Vom Elend von Diskussionen um Plagiate bei Schriftstellern
(Foto: By Micha L. Rieser (Own work) [CC BY-SA 3.0 or GFDL ], via Wikimedia Commons)
Übersicht:
I. Von Kopfjägern
II. Intertextualität bzw.: »Man macht sich leicht lächerlich«
III. Kastberger ./. Kehlmann
IV. Epilog – mit einem Vorschlag zur Güte
En détail:
Im Januar 1990 gab es im »stern« eine große Geschichte von Harald Wieser über Walter Kempowski. »Der Abschreiber« lautete der Titel des Textes in der Wieser Kempowski des Plagiats überführ(t)e(n wollte). Dieser habe sich in seinem 1978 erschienenen Buch »Aus großer Zeit« aus den Lebenserinnerungen eines anderen, längst vergessenen Rostocker Autors, Werner Tschirch, bedient. Fünf Seiten aus einem Buch von Tschirch seien in Kempowskis Werk eingearbeitet worden – natürlich ohne entsprechende Hinweise. Kempowski war damals nicht zuletzt aufgrund der Verfilmungen seiner autobiographisch timbrierten Romane durch Eberhard Fechner ein sehr populärer Autor. Der Plagiatsvorwurf erregte demzufolge großes Aufsehen, sogar in den »Tagesthemen« der ARD wurde der »Fall« behandelt.
Was vielleicht nicht ganz unwichtig ist: Wieser war vom »Spiegel« zum »stern« gewechselt. Seinen größten Coup landete Wieser 1987 – damals noch für den »Spiegel«. Er recherchierte dass der Fernsehjournalist und zeitweilige WDR-Fernsehdirektor Werner Höfer in den 1940er Jahren zahllose Nazi-freundliche Artikel für Zeitungen geschrieben hatte. Dies gipfelte 1943 in einem Artikel über die Hinrichtung eines jungen Klaviervirtuosen, die Höfer »gefeiert« kommentiert habe. Höfers Relativierungen halfen nicht – binnen kurzer Zeit musste er seine Sendung »Der internationale Frühschoppen« aufgeben.
Wiesers Recherchen waren ein Scoop gewesen, sozusagen »Spiegel«-like. Drei Jahre später versuchte er mit seinem Angriff auf Kempowski ähnliches. Es gab jedoch zwei signifikante Unterschiede: Zum einen war und ist es immer ein dankbares Feld, lange verborgene Nazi-Kumpaneien aufzudecken. Aber hier ging es um etwas ganz anderes. Und zum anderen war Wieser inzwischen beim »stern« und nicht mehr beim »Spiegel«.
Der Vorwurf gegen Kempowski wurde vor allem von zwei publizistischen Interventionen abgeschmettert: Hellmuth Karaseks emphatischer Text »Der Ehrabschreiber« im »Spiegel« und Volker Hages Aufsatz »Ein Fall von Philisterei« in der Wochenzeitung »Die Zeit«.
Besonders Karasek lässt die vermeintlichen wie tatsächlichen sogenannten Plagiatsfälle in der Weltliteratur eindrucksvoll Revue passieren: Büchner, Thomas Mann, Alfred Döblin, Peter Weiss, um nur einige zu nennen – alles Abschreiber. Karasek nimmt explizit Partei für ein solches Verfahren: »Viele Erzähler, Maler, Musiker der Moderne sind nicht Erfinder, sondern Finder.« Das Gefundene, so lässt sich Karasek interpretieren, formen sie um, stellen es in einen anderen Kontext und so entsteht eine Art Mehrwert. Dieser Mehrwert schafft etwas genuin Neues.
Mit der eigentlichen Causa lässt sich Karasek Zeit und handelt sie eilig ab. Er kommt zu dem Schluss: Mögen es auch 5 Seiten Abgeschriebenes gewesen sein (von 450), bei Büchner waren es 10 von 20. Der ehemalige »Spiegel«-Kollege wird flugs zum »Kopfjäger« (was drei Jahre vorher bei Werner Höfer noch goutiert wurde). Karaseks Bilanz: »Wiesers Vorgehen erinnert an einen Mann, der mit einem Vorschlaghammer einen Fernseher zertrümmert, um zu beweisen, daß keine kleinen Männchen drin seien, die das Programm machten.« Karaseks Vorgehen hingegen erinnert an einen Richter, der den Einbrecher frei spricht, weil er nicht die ganzen 1000 Euro aus der Kasse gestohlen hat, sondern nur 200.
Ins gleiche Rohr stößt auch Volker Hage und nennt Wiesers Beweisführung pauschal »Philisterei«. (Er meint Wiesers Vorgehensweise bei Kempowski, nicht die gegen Höfer.) Hages Text mündet in der süffisanten Aussage: »Es ist wahr: große Dichter sind oft originell; aber nur, wenn sie müssen.« Das ist übrigens ein Text von Egon Friedell (was Hage natürlich eingesteht).
Das Ergebnis am Ende dieser »Affäre«: Kempowski war »gerettet«. Karasek und Hage hatten heldenhaft die Literatur verteidigt. Werner Tschirch blieb unbekannt. Von Wieser erschien irgendwann eine Biografie über Harald Juhnke.
