Erlangen, Sonntag, 30. August 2015. 14.00 Uhr. 33 Grad. 35. Erlanger Poetenfest. Ort: Orangerie. Fünf Menschen auf dem Podium. Rund 100 Menschen im Saal, weitere 100 (geschätzt) draußen auf der Wiese, lautsprecherbeschallt. » ‘Elendes Kumpelsystem’ – Kritik der Kritik« ist das Thema der Diskussion mit Ursula März, René Aguigah, Jörg Sundermeier, Florian Felix Weyh (als Moderator) und mir.
Weyh eröffnete die Diskussion. Er wies darauf hin, dass die Kritik an der Literaturkritik nicht neu sei und dass es etliche Bücher mit Rezensentenbeschimpfungen gebe. Der Titel dieser Diskussion war einem BuchMarkt-Interview vom Januar dieses Jahres mit Jörg Sundermeier entnommen. Weyh stellt die Teilnehmer vor und versprach: »Wir wollen Tacheles reden« und »die Beziehungen untereinander aufklären.« Weyh begann bei sich selbst zuerst. Dann ging die Frage »Können sie mir sagen, wen Sie kennen und wie Sie die kennen?« an Ursula März. Diese auf Transparenz zielende Frage, die zur Situationsbestimmung gedacht war (Weyh wies darauf hin, dass er als freier Mitarbeiter beim Deutschlandradio Kultur unter Umständen mit Ursula März konkurriere), war wohl für Frau März zu viel. Ihre Mischung aus Philippika und Schimpftirade vom Beginn sei hier dokumentiert (in Fussnoten stehen hierzu meine subjektiven Anmerkungen):
»Das mach ich gerne, aber um es mal ganz offen zu sagen, Sie haben ja gesagt wir sollen Tacheles reden. Ich halte es für vollkommen sinnlos, für wahnsinnig sinnlos. Ich muss es jetzt mal loswerden. Ich halte auch diese Veranstaltung für eineinhalb Stunden vertane Zeit. [Raunen] Ich begründe es gerne. Ich kenne alle die hier sitzen irgendwie, ja.1 Ich kenne auch viele Autoren die hier sind irgendwie.2 Ich habe von Allen möglichen Bücher besprochen. Das ist das allernormalste in einem Berufsmilieu, das man sich irgendwie kennt.3 Darüber zu sprechen ist derart narzisstische Nabelschau, dass ich es schwer ertrage – ich muss es wirklich sagen. Es ist jetzt diese hier die 12. Podiumsdiskussion an der ich teilnehme4, die ein Thema hat. Literaturbetrieb in der Krise, heute heißt es Kumpelsystem, usw usf. Das ist nur…das ist ein Phantomgeschehen, das auf blöden Ressentiments beruht, weil wir keine literarischen Debatten mehr führen. Wir hätten tolle Themen auch in den nächsten eineinhalb Stunden über Literatur zu sprechen5, wir reden aber seit etwa 20 Jahren über Literaturbetrieb und meinetwegen machen wir es auch die nächsten anderthalb Stunden. Ich halte es für Quatsch.« [Verhaltener Applaus]
»Dann können jetzt alle gehen«, meinte Florian Felix Weyh und fügte noch hinzu: »Frau März, Sie dürfen natürlich auch gehen, wenn Sie das für Quatsch halten.« Weyh wies auf interne Verhaltensrichtlinien bei Deutschlandradio Kultur hin, die ihn zuweilen durchaus in Grübeln brächten, was er jetzt noch dürfe und was nicht. Das ermunterte Frau März – die nicht gehen wollte (vermutlich um nicht zukünftige Engagements in Erlangen zu gefährden):
»Das unterstreicht aber doch, dass wir es nicht mit einem Kumpelsystem zu tun haben. Ich hab das auch unterschrieben, also sozusagen die Vorlage für die Diskussion, die Herr Sundermann6 geboten hat lautet doch: Der Literaturbetrieb wird immer mafiotischer und immer korrupter.7 Die Wahrheit ist: Sie haben beim Deutschlandradio etwas unterschrieben, was heißt, »Pass auf, wessen Bücher Ihr besprecht«. Ich arbeite vor allem für die Zeit, bin da Pauschalistin. Da gibt es einen ganz strengen Katalog für Kritiker und Feuilletonisten, den ich unterschrieben habe und was wir alles nicht dürfen und es wird von Jahr zu Jahr strenger. Beispielsweise wenn ich einen Autor mit seinem neuen Buch in einer Moderation vorstelle, so wie ich das am nächsten Donnerstag in Basel tue8, darf ich dieses Buch nicht mehr rezensieren. Das ist ganz schön streng. Vor 20 Jahren oder in den 70er, 80er Jahren, die offensichtlich hier als die glorreiche Zeit der Literaturkritik gelten9, wurde das alles gemacht. Sie haben jetzt ein Beispiel dafür genannt, dass die Literatur, der Literaturbetrieb entkorrumpisiert wird, aber trotzdem sprechen wir darüber, dass er angeblich korrupter ist. Das finde ich sinnlos.«
Es wäre müssig, den weiteren Verlauf der Diskussion zu protokollieren. Jörg Sundermeier schwächte seine »Kumpelsystem«-Formulierung ab, wies auf die Emotionalität der Interview-Situation hin und bemerkte, dass er in zwei Artikeln seine Position präziser und weniger expressiv formuliert hatte.10 Seine Grundkritik – fehlende Haltung der Rezensenten, ein stark ausgeprägter Aktualitätswahn des Feuilletons (meine Formulierung), wie man gerade am Wochenende an Jonathan Franzens neuem Roman sehen konnte, der sowohl mit einem Interview des Autors als auch mit Rezensionen bedacht wird und die starke Fokussierung auf die Neuausgaben der bekannten, wichtig erachteten Verlage – blieb bestehen. Den Begriff des »Kumpelsystems« nivellierte er; meinen Vorschlag, des »Klüngel« zu nennen, fand er auch nicht so gut.
Problematisch wirkte sich für die Diskussion aus, dass der Eindruck des »Früher war alles besser« entstand, wobei März dann tatsächlich auf eine Kritik von Reinhard Baumgart erwähnte, die heutigen Maßstäben nicht mehr gerecht würde. Warum das so war, blieb leider unerörtert, was natürlich auch den Rahmen dieser Diskussion gesprengt hätte.
Damit sollte mit der Vergangenheitsseligkeit aufgeräumt werden. Das ist sicherlich in vielen Fällen wünschenswert. Aber dass »früher« doch nicht alles besser war, die Kritik an der Kritik jedoch weiterhin besteht, ging dabei unter. Frau März versuchte noch zu erläutern, dass die Literaturkritik wie auch die Literatur einen Bedeutungsverlust erlitten habe. René Aguigah warf ein, dass es ZuhörerInnen gibt, die selbst die aktuellen Kritiken bei Deutschlandradio Kultur zu wenig emotional finden und mehr schlagzeilenträchtige Urteile wie »Meisterwerk«, »furios« oder »brillant« wünschten. Vielleicht kommt dies aber auch daher, dass die Konditionierung des potentiellen Lesers, der Leserin, inzwischen derart »verdorben« ist?
März’ echauffierte Rede zu Beginn zeigt, dass die Karawane weiterziehen möchte und jegliche Kritik als überflüssig, pardon: »sinnlos« betrachtet. Zu bemerken wäre, dass den Sinn dieser Diskussion nicht die Diskutanten vorgeben, also auch nicht Frau März, sondern die ZuhörerInnen. Überraschend ist diese Wagenburgmentalität allerdings nicht. In dem 2008 bei Reclam erschienenen Aufsatzband »Texte zur Theorie der Literaturkritik«, in dem Beiträge u. a. von Lessing, Schiller, Kerr, Benjamin, Barthes, Reich-Ranicki, Enzensberger und Winkels vertreten sind, findet sich auch (etwas überraschend) Ursula März’ Text »Ohne Abendgarderobe«, in dem sie die Literaturkritik der Gegenwart gegen den schlechten Ruf verteidigt. Schon damals vermisste März die »Literaturdebatten«; die letzte sei, wie sie auch in Erlangen betonte, die »Christa-Wolf-Debatte« 1990 gewesen.
René Aguigah bezweifelte dies und warf als Beispiel Houellebecqs Buch »Unterwerfung« von Anfang des Jahres ein. Man hätte noch die Debatten über Handkes Jugoslawien-Texte nennen können (1995f, 1999, 2006), die am Ende allerdings tatsächlich weniger Debatten denn Diffamierungen und Verdikten glichen. In den 1990er Jahren wurde auch über Heiner Müllers Stasi- oder Nicht-Stasi-Zugehörigkeit und Botho Strauß’ Anschwellender Bocksgesang« diskutiert. Zweimal bot Martin Walser Stoff für Literaturdebatten: Paulskirchenrede 1998 und »Tod eines Kritikers« 2002. Oder, später, der Diskurs über Littells »Die Wohlgesinnten« (2008), der ausgiebig in der Zeit zelebriert wurde. Eine mögliche Debatte nannte Frau März selber: die über Ralf Rothmanns aktuellem Buch »Im Frühling sterben«. Hier zeigt sich allerdings, wie stark der Herdentrieb im Betrieb inzwischen ist. Vor lauter Lob fand sich – außer bei mir – zunächst keine greifbare negative bzw. adäquat analysierende Stimme. Bis dann Roman Bucheli in der NZZ das Buch vehement negativ als Kitsch besprach. Die schriftliche Reaktion der Debattenfreundin Ursula März dazu steht noch aus. Macht aber eigentlich auch nix, denn inzwischen ist das Buch sehr gut verkauft worden.
Frau März musste dann etwas früher weg. Sie stellte den Roman des Kollegen Hajo Steinert vor. Einen Tag vorher hatte schon Ursula März ihren neuen belletristischen Erzählungsband auf dem Hauptpodium präsentieren können; vorgestellt von Dirk Kruse und/oder Hajo Steinert. Dass dies mindestens degoutant ist und hier ein Aufmerksamkeitskartell grobschlächtig missbraucht wird, sieht sie nicht ein. Ihr genügt, dass sie Steinerts Buch jetzt nicht mehr rezensieren darf. Als wäre dies ein Akt des Verzichts – denn Honorar bleibt Honorar und das ist für jedes Buch sowieso nur einmal zu erhalten. Da ist eine »Vorstellung« einfacher als eine literaturkritische Auseinandersetzung. Zudem wenn man dies unter Kollegen macht. Warum, so könnte man fragen, werden literarische Werke von Kritikern (die in den letzten Monaten inflationär zunehmen) nicht einmal von Schriftstellern kritisch »vorgestellt« oder, besser, rezensiert?
Und warum eigentlich Literaturkritiker in Erlangen Bücher auf den Podien zu Lesungen vorstellen mussten, hat mir nicht eingeleuchtet. Warum nicht Buchhändler aus der Region, die ihren Enthusiasmus ehrlicher und deutlicher erklären können als Kritiker, die damit zu schnell zu distanzlosen »Zirkulationsagenten« (Enzensberger) mutieren? Sind sie wirklich auf die Honorare angewiesen?
Erfrischend waren die Reaktionen aus dem Publikum, die Weyh abfragte. Dabei stellte sich sehr wohl heraus, dass differenzierte und ausgiebige Besprechungen erwünscht sind. Wer legt denn wirklich Wert auf eine zehnzeilige »Empfehlung« eines Feuilletonisten für die Urlaubslektüre? Der schönste Moment war als der besonnene René Aguigah versprach, noch mehr Sorgfalt und Genauigkeit walten zu lassen. Das hörte man gerne. Da war, glaube ich, März schon beim Kumpel. Einer hatte es aber wirklich schwer: Florian Felix Weyh als Moderator. Er war nicht zu beneiden.
Vielleicht hat auch Hans Magnus Enzensberger wieder einmal ein großes prophetisches Stück geliefert, als er 1986 in seiner »Rezensenten-Dämmerung« abschließend feststellte: »Das wahre, das eigentliche Publikum, eine Minderheit von zehn- bis zwanzigtausend Leuten, die sich nichts vormachen lassen -, dieses Publikum hat sich vom Kasperletheater der großen Medien längst abgekoppelt; es bildet sich sein Urteil unabhängig vom Blabla der Rezensionen und der Talkshows, und die einzige Form der Reklame, an die er glaubt, ist die Mundpropaganda, die ebenso kostenlos wie unbezahlbar ist.«
Weitere Texte zu dieser Veranstaltung:
Libroskop – Tobias Lindemann – Ein Rückblick
Die Welt – Marc Reichwein – Heute Kritiker, morgen Autor, übermorgen Juror
Ich bin ziemlich sicher, dass meine Person bzw. meine Texte Frau März gänzlich unbekannt waren und sind. ↩
Um dieses "irgendwie" geht es ja unter Umständen. ↩
Es ging nicht primär ums Kennen, sondern um die Verflechtungen miteinander, die über das bloße Kennenlernen hinausgehen. ↩
Unklar, wie dies gemeint ist. ↩
Spätestens hier stellt sich die Frage, warum denn Frau März überhaupt dieser Runde zugesagt hat. ↩
Gemeint war der anwesende Herr Sundermeier. ↩
Das hat Sundermeier nie suggeriert geschweige denn gesagt. ↩
Gemeint ist die Vorstellung von Alain Claude Sulzers Buch "Postskriptum" am 3. September 2015 ↩
Niemand hatte bisher überhaupt etwas gesagt. ↩
Vermutlich meint Sundermeier seinen Text wenige Tage später im "Freitag" und dann in der Perlentaucher-Diskussion im Sommer ↩
Danke für die Berichterstattung. Mich erstaunt immer wieder, wie schlecht doch Leute, die man dafür bezahlt, über komplexe kulturelle Objekte reflektiert zu schreiben, ihre eigene Situation reflektieren und darstellen können. Das größte Tabu scheint ja zu sein, einfach mal darzustellen, wie die ökonomisch-finanziellen Bedingungen aussehen, auf deren Basis die Klüngel-Wirtschaft gedeiht. Ich vermute, wer es nicht zum angestellten Redakteur in einer der großen Zeitungen oder im DLF/DRadio geschafft hat, muss selbst mit einem Ruf wie Ursula März ordentlich rudern, um die gutbürgerliche Fassade aufrechtzuerhalten. Dann ist das besinnungslose Netzwerken quasi die tägliche Arbeit – und die macht man sicherlich besser, wenn man das ganze nicht als Klüngelei und Kumpelei sieht, sondern als Berufsmilieu, in dem man sich halt so bewegt.
Wirklich unabhängige Kritik können wahrscheinlich nur noch Menschen betreiben, die ihren Lebensunterhalt mit etwas anderem verdienen und / oder bereit sind, prekär zu leben. Das macht Literatur- und Kunstblogs tatsächlich zu einer Art Avantgarde der Kritik – im Schlechten wie im Guten. Und vielleicht ist das Schlechte – der Poesie-Album-Stil vieler Blogs, das Persönliche, Fan-mäßige, die mangelnde Kenntnis von Literatur- und Kulturgeschichte etc. – auch schon ein Teil des Guten: Hier liegen die Karten einfach auf dem Tisch, im Gegensatz zu so mancher elaboriert daher kommender Kritik in den Qualitätsmedien®, die dann noch nur eine Umschreibung des vom Verlag mitgelieferten PR-Textes ist (so erklärt sich auch die doch relativ starke Homogenität der einzelnen Kritiken.) Mit mehr Erfahrung werden viele Blogger ja auch besser, zumindest gewandter – und viele sind ja auch schon unterhaltsam und informativ, v.a. wenn man sich für Genre-basierte Literatur interessiert. Mittlerweile dürften BloggerInnen v.a. für die Genre-basierte Literatur und den »Frauenroman« schon wichtiger für die Verlage sein als die High-Brow-Kritik.
