Cle­mens J. Setz: Die Stun­de zwi­schen Frau und Gi­tar­re

Clemens J. Setz: Die Stunde zwischen Frau und Gitarre

Cle­mens J. Setz: Die Stun­de zwi­schen Frau und Gi­tar­re

Zu­nächst war der in den 1970er Jah­ren auf­kom­men­de Be­griff der »Neu­en In­ner­lich­keit« für die da­mals neu ent­ste­hen­de deutsch­spra­chi­ge Li­te­ra­tur gar nicht als Schimpf­wort ge­dacht. Aus­ge­drückt wer­den soll­te da­mit die Ab­gren­zung von ei­ner po­li­tisch mo­ti­vier­ten und mo­ra­li­sie­ren­den Li­te­ra­tur, die ins­be­son­de­re in den 1960er Jah­ren do­mi­nier­te. So wur­den die er­sten Tex­te, die das Sub­jekt mit ih­ren per­sön­li­chen, exi­sten­ti­el­len De­for­ma­tio­nen in das Zen­trum rück­ten, zu­nächst vor­sich­tig be­grüßt. Aber es dau­er­te nicht lan­ge, bis das Ru­brum »In­ner­lich­keit« pe­jo­ra­tiv ver­wen­det wur­de: Eit­le Selbst­be­spie­ge­lung, See­len­strip­tease, un­po­li­tisch, re­stau­ra­tiv – oder knapp for­mu­liert: lang­wei­lig und nar­ziss­tisch. Da­bei ist es ei­gent­lich bis heu­te ge­blie­ben. Im­mer noch gilt In­ner­lich­keits­pro­sa als ver­däch­tig, wenn sie fast oh­ne Plot da­her­kommt oder sich nicht not­dürf­tig min­de­stens als Ent­wick­lungs­ro­man tarnt. Merkwürdiger­weise kei­ne Pro­ble­me gibt es mit den In­ner­lich­kei­ten der Haupt­fi­gu­ren im Kri­mi­nal­gen­re, wie bei­spiels­wei­se in den in­zwi­schen längst als Li­te­ra­tur ka­no­ni­sier­ten Kri­mi­nal­ro­ma­nen des kürz­lich ver­stor­be­nen Hen­ning Man­kell. Die Le­bens­pro­ble­me sei­ner Haupt­fi­gur Wallan­der wer­den gleich­ran­gig mit dem zu lö­sen­den Kri­mi­nal­fall be­han­delt. Da­bei kä­me nie­mand auf die Idee, Man­kells Wallan­der-Ro­ma­ne als In­ner­lich­keits­pro­sa zu ver­or­ten. Tat­säch­lich gel­ten sie als »au­then­tisch« und da­mit wird ei­ner der ak­tu­el­len Feuilleton­götzen ge­hul­digt: Li­te­ra­tur hat sich ei­nem Rea­lis­mus zu ver­pflich­ten. Nur das Fan­ta­sy-Gen­re und li­te­ra­ri­sche Dys­to­pien sind von die­sem Ge­setz be­freit (was de­ren Er­schei­nungs­men­ge er­klärt).

Der me­dia­le Er­folg von Cle­mens J. Setz’ »Die Stun­de zwi­schen Frau und Gi­tar­re« liegt wo­mög­lich dar­in, dass er ei­ne In­ner­lich­keits­pro­sa an­bie­tet, die im Tem­po und Zeit­geist der Ge­gen­wart da­her­kommt und zu­sätz­lich noch ei­ne Sus­pen­se-Hand­lung ein­ge­baut hat. Die Haupt­fi­gur ist die 21jährige Psych­ia­trie-Be­treue­rin Na­ta­lie Rein­eg­ger. Er­zählt wer­den (bis auf die we­ni­gen Sei­ten Epi­log, der zwei Jah­re spä­ter spielt) sie­ben oder acht Mo­na­te im Le­ben die­ser jun­gen Frau, die in ei­ner psych­ia­tri­schen An­stalt (Eu­phe­mis­mus: »Be­treu­tes Woh­nen«) ei­ne neue Stel­le be­ginnt. Das Set­ting kommt da­her wie ein Kam­mer­spiel; vier Be­treue­rin­nen, ein, zwei »Zi­vil­die­ner«, ei­ne Hand­voll Be­woh­ner. Wei­ter­le­sen