Intertextualität bzw.: »Man macht sich leicht lächerlich«
Ungeachtet des Einzelfalls und der zeitlichen Distanz zeigen die Texte von Karasek und Hage exemplarisch das Problem, wenn von Plagiaten in der Literatur die Rede ist. Es lässt sich auf die Frage verdichten, was genuin Abschreiberei ist und was Collage. Zwanzig Jahre nach den Anschuldigen gegen Kempowski hatte in den Feuilletons im Rahmen der Plagiatsdiskussion um Helene Hegemanns »Axolotl Roadkill« 2010 der Begriff der Intertextualität Einlass gefunden, der bis dahin der Literaturwissenschaft vorbehalten schien. Damit wurden Hegemanns Abschreibereien aus dem Roman »Strobo« eines gewissen Airen von einigen Kritikern sozusagen legitimiert. Erstaunlich, dass die Jury des Leipziger Buchpreises »Axolotl Roadkill« trotz dieser Vorwürfe noch auf die Shortlist setzte. Die damalige Juryvorsitzende Verena Auffermann bezeichnete Hegemann als »extrem begabt« (was ja streng genommen nichts über das Buch aussagte) und es genügte ihr, dass nun »alles einen ordentlichen Weg« gehe, was den Urheberrechtsstreit mit Airen angehe. Zum Buchpreis hat es dann doch nicht gereicht.
Rückwirkend betrachtend ist der Fall Hegemann einer der wenigen in der jüngeren Geschichte, in denen der Plagiatsvorwurf von nahezu allen Protagonisten eingestanden wurde (auch wenn Helene Hegemann im Nachklapp von »nur« zwei Seiten sprach). Selten ist es auch der Fall, dass sich alle Beteiligten als Gewinner sehen konnten. Hegemann wurde aufgrund ihres jugendlichen Alters sozusagen »verziehen« – und verkaufte ihren Erstling inklusive diverser Fernsehauftritte großartig. Airens Roman, ursprünglich im kleinen, aber umtriebigen SuKuLTuR-Verlag erschienen, wurde in einem größeren Verlag neu aufgelegt. Der Betrieb hatte ein paar Wochen etwas zu schreiben und die Öffentlichkeit einen (gemässigten) Aufreger.
In der Regel werden Plagiatsvorwürfe im zeitgenössischen Literaturmilieu mit Argwohn betrachtet. (Der Einwurf in Bezug auf Helene Hegemann kam auch sozusagen von »außerhalb«, dem Blogger Deef Pirmasens). Deutlich konnte man dies bei den Vorwürfen gegenüber Tex Rubinowitz im Sommer 2015 sehen. Frank Fischer und Josef Wälzholz warfen Rubinowitz in der FAZ vor in seinem Roman »Irma« »zum Haussperling, zu ‘Deep Space Nine’, zu Mary Hopkin, zu Bruce Dickinson, zu den Najaden und noch zu ein paar anderen Sachen« satzweise aus der Wikipedia abgeschrieben zu haben. Die beiden Autoren sind auch Herausgeber des Online-Magazins »Der Umblätterer«. Dieses Magazin hatte über einige Jahre eine lose Reihe mit sogenannten Vossianischen Antonomasien publiziert, in denen immer jeweils fünf solcher Fundstücke mit Angabe der Quelle (wenn auch etwas versteckt) veröffentlicht wurden. Im »Süddeutsche Zeitung Magazin« (Heft 05/2015) widmete sich nun Rubinowitz den Vossianischen Antonomasien und bediente sich ausgiebig mit Beispielen aus dem »Umblätterer«. Dagegen wäre nichts zu sagen, wenn wenigstens die Quelle erwähnt worden wäre. Frank Fischer (»Paco«) bemerkte diesen Klau und thematisierte ihn im »Umblätterer«. Rubinowitz wurde von ihm zum »Guttenberg des Feuilletons« erklärt. Der Fall war eindeutig: »Rubinowitz gibt den lustigen Zitatearrangierer, sein Artikel besteht aber im Kern aus von uns über 5,5 Jahre kuratiertem Material. Unsere Sammlung macht quasi den halben Text aus.« Rubinowitz gab sich bei den Umblätterern »total geknickt«, bei der »Kleinen Zeitung« später dann eher nicht mehr.
Und wie sieht es mit dem Vorwurf zum Roman »Irma« aus? Nicht nur in den Kommentaren zum Artikel war die Kritik eher verhalten (11 von 12 Kommentaren erkennen keine bis kaum Probleme in der nicht genannten Verwendung der Wikipedia). Kaum berücksichtigt bei der Bewertung des Falles wurde, dass Rubinowitz in »Irma« sehr wohl ein Quellenverzeichnis aufführt, aber dabei stets die Zitate aus der Wikipedia verschwiegen hatte. Rubinowitz gab sich zwar »zerknirscht«, aber die Aufregung hielt sich in Grenzen. Womöglich wäre es spannender geworden, wenn Rubinowitz von einem dahindarbenden Lyriker aus Mecklenburg-Vorpommern oder Burkina Faso abgekupfert hätte. Aber Wikipedia? Die »Quelle: Internet«? Urheberrechtliches Niemandsland wie weiland für Thomas Mann die Enzyklopädien.
