­en in den über­re­gio­na­len Feuil­le­tons plat­ziert, die ge­schickt die Neu­ro­sen rechts-bür­ger­li­cher deut­scher Pu­bli­zi­sten und des AfD-wäh­len­den Teils des Pu­bli­kums be­die­nen. Ein Ver­gleich der »Blurbs«, die das eng­li­sche Ori­gi­nal be­wer­ben, und der Sprech­bla­sen auf der deut­schen Über­set­zung ist hier sehr in­struk­tiv. (Mein Text be­zieht sich auf die eng­li­sche Ta­schen­aus­ga­be Chri­sto­pher Clark, The Sleep­wal­kers. How Eu­ro­pe Went to War in 1914, Lon­don: Pen­gu­in Books, 2013) Gleich vor­weg: Clark schreibt kei­ne Apo­lo­gie des Kai­ser­rei­ches.

Tat­säch­lich las­sen sich die gut 560 Sei­ten rei­ner Text (oh­ne Fuß­no­ten) her­vor­ra­gend le­sen. Ana­ly­ti­sche Pas­sa­gen, zum Bei­spiel zur kom­ple­xen und kom­pli­zier­ten Struk­tur der po­li­ti­schen Ent­schei­dungs­pro­zes­se in den be­tei­lig­ten Staa­ten und de­ren Be­deu­tung für die tat­säch­li­chen Hand­lun­gen und de­ren Ab­läu­fe, sind ge­schickt in die er­zäh­le­ri­schen Pas­sa­gen in­te­griert. Dass Clark wirk­lich gut er­zäh­len kann, ist ein gro­ßes Plus des Bu­ches: Ent­scheidende Epi­so­den auf dem Weg in den Krieg wer­den sehr pla­stisch, die Haupt­akteure wer­den in klei­nen Vi­gnet­ten vor­ge­stellt. So ist man qua­si live da­bei, als ser­bi­sche Put­schi­sten Kö­nig Alex­an­dar und Kö­ni­gin Dra­ga ab­schlach­ten und dann ei­ni­ge der Kö­nigs­mör­der Jah­re spä­ter die Sa­ra­je­vo-At­ten­tä­ter re­kru­tie­ren oder beim Be­such des fran­zö­si­schen Staats­prä­si­den­ten Poin­ca­ré in Ruß­land wäh­rend der Hoch­zeit der Ju­li-Kri­se 1914, in­klu­si­ve des Ner­ven­zu­sam­men­bruchs des fran­zö­si­schen Re­gie­rungs­chefs Vi­via­ni. Wei­ter­le­sen

Lucky Punch

A.d.L.e.R: Aus dem Le­ben ei­ner Rik­scha­fah­re­rin – Nr. 19

Am 12. Au­gust 2014 er­scheint bei Hoff­mann und Cam­pe un­ter dem Ti­tel Deut­scher Mei­ster mein neu­er Ro­man dar­über, wie der Pro­fi­bo­xer Hein­rich Troll­mann die Na­zis be­sieg­te. Als ich das letz­te Ka­pi­tel schrieb und mich zu die­sem Zweck mit Le­ber­ha­ken aus­ein­an­der­setz­te, sol­chen mit K.o.-Wirkung und sol­chen oh­ne, und wie ver­schie­den und doch le­ber­ha­ken­spe­zi­fisch die Ge­trof­fe­nen fal­len, und wel­che Art von Schmer­zen sie er­lei­den, und wie die Le­ber­ha­ken in­nen, al­so ana­to­misch wir­ken, und als ich sah, wo der K.o.-Knopf ist, und wie man ihn ge­drückt kriegt, da fiel mir plötz­lich je­nes bis­her un­verstandene Er­leb­nis auf dem Ok­to­ber­fest 2004 wie­der ein, und mir wur­de schlag­ar­tig klar, dass ich da­mals mei­nen Kon­tra­hen­ten in die Le­ber ge­trof­fen ha­ben muss­te.