An mir selbst merke ich, dass ich immer seltener dtsches. Literatur-Feuilleton lese, aber Blogs und die Verlagsseiten für meine Orientierung wichtig ist. Ob ich immer mehr engl. & frz. sprachige Literatur lese, weil ich so viele engl. sprachige Literaturmagazine lese, oder ob ich so viele andersprachiges Feuilleton lese, weil mich dtsches. Literatur und Feuilleton langweilt, muss ich noch herausfinden.
Niemand will sich dem Ruf des Nestbeschmutzers aussetzen, also macht man erst einmal weiter so. Dabei merken die Akteure augenscheinlich gar nicht mehr, wie sie schon in Netzwerken be- und gefangen sind und wie weit dies ihre intellektuellen Freiheiten begrenzt. Die Angebotskartelle und Preisabsprachen in der Bauindustrie erwartet man ja nahezu immer noch. Und Journalisten greifen inzwischen die Korruption allerorten an – delektieren sich geradezu an Organisationen wie der FIFA. Beamte müssen penibel die Flasche Cognac registrieren lassen, die ihnen irgendjemand einmal im Jahr schenkt. Aber bei sich selber versagen Journalisten allzu oft. Wie sieht es denn im ZDF aus? Wie »funktioniert« die Buchpräsentation von Autor X bei Verlag Y? Im Kulturjournalismus soll die Fassade noch lange aufrecht erhalten werden. Hier parfümiert man sich mit hehren Kulturweihen, gibt vor, dem Guten und Schönen sozusagen zu dienen. Und dann gibt es da so ein Artikelchen von Rainer Moritz in der NZZ...
Netzwerk-Blindheit und Pfusch, die Vorwürfe kann ich nachvollziehen. Aber für die inzwischen unübersehbare Unzeitgemäßheit von Literatur sind die Helikopter-Rezensenten nicht empfänglich, weil... Die Frage bleibt immer offen. Ein Korruptions-Tatbestand misst sich ja an einer Norm, einem Soll-Zustand. Und da bin ich skeptisch, ob die Kritik wirklich immer auf der Seite der wesentlichen Literatur stehen kann. Vielleicht gibt es ja Abstandsverhältnisse, die das mal erlauben, und mal verunmöglichen. Spekuliere nur...
Interessant, die starken Kontroll-Mechanismen. Das ist an sich schon fragwürdig. Die Redaktionen, die Verträge, die Schleimspur, die zu einer zweiten Haut wird... Auch hier stellt sich die Frage, was passiert, wenn die Literatur in diesem Milieu vorstellig wird. Literaturkritik und Literatur haben sich vielleicht eine »Auszeit genommen«?!
Die Frage ist, ob an der Unzeitgemäßheit von Literatur der Rezensionsbetrieb nicht ein gerüttelt Maß Mitschuld trägt. Kritiker, die die Bücher nicht lesen (bzw. nur teilweise), sich ständig in Superlative flüchten (die das Publikum irgendwann abstumpfen) und Klüngeleien untereinander, die sich nicht mehr verbergen lassen – dies trägt dazu bei, dass das Feuilleton zur Empfehlungsmaschine wird. Vielleicht sollte man einfach einmal den Dampf aus dem Betrieb nehmen. Aber das würde ein Umdenken voraussetzen.
Was versteht Ihr denn unter der »Unzeitgemäßheit von Literatur«? Buchproduktion und Auflagen gehen ja nicht zurück.
@Doktor D
Geht aber nicht die Reichweite von Literatur zurück? Welches Buch, das literarischen Ansprüchen genügt, wird denn noch in kommerziell interessante Auflagen vertrieben (Buchpreisgewinner mal ausgenommen) ? Wo sind denn die Diskussionen am Arbeitsplatz über Literatur? Mag sein, das manches davon auch eine gewisse Verklärung war/ist, aber in der Konkurrenz mit Fernsehen, Film, Internet und Sport spielt doch die Literatur kaum noch eine Rolle. Handke konnte früher 100.000 Bücher eines Titels verkaufen – wer schafft das heute noch (außer die üblichen Coelho-et-al-Verdächtigen)?
Selbst ein Buch wie der Rothmann, der durch die Feuilletons auf Händen getragen wurde – niemand, mit dem ich in Erlangen gesprochen habe, hatte das Buch gelesen (außer Frau März). Immerhin wurde das zugegeben. Die Prioritäten sind einfach andere; ich merke es schon an mir selber: Ich weiss ziemlich genau, was ich demnächst lesen möchte und lesen werde. Da passt erst einmal bis Ende Oktober kaum noch was rein (danach allerdings ist wieder Platz). Auf den Setz verzichte ich. Und die Rallye um Franzen beispielsweise stösst mich in ihrer Marktgemachtheit nur noch ab. (Ich halte ihn für überschätzt.)
Man »muss« heute kein »Buch der Saison« mehr gelesen haben. (Inzwischen kann man ja fast schon Distinktionspunkte damit gewinnen, den Sieger des Buchpreises nicht gelesen zu haben.) Das ist befreiend und ärgerlich zugleich. Der Diskurs der wenigen, die übriggebliebenen sind, zerfasert. Der Gelegenheitsleser, der ein, zwei Bücher im Jahr liest, ist angesichts der Buchmessenbeilagen überfordert. Zumal auch fast alles mindestens recht freundlich-indifferent besprochen wird. Inflationär dann die Lobe (wie schon angesprochen). Mit dem Bedeutungsverlust der Literaturkritik geht der Bedeutungsverlust der Literatur einher.
Aus meinem beruflichen Umfeld weiß niemand, dass ich mich mit Literatur beschäftige. Die Welten sind scharf getrennt; wie Parallelen berühren sie sich nie. Grass kennt man dort noch dem Namen nach, aber gelesen hat man von ihm zu 99% nichts.
Unzeitgemäßes …
… neulich beim Nachschlagen auf meine Anstreichungen [von 1994, also etwa vor 20 Jahren] gestoßen zu dem [mittlerweile selber historischen] Leslie A. Fiedler. Die alte „close the gap“-Sache: Die Lücke zu schließen zwischen Elite- und Massenkultur.
Wen es interessiert: Fiedlers ausgearbeiteter Aufsatz mit etlichen ausführlichen Reaktionen der Zeitgenossen Walser / Brinkmann / Baumgart / Heiner Müller / Enzensberger … und Späterer dokumentiert in „Roman oder Leben – Postmoderne in der deutschen Literatur“ Reclam Leipzig. Ein langer Text dazu online hier.
1968 also!
Das verkürzte Credo lautete: „Ein Kommunikationsmedium [gemeint war die ernsthafte, gesellschaftsrelevante Literatur] muss, wenn es aus der Mode gerät, zu einer Form der Unterhaltung werden.“
(Das war also schon stark medial, nämlich mit Marshall McLuhan gedacht, aber nicht nur: Alle wollten Beat–Porno-Pulp-Pop, endlich Jugend, Drogen, Musik ins Fernsehen und unendlichen Spaß ...)
Frappierend für mich waren schon damals [jetzt wieder 1994] ein paar Äußerungen zum Literaturkritiker. Ich vereinfache hier stark, aber die Forderung war, seine Autorität müsse letztlich auf seiner Fähigkeit zur Emphase basieren, nämlich „Wörter, Bilder, Rhythmen zu finden“, die „seiner ekstatischen Vision des Euripides und der Einleitungstexte der Genesis angemessen sind“.
Kritik müsse also Literatur sein (oder sie sei „gleich Null“).
Das ist doch eindeutig! Finde ich jetzt noch bemerkenswert. Wenn auch als Forderung in einem gesellschaftlichen Gesamtklima von von galoppierendem ADHS wohl illusorisch.
Und trotzdem … war Qualität nicht schon immer das Scheidemittel? Lange, gedankenreiche, lesenswerte Stücke über satisfaktionsfähige Gegenstände? Funktioniert es nicht eh so, zu allen Zeiten? Die Produktion von Quatsch ist eh niemals mehr aufzuhalten und das Gequatsche darüber erst recht nicht.
(Interessant wird sicher auch der Vergleich zwischen dem alten und dem neuen Quartett, wenn die intellektuellen Instrumentarien offengelegt und vergleichbar werden.)
Hier der Link ohne den erzwungenen Referer davor:
http://www.pop-zeitschrift.de/2013/03/10/zur-poetik-der-pop-literaturteil-2-burroughs-fiedler-brinkmann-von-marcus-s-kleiner10-03–2013/
Also, ich lese in Kommentaren viel Zustimmung zu meiner These: Literatur und ‑Kritik haben sich entfremdet. Den cultural gap hat es immer gegeben, aber die Vergesellschaftung von Literatur stößt jetzt erkennbar an eine organisatorische und funktionelle Grenze.
Die Annahme, das die ‑Kritik auf Gedeih und Verderb an das Niveau von Literatur gekoppelt ist, halte ich für gerechtfertigt. Da gibt es keinen »Überbietungsspielraum«. Es ist ein kongeniales Verhältnis, ähnlich vielleicht wie beim Schauspieler und seinem Text. Sehr subjektiv ist natürlich die Frage, ob man eine »Auswahl-Panne« bei den Machwerken oder eine »Anpassungs-Leistung« an eine allgemeine Niveau-Absenkung wahrnimmt. Ich nehme eher die »Anpassung« wahr, die mit der gesellschaftlichen Bedingtheit der ‑Kritik konform geht. Der Literatur-Profi sieht das vielleicht anders.
Und noch zur Frage von Doktor D: Unzeitgemäßheit nenne ich (ganz un-metaphysisch) die Voraussetzungen für den Zugang zu Literatur. Die Lebenswelt darf nicht vollkommen verschieden von der künstlerischen Existenz sein. Einen Brückenschlag von »Mensch zu Mensch«, ohne Rücksicht auf das jeweilige Sein, halte ich für zu idealistisch. Ich denke, das ist nicht primär eine Frage der Bildung, sondern eine Frage der Lebensweise. Die allgemeine Lebenswelt, als rein theoretische Schnittmenge all der verschiedenen Existenzen, scheint sich von der Kunst zu entfernen.
Aber bedeutet das Unzeitgemäßheit? Die Öffentlichkeiten und Publica befinden sich ja seit der Einführung des Privatfernsehens und dann noch mal beschleunigt durch das Internet in ständiger Fragmentierung und Neusortierung. Ob’s da nochmal so große öffentliche Debatten geben wird, wage ich zu bezweifeln. Und so von unserer heutigen Situation aus betrachtet, kommen mir auch immer stärkere Zweifel, wie viele da wirklich erreicht wurden und ob das nicht auch ein Selbstgespräch kultureller Eliten mit Zugang zur gedruckten / gesendeten Öffentlichkeiten war, die halt das Fehlen der Resonanz nicht gemerkt haben, weil es keine wirklich sichtbaren Nicht-Zuhörer gab. Jetzt sieht man dieses Desinteresse eben, weil so viele Leute im Netz den Platz und die Möglichkeiten haben, zu veröffentlichen, was sie so interessiert, und da eben fröhlich vor sich hin quatschen. In diesem Stimmengewirr finden sich dann – in meiner erfahrung – ganz oft Leute zusammen, die irgendwelche Interessen teilen und dann meist sehr viel intensiver und kompetenter miteinander diskutieren, als es für die meisten Feuilletons, selbst dem der NZZ, möglich wäre und war.
Ich hab’ den eindruck, mein Gesprächskreis hat sich eher erweitert, und dass denen, mit denen ich in Kontakt bin, Literatur wirklich was bedeutet – und zwar mehr als ich bei vielen Literaturkritikern erkennen kann.
Kurz: Für das Literatur-Feuilleton sehe ich auch eher schwarz, für die Literatur aber gar nicht.
Vielen Dank für die sehr instruktiven Kommentare. [Die »@«-Zuweisungen dienen nur der Übersicht]
@en-passant
Die »Emphase«-These ist ja vor einigen Jahren von Winkels aufgenommen worden, der Kritiker in »Emphatiker« und »Gnostiker« unterschied. Emphatiker sind für ihn biographistisch, haben den Autor und seine Haltungen im Blick. Sie argumentieren leidenschaftlich. Bösartig formuliert: Sie kritisieren die Gesinnung des Autors, die aus dem Werk herausdestilliert wird. Gnostiker sind das Gegenteil: Interessiert an Form, Sprache, Ästhetik. Winkels lässt keinen Zweifel daran, wo er sich sieht (Gnostiker) und das die vom Publikum so gefeierten Emphatiker (MRR, Heidenreich, Schirrmacher) nicht seine Sache sind.
Dass es bereits in den 1960ern in Richtung Emphatiker ging, überrascht mich dann doch. Dass Literaturkritik eine Form der Literatur ist bzw. sein soll, verfechtet ja auch Brigitte Schwens-Harrant in ihrem Buch »Literaturkritik – Eine Suche«. Wenn ich sie richtig verstehe, dann möchte sie damit allerdings die »emphatische« Kritik bändigen. Für mich ist »Emphase« ein missverständlicher Ausdruck. Ich nehme für mich durchaus Emphase in Anspruch – ohne jedoch auf Superlative oder schlagzeilenträchtige Termini zu verfallen (okay, das gelingt nicht immer).
@die_kalte_Sophie
Die Lebenswelt darf nicht vollkommen verschieden von der künstlerischen Existenz sein.
Ich bin kein Anhänger eines »analytischen Realismus« (Enno Stahl), der die Lebenswirklichkeiten sozusagen mit sozio-politischem Anspruch abzubilden hat oder sogar in Brecht’scher Manier Belehrungen beim Lesern erzeugen soll.
Ich bin mir nicht so sicher, ob die Literaturkritik oder die Literatur für die Anpassung nach unten verantwortlich ist. Wenn man einen Augenblick an die »Selektionsautorität« (Mangold) der Literaturkritik glaubt und als grobe Kennzahl davon ausgeht, dass im Jahr rund 200 belletristische Neuerscheinungen in den Mainstream-Feuilletons (die jemand wie der Perlentaucher scannt) besprochen werden, sind das bei 14.111 Neuerscheinungen 2014 ungefähr 1,5%. Dabei stürzen sich diese Medien ja bekanntermaßen mehrmals auf die vermeintlich »wichtigen« Bücher. Dass dann 98,5% der Neuerscheinungen »Schrott« sein sollen, kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.
Die »Selektionsautorität« wird nicht ausgeübt, weil der Herdentrieb stärker ist als das Interesse an Neuem. Ein Beispiel: 5 von 6 Büchern der Shortlist zum »Wilhelm-Raabe-Preis« sind identisch mit der Longlist zum Deutschen Buchpreis. Dass die Angelegenheit in den Jahren vorher ähnlich war, macht die Sache nicht besser. Zudem fragt wohl kaum noch jemand, was die nominierten Bücher mit Wilhelm Raabe zu tun haben.
Energisch widersprechen möchte ich, was die Zugangsmöglichkeiten zur Literatur angeht. Die hat jeder. Noch gibt es Stadtbibliotheken, in denen die Klassiker stehen. Die Neuerscheinungen gibt es ein oder zwei Jahre später (auch hier nur die üblichen, aber immerhin). Wer will, kann sich einen Zugang schaffen – der ist natürlich privat und mehr oder weniger intensiv.
@Doktor D
Völlig d’accord. Aber die Leute, die sich zum Beispiel hier treffen und ernsthaft und kompetent über Literatur oder Literaturkritik reden, sind verschwindend klein. Das muss kein Nachteil sein, aber die Zeiten, als solche Debatten auch an den Universitäten geführt wurden, sind doch längst vorbei. Natürlich sind die klassischen Literaturdebatten, die Frau März so gerne führen möchte, immer elitär gewesen, weil der Leser, die Leserin sich maximal im Leserbrief dazu äußern konnte (und der wurde oft genug zerhackt). Das hat sich geändert. Mein Eindruck ist, dass die institutionalisierte Kritik diesen Bedeutungsverlust mit Chuzpe überspielen möchte. Man mimt den Empfehlungsonkel oder die Empfehlungstante. Im einst so ambitionierten Schweizer »Literaturclub« fragt bei etwas konfrontativen Diskussionen die Moderatorin am Ende noch mal nach: »Lesen?« Da bleibt dann nur ein »ja« oder ein »nein«. Diejenigen, denen das zu wenig ist, sterben aus.