Wer ein vermeintlich relevantes Plagiat glaubt entdeckt zu haben und dies publiziert, begibt sich auf heiklem Terrain. Zum einen ist im Gegensatz zum wissenschaftlichen Arbeiten in der fiktionalen Literatur nicht eindeutig definiert, wann es sich um ein Plagiat oder eine womöglich erlaubte Aneignung und Weiterverarbeitung handelt und wann nicht. »Die Grenzen zwischen Zitat und Plagiat sind schwer zu ziehen. Man macht sich leicht lächerlich…«, schrieb Karasek schon 1990. Forscher, die sich mit Plagiaten ausgiebig beschäftigen, neigen entweder dazu, diese zu bagatellisieren oder überall welche zu entdecken; gelegentlich erscheint es, als geschehe beides gleichzeitig.
Rezensentenkollegen schätzen solche Entdeckungen nicht besonders, weil man ihnen (absurderweise) vorwerfen könnte, nicht selber das Plagiat in ihrer Besprechung gefunden zu haben. Schnell sieht sich der Entdecker eines vermeintlichen Abschreibens als Neider abqualifiziert. So keilt Robin Detje in seinem Text zur Rubinowitz-Angelegenheit auf »Zeitonline« aus, in dem er Interventionen wie die von Fischer/Wälzholz in die Ecke von »Künstlerhass und Kulturverachtung« stellte. Dabei darf man nicht vergessen, dass Journalisten wie Detje, die das Abschreiben nach der »copy & paste«-Methode zur Petitesse erklären, seit Jahr und Tag gewohnt sind, Material zu verarbeiten und als ihre Kreation auszugeben, ohne Quellen zu nennen. Das dann ausgerechnet aus diesen Kreisen die Oberflächlichkeit von Netzpublizisten und Bloggern und deren vermeintlich fahrlässiger Umgang mit dem Urheberrecht gegeisselt wird, ist in diesem Zusammenhang nicht frei von Komik.
Hinzu kommt die lange Tradition des Geniekults im deutschen Literaturbetrieb. Man mag gar nicht sagen, wann das begann. Schon vor oder erst mit Goethe? Die Inszenierung des Dichters als Genie ist gerade in Zeiten eines immer mehr personalisierten Feuilletons eher noch wichtiger geworden. Ein arrivierter und beliebter Schriftsteller, der des Plagiats sozusagen überführt wurde, wäre moralisch diskreditiert. Dies würde allerdings auch für die Journalisten gelten, die diesen Autor womöglich über viele Jahre in den höchsten Tönen gelobt haben.
Immer seltener entdeckt man in Rezensionen Hinweise auf Quellen, von denen ein literarisches Werk gespeist wurde. Das ist in Anbetracht der inzwischen zahlreichen sogenannten Doku-Fiktions erstaunlich. Entweder wissen die Rezensenten davon nichts mehr – oder sie haben (s. o.) die Furcht, sich lächerlich zu machen. Wenn dann Angela Leinen in einer Besprechung zu Steffen Kopetzkys Buch »Risiko« von »fast wörtlich[en]« Übernahmen aus einem anderen Text schreibt (in ihrem Blog geht Leinen noch etwas konkreter darauf ein) – interessiert dies verblüffenderweise niemanden mehr (Kopetzkys Buch stand auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis 2015.)
Wie bernhardesk ein Streit um Plagiat oder nicht eskalieren kann, kann man gerade im Streit zwischen Klaus Kastberger und Daniel Kehlmann sehen. In einem Interview mit der Wiener Zeitung sagte Kastberger:
»Denn natürlich sollten wir uns als Kritiker zum Beispiel mit der Frage beschäftigen, warum Daniel Kehlmann so einen Erfolg hat und so viel verkauft, obwohl er nichts anderes macht, als Wikipedia abzuschreiben und daraus Romane zu basteln.«
Auf die Bemerkung des Fragenden »Das war jetzt aber schon etwas despektierlich« antwortet Kastberger dann:
»Naja, man hat ja nachgewiesen, wie sehr sich die Einträge zu Gauß und Humboldt auf Wikipedia und manche Passagen der ‘Vermessung der Welt’ ähneln. Aber das ist ja ein legitimes Mittel. Die Avantgardisten haben auch irgendein bereits existierendes Stück Text genommen und ihn dann zur Literatur erklärt. Wenn Duchamp ein Urinal nehmen konnte, ‘Duchamp’ drauf schreiben und dann war es Kunst, dann darf auch Daniel Kehlmann einen Wikipedia-Artikel nehmen, ‘Kehlmann’ drauf schreiben und sagen, es ist Literatur.«
Daraufhin meldete sich Daniel Kehlmann entrüstet und entdeckt bei Kastberger »den bewährten Trick aller geschickten Intriganten und Rufmörder […], eine frei erfundene Lüge als allgemein verbreitetes Wissen auszugeben«. Weiter schreibt er:
»Ich fordere Herrn Kastberger auf, entweder die Artikel, auf die er sich bezieht, vorzulegen oder aber eine einzige aus Wikipedia abgeschriebene Stelle meines Romans zu nennen.«
Kastbergers Antwort rekurriert auf die Zeitschrift »Humboldt im Netz« (XIII, 25, 2012), in der einige »Einwände noch einmal zusammengefasst und zusätzlich spezifiziert« worden seien. Kastberger beruft sich abermals auf Duchamp und stichelt: »Nur jemand, der sich – ganz gegen die Begründungszusammenhänge der Moderne – in seinem literarischen Schaffen und dabei quasi nur aus einer sehr kurzen Phase der Literaturgeschichte kommend als Original-Genie versteht, vermöchte den Hinweis auf die Quellen, die er verwendet, als Rufmord zu sehen, so wie Sie es mir gegenüber tun.«. Einen »philologischen Beweis«, das Kehlmann aus der Wikipedia abgeschrieben habe, brauche er nicht zu erbringen, da er den Vorwurf nicht erhoben habe.
