Funes, der Datenspeicher
Eine Erzählung von Jorge Luis Borges heißt Funes el memorioso; der Titel läßt sich Wort für Wort nicht gut ins Deutsche übertragen. Statt sich mit dem Epitheton des Originaltitels herumzuplagen, haben die deutschen Übersetzer ein Wörterpaar als Titel gewählt, das im vorletzten Satz der Erzählung vorkommt: Das unerbittliche Gedächtnis. Das erstaunliche, leistungsstarke, grenzenlose Gedächtnis des Ireneo Funes ist für seinen Besitzer schmerzhaft, es stellt einen Fluch dar, der ihn hindert, ein normales Leben zu führen. Zugezogen hat er sich dieses Gedächtnis bei einem Sturz vom Pferd, und es ist fast ein Glück, daß er seitdem gelähmt ist. In diesem Aspekt der Erzählung steckt eine symbolische Aussage, die mit Nietzsches Abhandlung gut vereinbar ist: Ein hypertrophes Gedächtnis lähmt den Körper; wer sich dauernd erinnert, kann nicht handeln. Die Beschreibungen, die uns Borges gibt, sind überzeugend, auch wenn es in der Wirklichkeit nie einen Mann wie Funes gegeben hat, noch geben wird. Dennoch stellt sich die Frage, ob das, was in Funes’ Kopf abläuft, menschliche Erinnerungen sind. Ein perfektes, unbegrenzt leistungsfähiges Gedächtnis mag man unmenschlich oder übermenschlich nennen, es gleich aber eher einer Maschine, in der die Daten stets so bleiben, wie sie im Moment ihrer Aufnahme sind. Funes, so könnte man im 21. Jahrhundert sagen, ist nichts anderes als ein Computerspeicher. Seine Erinnerungen sind lückenlos, und sie ändern sich nicht, der Datenhaufen vermehrt sich bloß Tag für Tag und selbst in den Nächten, denn Funes kann nicht richtig schlafen (er erinnert sich an sämtliche Träume). Funes selbst sagt, er fühle sich wie ein Abfallkorb. Seine Erinnerungen sind Müll, zu nichts zu gebrauchen, also sinnlos. Dasselbe gilt für die Datenunmengen im Internet, wenn der Nutzer die aufgerufene Serie der Daten, wie es die digitale Kultur nahelegt, bloß konsumiert oder ignoriert. Funes erinnert sich »nicht nur an jedes Blatt jeden Baumes in jedem Wald, sondern auch an jedes einzelne Mal, da er es gesehen oder sich vorgestellt hatte.« Borges’ Erzähler bemerkt zu dem Fall, der ihn fasziniert und erschüttert, der gedächtnisstarke Funes könne eigentlich nicht denken. Denken heiße, Unterschiede vergessen, verallgemeinern, abstrahieren. Wird (oder macht sich) der Einzelne zur Geisel eines unerbittlichen Gedächtnisses, verliert er diese Fähigkeit: so könnte die Lehre dieser ganz und gar nicht didaktischen Erzählung lauten.
© Leopold Federmair
Denken bedeutet Unterschiede zuerst nach ihrer Relevanz zu befragen, danach kann man entscheiden ob man sie übergeht oder nicht (tut man das nicht, legt man sich Vor- oder Pseudourteile zurecht).
Computersysteme sind selbstverständlich fehleranfällig, weswegen Daten mehrfach und regelmäßig gesichert werden, online, wie offline (es gibt also auch ein digitales Vergessen und ich meine – zufallsbedingt – auch ebensolche Veränderungen).
Die Unterschiede zu einer klassischen Bibliothek liegen dann nur mehr in der Ordnung, einer gewissen Beschränkung und den Zugriffsmöglichkeiten (was sich mittlerweile allerdings ändert): Eine Nationalbibliothek etwa häuft unterschiedslos alle Druckerzeugnisse eines Landes an. Wie man diesem Haufen dann begegnet: konsumierend, denkend, kreierend, liegt im individuellen Bereich.