Lud­wig Fels: Die Hot­ten­tot­ten­werft

Ludwig Fels: Die Hottentottenwerft

Lud­wig Fels: Die Hot­ten­tot­ten­werft

Am 24. No­vem­ber 1903 bringt die SS Fried­rick Wal­baum nach 39 Ta­gen Über­fahrt ne­ben Rin­dern, Pfer­den, zwei Ka­me­len, Zi­vi­li­sten und Frau­en auch 43 Sol­da­ten als Nach­schub nach Swa­kop­mund, Deutsch-Süd­west. Ei­ner von ih­nen ist Rei­ter Mohr, wo­bei Rei­ter nicht der Vor­name son­dern der Dienst­grad ist. Mohr ent­flieht sei­ner frän­ki­schen Hei­mat, dem trunk­süch­ti­gen Va­ter, der er­drücken­den Zu­nei­gung der Mut­ter und der un­ge­wis­sen Lie­be zu Sef­fie. Er mel­det sich frei­wil­lig nach Afri­ka. Ein paar Jah­re Dienst und dann ist da die­ses dif­fu­se Ver­sprechen, sich ir­gend­wo mit ei­ner Farm sess­haft ma­chen zu kön­nen. Ein Le­ben mit Frau und Fa­mi­lie. So­weit der Traum.

En­de 1903 ist die Ei­sen­bahn­li­nie zwi­schen der Ver­wal­tungs­zen­tra­le Wind­huk und Swa­kop­mund fast fer­tig­ge­stellt. Die Ko­lo­nia­li­sie­rung bleibt je­doch schwie­rig und in je­der Hin­sicht auf­wändig. Die un­ge­wohn­te Hit­ze. Die Feind­se­lig­kei­ten. Die in­di­ge­ne Be­völ­ke­rung wird mit den üb­li­chen At­tri­bu­ten ver­se­hen, von de­nen »Hot­ten­tot­ten« noch das harm­lo­se­ste ist. Das ist der Rah­men, in dem Lud­wig Fels’ Ro­man »Die Hot­ten­tot­ten­werft« spielt.

Mohrs Ka­me­ra­den kom­men aus al­len Re­gio­nen des Deut­schen Reichs. Sie hei­ßen Kat­zen­schla­ger, Glat­zel, Ru­by­ni­ak und Elchlepp. Kom­man­dant der Ein­heit ist ein Haupt­mann Suck. Feld­we­bel Wei­bel schleift die Re­kru­ten auch sonn­tags an der »Es­ka­la­ti­ons­wand«. Ko­ope­ra­ti­ons­wil­li­ge Ein­hei­mi­sche ge­nie­ßen Pri­vi­le­gi­en, wie der für das Mi­li­tär ar­bei­ten­de Kund­schaf­ter Wad­die, der an­de­rer­seits ei­nem ge­wis­sen Kapt­ein Xi­menz dient. Xi­menz ist Kom­man­dant der »Hot­ten­tot­ten­werft« Ho­pa­dessa, ei­ner ehe­ma­li­gen Mis­si­ons­sta­ti­on, was die Fröm­mig­keit der Be­woh­ner er­klä­ren könn­te. Ei­ne Le­xi­kon­de­fi­ni­ti­on des Be­griffs Werft aus dem Jahr 1909 hat Fels dem Buch vor­an­ge­stellt. Da­bei han­delt es sich um ei­ne Art Re­ser­vat für die in­di­ge­ne Be­völ­ke­rung mit be­grenz­ter Teil­au­to­no­mie durch Stam­mes­obe­re. Die­se Form der Zu­sam­men­ar­beit ist mehr ein Waf­fen­still­stand als ein Frie­de. Für die Deut­schen blei­ben sie »Kaf­fer«. Und die Ab­nei­gung ist ge­gen­sei­tig. Wie brü­chig die­se un­glei­che Al­li­anz ist, zeigt sich dar­in, dass Xi­menz’ Sohn Jo­se­phat im­mer wie­der Stei­ne auf Sol­da­ten oder Lo­ka­li­tä­ten schmeisst. Jo­se­phats Toch­ter Hulet­te, Xi­menz’ En­ke­lin, wur­de als Dienst­mäd­chen bei Haupt­mann Suck ein­quar­tiert. Dies gilt als ei­ne Art Deal; Hulet­te soll ir­gend­wann ei­nen hö­he­ren Sta­tus er­rei­chen. Aber sie dient Suck bis zur An­kunft sei­ner Ge­mah­lin auch noch als Sex-Skla­vin.