Kehlmann erneuert in seiner Replik den Vorwurf des Intrigantentums und weist darauf hin, in der genannten Zeitschrift werde das Gegenteil behauptet, nämlich das Kehlmanns Alexander von Humboldt »zu weit von der historischen Vorlage abwiche«.
Diese Einlassung Kehlmanns ist korrekt. In der im »Netz verfügbaren Zeitschrift wird Kehlmann in mehreren Aufsätzen eine aus wissenschaftlicher Sicht unzulässige Verquickung von Originalfakten und Fiktionen vorgeworfen. Exemplarisch kann man hier lesen, wie die Usurpation und Verfremdung einer real existierenden Person durch Fiktion zu unter Umständen nachhaltig falschen »Überlieferungen« außerhalb des Wissenschaftsbetriebs führen kann. Frank Holl bilanziert in seinem Aufsatz denn auch1:
»Im Grunde ist ‘Die Vermessung der Welt’ ein antiaufklärerisches Buch. Im besten Fall ist es nicht mehr als ein sinnfreier historischer Spaß. Dieser geht allerdings auf Kosten zweier Personen, die sich nicht mehr wehren können.«
Ottmar Ette beschäftigt sich ebenfalls kritisch mit Kehlmanns Schreibverfahren2:
»Gerade mit Blick auf Humboldt hat Kehlmann – wie er in seinen Interviews und Stellungnahmen zu betonen nicht müde wird – intensiv recherchiert, habe er doch ’sehr, sehr viel gelesen – was allerdings zu bewältigen war, weil es über Humboldt sehr viele Abhandlungen gibt, die einen Überblick herstellen’. Kein Zweifel: Diese Lektüren waren für Kehlmann höchst ertragreich. Denn es wäre ein Leichtes, die vielen von ihm aus der älteren Humboldt-Literatur bezogenen Klischees in ihren jeweiligen Quellen nachzuweisen und aufzuzeigen, in welchem Maße diese Arbeiten und Editionen als Steinbrüche für Episoden, Anekdoten und Einsichten genutzt wurden. Die Vermessung der Welt ist die literarische Antwort auf die editorischen Extrakte und Surrogate. Play it again, Sam.«
Ette schreibt nebulös von »Steinbrüchen« und vermeidet dennoch jeglichen pejorativen Ansatz. Er fährt fort:
»Kehlmann hat die über lange Jahrzehnte in der biographischen und editorischen Literatur mitgeschleppten Humboldt-Splitter neu verdichtet und pfiffig in Romanhandlungen übersetzt. Das war höchst effizient. […] Im Zentrum dieses sattsam bekannten Abzieh-Bildes, dessen Kehlmann sich bediente, aber steht das Scheitern Alexander von Humboldts und zugleich das Scheitern seiner Art, Wissenschaft zu betreiben. Kein Wort darüber, daß Humboldt immer wieder selbstironisch mit der Vorstellung des Scheiterns gespielt und sein eigenes Scheitern hintergründig inszeniert hat…«
Etwas später heißt es dann:
In den zahlreichen Interviews wird die Gelehrtensatire mit ihren vielen vergnüglichen Passagen und ihrer flotten Schreibe zu einer Recherche umstilisiert, die sich auf die Suche nach den wissenschaftlichen Zusammenhängen und Hintergründen begeben habe. Die Fiktionalität wird spielerisch so sehr mit scheinbarer Faktizität verquirlt, daß zumindest einem Publikum, das weder mit Gauß noch mit Humboldt vertraut ist, Authentizität vorgegaukelt werden kann. Mag Daniel Kehlmann zweifellos auch viel recherchiert haben: Ausgedehnte Lektüren von Texten aus der Feder Humboldts dürften wohl kaum dabei gewesen sein. Wie denn auch?«
Kehlmanns Roman sei das »Ergebnis einer intensiven Kannibalisierung von Wissenschaft«. Weiter heißt es:
»Der Roman hat sich eine kleine Bibliothek nicht nur von Humboldt-Verschnitten, sondern auch von älterer Literatur über Humboldt einverleibt, sorgsam nach erzählerisch Verwertbarem durchforstet. Ein derartiges Vorgehen ist legitim, keine Frage. Allerdings sollte uns die Einverleibung so zahlreicher Abhandlungen nicht glauben machen, daß wir zwischen den Buchdeckeln oder in den Interviews etwas Konsistentes – geschweige denn etwas Neues – über Gauß oder Humboldt erfahren könnten. Vielmehr steht zu befürchten, daß manche der Stereotypen, die man doch schon längst verbraucht wähnte, nun wieder fröhlich in der Öffentlichkeit zirkulieren werden.«
Und Holl schreibt:
»Während andere Autoren historischer Romane ihre Arbeitsweise und Quellen offenlegen, widersetzt sich Kehlmann dieser Offenheit. Er fügt den historisch überprüfbaren Fakten eigene, erfundene hinzu, ohne klarzustellen, um welche es sich handelt.« (S. 59)
Die Texte von Holl und Ette zeigen en passant die Probleme für die Wissenschaft auf, wenn literarische Doku-Fiktions sich einer oder mehrerer Personen (oder eines Stoffes) annehmen, ihn (naturgemäß) verfremden, kompilieren und/oder zurechtbiegen. Aber diese Verfahren sind legitim; moderne Erzähler »dürfen« das (und es ist nicht »gönnerhaft«, ihnen dies zuzugesehen, sondern einfach nur ein Fakt).