Dieser kleine Essay in der Jungle World arbeitet sich von einer anderen Seite an unserem Thema ab: http://jungle-world.com/artikel/2015/36/52627.html
Titel: Körper als Metapher bei Juli Zeh oder Warum die Germanistik einen populistischen Turn braucht
Wobei populistisch hier das falsche Adjektiv ist, er meint eigentlich eher so was wie: Relevanz, Verständlichkeit, Anschlussfähigkeit an die Alltagswelt
»Mein Eindruck ist, dass die institutionalisierte Kritik diesen Bedeutungsverlust mit Chuzpe überspielen möchte.« – Das sehe ich auch so.
Aber re: Schar der Literaturliebhaber und ‑kenner schaue ich optimistischer in die Welt. Aber vlt. steuern wir wirklich auf eine Intensiv-Lesekultur wie prä-1900 zu, aber wenn ich sehe, was da geschrieben worden ist, bin ich ganz zuversichtlich.
Betreff: Differenz der Lebenswelten. Ich will nicht auf einen Realismus hinaus, bzw. eine Klientel-Literatur. Ich gehe aber von einer »eingeschränkten Lesbarkeit« aus, die eine Kunst-Affinität beim Leser voraussetzt.
Dein Argument (Hingehen, Bücher nehmen, Loslegen) verdeutlicht eigentlich sehr gut die »Rationalitäts-Hypothese«, die über der literarischen Kunst schwebt, vor allem in Deutschland. Ich würde da vorsichtig widersprechen: Literatur ist kein Info-Material. Die kann man nicht so einfach lesen. Ich würde jedenfalls den uneingeschränkten Zugang zur Diskussion stellen. Das »Potenzial«, dass der Leser mitbringen muss, besteht sicher nicht in der Fähigkeit des Lesens. Es besteht auch nicht in der bereits erworbenen Bildung. Es besteht in etwas Drittem, einer Affinität... Sicher nicht leicht zu beschreiben.
Nur noch eine Anmerkung zur Emphase
Danke für den Link zu Winkels – ich hatte das damals verfolgt aber vergessen.
Er ist eben doch ein Profi: Die Verkürzung der Entwicklung von Suhrkamp-Kultur auf kiwi-Kultur bringt es auf den Punkt.
Aber dann fällt mir eben auch auf, wie sehr er auf den – als Versprechen so schwer artikulierbaren – „metaphysischen“ Grund des Interesses am Gegenstand Literatur verweist … und wie auch Fiedler seinerzeit einmal von Literatur spricht als der „Heiligen Schrift […] in einer Welt, die die überkommene Religion ablegt“. Offenbar geht es also bei dem umsorgten Gegenstand um etwas Überwertiges … anscheinend liegt hier die Crux. „Die einen suchen das wahre Leben, die anderen die wahre Literatur“.
Wenn Literatur – schriftliche Werke einer irgendwie auslegebedürftigen Sprachkunst – aber uneingestandenermaßen als Ersatz für irgendeinen Horizont höherer Sinngebung fungiert … muss dann nicht doch sowohl die sachliche wie die emphatische Kritik daran mindest-entsprechende Eigenschaften aufweisen? Und erklärte sich von daher dann nicht auch als ihr schmerzlich empfundenes Versagen?
In einem Satz also: Wenn der literarisch-gnostische Text unser Logos ist, ist ein Ungenügen an der Kritik immanent.
Und dann wäre dem auch niemals zu entkommen – auch nicht durch alles Ringen darum.
@Doktor D
Den »populistischen Turn« im Aufsatz verstehe ich nicht. Die Literaturwissenschaften sollen sich einen faulen Schüler vorstellen? Stellt sich etwa ein Koch einen satten Gast vor? Oder ein Ernährungswissenschaftler sollte die Rolle des advocatus diaboli einnehmen und Fastfood verteidigen? Schöne Ideen – für kleine, gedankenspielerische Essays sicherlich ganz lustig. Für das Feindbild von Neonazis gibt es ja immerhin schon die Soziologie. Und es gibt bestimmt germanistische Arbeiten über »Mein Kampf«. Und warum sind denn »unzählige andere Stichworte der Bildung und Aufklärung« fragwürdig geworden? Und vor allem: Welche?
Wenn sich die Literaturwissenschaften jetzt noch auf das Niveau der Spekulation begeben kann man die Sache wirklich sofort seinlassen. Ich bin der festen Überzeugung, dass mich 95% aller germanistischen Arbeiten nicht für fünf Sekunden interessieren. Aber ich würde ihnen niemals die »Berechtigung« absprechen. Und dass sie vielleicht in anderen, ebenso hermetischen Zirkeln wie es bspw. Handke-Symposien sind von eminentem Interesse sein können.
Der Wunsch nach der Popularisierung zielt ja ein bisschen in die Richtung einer Räumung des Elfenbeinturms. Dabei wäre mir die Renovierung erst einmal genug. Denn die Literaturwissenschaften könnten sogar die Literaturkritik inspirieren. Ich denke da an Genauigkeit und auch Zeit. (Damit will ich den universitären Betrieb nicht heiligsprechen.)
Die Literaturkritik des Feuilletons müsste eine Zwischenrolle einnehmen. Man müsste sich zwischen dem puren Schlagzeilenjournalismus und den verquasten Literaturwissenschaftlern positionieren. Dafür sollte man den Leser, die Leserin, nicht für dumm verkaufen.
Merkwürdig ist, dass ich dann fast Ihren Optimismus zur neuen/alten Lesekultur der literarischen Salons vom Anfang des 20. Jahrhunderts teile. Nur dass die Teilnehmer über den ganzen Globus verstreut sind. Der Salon ist dann die Plattform im Netz. Mehr als ein paar Hundert dauerhaft Interessierte wird man kaum erreichen. Davon kann der »Markt« nicht existieren. Aber vielleicht ist es wirklich so, dass demnächst Autoren und Kritiker nicht mehr zwingend darauf pochen, von ihren Ergebnissen leben zu müssen.
die_kalte_Sophie
Natürlich ist Literatur kein »Info-Material«: Aber die Affinität zur Literatur erlangt man irgendwann oder eben nicht. Es interessiert sich ja auch nicht jeder für Modellflugzeuge, einen Gemüsegarten oder Numismatik. Es besteht ja keine Pflicht, sich für Literatur zu engagieren.
Das Primat der Bildung mag hilfreich sein. Es ist aber auch nicht unbedingt Voraussetzung. Bildung hat auch viel mit Vorbildern zu tun. Wo diese fehlen und Bildung keinen wichtigen Stellenwert hat, wird jede Emanzipation des Intellekts schwierig sein.
@en-passant
Ich halte ja Emphatiker/Gnostiker für ungünstige und missverständliche Formulierungen. Natürlich sollte auch ein »Gnostiker« seinen Gegenstand leidenschaftlich, ja emphatisch betrachten können. Umgekehrt missfällt mir natürlich diese Heiligsprechung des Literarischen. Das wird natürlich insbesondere von Schriftstellern so dargestellt, die damit ihre Werke überhöhen und sich ein Stück weit der Kritik entziehen möchten. Der Winkels’sche Gnostiker ist vielleicht zunächst einmal nichts mehr als ein Leser, der sich einem literarischen Text öffnet (ihn vor allem einmal liest). Hierfür ist ein gewisses Feuer immanent. Das sollte sich auch durch die Professionalisierung nicht abgekühlt haben. Der Emphatiker im Winkels’schen Sinn wäre der journalistische Schreiber, der Buchempfehler und vielleicht auch der sogenannte Buchblogger, der keine Verrisse schreibt (weil er vorher schon aufhört zu lesen) und es als missionarische Aufgabe ansieht, dass Buch X oder Autor Y gelesen wird. Solche Leute haben im Betrieb ihre Berechtigung, sie aber als »Kritiker« zu bezeichnen, ist einfach falsch. (Die Lit-Blogger-Szene krankt m. E. genau daran, dass man dies tut.)
Noch ein Beispiel, das verdeutlichen könnte, dass die Probleme der Literatur-Kritik kultur-immanent sind, vielleicht im Sinne der von en-Passant angesprochen Logos-Funktion.
Es gibt bei der klassischen Musik eine mindestens ebenso große Fallhöhe zwischen der künstlerischen Leistung der Interpreten, erst recht des Komponisten zum Publikum. Trotzdem kommt keiner der durchaus beschlagenen Musik-Redakteure auf die Idee, er könnte das selber spielen, oder er könnte den Part des Dirigenten bei der Orchester-Probe übernehmen. Will sagen: dieser Abstand ist überaus wohltuend für alle Beteiligten und schützt vor »zu viel Verantwortung in den falschen Händen«. So wie ich auch Gregor immer wieder verstehe, gibt es dieses Struktur bildende Gefälle bei den Feuilletonisten nicht. Und manch einer versucht folgerichtig selbst als Künstler zu reüssieren. Daraus resultiert schlechte Literatur, daraus ergeben sich aber auch die allfälligen Missverständnisse, nämlich derart... »Die Literatur-Kritik könnte an der Unzeitgemäßheit von Literatur maßgeblich schuld sein«.
Damit will ich nicht sagen: zurück zu den Genies. Ich würde aber behaupten, die Kritik schreibt sich (vermutlich unbewusst) eine »federführende Rolle« ihren Gegenstand betreffend zu. Lesen und Schreiben werden zu stark als komplementäre Tätigkeiten begriffen, während die künstlerische Arbeit nur als »ästhetischer Aspekt« auftaucht und als zweitrangig gilt.
Guter Vergleich mit dem Musikkritiker und dem Orchester. Dabei habe ich nix gegen belletristikschreibene Kritiker. Ich finde nur, dass sie ihre Position missbrauchen, wenn sie sich gegenseitig ihre Bücher »empfehlen«.
Dass sich die Kritik eine »federführende Rolle« zuschreibt, ist natürlich logisch. Es ist auch nicht falsch. Sie haben ja diese Rolle – immer noch. Und werden sie auch auf absehbare Zeit behalten. Derzeit erleben wir allerdings auch eine Konditionierung des Netzes durch den Betrieb (Stichwort: Buchpreisblogger). Das Ende ist offen.
Die Ästhetik in der feuilletonistischen Literaturkritik ist praktisch seit Bohrers Abgang bei der FAZ gestorben bzw. nur noch in Residuen präsent.
Ich bin der Meinung, im Feuilleton findet nicht Literaturkritik statt, sondern dort zeigt sich das Rezensionsgewerbe im Rahmen seiner ökonomischen Vorgaben.
Noch vor allem Inhaltlichen muss man meines Erachtens die ökonomischen Bedingungen der Presse und ihrer Schreiber berücksichtigen, wenn man Entwicklungen in den Feuilletons verstehen will.
Sehr interessanter Bericht, Herr Struck! Mein Eindruck ist, dass man deshalb so angefasst reagiert, weil man (mindestens intuitiv, wenn nicht sogar sehr genau) weiss, dass grundsätzlich zu Recht (Stichworte: Kumpelsystem und freundlich-indifferente Rezensionen) Kritik besteht. Und, wie Sie das ja schon geschrieben haben, man (der alteingessene Betrieb) möchte keine kritische Diskussion darüber führen, weder innerbetrieblich, geschweige denn Stimmen von außerhalb des Betriebes zur Kenntnis nehmen, sondern man will irgendwie weitermachen wie bisher, solange es noch geht.
Aber zu den 14111 Neuerscheinungen und den 200 Besprechungen im Mainstreamfeuilleton: Das kann, glaube ich, so nicht stimmen, auch nicht überschlägig. Laut Wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/Belletristik#Marktsegment_Belletristik teilen sich die belletristischen Neuerscheinungen auf in ‘erzählende Literatur’ (2009 war das ein Anteil von 47,2%), ‘Spannung’ (28,3%), ‘Comic’, ‘Fantasy’ usw. Und diese 47% (nehmen wir diesem Wert mal an für das Jahr 2014) dürften auch nicht nur aus reiner ‑hier interessierender- ernsthafter Literatur bestehen, sondern auch Trivialliteratur beinhalten (man schaue sich z.B. nur mal bei Amazon die Abteilung »Bücher« und dann im Bereich »Belletristik« die Kategorie »Romane&Erzählungen« an). Interessant zu wissen wäre also, wieviel von den 47% (bei 14111 Titeln Neuerscheinungen im Jahr 2014 wären das 6632 Titel) ernsthafte Literatur noch übrig bliebe, die für eine Besprechung im Feuilleton sozusagen qua Gattung in Frage käme. Wären es noch 4000 Buchtitel? 3000? Oder vielleicht noch weniger? Irgendwo dazwischen? Es sind dann immer noch viele Titel, aus denen eine Auswahl getroffen werden müsste, aber schon weitaus weniger.
Und die 200 angenommenen Rezensionen sind meiner Meinung zu tief gegriffen. Allein in der FAZ soll es nach Aussage von Sandra Kegel* (30.1.2015, 20. Mainzer Kolloquium, https://www.youtube.com/watch?v=7QKokIz8nbU ab Minute 3) im Jahr 2014 insgesamt 1900 Kritiken gegeben haben, man müsste natürlich auch hier die rein belletristischen Kritiken ermitteln. Für den Zeitraum 2001 bis 2013 hat das Michael Pilz bei http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=20272 versucht, indem er die vom Perlentaucher behaupteten stark rückläufigen Zahlen ‑angeblich knapp 50% weniger Literaturkritiken im Jahr 2013 im Vergleich zum Jahr 2001 in vom ihm gescannten Zeitungsfeuilletons- mit denen vom Innsbrucker Zeitungsarchiv zur deutsch- und fremdsprachigen Literatur verglichen hat (die Perlentaucherzahlen waren ja einer der Ausgangspunkte der von Jörg Sundermeier angestossenen Debatte um die Literaturkritik). Das Ergebnis war, dass er eine Halbierung in dem genannten Zeitraum so nicht nachvollziehen konnte, bei einigen Redaktionen war es zwar leicht rückläufig, bei anderen war allerdings sogar ein leichter Anstieg bis 2013 zu verzeichnen.
Nimmt man also die Zahlen der belletristischen Besprechungen für das Jahr 2013 aus dem Pilz-Artikel: 632 (FAZ)+ 538 (SZ)+ 334 (WELT)+ 470 (NZZ)= 1974 (es fehlen Zahlen für TAZ, ZEIT und FR, also geschätzt um die ca. 500–700) oder die vom Perlentaucher: 2200, und vergleicht diese mit der Anzahl der tatsächlichen belletristischen Neuerscheinungen (irgendwo zwischen 6632 und 3500–4500, je nachdem), lässt sich der Anspruch der »Selektionsautorität« des Feuilletons, also immerhin doch zwischen 33% bis 50% der literarischen Neuerscheinungen besprochen zu haben, zumindest rein zahlenmäßig nachvollziehen. Man müsste Mehrfach‑, und Besprechungen in den Buchbeilagen der Zeitungen abziehen etc., aber die Tendenz dürfte klar sein (es sei denn, ich habe irgendwo einen Denk- oder Zahlenfehler drin).
Ich finde diese Zahlen doch einigermassen überraschend, damit hätte ich nicht gerechnet. Gibt es am Ende vielleicht sogar zuviele (mithin überflüssige, weil qualitativ vernachlässigbare) Besprechungen? Enstehen die vielen freundlich-indifferenten Kritiken nicht nur, weil es ein Kumpelsystem gibt, sondern auch einfach deshalb, weil zuviel »rausgehauen« wird. Müsste man sich also quantitativ einschränken und dafür umso mehr Wert auf Genauigkeit (Präzision), Einzigartigkeit (Wiedererkennungswert, Pointiertheit) und Kunstfertigkeit (Literarizität) der jeweiligen Rezension legen?