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Man­fred Mit­ter­may­er: Tho­mas Bern­hard – Ei­ne Bio­gra­fie

Manfred Mittermayer: Thomas Bernhard - Eine Biografie

Man­fred Mit­ter­may­er:
Tho­mas Bern­hard – Ei­ne Bio­gra­fie

Man­fred Mit­ter­may­er ist nicht ir­gend­wer, wenn es um Tho­mas Bern­hard geht. Sei­ne Pu­bli­ka­ti­ons­li­ste zu dem öster­rei­chi­schen Schrift­stel­ler ist lang. Mit­ter­may­er hat ei­ni­ge Bän­de der Tho­mas-Bern­hard-Ge­samt­aus­ga­be mit her­aus­ge­ge­ben. Auf der Web­sei­te des Li­te­ra­tur­ar­chivs Salz­burg wird er als Vor­stands­mit­glied der Inter­nationalen Tho­mas Bern­hard Ge­sell­schaft ge­führt1; auf de­ren Web­sei­te nicht (mehr?). 2006 er­schien von ihm ei­ne bei Suhr­kamp ei­ne »Ba­sis­Bio­gra­phie« über Bern­hard. Und jetzt al­so, an­lass­los, im Re­si­denz-Ver­lag ei­ne neue, aus­führ­li­che Bio­gra­fie von ihm zum »Al­pen-Beckett«.

Da­bei ist es ei­gent­lich kei­ne be­son­ders gu­te Zeit, ei­ne Bio­gra­fie über Tho­mas Bern­hard zu schrei­ben, die ne­ben dem all­seits be­kann­ten auch neue Aspek­te bie­ten kann. Zu tun hat dies zu­nächst ein­mal mit der no­ta­ri­el­len Ver­fü­gung Bern­hards, wie mit sei­nem Nach­lass zu ver­fah­ren ist. Mit­ter­may­er zi­tiert ge­gen En­de sei­ner Bio­gra­fie den be­kann­te­sten Ab­schnitt wie folgt:

»We­der aus dem von mir bei Leb­zei­ten ver­öf­fent­lich­ten noch aus dem nach mei­nem Tod gleich wo im­mer noch vor­han­de­nen Nach­laß darf auf die Dau­er des ge­setz­li­chen Ur­he­ber­rech­tes in­ner­halb der Gren­zen des öster­rei­chi­schen Staa­tes, wie im­mer die­ser Staat sich kenn­zeich­net, et­was in wel­cher Form im­mer von mir ver­faß­tes Ge­schrie­be­nes auf­ge­führt, ge­druckt oder auch nur vor­ge­tra­gen wer­den. Aus­drück­lich be­to­ne ich, daß ich mit dem öster­reichischen Staat nichts zu tun ha­ben will, und ich ver­wah­re mich nicht nur ge­gen je­de Ein­mi­schung, son­dern auch ge­gen je­de An­nä­he­rung die­ses öster­rei­chi­schen Staa­tes mei­ne Per­son und mei­ne Ar­beit be­tref­fend in al­ler Zu­kunft. Nach mei­nem Tod darf aus mei­nem even­tu­ell gleich wo noch vor­han­de­nen li­te­ra­ri­schen Nach­laß, wor­un­ter auch Brie­fe und Zet­tel zu ver­ste­hen sind, kein Wort mehr ver­öf­fent­licht wer­den.«

(Das Zi­tat ist je­doch nicht kor­rekt, weil die Aus­las­sungs­zei­chen feh­len. So fehlt im er­sten Satz das Wort »selbst«: »We­der aus dem von mir selbst bei Leb­zei­ten ver­öf­fent­lich­ten…« [Her­vor­he­bung von mir, L.S.].)