Und nun also die Gretchenfrage. Wer hat Recht im Fall Kastberger vs. Kehlmann? Die Antwort ist wie immer nicht so einfach. Kastbergers hingeworfenes wie ein Urteil erscheinendes Diktum, Kehlmann schreibe aus der Wikipedia ab, war unpräzise und hätte vertiefender Erläuterungen (beispielsweise durch präzises Nachfragen) bedurft. Das der betroffene Autor darauf entsprechend gereizt reagiert, war zu erwarten. In der Sache sagt Kastberger nichts anderes als das Literatur sich aus Quellen speist. Entscheidend ist dann, was der Findende aus diesen Quellen macht. Literaturkritik und –wissenschaft sollen, so Kastbergers Anspruch, diese Quellen gegebenenfalls aufspüren und die Verfahren des Autors sichtbar machen.
Epilog ‑mit einem Vorschlag zur Güte
1997 provozierte Walter Kempowski (der, der 1990 als »Abschreiber« beschimpft wurde) mit einem Buch mit dem Titel »Bloomsday 1997«. Hier zappte sich jemand (= Kempowski) am 16. Juni 1997 (dem sogenannten »Bloomsday«) durch 37 Fernsehprogramme und protokollierte, was er hörte. Kempowskis »Leistung« in diesem Buch liegt einzig allein im Zappen und in der Dokumentation. Eigene Erläuterungen fehlen vollständig. Später wird er in seinem »Echolot«-Projekt ähnliches praktizieren: Ein kollektives Tagebuch von hunderten von Personen, die simultan zu einer bestimmten Zeit ihre Empfindungen und Impressionen geäussert hatten. Der Schriftsteller als Kompositeur. Fritz J. Raddatz, der sich in den 1960er und 1970er Jahren für Kempowski einsetzte, fand es nicht »ganz rechtens und reinlich«, dass die »Echolot«-Bände »unter seinem Namen ALS AUTOR« publiziert wurden, da »doch kein einziges Wort darin von ihm [sei], es doch eher »herausgegeben« heißen müßte (oder welches collagiert-arrangiert-insceniert-Verbum immer)«. Ihn darauf angesprochen, reagierte Kempowski gereizt, es kam, so Raddatz »das Walter-Benjamin-Argument und das Pissoir von Duchamp: Nur weil 2 Leute hochstaplerisch ‘Zitate’ als eigenes Kunstwerk ausgaben, ist das ja noch kein ‘Gesetz’ «3. (Wie es Raddatz, der Thomas Mann so verehrte, mit dessen »Collagen« hielt, ist mir jetzt nicht bekannt.)
Zur Güte könnte man es ein für alle Mal wie Clemens J. Setz halten. Nach seinem Dank an einige Personen skizziert er am Ende seines Buches »Die Stunde zwischen Frau und Gitarre« seine wenigen Übernahmen. Er nennt es »Elsterntum«. Ein gelungener Begriff, den man vielleicht in Zukunft übernehmen sollte (mit © für Clemens J. Setz). Dieser Begriff, als Euphemismus verwendet, würde vermutlich Wogen glätten und Diskussionen befördern. Man könnte statt von Plagiatoren oder Plagiat-Verdächtigen einfach von »Elstern« sprechen. Eine gewisse Portion Humor wäre dann immer noch erforderlich. Aber wenn schon das deutsche Finanzamt seine Software »Elster»4 nennt, dann müsste das doch auch für Dichter möglich sein.
Holl, Frank (2012): "Die zweitgrößte Beleidigung des Menschen sei die Sklaverei ..." – Daniel Kehlmanns neu erfundener Alexander von Humboldt. In: HiN - Humboldt im Netz. Internationale Zeitschrift für Humboldt-Studien (Potsdam - Berlin) XIII, 25, S. 46-62.; hier S. 61 ↩
Ette, Ottmar (2012): Alexander von Humboldt in Daniel Kehlmanns Welt. In: HiN - Humboldt im Netz. Internationale Zeitschrift für Humboldt-Studien (Potsdam - Berlin) XIII, 25, S. 34-40. ↩
Fritz J. Raddatz, Tagebücher 1982-2001, 14. August 1999, Rowohlt-Verlag, Kindle 71% ↩
steht für: elektronische Steuererklärung ↩
Mir scheint Kastbergers Vorgehen schon rhetorisch unredlich zu sein, und deshalb gar nicht so schwer zu bewerten. Ich würde es nicht »unpräzise« nennen, sondern gezielt verschleiernd. Sein Vorwurf lautet im Kern, Kehlmann würde »einen Wikipedia-Artikel nehmen, ‚Kehlmann‘ drauf schreiben und sagen, es ist Literatur« (auch wenn er einfügt, das sei ja legitim, ist es ein Vorwurf, denn es ist natürlich nur legitim gemäß einem Kunstprogramm – er nennt Duchamp, literarische »Avantgarden« –, dem Kehlmann nicht angehört.)