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*Sie erwähnt in dem Video kurz vorher, dass es in Deutschland im Jahr 2014 insgesamt ‑alle Medien zusammengerechnet- 20000 Buchbesprechungen gegeben haben soll ‑eine Zahl, die sie aber nicht beweisen könne, da sie sie auch nur gehört habe.
Vielen Dank für den Kommentar (er war wegen der vielen Links in der »Moderatiosschleife«). Lt. Berichten von Ingold und Knörer gab es 2013 rund 15.000 Neuerscheinungen »Belletristik«. Für dieses Segment berichtet der Börsenverein für das Jahr 2014 die Zahl 14.111. Dabei soll es sich um Erstauflagen handeln. Diese Zahl habe ich genommen.
Selbst wenn die Zahl der 1900 Kritiken von Frau Kegel stimmen sollte, inkludieren diese mit Sicherheit Sachbücher und Kinder- und Jugendliteratur, und noch anderes. Auch die von Ihnen genannte Rechnung hat m. E. einen Pferdefuss, weil sie Doppel- und Dreifachbesprechungen in den Feuilletons nicht berücksichtigt. Denken Sie an die »üblichen Verdächtigen« wie Grass, Walser, die Amerikaner, usw., die in jedem Feuilleton mindestens 1 x besprochen werden. Nur ein Beispiel: Die 35 Bücher der beiden Longlists (Leipzig / Frankfurt) liefern womöglich mehr als 200 Rezensionen von interessantem Umfang. Es bleiben aber »nur« 35 Bücher.
Chervel vom Perlentaucher geht bei seiner These der zurückgehenden Zahlen von Rezensionen von einer gewissen Textlänge aus und blendet beispielsweise die »Empfehlungen« der Redakteure, die nur wenige Zeilen umfassen, aus. Knörer hatte das neulich irgendwo herausgestellt.
Was nicht ausschließt, dass meine Zahl von 200 verschiedenen besprochenen Büchern vielleicht wirklich zu pessimistisch ist (ich meine damit aber auch wirklich rezensierte Bücher, nicht Urlaubs- oder Weihnachtsempfehlungen). Aber eine Quote von 33% oder gar 50% erreicht das Feuilleton (d. h. die vom Perlentaucher untersuchten Zeitungs-Medien) nie.
Dass zuviel an Rezensionen »rausgehauen« wird sehe ich dennoch auch so. Aber das hat mit der elenden Redundanz zu tun. Jeder bespricht die Großautoren plus Interviews und Home-Stories. Für andere Bücher hingegen findet man nur wenige Zeilen.
Ich hätte das Unzeitgemäße der Literatur so veranschlagt: Länge, Komplexität, konzentrierte Beschäftigung, Einkehr von Ruhe, ja Stille, usf. — Ansonsten: Schöne Diskussion!
Ja, stimmt: Literatur erfordert Konzentration, Ruhe, bis zu einem gewissen Maß auch Hingabe, vor allem aber Ruhe. Das ist tatsächlich alles ziemlich »unzeitgemäss«.
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Ich habe mir mal den Spass (naja) gemacht, aus Anlass des Deutschen Buchpreises ’15 bzw. der Longlist die Anzahl der Rezensionen der Buchpreisblogger mit denen des Mainstreamfeuilletons abzugleichen, die der Perlentaucher in seiner täglichen Bücherschau listet. Das scheint vielleicht etwas unfair, Literaturblogs gegen berufliche Feuilletonisten antreten zu lassen, aber immerhin werden die Buchpreisblogger ja dieses Jahr auf der Buchpreisseite des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels zwecks Vorstellung der Longlist extra gefeatured. Hier -> https://docs.google.com/spreadsheets/d/1kf_GeA8hykb3yKSmHYz7ydA3D2EacfDXJRhsP-_gaLQ/pubhtml kann man sich das anschauen (muss mal sehen, ob ich die Liste nur bis zur Shortlist nächsten Mittwoch oder auch noch darüber hinaus weiterführe).
Es ist damit noch nichts über die Qualität der Besprechungen gesagt, aber interessant finde ich, dass alle Nominierungen der diesjährigen Longlist bis auf eine Ausnahme vom Zeitungsfeuilleton bereits durchweg besprochen worden sind, allerdings schon das ganze Jahr hindurch. Die Buchpreisblogger hingegen hinken rein zahlenmässig (noch) etwas hinterher, haben dafür weitgehend auch erst mit der Bekanntgabe der Longlist mit ihren Beiträgen begonnen (3 Bücher wurden aber schon im Frühjahr rezensiert).
Andererseits sieht man bei den Zeitungen, dass es dort sehr viele Mehrfachbesprechungen gibt ‑bis jetzt etwa 61%, berücksichtigte man auch alle anderen Beiträge im Rundfunk/TV etc. wäre die Quote wohl noch höher (ich nehme in diesem Zusammenhang übrigens meine viel zu optimistischen Annahmen zur Deutungshoheit ein paar Kommentare weiter oben hiermit zurück und behaupte das Gegenteil, ähem...)-, die bei den Buchpreisbloggern nur etwas geringer ausfallen ‑etwa 42%.
Und ‑Stichwort Erfordernis des ruhigen und konzentrierten Lesens- ich habe mal versucht, das Lesepensum der Buchpreisjury (zugegebenermassen ist das spekulativ, da die eingereichten Titel ja nicht bekanntgegeben werden) zu ermitteln, die immerhin aus 167 eingereichten Romanen 20 Titel auswählen musste (meine Schätzung, ausgehend von der Longlist, die einen Umfang von 7800 Seiten, also 390 Seiten/Buch im Durchschnitt hat: 167 Romane oder 65130 Seiten in 125 Tagen ergeben 521 Seiten Lesestoff pro Tag (!) von Mitte April bis Mitte August zur Longlist; siehe dazu die Ausführungen ganz am Ende der Tabelle. Man kann sich die Frage stellen, wie seriös die Auswahl der Longlist ist, wenn man sich mal das schiere Lesepensum vor Augen hält, das bewältigt werden musste, von Konzentration und Ruhe möchte man da gar nicht erst sprechen.
@Wolfgang B
Vielen Dank für die Mühe. Ich weiss jetzt nicht genau, seit wann die sogenannten »Buchpreisblogger« von ihrer Ehre Kenntnis erhalten hatten. Das Hinterherhinken könnte auch damit zu tun haben, dass sich die Auserwählten in der Regel eher seltener mit den Büchern beschäftigen, die im Feuilleton rauf und runter rezensiert werden. (Das ist ein Gefühl.)
Generell finde ich solche virtuellen Leseveranstaltungen sehr merkwürdig. Es ist wohl nicht mehr als eine Promotionmaßnahme für den Buchpreis.
Ihre Rechnung zu den 167 eingereichten Büchern spricht auch Bände. 521 Seiten Lektüre pro Tag sind zwar theoretisch machbar, aber nur wenn ich nichts anderes mehr mache als schlafen und lesen. Winkels hatte 2013 ja von 400 (oder 450) Büchern gesprochen, die man zum Leipziger Buchpreis habe lesen müssen. Es ist längst ein offenes Geheimnis, dass die Lektüren aufgeteilt werden. Niemand liest alles. Um bei der Rechnung zu bleiben: 521 : 7 ergibt 74. Auch muss man wohl berücksichtigen, dass die Bücher nicht von A bis Z gelesen werden. So bleibt noch viel Zeit für Jurysitzungen, Buchvorstellungen, Redaktionsbesprechungen und Alltag.
Phantomschmerzen an nicht fehlenden Gliedern
Jeder, der „draußen“ (außerhalb der Zone des Schönen, Guten, Wahren) arbeiten muss, weiß, dass man mit Dienst nach Vorschrift in seinem Beruf nicht zu Rande kommt. Insofern wird man bereit sein müssen, auch beim Bewältigen von zu vielen, oft Nerven zerrend langweiliger Schmöker da Zugeständnisse zu machen.
Und nach dem wahrlich erhellenden Knörer-Text im Merkur wird einem auch klar, dass das Kritiker-Dasein viele viele unglamouröse Seiten hat, dass etwas daran sogar – bei einem doch ehemals geliebten Gegenstand: schöner Literatur – einem manchmal womöglich ganz elend ankommen kann.
Dazu scheint es eh, dass die performative Seite – Winkels oder wer auch immer dann im Kamerablick, der in der Aufregung die Juryentscheidungen rüberbringen und Kompetenz verkaufen muss) – wichtiger ist, als die, die das Publikum eh nicht sieht / versteht, weil diese Arbeit keine Schauseite hat. (Oder hätte sie? Die Klagenfurt-Diskussionen sind ja doch oft erhellender als die Texte, und ergiebiger sowieso.)
Das perpetuierte Missverständnis scheint also lediglich mal wieder die Forderung, von Büchern – wegen ihrem kulturellem Gehalt – als etwas anderem als Waren zu sprechen. Der Doppelcharakter, dem kulturelle Produkte unterliegen, zeigen also im Moment ihrer Marktabhängigkeit ihre entsprechende Ambivalenz. Die Literatur, die Leser, alle, jedermann kämpft um sein „Geschäftsmodell“, wir alle sind [Meinungs-]Unternehmer in eigener Sache, existenzielle Ich-AGs. Und reden, jedermann, über alles, überall, tut heute auch sowieso jeder. Da entlässt einen der Fortschritt eben auch nicht aus seinen Inkompetenzen.
All die Banalitäten – verstärkt nun um die Zahlenspiele von Wolfgang B. – nur als Vorrede für die Frage, die mir darüber jetzt kam:
Vielleicht hat Ursula März ja doch (ein bisschen) Recht?
(In all dem medialen Durcheinander, im Nachlassen der Standards, im zunehmenden Zwang zur Selektion überall geht es womöglich erneut vor allem um die Verlagerung von Kompetenz an die Empfänger, die Konsumenten, die Selbstbediener, die „mündigen Bürgern“? Der Preis wäre also wieder mal nur der, der auch sonst überall fällig wird: die Zunahme an der Komplexität, sich sein Bild über seine Herzens-Sachen aus mehr und mehr Splittern machen zu müssen, und vielleicht müsste die Frage eher lauten: Warum soll da irgend etwas noch eine Ausnahme sein?)
Naja, welches Arbeitsleben ist schon immer glamourös oder auch nur »erfüllend«? Über das berufliche Elend könnten auch Manager, Politiker oder Popstars klagen (was sie ja zuweilen auch tun). Und das wäre ja auch nicht immer falsch. Aber ist es auch richtig? Man frage mal die Frau an der Aldi-Kasse, den Lackierer in der Werkstatt oder den Mann, der jeden Mittwoch um 6 Uhr früh die Mülltonnen auf die Straße schiebt für seine Kollegen, die dann 20 Minuten später mit dem Wagen kommen.
Ich lasse das nicht gelten. Kritiker ist, wo es denn noch ein Beruf ist, ein privilegiertes Dasein. Sie säen nicht, sie ernten nicht, aber man ernährt sie doch. Ihr Privileg besteht u. a. darin anderer Leute Leistung auf den Schild zu helfen – oder eben nicht. Hierfür kann und muss man sie befragen, ihre Kriterien nachvollziehen und den Finger in eine womöglich klaffende Wunde legen. Zumal wenn sie ein Spiel spielen – das Spiel der Wissenden.
Natürlich sind Selbstverpflichtungen oder ethische Richtlinien die Portion Opium für den jeweiligen Betrieb selber, ob FIFA, Daimler Benz oder eine ARD-Anstalt. Jedes grössere Unternehmen hat heute seine »Codes of Conduct«. Geduldiges Papier, parallel gelocht und abgeheftet. Aber das sind die Gesetzbücher auch, ohne das man sie in den Orkus verbannt.
Natürlich hat Frau März recht, dass solche Diskussionen »sinnlos« sind. Aber dann sind (1.) alle Diskurse irgendwie sinnlos und man macht am besten so weiter wie bisher. Dann stellt sich aber (2.) die Frage, warum man eine Einladung zu einem solchen Gespräch annimmt. Das hat im übrigen auch etwas mit Anstand und Höflichkeit zu tun; beides fehlte es ihr sicht- wie hörbar. Die Diagnose der Sinnlosigkeit selber ist eine Sache des Standpunkts: Wenn ich mitten im System bin, ist alles, was dieses System auch nur befragt, sinnlos oder, etwas eloquenter vielleicht: überflüssig.
Natürlich nimmt die mediale Komplexität zu – auch was die Literaturkritik angeht (die oft eher »Buchkritik« ist, also affirmativ, empfehlend). Das führt zwangsläufig zur Zersplitterung des Medienraumes – etwas, was jemand wie Schütte ja im Sommer aufhalten wollte (aber wohl nicht zu vermeiden ist). Vor allem die zeitlichen Ressourcen der Leser sind aber begrenzt. Jeder Blog wie dieser hier stellt für den etablierten Betrieb eine Wettbewerbssituation dar. Auch, wenn es nur um 50 oder 100 Klicks geht – diese Aufmerksamkeit fehlt u. U. den »etablierten« Medien. Hier sind’s 50 Klicks, anderswo vielleicht schon 1000. Und es gibt Hunderte von Buch‑, Literatur- und Feuilletonseiten im Netz. Der normale Leser hat vielleicht nur drei Stunden in der Woche Zeit und Lust. Früher kaufte er die Zeit, den Spiegel. Und jetzt? Ich kenne Leute, die kaufen sich die Buchmessenbeilagen der großen Zeitungen. Die werden gestapelt. Und dann, Monate, Jahre später beim Aufräumen landen sie ungelesen auf den Müll. Von den Büchern, die man kauft und/oder sich schenken lässt, ist da noch gar keine Rede.
Hm, aber es besteht doch kein Konsens in der Diagnose, im Zustand der Kritik? Müsste Frau März en-passants Feststellung der Endverbraucherauslagerung nicht widersprechen? Eben weil sie den Zustand der Kritik besser bewertet und daher davon (Auslagerung) nicht sprechen könnte?
Selbst Frau März konzedierte, dass die Kraft der literarischen Diskurse, mithin die Kritik nicht mehr den Stellenwert hat wie vor 20 oder 30 Jahren. Sie macht dies jedoch nicht am (intellektuellen) Zustand der Kritik selber fest (oder nur dahingehend, wo man sich zu sehr mit der Kritik selber beschäftige statt mit Literaturdebatten), sondern erklärt dies mit verschobenen Prioritäten. Ich habe in Erinnerung, dass sie die Architekturkritik nannte, die einen grösseren Stellenwert bekommen habe. Wo dieser Stellenwert gemessen wurde, sagt sie nicht. Ich nehme an, dass sie das Feuilleton meint und damit glaubt, das sei die Welt, in der sich 99% der Bevölkerung tummele.
März glaubt, dass man mit »Literaturdebatten« die Aufmerksamkeit zurückgewinnen könne. Es ist aber eine Aufmerksamkeit für sie, die Kritiker, selber. Sie beanspruchen die ausschließliche Autorität. Explizit nannte sie die sogenannte »Christa-Wolf-Debatte« (näheres dazu kann man hier, hier oder hier nachlesen). Danach habe es – so März auch ein bisschen nostalgisch – keine substanzielle Literaturdebatte mehr gegeben. Die Gegenbeweise dazu, die mir spontan einfallen, stehen im Text.
Für März et. al. spielen sich diese Literaturdebatten ausschließlich nach einem Pingpong-System in sechs, sieben oder maximal acht Medien ab. A schreibt in Medium Z, dann antwortet B in Medium Y. Danach C in Medium X als Antwort auf B, usw. Die Öffentlichkeit hat bei diesen Debatten zwei Funktionen: Sie rezipiert. Und sie kauft die jeweiligen Medienprodukte. Andernfalls »verpasst« sie einen Beitrag. (Ich habe letzteres früher ab und an verhindert, in dem ich in der Stadtbibliothek im Lesesaal die entsprechenden Beiträge gelesen habe.)