–> wei­ter­le­sen auf Glanz und Elend


  1. Das war der Stand zum Zeitpunkt der Veröffentlichung am 29. September. Im November wurde der Lebenslauf korrigiert

Gün­ter Grass: Von­ne End­lich­kait

Günter Grass: Vonne Endlichkait

Gün­ter Grass: Von­ne End­lich­kait

Es sind 96 Tex­te: Ge­dich­te, Kür­zest­ge­schich­ten, Mi­nia­tu­ren, No­ta­te, Er­zäh­lun­gen. Da­zu 65 Zeich­nun­gen, in weich schattierende[m] Blei. »Von­ne End­lich­kait« lau­tet der Ti­tel. Am En­de er­fährt man, dass das nicht et­wa ein Idi­om aus dem Ruhr­ge­biet ist, son­dern aus der Spra­che der Hei­mat­ver­trie­be­nen stammt, die Grass, wie er schreibt, von jung an ge­wärmt hat­te. Und es ist sein letz­tes Ge­dicht in dem letz­ten Buch, an dem er mit­ge­wirkt hat. Ein Ver­mächt­nis? Ei­ne Samm­lung der letz­ten Ein­sich­ten? Gibt es Versöhnungs­angebote? Ein li­te­ra­ri­sches »I did it my way«?

Ja und Nein. Grass ist auch hier trotz sei­ner ge­sund­heit­li­chen Be­schwer­den (ras­seln­der Bron­chi­en, be­gin­nen­de Taub­heit, vor­über­ge­hend ver­lo­re­ner Ge­schmacks­sinn) der auf­trump­fen­de, be­leh­ren­de, recht­ha­be­ri­sche und wort­ver­narr­te Grass, wie man ihn kennt. Und ja, »re­g­rets« gibt es: Die­sen oder je­nen Brief hät­te ich nicht schrei­ben sol­len. Aber sonst – »too few to men­ti­on«.

Nicht im Wi­der­spruch da­zu die Rück­blen­den und das, was er an to­te Freun­de lan­ge Brie­fe schrei­ben nennt. Ei­ner geht an Wolf­diet­rich Schnur­re und Grass er­zählt ei­ne Ge­schich­te, die ihm der Freund vor Jahr­zehn­ten er­zählt hat­te. Ein wei­te­rer Adres­sat ist das sich ver­geu­den­de Ge­nie Franz Wit­te, viel­leicht ein wie­der­ge­bo­re­ner El Gre­co (so Grass). An­de­re Brie­fe tar­nen sich als Lek­tü­re­ein­drücke und –be­kennt­nis­se: Jean Paul und Ra­belais. Die schön­sten Ge­dich­te der Freun­de wür­den in­zwi­schen in An­tho­lo­gien ent­sorgt, so Grass be­dau­ernd. Sanft die Kri­tik am le­ben­den Hans Ma­gnus, der mal die­sem, mal je­nem Wind hö­rig war (oder ist?) aber so schö­ne Ge­dich­te über den Wol­ken ge­schrie­ben ha­be. Wei­ter­le­sen

Sprach­zwei­fel und Sprach­ver­trau­en

Über das Fort­wir­ken von Hof­mannst­hals Chan­dos-Brief

Für Gre­gor Keu­sch­nig,
und auch für Aki­ra Hot­ta, zur Er­mun­te­rung

Ei­ner der Tex­te, die ich oft wie­der­le­se, teils am Leit­fa­den des Zu­falls, beim Streu­nen zwi­schen den Bü­chern, dann wie­der an­ge­regt durch Kol­le­gen, ist der Chan­dos-Brief von Hu­go von Hof­manns­thal. Ein bei Au­toren be­lieb­ter Text, der sich gut zum Zi­tie­ren eig­net; man kommt nicht um ihn her­um. Bei mei­ner neue­sten Lek­tü­re ha­be ich ihn mehr als frü­her als Er­zäh­lung ge­le­sen, als Ge­schich­te mit re­la­tiv weit ge­spann­tem Er­zähl­bo­gen, der dann in der Ge­gen­wart kul­mi­niert, in den Au­gen­blicken der Epi­pha­nie. Kul­mi­niert wie ei­ne Brücke, die plötz­lich ab­bricht, ins Nichts führt – nicht in ei­ne hel­le oder dü­ste­re Zu­kunft, die wir ah­nen, son­dern ins Nichts.