Dieses Urteil zitiert Kastberger nicht, sondern formuliert selbst so. Er stützt es auf die Behauptung, Kehlmanns Wikipedia-Abschreiben sei von anderen »nachgewiesen«. Wenn sich das dann aber als falsch erweist, und er auf Nachfrage nur kokett behauptet, er habe ja den Vorwurf nicht selbst erhoben, müsse ihn also auch nicht belegen, ist das nicht unpräzise, sondern heuchlerisch.
Dass die Formulierung von Kastberger zu grob ist, stimmt. Ein kundiger Fragesteller, der an der Sache interessiert ist und nicht an einer Skandalisierung, hätte da nachgefragt. Die Zitate aus der Humboldt-Zeitschrift zeigen, dass man Kehlmanns Quellenauswertung dort durchaus ambivalent betrachtet (der Name »Wikipedia« fällt dort allerdings nicht expressis verbis) . Nun muss ein Schriftsteller nicht den Humboldt-Forschern und ihren Vorstellungen genügen; auch Schiller verwurstete die historischen Gegebenheiten nach Gusto.
Dass Kastberger Kehlmann nicht dezidiert zur Avantgarde zählt, ist Ihr Schluss. Ich lese das nicht so eindeutig. Im übrigen stellt sich Frage, was Avantgarde im 21. Jahrhundert überhaupt ist. Schreibt man da einen Kolportage-Roman über zwei Gelehrte?
Also »unpräzise« finde ich sehr zurückhaltend formuliert. Herr Kastberger hat eine Behauptung aufgestellt, die er durch keine Quelle und kein Zitat decken konnte. »Man hat gezeigt, daß Kehlmann aus Wikipedia abschreibt.« Aber man hatte das nicht gezeigt, und auch er konnte es nicht zeigen. Er hat das einfach gesagt, weil es gerade gut klang für ihn. Das ist einfach ganz elende Philologie. Jeder Student fiele dafür durch. Da ist es völlig egal, ob man Kehlmann mag oder nicht, das ist wissenschaftlich indiskutabel, und anständig ist es schon gar nicht.
»Dass Kastberger Kehlmann nicht dezidiert zur Avantgarde zählt, ist Ihr Schluss. Ich lese das nicht so eindeutig.«
D.h. nur weil einer hundert Jahre nach Duchamp seine (anscheinend falsche) Darstellung der Arbeitsweise eines Autors mit dem Hinweis auf Duchamp und die Avantgarde würzt, soll es kein Angriff gewesen sein?
Dann könnte ich jetzt natürlich auch daherkommen und behaupten, Kehlmann schreibe überhaupt nichts selbst, sondern kompiliere und übersetze nur, und dann rhetorisch ergänzen: aber das sei ja legitim, schließlich hätten Barockautoren das auch gemacht. Diese Behauptung könnte ich zwar durch nichts stützen, aber mir könnte auch keiner nachweisen, dass ich Kehlmann nicht dezidiert zu den Barockautoren zähle und es nicht eigentlich als Lob meine.
In Keuschnigs Artikel fehlt mir die Kontextualisierung, es fehlt die Frage, welche Rolle kommunikations- und technologiehistorische Veränderungen bei den angesprochenen Phänomenen spielen. Daß Autoren immer Anleihen der verschiedensten Art genommen haben, daß die Collage ein eigenes, ehrenwertes Genre ist – diese Tatsachen sind der Erwähnung wert, aber letztlich doch altbekannt und kaum argumentierbedürftig.
Viele Autoren verwenden heute keine Enzyklopädien, keine vielbändigen Werke, die sie womöglich in Bibliotheken durchstöbern, und auch nicht die Gesammelten Werke Goethes oder Heines, zum Beispiel, sondern das Internet. Das oftmals recht eilig oder flüchtig oder oberflächlich zusammengeklickte Material fließt dann in den Text ein. Die Gefahr ist, daß der Sinn für Erkenntnisvorgänge, für das Erarbeiten einer Darstellung, für historische Tiefe und zeitbedingte Unterschiede verlorengeht. Defizite dieser Art stelle ich nicht nur bei den Hegemännern, sondern auch bei weithin als seriös geltenden Autoren fest (zwei habe ich in einem Beitrag zu diesem Blog genannt). Eine allgemeine gesellschaftliche Problematik, die immer noch unterschätzt bzw. fehleingeschätzt wird, wirkt auch im Feld der Literatur.
Eine Rolle spielen möglicherweise auch die Jahrzehnte des Neoliberalismus und der globale Siegeszug der Kultur- und Popindustrie. Auf der einen Seite geht man höchst locker mit allen möglichen Ingredienzien um, man mixt gern Cocktails jeder Art, manchmal ohne jedes Verständnis für das, womit man hantiert. Auf der anderen Seite hat sich der ebenfalls durch die Monetarisierung des Denkens bedingte Wahn breitgemacht, ständig irgendwelche Besitzrechte geltend zu machen und mit Rechtsanwälten zu drohen, was im Klartext nur heißt: Ich will mein Geld, ich will noch mehr Geld. »Geistiges Eigentum« – ich verstehe, daß arme Künstler auf ihm bestehen und bezahlt werden wollen, aber letzten Endes ist das eine contradictio in adjecto, ein widersinniges Konzept.