Die Onlinemedien transportieren solche Debattenbeiträge praktisch in Echtzeit. Nur einige wenige verstecken sich hinter Bezahlschranken. Grundsätzlich aber gilt: Die publizistischen Voraussetzungen für diese »Debatten« sind günstiger denn je. Und tatsächlich finden sie ja auch statt, aber eben nicht mehr ausschließlich dort, wo Frau März sie gerne haben möchte. Das schafft zwei Kränkungen: (1.) Die Debattenbeiträge der Teilnehmer müssen um Aufmerksamkeit buhlen, da es sehr viel schneller Texte geben wird. Das quantitative Angebot steigt – was natürlich auch die Honorarfrage derer tangiert, die davon leben müssen. (2.) Diese Erhöhung der Publikationsdichte und deren Geschwindigkeit verführt zu vorschnellen Beiträgen. Rechercheleistungen sind zeitaufwendig. Also unterbleiben sie. Mehr Quantität bedeutet nicht mehr Qualität. Und das betrifft alle Mitspieler, eben auch Frau März.
Das Feuilleton hat nun zwei Möglichkeiten. Entweder man verwirft all die »schrecklichen« Internetplattformen, Blogs und Magazine als mehr oder weniger trivial und überflüssig. Oder man versucht selektiv einige Angebote zu integrieren. Derzeit geht die Tendenz zu letzterem, wobei man auch auf die privatim betriebenen Blogs und Webseiten von Rezensenten zurückgreift. Wenn es heisst, dass Herr A oder Frau B bloggen, bedeutet dies immer eine hierarchische Abstufung: Feuilleton ist top – Blogs von Rezensenten sind Spielwiesen, Resterampen. Das seriöse Angebot steht anderswo. Und »Blogger« alleine bedeutet in diesem Zusammenhang immer zweitklassig; nerdig.
Den Fokus im Blick haben
Also dass März (die sich doch häufig auf Sachen im Netz bezieht, sowohl als Kritikerin wie als Zeit-Beiträgerin) da per se eine explizite Distanz des Feuilletons behauptet (oder eine „Höhe“ wie etwa Mangold), sehe ich bislang nicht.
Dass sie sich aber als jemand im System auf dessen wichtigeren Referenzen bezieht, wäre kein Widerspruch sondern eben wieder einer professionellen Notwendigkeit geschuldet: Sie will ja da auch bemerkt werden. Sie wird ja schließlich auch bezahlt für ihre ZEIT-Beiträge, Winkels lädt sie ins LCB ein usw. Das kann man ihr ankreiden, es gehört aber zum „Berufsbild“.
Womöglich ist es aus ihrer Sicht trotzdem müßig, sich jetzt auch noch in den weniger arrivierten, weniger relevanten Onlineorten zu verzetteln. (Das tun die Feuilleton-Namhaften ja fast alle nicht – nicht, weil sie online nicht auch lesen und rezipieren, sondern weil es sofort mehr Arbeit für sie bedeuten würde, und sei es nur, in den Äußerungen über sich selber auf dem Laufenden zu sein. Jemand, der öfter im Feuilleton vorkommt erklärte mir einmal ernsthaft, dass das Selbst-Googeln zu seinen „täglichen Pflichten“ gehörte.)
Dazu kommt, wenn man sich einmal auf den „Meinungsmarkt“ begeben hat, kommt man leicht dort um: Ich meine nicht mal die Gefahr von Scheißestürmen etc. Aber sogar die entlegendsten, die teilweise meinen Überzeugungen widersprechendsten Haltungen scheinen manchmal angemessen, weil man gelernt hat und lernen muss, völlig divergierende Standpunkte zumindest in der aktuell vorgefundenen Äußerungsform zu prüfen. „Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr.“ Aber Urteilsfestigkeit und Konsistenz im Denken sind für uns Multi-Optionisten eben auch nicht mehr durchgehend angesagt. Das alles zu verarbeiten ist für Profis in dem Gesamtwahnsinn „Öffentlichkeit“ womöglich gar gefährlich?
Ich frage mich aber auch, ob die Hierarchisierung nicht auch aus anderen (oder von mir aus sogar anderen neben-professionellen Gründen: etwa die übliche Distanzlosigkeit in den Foren, die schrillen Töne, Geduztwerden, mangelnde Reflexion über den Gegenstand usw.) unausweichlich ist, wenn man eben subjektiv doch mal eine gewisse Höhe erreicht hat. Gerade dass sie dort nicht exklusiv sind, wissen Journalisten ja inzwischen sehr wohl (wie eben auch der Media Markt- oder sonst was-Verkäufer gegenüber seinem Kunden oft nicht mehr, der xfach seine Kaufinteressen durch Vertiefung in den Gegenstand abgesichert hat).
Sind die Blogger, die es in die FAZ geschafft haben nicht anschließend auch ein Treppchen höher gestiegen? Die archaische soziale Rangfrage ist ja doch tiefer implementiert, als wir Demokratie-geschulten, Mitsprache Fordernden alle glauben. Auch die Blogger haben ihre Alphas, nicht jeder wird für Antwort würdig befunden, manchmal hat man den Eindruck, es geht auch öfter mal um ein gar nicht ausgesprochenes „Argument“. Es liefe dann auch die Kritik an der Kritik eben auf Außerliterarisches hinaus: Auf eine implizit verlangte Besserstellung – mit den einzugehenden oder als Fallen wartenden Untiefen da (etwa wie im Feminismus: der laufend neue sich zu zementieren suchende Frauenbilder herbeiargumentiert).
(Vielleicht müsste man überhaupt die Kritik an der Kritik noch einmal genauer fassen, wenn es nicht nur ein Rekurrieren auf alte, aber weniger zeitgemäß erscheinende Werte meint? Lese gerade so eine alte Enzensberger-Suhrkampsache, und ohne je ein besonderer Freund davon gewesen zu sein, kann ich nicht umhin zu sehen, dass diese gute alte Durchdringung des Gegenstands heute so vielleicht gar nicht mehr möglich ist. Der [wahrscheinlich hier unzulässig generalisierte] Eindruck jedenfalls ist: Die hatten eine ganz andere Zeit zur Verfügung, sich in die Sache reinzuknien, die hatten einen viel weiteren Hintergrund und Lesehorizont (als nur „Aktualität“ und das ewige Insidertum ihrer jeweiligen Medienhäuser), die hatten auch einen anderen Horizont an Zukunft, mit dem eigenen Handeln ging immer auch eine explizit politische Dimension einher. Das Buch ist von 1964 – aber haben wir heute weniger Politik? Oder was ist mit der humanistischen Bildung? Latein oder sogar Griechisch? Die Kenntnis eben doch eines erweiterten Kanons? Auf welche Empfänger kann / soll sich Kritik heute einstellen? In welcher Tonlage? Wird nicht laufend eine mindere der wahrlich heterogenen Zielgruppen verfehlt?
Um es aber wieder niedriger zu hängen: Ein bisschen erinnern mich die [ja von mir selber manchmal geführten] Klagen an die Zeit, als das neue Nachrichtenmagazin der Institution „Spiegel“ Konkurrenz machen wollte, und der noch lange eine ganz andere, nämlich die gute alte Informationstiefe hatte, und all die vielen Schaubilder und Graphiken der hereingeholten Informationsverarbeitung á la Privatfernsehen – bunter, lauter, schneller … konsumierbarer – nicht aufwiegen konnten. Wir sind heute alle Fokus. Oder eben ein bisschen out of.)
(Sorry für den Sermon, hatte gerade Zeit dafür – siehe Überschrift.)
Naja, da haben wir’s ja: Die Feuilletonisten lesen – wenn Ihre These stimmt – das Online-Zeugs, wollen sich aber nicht verzetteln. Aber wer sagt denn, dass es ein verzetteln wäre? Geht es um Debatten oder um Pfründe? Und es ist ja nicht so, dass man sich nicht hier und dort auch gerne einmal »bedient« – ohne die Quelle zu nennen?
Natürlich hat eine Hierarchisierung auch immer etwas mit dem Wunsch an einem »Ankommen« zu tun. Aber wer kennt denn ohne nachzuschlagen mehr als drei FAZ-Blogger (wohlgemerkt: Blogger, nicht Redakteure, die ihre Texte, die es nicht in die FAZ geschafft haben, entsorgen können)? Ist dieses Prinzip des Mainstreams, den Blogger-Mainstream zu umarmen (aktuelles Stichwort: Buchpreisblogger) nicht in Wirklichkeit der Beginn eines sanften Erstickungstodes (vielleicht bei Don Alphonso abgesehen)?
Mit den Blogger-Alphas hatte ich (bis auf eine Ausnahme) früh Schwierigkeiten, weil sie mir schnell zu redundanten Versatzstücken eines Meinungsbogens mutierten, den man wie das kleine 1 x 1 ausrechnen konnte. Schließlich wurden die meisten zu Marktschreiern wie diejenigen, die sie selbst kritisierten. (Das ist die größte Gefahr: Sich selbst in eine Position zu manövrieren, die dessen ähnlich ist, was man kritisiert.) Um es ein bisschen überspitzt zu sagen: Die Karriere beginnt nicht, wenn man in ZDF- oder ARD-Talkshows sitzt – sie ist dann auf dem Weg nach unten.
Und dann das hier von Ihnen:
Die hatten eine ganz andere Zeit zur Verfügung, sich in die Sache reinzuknien, die hatten einen viel weiteren Hintergrund und Lesehorizont (als nur „Aktualität“ und das ewige Insidertum ihrer jeweiligen Medienhäuser), die hatten auch einen anderen Horizont an Zukunft, mit dem eigenen Handeln ging immer auch eine explizit politische Dimension einher.
Hinzu kommt: Auch die Leser hatten Zeit; lasen, wenn nötig, einen Absatz noch einmal, wenn er ihnen unklar war. Oder nahmen sich einen Text noch einmal hervor. Keine Unterbrechung durch einen neu hereinkommenden Artikel, keine Mail, die schnell beantwortet werden soll, kein Das-lese-ich-später-weiter (und damit nie mehr), keine drei, vier Bücher, in die man unbedingt noch einmal hineinlesen möchte...
Es geht also nicht um Kulturpessimismus – das ist eine Ablenkung, wenn man sich Realitäten verweigern möchte und kommt zumeist von denen, die am meisten vom Status quo profitieren. Und die Unkenrufe zum Privatfernsehen und dem »Focus« – sie waren ja nicht so ganz unbegründet. Prozesse haben oft längere Inkubationszeiten als man denkt.
Kleiner Zwischenruf zu diesem Text von Richard Kämmerlings zur Shortlist des Buchpreises 2015. Weil Clemens J. Setz’ neues Buch »Frau und Gitarre« nicht auf der Shortlist steht, werden die Juroren herabgewürdigt: Nur »ein einziger Literaturkritiker von Rang und mit überregionalem Wirkungsgrad« befinde sich mit Christopher Schmidt [SZ] in der diesjährigen Jury – die Kritikerinnen Claudia Kramatschek [»freie«], Ulrike Sárkány [NDR] und Bettina Schulte [Badische Zeitung] werden damit pauschal zu Provinztrotteln erklärt. Und dann noch die Buchhändler. Nein, für Kämmerlings muss eine solche Jury mit den besten Literaturkritikern bestückt sein – die natürlich er ganz genau kennt. Ein dummdreisteres Dokument von Kumpelhybris hat man wohl selten zu lesen bekommen.
(Wohl gemerkt: Man kann und darf die Jury kritisieren – kein Problem. und Kämmerlings verwendet auch anderthalb Sätze auf die sachliche Begründung. Aber die Stoßrichtung – ad hominem die Kompetenz der Jurorinnen anzuzweifeln – ist unwürdig.)
Ja, der Kämmerlings schmeißt sich da sehr in die Brust. Das Komische daran ist nicht nur das Misslingen in Logik und Formulierungen, sondern dieses »Durchsetzenwollen«, das noch so tut, als gäbe es die Großkritiker alten Stils noch irgendwo. Die Buchbesprecher haben ja – vielleicht mit Ausnahme derer, die in der ZEIT sich verlauten lassen dürfen – eine rapide Abwertung erfahren. Sie spielen weder für Leser noch für die Märkte noch eine so wichtige Rolle, wie sie früher hatten. Kämmerlings’ kleine Tirade illustriert in gewisser Weise die Wut, nichts mehr zu sagen zu haben – dabei hatte er sich mit seiner Besprechung, was die Länge angeht, doch richtig Mühe gegeben.
Liest man nun nur diesen kleinen Wutanfall von ihm, hat man als aufgeweckter Leser Zweifel, ob denn Kämmerlings überhaupt so ein begabter Vorkoster ist, dass er einen »überregionalen Wirkungsgrad« verdient hätte. Wenn ich dieses vermaledeite »sprachmächtigste« im Zusammenhang mit einem deutschen Schriftsteller lese, gehe ich inzwischen schon davon aus, das wahrscheinlich das Gegenteil der Fall ist. Wem das schon alles angehangen wurde, die »sprachmächtigste« Stimme zu sein! Junge, Junge. Und beim Clemens Setz lese ich nun in die ersten Seiten seines Buchs hinein und freue mich über die programmatischen Abgründe, die in dem ersten Satz liegen (und die Kämmerlings in seiner Besprechung gar nicht bemerkt), aber ich kriege dann auch gleich wieder Unlustkrämpfe, wenn ich weiter lese und so viel Ungelenkigkeiten in den nächsten Sätzen bemerke, so viel schon handwerklich schlechte Schriftstellerei, dass mich auch der eventuell zutreffende Superlativ, dies sei der provokanteste Roman der Saison, nicht mehr zum Lesen der 1021 Seiten verführen kann (zumal ich persönlich keine sogenannten Provokationen benötige, keine Ahnung, wer wozu daran Bedarf haben sollte, ich dachte, die Zeiten wären vorüber). Kurzum: Kämmerlings scheint mir nicht mehr und nicht weniger als die ganz normale durchschnittlich hohle Nuss zu sein. Einer wie jedermann. Einer wie ich. Einer wie eine Stuttgarter Buchhändlerin. Einer wie jemand, der mal fatalerweise etwas Germanistik studiert hat. Wo der sein Selbstüberzeugtheit hernimmt, ist schon erstaunlich und gehört zum hier so wunderbar durchdiskutierten Problemkreis. Es ist ja nicht nur die Frage, wo die konzentrierten Debatten hingekommen sind, es ist die Frage, wer da in den Kulturteilen noch debattenfähig ist? Die Debatte kann ja erst beginnen, wenn die Büchernachrichtenmacher auch einmal ihren eigenen Phrasen, ihrer journalistischen Lego-Sprache zu misstrauen beginnen. Diese grobschlächtigsten Elogen! Diese Wurstfinger, mit denen sich da manche an die Feinmechanik der Sprache heranmachen! Diese chronische Unaufmerksamkeit für Details! Diese Blindheit für Bilder! Diese Urteilssucht!
Schon komisch, hier als Anwalt des Teufels zu fungieren. Und bitte mich nicht gleich wieder in die Kulturpessimisten Ecke schicken, aber auch wenn man Zentralismus, Kanon und Instanzen selber ablehnt – die Arroganz der Besserinformierten, die von ihren erweiterten Kenntnissen auf die zu erbringenden von anderen schließen -, kann man für ihre Teile ihrer Funktionen plädieren.
Und natürlich finde auch ich Jury-Politiken fraglich, und die Forderung nach den üblichen Bedächtigen ist nicht meine. Aber auch jeder Sachverstand von Seiten- oder Quereinsteigern müsste ja auch erstmal wieder bewiesen werden und unterläge auch wieder sofortiger Kritik. Auch ich finde Weihespiele per se verdächtig.