Um das gleich vor­weg­zu­neh­men: Er war sel­ber schuld. Zu­nächst ein­mal ist, wer ei­ne solch pro­vo­kan­te Le­der­ho­se trägt, die durch al­ler­lei Zier­sticke­rei­en, Klap­pen und Knöp­fe den ge­schlecht­li­chen Be­reich auf­dring­lich her­vor­hebt und be­tont, oh­ne­hin sel­ber schuld und muss sich über nichts wun­dern. Wä­re er zwei­tens erst gar nicht aufs Ok­to­ber­fest ge­gangen, son­dern zu Hau­se ge­blie­ben, hät­te ich ihn nicht k.o. schla­gen kön­nen, und hät­te er mich drit­tens nicht un­ge­fragt an­ge­fasst, so hät­te ich gar nicht dar­an ge­dacht, ihm ei­ne Leh­re zu er­tei­len, denn ich hat­te weiß Gott bes­se­res zu tun, na­ment­lich, durch an­stren­gen­de Ar­beit mit der Rik­scha Geld zu ver­die­nen. Wei­ter­le­sen

Der Wald und die Bäu­me (VI)

Fu­nes, der Da­ten­spei­cher

Ei­ne Er­zäh­lung von Jor­ge Lu­is Bor­ges heißt Fu­nes el me­mo­rio­so; der Ti­tel läßt sich Wort für Wort nicht gut ins Deut­sche über­tra­gen. Statt sich mit dem Epi­the­ton des Ori­gi­nal­ti­tels her­um­zu­pla­gen, ha­ben die deut­schen Über­set­zer ein Wör­ter­paar als Ti­tel ge­wählt, das im vor­letz­ten Satz der Er­zäh­lung vor­kommt: Das un­er­bitt­li­che Ge­dächt­nis. Das er­staun­li­che, lei­stungs­star­ke, gren­zen­lo­se Ge­dächt­nis des Ire­neo Fu­nes ist für sei­nen Be­sit­zer schmerz­haft, es stellt ei­nen Fluch dar, der ihn hin­dert, ein nor­ma­les Le­ben zu füh­ren. Zu­ge­zo­gen hat er sich die­ses Ge­dächt­nis bei ei­nem Sturz vom Pferd, und es ist fast ein Glück, daß er seit­dem ge­lähmt ist. In die­sem Aspekt der Er­zäh­lung steckt ei­ne sym­bo­li­sche Aus­sa­ge, die mit Nietz­sches Ab­hand­lung gut ver­ein­bar ist: Ein hy­per­tro­phes Ge­dächt­nis lähmt den Kör­per; wer sich dau­ernd er­in­nert, kann nicht han­deln. Die Be­schrei­bun­gen, die uns Bor­ges gibt, sind über­zeu­gend, auch wenn es in der Wirk­lich­keit nie ei­nen Mann wie Fu­nes ge­ge­ben hat, noch ge­ben wird. Den­noch stellt sich die Fra­ge, ob das, was in Fu­nes’ Kopf ab­läuft, mensch­li­che Er­in­ne­run­gen sind. Ein per­fektes, un­be­grenzt lei­stungs­fä­hi­ges Ge­dächt­nis mag man un­mensch­lich oder übermensch­lich nen­nen, es gleich aber eher ei­ner Ma­schi­ne, in der die Da­ten stets so blei­ben, wie sie im Mo­ment ih­rer Auf­nah­me sind. Fu­nes, so könn­te man im 21. Jahr­hun­dert sa­gen, ist nichts an­de­res als ein Computer­speicher. Sei­ne Er­in­ne­run­gen sind lücken­los, und sie än­dern sich nicht, der Da­ten­hau­fen ver­mehrt sich bloß Tag für Tag und selbst in den Näch­ten, denn Fu­nes kann nicht rich­tig schla­fen (er er­in­nert sich an sämt­li­che Träu­me). Fu­nes selbst sagt, er füh­le sich wie ein Ab­fall­korb. Sei­ne Er­in­ne­run­gen sind Müll, zu nichts zu ge­brauchen, al­so sinn­los. Das­sel­be gilt für die Da­ten­un­men­gen im In­ter­net, wenn der Nut­zer die auf­ge­ru­fe­ne Se­rie der Da­ten, wie es die di­gi­ta­le Kul­tur na­he­legt, bloß kon­su­miert oder igno­riert. Fu­nes er­in­nert sich »nicht nur an je­des Blatt je­den Bau­mes in je­dem Wald, son­dern auch an je­des ein­zel­ne Mal, da er es ge­se­hen oder sich vor­ge­stellt hat­te.« Bor­ges’ Er­zäh­ler be­merkt zu dem Fall, der ihn fas­zi­niert und er­schüt­tert, der ge­dächt­nis­star­ke Fu­nes kön­ne ei­gent­lich nicht den­ken. Den­ken hei­ße, Un­ter­schie­de ver­ges­sen, verallge­meinern, ab­stra­hie­ren. Wird (oder macht sich) der Ein­zel­ne zur Gei­sel ei­nes un­er­bitt­li­chen Ge­dächt­nis­ses, ver­liert er die­se Fähig­keit: so könn­te die Leh­re die­ser ganz und gar nicht di­dak­ti­schen Er­zäh­lung lau­ten.