Vorsätzliche Plagiate sind im Literaturbereich höchst selten, und die Forderung nach Ausweis von Zitaten läuft dem, was Literatur eigentlich ist, nämlich freie Schöpfung, bei der prinzipiell alles verwendet werden darf, zuwider. Für wisssenschaftliches Arbeiten ist die Forderung sinnvoll, für künstlerische Hervorbringungen nicht.
Wie soll man sich in der Frage Zitat-Plagiat-Collage also verhalten? Das einzig sinnvolle Kriterium ist das der Qualität. Aber darum schert man sich im Feuilleton heute oft nicht, es anzuwenden ist mühsam. Ich für meinen Teil würde aber beharren: Feststellen können muß ein ernstzunehmender Kritiker, WIE der Autor sein Material gebraucht, zu welchem Ergebnis das führt und wie dieses Ergebnis bewertet werden kann. Ob jemand Wikipedia zitiert hat oder nicht, diese triviale Frage kann grundsätzlich überhaupt kein Kriterium sein.
Ich bin nicht sicher, ob Neoliberalismus und Popkultur das Plagiatwesen proportional gesehen befördert haben. Mag sein. In Karaseks Artikel von 1990 sind etliche – allerdings meist nur sehr prominente – Beispiele genannt, wie man sich schon im 19. Jahrhundert »bedient« hat. Experten mögen hier sicherlich noch mehr finden. Mit der inzwischen vollkommen unübersichtlichen Anzahl der Neuerscheinungen geht natürlich auch ein Zuwachs von »Textklau« einher.
Ob es zuviel der Zumutung ist, dass sich ein Schriftsteller herablässt neben dem Dank an (dem Leser fast immer) vollkommen unbekannten Personen auch ein paar Hinweise abzugeben, wovon man sich hat inspirieren lassen, weiss ich nicht.
Dass die Frage nach »geistigem Eigentum« bei künstlerischen Texten obsolet geworden sein soll, im wissenschaftlichen Bereich jedoch nicht, leuchtet mir nicht ein. Dann könnte man das Verlags- und Publikationswesen einstellen und alles kostenlos ins Netz stellen. Damit würde der »Berufsschriftsteller« am Ende abgeschafft werden. Das muss vielleicht nicht unbedingt ein Nachteil für die Literatur sein (etliche heute hoch angesehene Schriftsteller konnten von ihren Werken nicht existieren – was natürlich heute mehr denn je zu einer Verkitschung des verkannten Genies führt). Aber was machen dann all die Schreibwerkstatt-Studierenden?
Kastbergers Einlassung in Bezug auf Kehlmann sagt ja nichts anderes, das ein Schriftsteller unabhängig davon, ob er womöglich aus der Wikipedia seinen Plot oder ein Teil seines Plots abgeschrieben hat, betrachtet werden muss. Auch Kastberger stellt die Frage nach dem »WIE« nicht nach dem »ob«. Das »ob« wurde dann von Kehlmann in die Diskussion gebracht (was erwartbar war). Wie Kehlmann Texte über und von Humboldt verarbeitet hat – darüber geben die Aufsätze in der verlinkten Zeitschrift eine gewisse Ahnung. Ob ein Literaturkritiker, der die Kenntnisse über Humboldt nicht hat (nicht haben kann) derart in die Tiefe gehen muss, steht auf einem anderen Blatt. Hierin unterscheiden sich dann Literaturkritik von Literaturwissenschaft. Das Feuilleton übt – wenn überhaupt – fast nur noch »Kritik«. Für das Feuilleton stellt sich nur die journalistische Frage nach dem »ja« oder »nein«.
Doch, ich glaube, daß durch die Verfügbarkeit tendenziell aller Kultur- und Wissensgüter, von zahllosen Bildern, ja, letztlich der ganzen Geographie (Google Maps etc.) eine andere Situation und Qualität erreicht ist. Diese Situation ist natürlich bequem, und ich selbst nütze und schätze ihre Vorteile. Das Problem, das ich sehe, ist, daß die Praxis und irgendwann vielleicht die Idee von »Aneignung« verloren geht. Wenn ich am Smartphone ohnehin alles jederzeit abrufen kann, muß ich mir selbst nichts merken, ich brauche kein eigenes, körperlich lokalisiertes Gedächtnis mehr, ich muß den Stoff nicht durchdringen, habe keine Zeit dazu, sehe die Mühe nicht ein. Dieser Kontext gilt natürlich nicht nur für Autoren, aber ich denke doch, daß er auf spezifische Weise auf die literarische Produktion wirkt. Natürlich nicht zwangsläufig, nicht bei jedem, aber diese Bedingungen sollte man berücksichtigen, wenn man dieser Frage nachgeht.
Es ist doch auffällig, wie häufig und wie hysterisch das Plagiatsthema seit einigen Jahren in den Massenmedien verhandelt wird. Im akademischen Bereich ist einer der Gründe die allgemeine Akademisierung, der ich ebenfalls skeptisch gegenüberstehe. Jeder muß einen akademischen Titel haben, sonst kommt er nirgends unter, z. B. nicht in der Politik. Aber nicht alle haben das Talent und die Ausdauer, ein Thema wissenschaftlich aufzuarbeiten. Ergo...