Und den Buchpreis sowieso. Auch sehe ich kein Recht für Setz auf dieser 6‑er Liste zu stehen, und auch ich habe offen gestanden keine Lust auf sein Buch, aber dass er als prominent Behandelter dieser „Saison“, dass er als mutmaßlich origineller außenseiterischer Insider nicht drauf ist, ist trotzdem bemerkenswert. (Womöglich ist es ja ein Signal? Oder ist die Qualität der anderen Bücher tatsächlich so viel höher? Nachdem, was ich bisher gehört habe, scheint das doch noch zu beweisen.)
Ich bleibe bei meiner Sicht einer déformation professionnelle auf beiden Seiten : Die Leser / Blogger arbeiten sich an der Relevanz ab, die sie, da sie nun auch mal vorzukommen wünschen, nicht bekommen – auch nicht in den Wasserglas-Stürmchen ihrer Debatten. Und das Feuilleton versucht sich in den Rückzugsgefechten seiner zerbröselnden, ihm so lange zugestandenen Rangausübungen zu behaupten. Die Kritik an der in ihren ewigen Mängeln zu bemängeln Kritik ist Teil eines neuen Geschäfts, das uns glatt fehlte.
Ich habe ebenfalls keine Lust auf Setz’ Buch. Aber da kommt das ins Spiel, was Sie gestern geschrieben haben: Als professioneller Kritiker müsste ich es mindestens anlesen (ich glaube nicht, dass es mehr als drei Leute außerhalb des Suhrkamp-Verlags von A bis Z gelesen haben). Da es den Realismus – den man selber auf den Schild gesetzt hat und immer noch setzt – anscheinend aufzuheben versucht, gilt das schon als ambitioniert. Das ist auch klar, denn wenn ich immer weiße Schwäne gesehen habe, ist der schwarze was außergewöhnliches. Hinzu kommt, dass der Roman im Moment in ein Social-Reading-Projekt eingebettet ist (Kämmerlings ist da nicht als Teilnehmer aufgeführt, dafür solche Koryphäen der Literaturkritik wie Sascha Lobo und Ronja von Rönne; ob Buchhändler dabei sind, weiss ich nicht). Da fühlt sich der Betrieb womöglich beleidigt, sozusagen ins Nichts zu lesen.
Meine Arroganz (und/oder mein Privileg) geht nun dahin, dass ich dieses Buch nicht lesen muss. Die Gründe sind vielfältig. Zum einen glaube ich, dass ich solche Wundersatz-Prosa nicht mag und das mir das auf über 1000 Seiten sehr schwer fällt. Das wäre mein Problem, nicht das von Setz. Zum anderen ist mir der Grad der Affirmation, dem dieses Buch begegnet, suspekt. Hinzu kommt, das ich nicht die 15. Rezension oder den 35. Leseeindruck abgeben muss. (Redundanz-Problem)
Natürlich sind Jury-Entscheidungen immer der Kritik unterworfen. Genau so hätte man auch auf die Longlist andere Bücher mit vielleicht grösserer Berechtigung nominieren können (Ludwig Fels zum Beispiel oder Anna Baar). Und im Gegensatz zu Schiedsrichter-Entscheidungen im Fußball gibt es nicht einmal eine Zeitlupe, die den Irrtum (oder die richtige Entscheidung) auflösen kann. Kämmerlings’ ad hominem Angriff, der mindestens drei JurorInnen die Qualifikation absprach, nur weil sie nicht überregional bekannt sind, hat aber mit (zulässiger) Emphase für ein Buch wenig zu tun. Warum soll eine Jurorin, die für den NDR tätig ist, keinen Überblick haben? Absurder geht es kaum noch.
Der Buchpreis (bzw. die beiden Buchpreise) sind ein Thema für sich. Problematisch ist die Fokussierung auf wenige Titel bzw. danach auf den Siegertitel. Herbst schreibt heute, dass man »früher...auf die Messebeilagen« hinfieberte. »nun wirken sie quasi als zu vernachlässigende Nebensache«. Da ist durchaus etwas dran. Der Ein- oder Zweibuchleser greift dann im Zweifel zu dem, was in den Buchläden vorne liegt und im Fernsehen gezeigt wurde. Die Frage, ob die Qualität der anderen Bücher wirklich soviel höher ist wie die der Long- bzw. Shortlistwerke stellt sich dann gar nicht: Der Rezipient hat einen »Sieger«. Wer kümmert sich um die Verlierer?
Das Relevanz-Gehupe kommt nicht von den Bloggern, die wie Arbeiterameisen bestenfalls um den Haufen herumkreisen. Ihnen ist ihre Nischenexistenz bewusst. Sie hat Vor- wie Nachteile. Von der »Selektionsautorität« sprachen nicht Blogger, sondern Mangold. Aber eine Autorität, die man anmahnen muss, ist keine mehr. Autorität wird in informellen Akten vergeben; sie kann nicht postuliert werden.
Man gilt in Deutschland schnell als Spielverderber, wenn man Strukturen und Institutionen befragt. Autoren bemühen das oft, wenn sie sich von der Kritik beleidigt fühlen. Volkstümlich der Ausspruch, dass die Kritiker es erst einmal selber besser machen müssen. Lessing lieferte dazu das Bonmot, dass man nicht Koch sein muss um festzustellen, dass die Suppe versalzen ist. Ergänzen könnte man, dass ich nicht selber Koch in dem Lokal werden will, nur weil ich festgestellt habe, dass dieser die Suppe versalzen hat.
Das beliebteste Argument ist die leichte Bearbeitung eines Spruchs: »Die schärfsten Kritiker der Elche / wären gerne selber welche«. In nahezu allen Lebensbereichen (von der Politik angefangen) zeigt sich, dass die Kritiker der Elche, die dann selber welche geworden waren, oft genug von den Realitäten eingeholt und versagt haben. Das bedeutet aber nicht, dass ihre Intentionen per se falsch waren. Es zeigt nur, dass Idealismus oft genug an der Realität scheitert.
Noch eine Ergänzung: Winkels bläst ins Kämmerlings-Rohr. Er spricht von Handkes Buchpreis-Verzicht im Konjunktiv. Hat er vergessen, dass er 2008 die »Morawische Nacht« hat streichen lassen?
Ah, danke für diesen letzten Hinweis – so tief steck ich üblicherweise nicht mehr drin (und ich merke darüber, dass mich das früher einmal viel stärker interessierte). Und bei den Auslassungen Winkels’ gleich dieselbe Frage nach der „Legitimation“, die nach Branchen-Politik oder Ästhetik – wobei letztere in der Kritik der Buchpreisauswahl immerhin doch durch wieder Kritiker im Mittelpunkt steht.
Dabei ist die eingebaute Unschärfe – subjektive Urteile – doch eben hinzunehmender Teil des Verfahrens: Es durch Angreifbarkeit lebendig zu halten? Und es muss doch kritisiert werden.
Oder schärfer: Ist Ausgewogenheit nicht langweilig? Oder um so verdächtiger: Können es wirklich Frauen- oder Männerquoten sein gegen ästhetisch scharfe Abgrenzungen? (Sandra Kegel stellte die Nominierten gar in alphabetischer Reihenfolge vor.) Der Konflikt läge also viel tiefer, nämlich auf der Linie ‚Herzensangelegenheiten’ gegen Bemühungen um ‚Objektivität’. Und eben das findet sich auch wieder in jeder einzelnen Buchkritik.
Danke auch für den Hinweis auf den Betreutes-Lesen-Blog von Setz’ Roman – lässt ja fast schon an den Arno-Schmidt-Dechiffrierverein denken. Da war ich oft auf Vieles neugierig gewesen. Aber irgendwann war’s auch mir zuviel, sogar bei Schmidt, der einer meiner Lieblinge ist. Und womöglich ist das ja Teil des Problems: Zuviel Sekundärtext, zuviel me-too Gequatsche, zuviel ‚Soziales’ Lesen als Anspruch auf Mit-Betriebsnudelei der Crowd statt ästhetische Analyse? (Und mit sobooks ist also auch noch ein „Geschäftsmodell“ involviert?)
Als ich gestern Abend noch mal die Zeitungskritiken zu Setz nachlas – die wohl alle als eben ‚im Rahmen’ einer Zeitung so durchgehen können, aber von denen mir kein Stück irgendwie nahe ging (was sowohl am Gegenstand wie an mir liegen kann), fiel mir wieder Fiedler vom Anfang der Diskussion ein: Dass, wenn die Anstrengung des Kritikers – selbst wenn er also im Urteil ästhetisch fehl geht – nicht seinerseits auf eine gewissen Höhe ist, sie auch allgemeinen Maßstäben nicht genügt.
Einzig der Streit – und ich denke da auch an Lyotards ‚Widerstreit’ – wäre der lohnenswerte Ertrag aus all dem.
Natürlich ist Ausgewogenheit langweilig. Dabei ist das Geschachere und Herumnörgeln um Männer- und Frauenquoten fast schon Standard. Aber was ist mit Alters- und Nationenquoten? Oder Überlegungen zu bestimmten Verlagen? Auch beim Bachmannpreis wird ja alles nach Quoten quantifiziert. Aber die Frage, die Kämmerlings und Winkels aufwerfen geht tiefer: Ist die Findung der Jury für den Frankfurter Buchpreis einer Organisation sozusagen zu überlassen, die damit – wie sie behaupten – überfordert ist? Und dies nur, weil einem das Ergebnis nicht zusagt, wobei sich zumindest Winkels um etwas mehr Argumente bemüht.
Neulich schrieb mir eine Literaturwissenschaftlerin, dass es inzwischen keine Jury mehr gebe, in der Winkels nicht mindestens einmal gesessen habe. Dabei kann man ihm nicht einmal die Qualifikation absprechen. Aber ist nicht das Verfahren, welches da gewählt wurde um nicht immer die üblichen Verdächtigen in die Entscheidungsgremien zu holen, auch ein bisschen erfrischend? Knipphals äußerte sich in der taz ein bisschen belustigt dahingehend, dass etliche, gut vernetzte Lieblinge des Betriebs nicht berücksichtigt seien. Es ist wohl der gleiche Knipphals, der die Liste von 2014 als »Quatsch« quantifizierte – übrigens ohne die Kompetenz der Juroren gleich derart anzugreifen.
Das Social-Reading von Setz’ »Die Stunde zwischen Frau Gitarre« werde ich aus dem Augenwinkel beobachten. Wenn man mitmachen möchte, gibt es übrigens folgendes Verfahren: »So dann schicke man eine Begründung, weshalb man hier über das Buch schreiben möchte, verbunden mit der Überschrift des Artikels und einer Tweet-kurzen Inhaltsangabe.« Ob Mangold oder Lobo auch eine Begründung geschrieben haben? Ach nein: Sobooks gehört ja mit dazu, wie man der Mailadresse sehen kann, an die man die Bewerbung zu schicken hat.
Alleine schon wegen der vielen (vermeintlichen) Leser würde es für mich infrage kommen, weil ich ja am Ende wohl noch einmal rd. 2000 Seiten Meta-Texte zu rezipieren habe (obwohl viele aussteigen werden). Warum immer 1000-Seiter derart aufbereitet werden, verstehe ich nicht. Als sei die reine Quantität eines Romans per se eine Aussage über seine Qualität.
Ob in einem solchen Projekt ein produktiver, ästhetischer Streit entsteht?
Social Reading – ein Marketing-Modelle, deren Sinn sich mir überhaupt nicht erschließt, vor allem mit diesen Beteiligten. Bei Pynchon-Romane oder bei den Werken von Bolano sind die Wikis, die gemeinsam von LeserInnen erstellt werden, um den ganzen Anspielungen, historischen und kulturellen Kontexten auf die Spur zu kommen, sehr hilfreich. Aber dieser Trupp? Und auch noch mit Türsteher-Clubregelung. Das hat doch schon sehr was von Berghain Literatur-Gangbang, um mal auf dem Setzschen Niveau zu schreiben. Das soll eine In-Crowd inszeniert werden, damit die anderen, die auch gerne dazugehören wollen, wenigstens die Scharteke käuflich erwerben. Das Ding ist doch bereits mit der Spekulation auf den Buchpreis hergerichtet worden und jetzt steht das kaufmännische Kalkür in Gefahr.
Zur Jury-Frage: Wer den sonst als der Interessenverband der Buchhändler hat denn die Kompetenz und die Legitimation, die Jury zu besetzen? Nur so bekommt man das Ding doch von irgendwelchen Szene-Dödels frei und die Chancen steigen, mal ein bisschen was anderes serviert zu bekommen. Wenn Herr Kaemmerlings gerne einen Preis vergeben will, soll der doch die Finanzierung auf die Beine stellen und loslegen. Vielleicht mit Hubert Winkels als erstem Preisträger – der Old-Boys-Mimimi-Preis der deutschen Literatur.
Mich wundert es, dass die Literaturredakteure, die sich unter den Teilnehmern dort befinden, trotz aller ethischen Richtlinien für sowas hergeben, denn das Projekt wird ja u.a. von Suhrkamp bezahlt (»unterstützt«, wie es heisst) und ist demzufolge nichts weiter als Werbung, egal ob man es als ”Experiment« oder sonstwie bezeichnet. Aber Mangold war ja schon mit Setz auf dem Tandem in Graz radeln, da kann man natürlich an sowas auch noch teilnehmen – Moritz hat das gemeinsame Verreisen mit den Autoren neulich ja gerügt, scheint aber in punkto Setz/Suhrkamp selber keine grossen Bedenken zu haben, dafür die Trommel zu rühren.
Vielleicht könnte so etwas wirlich wert sein, mal ausprobiert zu werden, dann müsste, wenn ich das richtig verstanden habe, aber auch das jeweilige Buch unmittelbar auf der Seite von sobooks gelesen werden wegen der Kommentare und Anmerkungen etc. Wenn ich das Buch bereits als gedruckte Ausgabe habe, muss ich mir das extra für diesen Zweck nochmal als ebook kaufen und nur bei sobooks, anders geht es wohl nicht. Aber will ich denn ein Buch am Bildschirm lesen und habe ich Lust auf Kommentare, noch während ich das Buch lese? Ich bin skeptisch, würde mich aber mal probehalber darauf einlassen – allerdings nicht gerade beim 1000Seiter Setz, auf Erpenbecks Buch bei der FAZ habe ich thematisch keine grosse Lust. Apropos: Beim neuen Lesesaal der FAZ (Kaube übrigens, der es gestern in der gedruckten FAZ vorgestellt hat, wusste nicht mal, dass Sobooks ein Hamburger Unternehmen ist, er verortete es in Berlin, im Onlineteil haben sie den Fehler, der dort auch erst stand, schnell und heimlich korrigiert) stelle ich mir die Frage, inwieweit eine Erlösbeteiligung der FAZ an jedem verkauften Buch von Erpenbeck seitens des Verlages erfolgt. Und auch interessant, dass man dort mit den Lesern »über Bücher reden und streiten« will, während diese ihre Leserkommentare im Onlinefeuilleton der FAZ schon mit viel Geschick und Affirmation und am besten noch etwas Lobhudelei für den Artikel formulieren müssen, damit diese überhaupt freigeschaltet werden, aber nur, wenn die Freischalter/in gut drauf und das Wetter gut ist – bittschön keine Kritik, auch nicht wenn sie sachlich fundert ist. (wenn es nicht alles manchmal so traurig wäre; traurig auch die Bücherliste der ersten Sendung des wiederbelebten Literarischen Quartetts im ZDF, wo mit Trojanow genau ein deutscher Autor vertreten ist. Es gab mal eine Literaturclubsendungvor ein paar Monaten, glaube ich, wo Nicola Steiner am Schluss ganz überrascht feststellte, dass die deutsche/deutschsprachige Literatur ja viel zu kurz gekommen sei, sie hatten auch nur einen deutschen/deutschsprachigen Autor – wer wohl die Bücher zusammenstellt für die Sendung, die fallen ja nicht vom Himmel?)