Die­ser Lord Chan­dos ist ein jun­ger, be­gü­ter­ter Mann, einst­mals Schü­ler des be­deu­ten­den Phi­lo­so­phen Fran­cis Ba­con, dem er nach lan­ger Schwei­ge­zeit nun ei­nen Brief schreibt, den letz­ten, wie man ver­mu­ten muß. Chan­dos ist ein Schrift­stel­ler, ein Dich­ter, der mit sei­nen Schä­fer­spie­len ei­ni­gen Er­folg hat­te und nun mit sei­nem La­tein am En­de ist. Die Schäfer­dichtung war ein be­lieb­tes Gen­re im Hu­ma­nis­mus, al­so je­ner Kul­tur, der Ba­con und Chan­dos ent­stamm­ten; es wur­de noch im Ba­rock und Ro­ko­ko eif­rig be­dient. Der­lei Idyl­len kann Chan­dos nun nicht mehr schrei­ben, und auch sein epi­sches Groß­pro­jekt – in der Art ei­nes Ver­gil, mag man sich vor­stel­len – ist ge­schei­tert. Das ehe­ma­li­ge Ta­lent steht nun al­so mit lee­ren Hän­den da. Chan­dos be­fin­det sich nicht nur in ei­ner Schreib­kri­se, son­dern in ei­ner ra­di­ka­len Sprach­kri­se – um das Zau­ber­wort zu ge­brau­chen, das die Le­ser, Au­toren und Ger­ma­ni­sten und Kri­ti­ker, bis heu­te gern und oft et­was ge­dan­ken­los ver­wen­den. Die In­ter­pre­ta­ti­on ei­nes die­ser be­rufs­be­ding­ten Chan­dos­brief­le­ser will be­son­ders ori­gi­nell sein und läuft dar­auf hin­aus, daß der ge­reif­te Chan­dos künf­tig je­der Ori­gi­na­li­tät ent­sa­ge, das Dich­ten sein las­se und sich sei­nen Land­gü­tern wid­me. Das wä­re nun ei­ne ru­hi­ge, sinn­vol­le, der Ge­sell­schaft dien­li­che Art des Ver­stum­mens, die in der Li­te­ra­tur­ge­schich­te tat­säch­lich ein an­de­rer Dich­ter voll­zo­gen hat, kein fik­tio­na­ler, son­dern ein hi­sto­ri­scher: Ar­thur Rim­baud.

Die­se Lek­tü­re über­sieht, daß Chan­dos lei­det; der Ton sei­nes Brie­fes deu­tet eher dar­auf hin, daß das Lei­den un­heil­bar ist. Chan­dos ist in ei­ne Kri­se ge­ra­ten, die er nicht, viel­leicht nie mehr, zu lö­sen, der er nicht zu ent­ge­hen ver­mag. Sei­ne Kri­se ist in Wahr­heit ei­ne Ka­ta­stro­phe, ein Zu­sam­men­bruch. Al­ler­dings darf man nicht über­se­hen, wie es eben­falls ei­ni­gen Le­sern un­ter­lau­fen ist, al­len vor­an Her­mann Broch, daß der Chan­dos-Brief kei­nes­wegs nur »ne­ga­tiv« ist. Nein, er ent­hält zahl­rei­che lich­te Au­gen­blicke, Er­leb­nis­se, die of­fen­bar nur des­halb statt­fin­den kön­nen, weil er sich der Ka­ta­stro­phe aus­ge­setzt hat, statt ihr, wie es we­ni­ger ra­di­ka­le Au­toren tun mö­gen, den Rücken zu keh­ren und sprach­li­che, in letz­ter In­stanz al­so: ge­sell­schaft­li­che Kom­pro­mis­se zu schlie­ßen. Broch hat die­se Er­leb­nis­se, in de­nen das wahr­neh­men­de Sub­jekt sich in der um­ge­ben­den Welt der Din­ge auf­zu­lö­sen scheint, als Schritt in den Wahn­sinn be­zeich­net. Auch dar­in kann ich ihm nicht fol­gen. Will man über­haupt so et­was wie ein Auf­ge­ho­ben­sein in der Welt er­fah­ren, hat man sich zu­vor ei­ner Rei­he be­que­mer Si­cher­hei­ten und prag­ma­ti­scher Ori­en­tie­run­gen zu be­ge­ben. Chan­dos tut dies, in­dem er auf Kom­mu­ni­ka­ti­on zu­gun­sten von schwei­gend-spre­chen­der Kom­mu­ni­on ver­zich­tet. Ne­ben­her be­dient er sich wei­ter der gän­gi­gen Sprach­for­men, er ist durch­aus im­stan­de, sei­ne Ge­schäf­te zu er­le­di­gen und so zu tun, als ver­bän­de ihn noch et­was mit der bür­ger­li­chen Welt. Daß er im Brief an Fran­cis Ba­con sei­nen Er­leb­nis­sen in der Be­geg­nung mit klei­nen, un­schein­ba­ren Din­gen sprach­li­chen Aus­druck gibt, ist ein per­for­ma­ti­ves Pa­ra­dox. Chan­dos sagt näm­lich das, was er nicht sa­gen kann. Wei­ter­le­sen