Zum Thema Doktorarbeiten gab es unlängst einen interessanten, in Teilen desillusionierenden Text von Jürgen Kaube in der FAZ. Anlass waren die Plagiatsvorwürfe gegen die deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen. Tenor des Textes: Doktorarbeiten werden kaum gelesen. Und sie dienen nur am Ende nur als Statussymbol. Beides ist nicht so fürchterlich neu.
Die Hysterie bei Plagiatsvorwürfen in der Literatur endet ja auch fast immer ernüchternd. Eine Leserin machte mich auf den »Fall Mannhart« aufmerksam, der auch im Vergleich endete. Im Gegensatz zu den Vorwürfen um die Verletzung (vermeintlicher) Persönlichkeitsrechte sind Plagiatsdiskussionen meist nur kurzfristige »Aufreger«.
Dass die Idee von Aneignung durch die auf uns täglich mehr oder weniger ungebremst einprasselnden Informationen verloren geht, ist sehr gut möglich. (Obwohl ich schon vor 30 Jahren den Ratschlag erhielt, mir nur Wichtiges zu merken – vom Rest müsste man nur wissen, wo es abrufbar ist.) Daher ist es aber umso brisanter, wenn jemand wörtliche Passagen aus einem Roman abschreibt.
Ich bin mir (immer noch nicht) sicher, welche Auswirkungen die andauernde Verfügbarkeit und das Eindringen von Informationen haben werden (neben der Aneignung ist sicherlich auch die verschwimmende Unterscheidung von Wissen und Information eine; vielleicht bedeutet die Verfügbarkeit letztendlich eine wenig bewusste Geringschätzung?); jedenfalls dürften die wenigsten arrivierten Schriftsteller mit dem Smartphone aufgewachsen und damit noch in einer anderen Kultur groß geworden sein.
Neben der Qualität würde ich im Plagiatsfall auch nach Substanz und Neuheit fragen und diese festzumachen versuchen: In welcher Relation stehen Stil, Form und der Raum den das Werk aufmacht? Wenn der Inhalt (Anekdoten, Motive, Figuren, etc.), egal von wo er nun stammt, für Kehlmanns Buch entscheidend ist und wenig darüber hinausweist, ist das so oder so kein allzu gutes Urteil. — Und im Fall des Echolot-Projekts wäre es äußerst interessant herauszuarbeiten welche Unterschiede eine reine Kollage und eine geformte Sprache (»Stimme«) für ein Werk mit sich bringen, wo Vorteile und Grenzen liegen und was das für den Autor als Schöpfer eines Werks bedeutet. — Vielleicht kann man zwischen inspirierendem und täuschendem Elsterntum unterscheiden?
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Klaus Kastberger hat seine Anschuldigungen gerade in der Wiener Zeitung widerrufen und sich entschuldigt.
http://www.wienerzeitung.at/themen_channel/wz_reflexionen/zeitgenossen/797614_Stellungnahme-zur-Causa-Kehlmann.html
Jetzt würde mich interessieren: Herr Keuschnig hat damals geschrieben, daß man keineswegs eindeutig sagen könne, Kastberger habe Unrecht. Jetzt sagt Kastberger selbst, daß er Unrecht gehabt hat. Folgt daraus, daß Herr Keuschnig auch sagen wird, er, Keuschnig, habe Unrecht gehabt, oder ist so etwas vollkommen undenkbar?
@Matthias Werner
Danke für den Link.
Es steht übrigens dort zum Wikipedia-Plagiat-Vorwurf: »wenn man sie auf ihren wortwörtlichen Kern beschränkt«. (Das hatte Kastberger schon früher klargestellt.) Ansonsten ist es eine Entschuldigung, die ihre Geschichte hat (mehr sage ich nicht).
Interessant, wie Sie auf Kategorien wie Recht und Unrecht rekurrieren. Lesen Sie vielleicht noch einmal genau durch, was ich geschrieben habe.
Das ist natürlich schon lustig. »Falsch ist von meinen Anschuldigungen nur, was dasteht. Der Rest stimmt.«
Und zu:
Die hat ja jede Entschuldigung. Warum dieses Raunen? Damit die Leser denken, für Eingeweihte werde die Entschuldigung damit schon irgendwie erledigt sein?
Ärgerlich, dass einen Kastberger zur Kehlmannverteidigung bringt. Hätte er einfach gesagt, dass Kehlmann triviale Quatschbücher schreibt, hätte niemand was dagegen gehabt.
Der Eindruck einer Kastberger-»Verteidigung« meinerseits ist falsch und kann nur bei denen auftreten, die nicht genau lesen. Die Aussage, dass K. von der »Wikipedia« abschreibt hat Kastberger früh relativiert. Wie dies unter Umständen gemeint sein könnte, habe ich versucht zu erklären. Natürlich darf einem Literaturwissenschaftler streng genommen eine solche Äußerung in der Öffentlichkeit nicht entfleuchen. (Wie auch das Diktum, er schreibe nur »Quatschbücher« auch Unsinn gewesen wäre.) Kastberger ist impulsiv und nicht so ein langweiliger Phrasendrescher wie die meisten seiner Zunft. Daher rekurrierte ich darauf, dass man mindestens von seiten des Interviewers noch einmal genauer hätte nachfragen müssen. Das ist aber unterblieben, weil man den Krawall wollte.