Usw.
PS: Nationenquoten, Ausgewogenheit, sicher: langweilig. Aber: Kommt man wirklich nicht an Knausgard vorbei? Oder an Gardos, dessen Buch und (gleich auch noch die Verfilmung!) gewissermaßen generalstabsmäßig aufgezogen zu werden scheint (»Fieber am Morgen ist sein erster Roman, den er zudem selbst verfilmt hat. Die ungarischschwedisch-israelische Koproduktion kommt voraussichtlich im Frühjahr/Sommer 2016 in die Kinos. Der Roman erscheint weltweit in sechsundzwanzig Ländern.«, heisst es bei Amazon). Kommt man an sowas wirklich nicht vorbei? Warum z.B. nicht »Traumschiff« von A. N. Herbst vorstellen, um mal einen Gegenvorschlag zu machen (zufällig über die Verlinkung von GK weiter oben zum Blog von ANH darauf aufmerksam geworden, es gekauft, weils in der Buchhandlung zufällig vorhanden war & soeben ausgelesen, tolles Buch. Lese bei ihm auch gerade im Blog herum und es scheint wohl ein vom Betrieb weitgehend ignorierter Autor zu sein, interessanter Typ, ich kannte ihn bislang nicht, habe aber eben beim oberflächlichen Recherchieren einen eher hämischen Artikel über ihn gefunden – natürlich bei der FAS, natürlich von Weidermann). Ist wohl schon zu exotisch fürs ZDF und sein Rentnerpublikum.
@Doktor D
Das Geniale von Literatur ist für mich, dass sie bislang – vor aller Kritik, Kommunikation und Auseinandersetzung – einen Rückzugsraum schaffte, in dem man endlich einmal ohne all die Einsprüche und das soziale Geräusch bei sich sein konnte. Wenn ich aber ein ästhetisches Werk gleich mit einem halben Auge aufs Sekundärgerede lesen müsste, und mit den Kommentaren mich doch zumindest bemühen müsste auf gleiche Höhe zu kommen … in einer Anstrengung, die mich vom Primären zwangsläufig wegholte … nee, lieber nicht.
Aber womöglich ist meine Haltung da auch total rückständig. (Auch Facebook etwa gibt mir absolut nichts.)
Ja, und jetzt überlege ich, ob das so genannte „Soziale“ (ein Unwort eigentlich: Social heißt ja im Englischen etwas anderes als das deutsche „sozial“, man müsste sie vielleicht eher Gemeinsam- oder Mitmach-Medien nennen) da eventuell per se immer schon zu sehr unterwandert ist von Geschäftsmodellen – und seien es nur die all der „unternehmerischen Selbste“, der ICH-AGs ihrer öffentlich gewandten Personae? Nur – verkauft das was? (Aber sind all die kommerziellen Kalküle analog des Berlin-Mitte Phänotyps – ‚irgendwas mit Kreativität’ – nicht längst akzeptiert?)
Dass bei solch einem Buch immer auch Literaturpolitik mitspielt, muss man wohl annehmen, aber 1000 Seiten in solcher Grenzwert-Ästhetik richtet man wohl kaum auf so einen Preis hin. Vielleicht ist der arme Setz nur falsch beraten gewesen, seinen ästhetischen Großversuch dieser Sekundär-Crowd anzudienen? Aber da war ja noch der Termin. Und die von ihm selbst (auf Twitter) kommentierte Erwartung …
(Zu den Buchhändlern nur ein Satz)
Ein „Interessenverband“ hat auch Interessen – und sei es nur mehr Lesbarkeit / Abverkaufsware fürs Weihnachtsgeschäft.
@Wolfgang B.
Ja, etliche Kritik an den Kritikern würde ich auch berechtigt finden – aber hier ist anscheinend das „unterstützte“ Medium nicht nur die Botschaft, sondern auch gleich die Überwucherung, zumindest als die Erweiterung des Werks.
Für sobooks habe ich eigentlich Sympathien, weil die versuchen es anders als Amazon und Tolino et. al. zu machen, und vielleicht tatsächlich an der Erweiterung einer qualifizierten Gemeinsamkeit arbeiten. Und die nicht offen gelegte Verbandelung der Medien und ihre Erweiterung mit Werken und der Außenwelt ist anscheinend wiederum längst Trend.
Diese Mitmach-Idee ist ja eigentlich uralt (Schreiben Sie uns: Leserbriefe), nur bringt sie dann eben auch viel Unerwünschtes. Und dagegen muss man dann Formen finden, die auch wieder Begrenzungen erlauben. „Lesesaal“ machte mich spontan neugierig – aber Erpenbeck dann doch wieder eher nicht.
Ich muss mich ein klein wenig korrigieren, denn es steht dort tatsächlich »ermöglicht durch Suhrkamp« (statt »unterstützt«), was aber mE keinen Unterschied macht, dass es nämlich letztlich Marketing/Werbung ist, wofür von Suhrkamp (auch) Geld an sobooks geflossen sein dürfte. Klar, die Autoren/innen werden wohl nicht für ihre Beiträge auf der Webseite und für ihre Kommentare/Notizen beim social reading im e‑book selber (Himmel...) entlohnt (obwohl, wer weiss, zumindest Lobo profitiert ja indirekt schon davon), dennoch werden sie qua Teilnahme zum Gegenstand der Suhrkampvermarktungstrategie für das Buch. Außerdem spricht man ganz offen u.a. von »Multiplikatoren«, die über das Buch »berichten« (s. FAQ auf der Seite von frau-und-gitarre.de; dass sich ‑für den seriösen Anstrich des Experiments- ein paar Literaturwissenschaftler in ihrer universitären Arbeitszeit zu dem Buch auch noch Gedanken machen und dort einstellen und damit die Verkaufe ankurbeln, würde ich natürlich nie behaupten). Also, das ist in seiner Gesamtheit schon auf pure Vermarktung hin ausgerichtet. Genauso übrigens wie der Account twitter.com/1000seitensetz, dessen Autorin, nehme ich an, ebenfalls von Suhrkamp gesponsert wird (kann mich aber täuschen, man möge mich korrigieren). Und der »arme Setz« lässt das alles geschehen, er wird ja nicht dazu gezwungen.
Ich kann mit der Euphorie um das sogenannte »Social Reading« wenig anfangen. Mir geht es ähnlich wie @en-passant. Lesen ist ein einsamer, intimer Akt, der Kontemplation und Aufmerksamkeit verlangt. Komme ich nicht zurecht, suche ich zunächst einmal bei mi selber, das Problem zu lösen.
Den Gangbang-Vergleich von @Doktor D finde ich gut. Diesen Gedanken weiterführend könnte man diese öffentlichen Leseräume als literarische Swingerclubs bezeichnen. Das mag für einige einen gewissen Reiz haben, aber ich bevorzuge eindeutig das Séparée.
Ob die Teilnehmer bei frau-und-gitarre.de bezahlt werden, wage ich zu bezweifeln. Sie haben sicherlich ein Leseexemplar erhalten und zugesagt, irgendwann mal was Gescheites darüber zu schreiben. Dass sich Mangold, Moritz oder Kastberger hinsetzen und Kapitel für Kapitel ihre (vermutlich längst beendete) Lektüre Revue passieren lassen, halte ich für Wunschdenken. Einige andere ziehen es denn auch vor gelegentliche Kurzeindrücke zu twittern.
Wie gut sobooks bzw. deren Protagonisten vernetzt ist, zeigt sich am FAZ-Lesesaal mit Erpenbeck. Der einstige »Reading-Room« (die Kontroverse um den Anglizismus war das mit Abstand interessanteste, was es dort bisher zu lesen gab) wird wieder aus der Versenkung geholt. Es begann mal mit Littells »Wohlgesinnten«. Später dann u. a. ein Sachbuch von Jutta Limbach und Martin Walser. Was bei diesen Diskussionen herausgekommen ist, weiss ich nicht. Bei Littell wurde ich zwar neugierig – aber die Hinweise an sich waren doch eher dünn. Kommentare wurden von FAZ-Seite damals straff zensiert.
In Erinnerung ist mir noch das SR zu »Unendlicher Spass«. Immerhin existiert die Webseite noch und man kann nachschlagen, wie das Interesse sukzessive erkaltete.
Vernetzt? Der Lesesaal ist ja ein gemeinsames Projekt von FAZ und sobooks und sollte schon vor einem Jahr an den Start gehen http://verlag.faz.net/unternehmen/presse/frankfurter-allgemeine-zeitung-eroeffnet-digitalen-lesesaal-auf-faz-net-13198539.html Es gab da wohl aber noch technische Probleme, die es zu beheben galt.
Naja, 2008f ging es auch ohne sobooks. Der Lesesaal war damals sowas wie ein Fortsetzungsroman, dessen einzelne Abschnitte kommentiert werden konnten.
Genau – das ist ja der Charme des Lesens, dass man es alleine tut. Was für mich gleichzeitig nicht ausschließt, mich mit anderen – auch auf Facebook – über das Gelesene auszutauschen. Oder einen Blogbeitrag zum Buch oder Autor zu lesen. Aber als Anreiz, überhaupt erst ein Buch zu lesen? Das funktioniert bei mir gar nicht oder führt bei großen Hypes eher zur Verweigerung.
Zu Setz konkret: In keiner der von mir frequentierten drei Stuttgarter Buchhandlungen liegt der Setz auf – und die sind gut sortiert, sehr literatur-orientiert und werden von sehr belesenen, engagierten BuchhändlerInnen betrieben. Und wenn die ihn nicht puschen, wird’s schwer. Da versucht man evtl. mit Social Reading die fehlende Real World Mundpropaganda auszugleichen.
Die Frage ist ja auch, ob Setz überhaupt ein »massenkompatibler« Schriftsteller ist. Das soll nicht negativ gemeint sein (die meisten exzellenten Schriftsteller sind eher ungelesen; sie und ihre Werke existieren mehr als Mythen denn als Lese-Sub- bzw. Objekte), aber selbst Menschen, die gerne und viel lesen werden durch derart üppige Seitenzahlen eher abgeschreckt. Sie haben oft genug weder Zeit noch Lust, sich in einen hyperkomplexen Lesekosmos einzuarbeiten. Hier könnte vielleicht das Social Reading helfen. Aber dafür ist das Konzept der Seite nicht ausgelegt.
Und wenn @Wolfgang B. beim »Literarischen Quartett« von »Rentnerpublikum« spricht, so ist das ja nur auf den ersten Blick pejorativ. Tatsächlich sprechen solche Sendungen eher den Leser an, der vielleicht zwei oder drei belletristische Bücher im Jahr liest. Da ist ein 1000-Seiten-Schinken schon eine Zumutung. Hinzu kommt, dass man im Bekannten- und Freundeskreis Gleichgesinnte sucht, mit denen man sich über seine Lektüren ein bisschen unterhalten kann. Da ist ein Setz natürlich ein Exot. Die Frage ist nun, ob das Netz mit den Hoch- und Höchstbegabten soviel mehr hergibt...
Schade, dass der alte Lesesaal nicht mehr aufrufbar ist, ich würde da gerne noch mal hineinschauen. Mir fällt nämlich gerade anhand des Bildschirmfotos https://www.begleitschreiben.net/wp-content/uploads/2008/05/faz-reading-room-zu-die-wohlgesinnten.jpg auf, wie hübsch das damals gestaltet war, ganz anders als heute, wo man das unter blogs.faz.net rubriziert, der eigentliche Lesevorgang findet ja dann auch bei sobooks und nicht mehr bei der FAZ statt.
Ich habe in meinem Beitrag einige Links mit der Wayback-Machine erneuert. (Ich habe zwar ein Tool, dass mir »defekte« bzw., tote Links anzeigt, aber die FAZ belegt die toten Links einfach mit ihrer Homepage-URL und dann wird das natürlich nicht als fehlerhaft erkennt.) Aber vieles geht da verloren. Die Seite erinnerte ein bisschen an einen Lese-Salon. 2008 wurde sie nominiert zum Grimme Online Award.
Dass der Lesevorgang bei sobooks stattfindet und die FAZ dieses Unternehmen damit sponsert, ist interessant.
Vielen Dank für die zugänglichen Links! Gar kein Vergleich zu heute, würde ich sagen, interessant jedenfalls, wieviel Mühe man sich allein schon mit der Gestaltung der Seite gegeben hat. (Andererseits will man natürlich _im_ Buch keine Ablenkung haben, daher erscheint die eigentliche, sozusagen aufgeschlagene Buchseite bei sobooks heute auch eher dröge im Vergleich zum alten Lesesaal, insofern also ein ein bisschen unfairer Vergleich.)
Der m. E. entscheidende Unterschied ist, dass das Erpenbeck-Buch in Gänze vorliegt und je nach Gusto gelesen werden kann, während damals nur die jeweiligen Kapitel freigegeben wurde; das Buch selber gab es entweder nicht oder erst sehr viel später.
Heute ist in der gedruckten FAZ auf S. 11 ein Artikel von Michael Hanfeld erschienen, der sich mit der bereits am Mittwoch aufgezeichneten Neuauflage des Literarischen Quartetts im ZDF befasst, woraus ich mal den vorletzten Absatz zitieren möchte, den ich ganz aufschlussreich finde (vorher stellt er weitgehend den Sendungsablauf dar, im Prinzip müsste man sich die Sendung gar nicht mehr anschauen, es steht bereits alles Wesentliche drin):
»Ist das nicht fast wie in alten Zeiten? Fast. Denn die Zeiten haben sich geändert, heute treten Literaturkritiker gegen Empfehlungsheerscharen aus dem Internet an. Zudem sind hier vier am Werk – nebenbei: die drei von der Stammbesetzung publizieren allesamt beim Verlag Kiepenheuer & Witsch –, die wissen, was von ihnen erwartet wird, und nicht aus den ihnen zugedachten Rollen ausbrechen. Sind am Ende alle Fragen offen? Sie sind es. Denn zu den besprochenen Büchern, die Tage im Voraus bekanntgegeben werden und mit denen sich Verlage und Buchhandlungen bevorratet haben, hören wir ebenso viel Vernichtendes wie Lobendes. Wessen Urteil soll man als Leser trauen, welches der Bücher kaufen und lesen? Dazu gibt das „Literarische Quartett“ noch keinen begründeten Anstoß, die Erstausgabe wirkt wie ein Nullsummenspiel.«
Die Sache mit den Kiwiautoren ist zwar interessant, dass er das so schreibt, aber noch interessanter finde ich den Begriff ‘Empfehlungsheerscharen aus dem Internet’. Einerseits schwingt da eine gewisse, bzw. die übliche zeitungsfeuilletonistische pauschale Verachtung gegenüber allem aus dem Internet mit, andererseits aber auch die Furcht, die Deutungshoheit (der TV-Literaturkritiker, der FAZ usw.) in Sachen Literaturkritik (Buchempfehlung) nicht mehr richtig im Griff zu haben und auch nicht mehr zu bekommen. Es fällt auf, dass man das jemanden wie Hanfeld, der ja sonst eher Medienartikel verfasst (eine TV-Sendung fällt zwar in sein Ressort, der Text steht aber auf der ersten Feuilletonseite), so schreiben lässt. Auch bemerkenswert, dass er offenbar die literaturkritischen Kriterien von Weidermann und Co. unter die Lupe nimmt und die Praxis der Vorabveröffentlichung der Bücherliste bemängelt.