Phil­ipp Tin­gler: Schö­ne See­len

Philipp Tingler: Schöne Seelen

Phil­ipp Tin­gler: Schö­ne See­len

Man könn­te es ei­ne Screw­ball-Ko­mö­die nen­nen – dann hät­te man vom Wasch­zet­tel ab­ge­schrie­ben. Viel­leicht auch Ge­sell­schafts­ro­man. Ei­ne Mi­schung aus Bou­le­vard, Lust­spiel, Woo­dy Al­lens 80er Jah­re Ko­mö­di­en und Mar­tin Mo­se­bachs »Blutbuchenfest«-Herrlichkeit. Phil­ipp Tin­glers »Schö­ne See­len« spielt in der be­sten al­ler mög­li­chen Ge­sell­schaf­ten in Zü­rich. Der Ti­tel ist so ab­sichts­voll wie tref­fend, ins­be­son­de­re wenn man nicht Schil­ler oder Kleist als Kron­zeu­gen son­dern He­gels Ver­dikt der schö­nen See­le her­an­zieht, ein Menschen­schlag »zur Ver­rückt­heit zer­rüt­tet« und in »sehn­süchtiger Schwind­sucht« zer­flie­ßend nur noch ei­ne »geist­lo­se Ein­heit des Seins« her­vor­brin­gend.

Zu­nächst stirbt Mill­vina Van Runk­le, ei­ne pe­ku­ni­är wie al­ters­mä­ßig un­schätz­ba­re Ma­tro­ne des ge­pfleg­ten Nichts­tuns, de­ren (vor)letzte Wor­te »We­nig­stens ster­be ich reich« sind. Auf der Be­er­di­gung lernt der Le­ser durch den als Im­pre­sa­rio ge­tarn­ten Er­zäh­ler die­se Par­al­lel­welt­be­woh­ner, die ih­re Stam­mes­zu­ge­hö­rig­keit im Küs­sen der Luft über die Wan­gen­kno­chen des an­de­ren zei­gen, ge­nau­er ken­nen. Sie le­ben in stän­di­ger Furcht nicht da­zu­zu­ge­hö­ren, be­son­ders wenn ihr Ver­mö­gen nicht al­tes Geld ist, son­dern Neu­reich­tum ent­springt (was ver­pönt aber im­mer­hin ge­dul­det ist). Sei­ten­ein­stieg ist mög­lich, wie man bei Ro­nal­do Ri­vie­ra sieht, ein an­ge­sag­ter De­ko­ra­teur, der ei­gent­lich Thor­sten Misch­witz­ky heißt und aus Wup­per­tal kommt. Sei­ne Auf­ent­halts­dau­er dürf­te je­doch be­grenzt sein; wie die vom einst ge­fei­er­ten In­nen­ar­chi­tek­ten, der sich je­doch man­gels wei­te­rer Auf­trä­ge ir­gend­wann selbst ent­leib­te aber mit sei­nen fa­mo­sen Ob­jek­ten im­mer­hin ab und zu noch ei­ne weh­mü­ti­ge Er­in­ne­rung er­zeugt.