© Leo­pold Fe­der­mair

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Der Gro­sse Krieg

Er­spart prak­tisch al­les an­de­re zum 1.Weltkrieg: Her­fried Mün­k­ler http://t.co/B9PomlFXLI

— frank­schirr­ma­cher (@fr_schirrmacher) 28. Ja­nu­ar 2014

»Er­spart prak­tisch al­les an­de­re zum 1.Weltkrieg: Her­fried Mün­k­ler« twit­ter­te Frank Schirr­ma­cher am 28. Ja­nu­ar 2014 und ver­link­te auf ein In­ter­view mit dem Au­tor in der FAZ. Ich kann das nicht be­ur­tei­len. Ne­ben ei­ni­gen ober­fläch­li­chen, zu­wei­len effekt­hascherischen Ge­denk­sen­dun­gen in Ra­dio und Fern­se­hen ha­be ich ne­ben Her­fried Mün­k­lers Buch »Der Gro­sse Krieg – Die Welt 1914–1918« nur noch Ernst Pi­pers »Nacht über Eu­ro­pa« ge­le­sen.

Die Bü­cher sind kaum mit­ein­an­der ver­gleich­bar. Mün­k­ler lie­fert ei­ne Ge­samt­über­sicht des Krie­ges auf rund 780 Sei­ten mit 70 Sei­ten klein­ge­druck­ter An­mer­kun­gen. Die Biblio­graphie am En­de des Bu­ches – sat­te 40, eben­falls klein­ge­druck­te Sei­ten mit über 800 Li­te­ra­tur­ver­wei­sen – bie­tet für na­he­zu je­des The­ma zum Er­sten Welt­krieg – und sei es noch so spe­zi­ell – Ver­tie­fungs­mög­lich­kei­ten. Pi­per bie­tet mit Pro­log und Ex­kur­sen 15 Auf­sät­ze auf 485 Sei­ten mit mehr als 50 Sei­ten An­mer­kungs­teil. Da­bei stellt er ein­zel­ne Aspek­te des Krie­ges in den Vor­der­grund wie die Kriegs­lust der In­tel­lek­tu­el­len, die Rol­le der Schweiz und das Wü­ten der Deut­schen in Bel­gi­en. De­tail­lier­te mi­li­tä­ri­sche und geo­stra­te­gi­sche Er­läu­te­run­gen feh­len da­ge­gen. Wei­ter­le­sen