Ebenfalls zum Thema Literarisches Quartett hat heute faz.net ein anscheinend irgendwie lustig gemeintes Kartenspiel für die Leser in petto http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/autoren/das-einzig-wahre-literarische-quartett-13833671.html, wozu mir eigentlich nichts mehr einfällt, denn da treten Schriftsteller mit Eigenschaften gegeneinander an wie bei einem PS-Quarttet mit Autos. Es gibt einen sogenannten ‘Verschrobenheitsfaktor’ (was auch immer das sein soll und wie immer der ermittelt wird), Charlotte Roche bspw. hat einen VS-Faktor von 9,1 gegenüber Rolf Lappert mit 0,3, aha! Es gibt noch Seitenzahlen, Anzahl der Romane etc. Man soll das anscheinend mit einem Augenzwinkern betrachten, aber im Prinzip ist das nichts anderes als Klickfang/Klickstrecke zwecks Werbeförderung der Anzeigen. Können sie machen, halte ich aber ganz besonders in diesem speziellen Fall für ziemlich unterirdisch.
Danke für den Hinweis. Den Artikel von Hanfeld hab ich mir dann für 45 cent bei Blendle mal gegönnt. Die Erkenntnisse sind ja durchaus übersichtlich. Das Quartett sei ein »Rollenspiel« steht da, als sei es das bei MRR nicht gewesen. Wenn er fragt, wem der Zuschauer vertrauen soll zeigt er (unbewusst) in die Medienmechanismen eines solchen Theaters auf:. Das »alte« Quartett lebte von der Dominanz von MRR, die nur in Nuancen von den anderen Teilnehmern befragt wurde (jemand, der dies aggressiv tat, Jochen Busche, war schnell weg). Karasek war side-kick, Löffler sollte die Rolle der charmanten Querulantin mit Schmäh übernehmen. Das »Vertrauen« des Publikums galt MRR. Empfahl er ein Buch, wurde es ein Bestseller. Empfahl Frau Löffler eines und MRR blieb milde, gab es kaum Effekte. Es ist fraglich, ob Weidermann oder Biller solche Vertrauensboni irgendwann werden vorweisen können. Meine Prognose geht dahin, dass die Sendung in dieser Konstellation nicht lange existieren wird.
Das Quartettspiel habe ich auch gesehen. Lächerlich. Und die FAZ schimpft auf die teuflischen Heerscharen von Buchempfehlern...
(Als ich auf einen Tweet über die Vergabe des Raabe-Preises an Clemens Setz im Überschwang meiner Gefühle schrieb, dass das Jammern der Kritiker jetzt erfolgreich gewesen war, wurde dies als »erbärmlich« bezeichnet. Dabei war es nach Winkels’ Einsatz im DLF für Setz’ Buch nur allzu logisch, dass der Raabe-Preis an den Österreicher ging. Schließlich ist Winkels hier in der Jury und sicherlich nicht ohne Einfluss. Aber solche Verstrickungen und Verwirbelungen auch nur zu erwähnen gilt schon als majestätsbeleidigend, als greife man damit den Schriftsteller Setz selber an.)
Der Raabe-Preis wird vom DLF gesponsert, Winkels ist Literaturchef vom DLF. Das nennt man dann wohl geschlossene Verwertungskette.
Winkels gab eben in der Sendung Kulturzeit auf 3sat zu Protokoll, dass die Jury des Deutschen Buchpreises »großartig« sei. Eine »großartige« Preisvergabe der Jury, also sei auch die Jury großartig. Was für eine Kehrtwende nach seiner herben Kritik (»Mischung ganz, ganz unglücklich«) im Deutschlandfunk vor einigen Wochen.
Ja, das ist mir auch aufgefallen. Was für ein widerlicher Opportunismus.
(Von umwerfender Sachkenntnis zeugte auch die Bemerkung der Moderatorin, dass die Jury ja dieses Jahr neu gewesen sei. Ist ist jedes Jahr neu.)
Vielleicht zeigt sich die Marginalisierung des Funktionssystems “Literatur” eben am besten in ihren Begleitumständen? Es überdauert die Konvention, sie abzuhandeln, aber eigentlich kommt schon gar nicht mehr so drauf an …
(Immerhin: Ich hatte mich vorher für das Buch nicht interessiert – ich war nicht neugierig: ICH war der Ignorant -, und jetzt würde ich es, wegen all dem, was ich nun drüber erfahren habe, vielleicht doch gerne lesen.)
Ja, das ist ja der Zweck des Preises: Interesse schaffen. Aber ist man ein Ignorant, nur weil man das Buch vorher dann doch nicht lesen wollte? Nein. Aber es gibt natürlich einen Herdentrieb, oder, besser, einen Sog, der einem jetzt sozusagen einen Ruck gibt.
Letzte Woche stand ich vor der Entscheidung: Zuerst Peltzer oder Witzel? Und entschied mich für den Peltzer (der mir sehr gut gefallen hat). Und dann: Vielleicht doch nicht den Witzel (der sehr sperrig daherkommt). Aber jetzt...
Der Nachteil: Die anderen Short- und Longlist-Aspiranten (das merkt man auf Twitter und Facebook) werden jetzt wie Müll kommentiert. Sie sind sozusagen aus dem Gedächtnis der Saison »entsorgt«. Nächste Chance nur noch die Taschenbuchausgabe. Ereignisse wie der Buchpreis tragen zur Beschleunigung des Betriebs bei.
Deshalb gibt es am Montag erst einmal eine Besprechung zum Setz, den ich dann doch gelesen habe. Er ist ja nach der Nicht-Nominierung in den Online-Feuilletons wie eine heiße Kartoffel fallengelassen worden; auch das Social Reading quält sich. Das Buch hat anscheinend an sex-appeal verloren; die Karawane zieht weiter.
Eine Nebenbemerkung bei Winkels gestern: Er habe nicht gedacht, dass das Buch (Witzel) eine Chance hat, weil es ein Frühjahrsbuch war. Man erinnere sich: Mindestens ein Drittel der Longlist-Aspiranten waren zur Zeit der Longlist-Veröffentlichung noch gar nicht offiziell erschienen. Witzels Buch erschien im Februar; war also nach den »Gesetzen« des Marktes eigentlich schon »veraltet«.
Interessant der Schwenk des Feuilletons jetzt plötzlich Witzels Buch als sprachmächtig und provokativ darzustellen. Vor vier Wochen war das noch der Setz. (Aber, so viel sei »verraten«: der war’s eben nicht.)
Na, da fällt mir doch sofort eine weitere Funktion der (besseren) Literaturkritik ein: Sie erspart es einem, die Bücher der Saison selber zu lesen … und man liest die, auf die man sich wirklich freut. Wenn man dann allerdings merkt, dass man sich – etwa entsprechend den von Ihnen erwähnten Pirouetten bei Winkels – eigentlich auf gar nichts mehr verlassen kann … (Und die durchlauferhitzenden TV-Moderatoren waren ja eigentlich noch nie gute Zeugen oder Kenner für etwas.)
Die Frage bleibt aber sowieso, ob man der Beschleunigung und Fokussierung nachgibt, oder man nicht unwillkürlich selber, mit ja einem Interesse am „Betrieb“, ein Teil von ihr wird / ist. Auch das ist bei mir selber uneindeutig. Peltzer wollte ich wieder lesen (wegen ein, zwei Besprechungen, nicht wegen dem, was ich von ihm kenne – „Bryant Park“, das damals so gut besprochen wurde, hatte mich komplett kalt gelassen). Von Witzel wusste ich kaum etwas, und ich mag (seit Bolanos „2666“, das mir über lange Strecken doch auch in seiner Ausführlichkeit gerechtfertig schien, und dann extrem einbrach) keine 800 Seiten-Bücher mehr – aber das ist natürlich auch nur so ein, mein Reflex.
Und unterliege ich womöglich noch mehr Reflexen – jetzt auch in Bezug auf Setz? Ich meine damit, dass man die verschiedenen Wendungen und Kehren außen oft leicht mitmacht, teils aus nicht mal bewussten Gründen?
Als PS
Neulich, beim Nachlesen einer alten Besprechung von Klaus Modick zu einem Botho Strauß-Buch (es war die „Alice“ in „Literaturen“), erwähnte er eine Auffassung der Spätromantik, die erst in der Kritik die Vollendung des Werks sah. (Ich zitiere aus dem Gedächtnis, aber ich glaube, es ist ziemlich wörtlich: Ich war auch ein bisschen verblüfft: Haha!)
Dass die Kritik erst das Werk vollende wurde tatsächlich mal geglaubt. Aber da gab es eben noch anderes Personal. (Wirklich? Oder hatte das damit zu tun, das Kritiker auch Autoren waren?) Und die Standfestigkeit der Urteile der aktuellen Protagonisten sind ja derart kurzen Zyklen unterworfen, dass man schon mehr Sekundärtexte lesen muss als einem lieb sein kann.
Letzte Woche stand ich vor der Entscheidung: Zuerst Peltzer oder Witzel? Und entschied mich für den Peltzer (der mir sehr gut gefallen hat). Und dann: Vielleicht doch nicht den Witzel (der sehr sperrig daherkommt). Aber jetzt…
Letzte Tage stand ich vor der Entscheidung: Zuerst Setz oder Witzel? Und entschied mich für den Setz. Den Peltzer hatte ich schon voher gelesen. Der Buchpreis scheint, obwohl ich nicht sehr feuilleton-affin bin, dann doch zu funktionieren. Ich bin sehr gespannt auf Ihre Sicht auf Natalie (gerade ca. auf Seite 350). Den Witzel werden ich dann wohl auch noch lesen.
Kritik der Bücher in Kurzform, noch kürzer als Scheck:
Setz:
Idiosynkrasie-Poetry-Slam
Peltzer:
Literatur und zwar verdammt gute. Mit einer wirklich schönen Liebesgeschichte. Unglaublich.
Beim Peltzer fand ich gerade die Liebesgeschichte...naja... (liegt vielleicht an mir).
Dass der Buchpreis »funktioniert« – also uns hier zum Kaufen und dann auch Lesen der Bücher inspiriert –, spricht ja eigentlich für ihn. Abgestossen bin ich von Hassle, der immer drum gemacht wird, als würde hier eine Art Literaturnobelpreis für die Ewigkeit vergeben. Es muss immer die Neuerfindung des Romans mal mindestens, wenn nicht gar der Literatur sein. Und wenn einem die Long- und Shortlist oder der Preisträger nicht gefällt als Großkritiker, ist es dann immer die idiotischste Auswahl die jemals zusammengestellt wurde, von kaum alphabetisierten Barbaren, nämlich Buchhändlerinnen. Und das die nix von Literatur verstehen, ist ja eh klar.
Jedes Jahr zum Buchpreis erneuert das Hochfeuilleton (so nannte das einer der Redner während der Verleihung) seine Bankrott-Erklärung.
Interessant ist, dass die (angeblich) elfköpfige »Akademie Deutscher Buchpreis«, die die Jury bestimmt, nirgendwo namentlich erwähnt ist.Im Wikipedia-Artikel hört es 2008 auf. [Damals war unter anderen auch Winkels in der ‘Akademie’ und die Jurorenwelt für ihn noch in Ordnung: Rainer Moritz (Jurysprecher), Christoph Bartmann (Leiter der Abteilung Kultur und Information des Goethe-Instituts), Martin Ebel (Kulturredakteur des Tages-Anzeigers, Zürich), Meike Feßmann (freie Kritikerin), Jens Jessen (Feuilletonchef der ZEIT), Manfred Keiper (Inhaber andere buchhandlung, Rostock) und Michael Schmitt (Redakteur Kulturzeit, 3sat).]Danach bleiben die Jurybestimmer schlichtweg im Dunklen.Sind das nicht die hier: http://www.deutscher-buchpreis.de/der-preis/ ?
Ah ja, vielen Dank. (So blöd muss man erst einmal sein, die nicht zu finden.)
Jetzt ahnt man natürlich, warum da so wenig »Großkritiker« in der Jury berufen werden. Zum einen waren die (fast) alle schon mal da. Und zum anderen scheint das gar nicht gewollt zu sein.
Das mit dem Verkaufen klappt übrigens gerade nicht so gut, denn das Buch von Witzel ist derzeit ausverkauft. Meine Buchhandlung ist gerade nicht so begeistert, denn dass man ein halbes Jahr nach Wagners Regentonnenvariationen wieder einen derartigen Lieferengpass erlebe, hätte man dort auch nicht gedacht. Vor Ende nächster bzw. Anfang übernächster Woche kriege der Verlag den Nachdruck nicht in die Buchhandlungen, zudem die Filialisten der großen Ketten erfahrungsgemäß bevorzugt beliefert würden.
Als das Buch den Buchpreis gewonnen hatte, war die Lieferfrist bei Amazon »1 – 3 Wochen«. Derzeit 9–13 Tage. Das Problem: Was soll der Verlag machen? Den 800-Seiten-Schinken auf Vorrat drucken und dann darauf sitzenbleiben? Macht man nicht. Also muss der Kunde leiden. Aber der – das kenne ich aus meiner Praxis – ist wie ein scheues Reh: ganz schnell weg...
(Der Onlineanbieter aus Japan – 2–4 Wochen Lieferzeit und 50,75 Euro + 3 Euro für das 29,90 Euro-Buch – ist auch keine Alternative.)
Wenn ich das richtig verstanden habe, war die Vorauflage vor 2 Wochen auch schon ausverkauft, ich würde vermuten, dass die Shortlist da ausschlaggebend war. Daher hätte ich jetzt gedacht, dass der Verlag die nächste Auflage mit zumindest mit etwas höheren Stückzahlen druckt, wenn er sowieso schon dabei ist, auch wenn das zum Stichtag Buchpreis natürlich risikobehaftet ist.
Steile These meinerseits: Hätte das Buch nicht den Preis gewonnen, hätte davon ab Dienstag kein Mensch mehr gesprochen. Daher hatte der Verlag wohl die sichere Version gewählt.
Ich war gerade in der größten Stuttgarter Buchhandlung, als der Preisträger verkündet wurde. Eine Buchhändlerin räumte flugs die Buchpreis-Shortlist-Präsentation ab, holte eine kleine Palette Witzels (ca. 30) aus dem Lager und baute sie auf. Ich: »Oh, der Witzel ist’s geworden? Das ist ja überraschend. Das freut mich.« Sie: »Ja, toll, nicht?! Hier freuen sich auch alle.« Ich: »Haben Sie die Bände dann einfach auf Verdacht aufs Lager genommen?« Sie: »Wir hatten die komplette Shortlist auf Lager – aber von einigen halt etwas mehr. Aber der Witzel, das war unsere Wild Card, weil den viele hier schon gelesen haben und toll finden. Und die Erpenbeck braucht eh keinen Preis, das läuft ja praktisch von selbst.« Und dann gab’s einen kleinen Umtrunk auf den Gewinner mit den paar Kunden, die sich noch in der Buchhandlung rumtrieben. Ich hab’ dann Joseph Roths Radetzkymarsch erworben, den Witzel schenkt mir bestimmt jemand zu Weihnachten ;).
Eine hübsche, fast schon anrührend aus der Zeit gefallene Begebenheit und mit dem Radetzkymarsch haben Sie die allerbeste Wahl getroffen. Steht sogar auf der Shortlist zum Buchpreis des Jahrhunderts. Geniessen Sie jede Seite.
Ja, ich bin schon ganz versunken. Der erste Trotta ist mir schon sehr ans Herz gewachsen.
Danach vielleicht mit »Hotel Savoy« und »Die Kapuzinergruft« weitermachen. Die kommenden Winterabende sind bestimmt auch lang genug für »Zipper und sein Vater«...
Joseph Roth ist großartig, ich habe alle seine Romane (und noch einiges mehr von ihm) auf meinem Kindle immer am Mann, um spontaner Lust auf erneute Lektüre sofort nachgehen zu können. Unglaublich, was uns dieser begnadete und getriebene Workaholic alles hinterlassen hat.
Und in der Gruft kann man dann noch glatt mir begegnen. Aber jetzt komme ich wirklich ins plaudern.
Und so schließt sich dieser Thread in die richtige Richtung: von der Kritik an der Literaturkritik zum wirklich wichtigen – zur Literatur.