Es sind Cha­rak­te­re, die, um kei­ne ei­ge­ne Mei­nung ha­ben zu müs­sen, fast al­le die Vor­ur­tei­le und Mei­nun­gen ih­rer Mi­lieus eben­so ge­mäch­lich an­neh­men wie sie ihr Ge­wis­sen der je­wei­li­gen ge­sell­schaft­li­chen La­ge an­pas­sen. Die­se Form der Charakter­losigkeit wird eu­phe­mi­stisch zur poetische[n] In­dif­fe­renz ver­klärt. Die co­dier­ten Kon­ver­sa­tio­nen mit ih­rer zur Tu­gend er­ho­be­nen Ober­fläch­lich­keit liest man an­fangs durch­aus mit Ver­gnü­gen. Die Da­men ha­ben aus­nahms­los Fin­ger­nä­gel in dschun­gel­rot (was von je­der weib­li­chen Per­son si­cher­heits­hal­ber noch ein­mal ein­zeln be­glau­bigt wird) und wün­schen, dass ih­re Klei­der nach Jah­res­zeit und nicht nach Far­be sor­tiert wer­den. Die Her­ren ver­wen­den No­tiz­bü­cher von Smyth­son, schrei­ben Be­mer­kun­gen auf Le­gal Pads mit Gold-Ku­gel­schrei­bern von Car­tier, lun­chen ge­gen 14 Uhr und trin­ken Prin­ce-of-Wales-Cock­tails, die un­be­dingt von de­vo­ten Kell­nern ser­viert wer­den müs­sen. Man über­legt, wo­hin die Ein­la­dung zum Din­ner, auf dem man grund­sätz­lich nichts mehr isst, führt und fliegt na­tür­lich First Class (und stellt bei Eis­was­ser und Cracker im Ea­mes-Ses­sel der VIP-Lounge fest, dass die­ser plu­to­kra­ti­sche Rück­zug in ei­ne Bla­se auch nicht mehr das ist, was er mal war). Wei­ter­le­sen

Längst ab­ge­kop­pelt

Er­lan­gen, Sonn­tag, 30. Au­gust 2015. 14.00 Uhr. 33 Grad. 35. Er­lan­ger Poe­ten­fest. Ort: Oran­ge­rie. Fünf Men­schen auf dem Po­di­um. Rund 100 Men­schen im Saal, wei­te­re 100 (ge­schätzt) drau­ßen auf der Wie­se, laut­spre­cher­be­schallt. » ‘Elen­des Kum­pel­sy­stem’ – Kri­tik der Kri­tik« ist das The­ma der Dis­kus­si­on mit Ur­su­la März, Re­né Agu­i­gah, Jörg Sun­dermei­er, Flo­ri­an Fe­lix Weyh (als Mo­de­ra­tor) und mir.

Weyh er­öff­ne­te die Dis­kus­si­on. Er wies dar­auf hin, dass die Kri­tik an der Li­te­ra­tur­kri­tik nicht neu sei und dass es et­li­che Bü­cher mit Re­zen­sen­ten­be­schimp­fun­gen ge­be. Der Ti­tel die­ser Dis­kus­si­on war ei­nem Buch­Markt-In­ter­view vom Ja­nu­ar die­ses Jah­res mit Jörg Sun­dermei­er ent­nom­men. Weyh stellt die Teil­neh­mer vor und ver­sprach: »Wir wol­len Ta­che­les re­den« und »die Be­zie­hun­gen un­ter­ein­an­der auf­klä­ren.« Weyh be­gann bei sich selbst zu­erst. Dann ging die Fra­ge »Kön­nen sie mir sa­gen, wen Sie ken­nen und wie Sie die ken­nen?« an Ur­su­la März. Die­se auf Trans­pa­renz zie­len­de Fra­ge, die zur Situations­bestimmung ge­dacht war (Weyh wies dar­auf hin, dass er als frei­er Mit­ar­bei­ter beim Deutsch­land­ra­dio Kul­tur un­ter Um­stän­den mit Ur­su­la März kon­kur­rie­re), war wohl für Frau März zu viel. Ih­re Mi­schung aus Phil­ip­pi­ka und Schimpf­ti­ra­de vom Be­ginn sei hier do­ku­men­tiert (in Fuss­no­ten ste­hen hier­zu mei­ne sub­jek­ti­ven An­mer­kun­gen): Wei­ter­le­sen