Phil­ipp Tin­gler: Schö­ne See­len

Philipp Tingler: Schöne Seelen

Phil­ipp Tin­gler: Schö­ne See­len

Man könn­te es ei­ne Screw­ball-Ko­mö­die nen­nen – dann hät­te man vom Wasch­zet­tel ab­ge­schrie­ben. Viel­leicht auch Ge­sell­schafts­ro­man. Ei­ne Mi­schung aus Bou­le­vard, Lust­spiel, Woo­dy Al­lens 80er Jah­re Ko­mö­di­en und Mar­tin Mo­se­bachs »Blutbuchenfest«-Herrlichkeit. Phil­ipp Tin­glers »Schö­ne See­len« spielt in der be­sten al­ler mög­li­chen Ge­sell­schaf­ten in Zü­rich. Der Ti­tel ist so ab­sichts­voll wie tref­fend, ins­be­son­de­re wenn man nicht Schil­ler oder Kleist als Kron­zeu­gen son­dern He­gels Ver­dikt der schö­nen See­le her­an­zieht, ein Menschen­schlag »zur Ver­rückt­heit zer­rüt­tet« und in »sehn­süchtiger Schwind­sucht« zer­flie­ßend nur noch ei­ne »geist­lo­se Ein­heit des Seins« her­vor­brin­gend.

Zu­nächst stirbt Mill­vina Van Runk­le, ei­ne pe­ku­ni­är wie al­ters­mä­ßig un­schätz­ba­re Ma­tro­ne des ge­pfleg­ten Nichts­tuns, de­ren (vor)letzte Wor­te »We­nig­stens ster­be ich reich« sind. Auf der Be­er­di­gung lernt der Le­ser durch den als Im­pre­sa­rio ge­tarn­ten Er­zäh­ler die­se Par­al­lel­welt­be­woh­ner, die ih­re Stam­mes­zu­ge­hö­rig­keit im Küs­sen der Luft über die Wan­gen­kno­chen des an­de­ren zei­gen, ge­nau­er ken­nen. Sie le­ben in stän­di­ger Furcht nicht da­zu­zu­ge­hö­ren, be­son­ders wenn ihr Ver­mö­gen nicht al­tes Geld ist, son­dern Neu­reich­tum ent­springt (was ver­pönt aber im­mer­hin ge­dul­det ist). Sei­ten­ein­stieg ist mög­lich, wie man bei Ro­nal­do Ri­vie­ra sieht, ein an­ge­sag­ter De­ko­ra­teur, der ei­gent­lich Thor­sten Misch­witz­ky heißt und aus Wup­per­tal kommt. Sei­ne Auf­ent­halts­dau­er dürf­te je­doch be­grenzt sein; wie die vom einst ge­fei­er­ten In­nen­ar­chi­tek­ten, der sich je­doch man­gels wei­te­rer Auf­trä­ge ir­gend­wann selbst ent­leib­te aber mit sei­nen fa­mo­sen Ob­jek­ten im­mer­hin ab und zu noch ei­ne weh­mü­ti­ge Er­in­ne­rung er­zeugt.

Es sind Cha­rak­te­re, die, um kei­ne ei­ge­ne Mei­nung ha­ben zu müs­sen, fast al­le die Vor­ur­tei­le und Mei­nun­gen ih­rer Mi­lieus eben­so ge­mäch­lich an­neh­men wie sie ihr Ge­wis­sen der je­wei­li­gen ge­sell­schaft­li­chen La­ge an­pas­sen. Die­se Form der Charakter­losigkeit wird eu­phe­mi­stisch zur poetische[n] In­dif­fe­renz ver­klärt. Die co­dier­ten Kon­ver­sa­tio­nen mit ih­rer zur Tu­gend er­ho­be­nen Ober­fläch­lich­keit liest man an­fangs durch­aus mit Ver­gnü­gen. Die Da­men ha­ben aus­nahms­los Fin­ger­nä­gel in dschun­gel­rot (was von je­der weib­li­chen Per­son si­cher­heits­hal­ber noch ein­mal ein­zeln be­glau­bigt wird) und wün­schen, dass ih­re Klei­der nach Jah­res­zeit und nicht nach Far­be sor­tiert wer­den. Die Her­ren ver­wen­den No­tiz­bü­cher von Smyth­son, schrei­ben Be­mer­kun­gen auf Le­gal Pads mit Gold-Ku­gel­schrei­bern von Car­tier, lun­chen ge­gen 14 Uhr und trin­ken Prin­ce-of-Wales-Cock­tails, die un­be­dingt von de­vo­ten Kell­nern ser­viert wer­den müs­sen. Man über­legt, wo­hin die Ein­la­dung zum Din­ner, auf dem man grund­sätz­lich nichts mehr isst, führt und fliegt na­tür­lich First Class (und stellt bei Eis­was­ser und Cracker im Ea­mes-Ses­sel der VIP-Lounge fest, dass die­ser plu­to­kra­ti­sche Rück­zug in ei­ne Bla­se auch nicht mehr das ist, was er mal war).

So aus­ufernd das Per­so­nal­ta­bleau mit den zu­wei­len spre­chen­den Na­men auch ist, das Buch könn­te trotz­dem als Kam­mer­spiel in­sze­niert wer­den. Da ist Os­kar Ca­now, ein Schrift­stel­ler, Tin­gler-Le­sern schon aus »Dok­tor Phil« be­kannt, der je­doch hier auf ein an­de­res Per­so­nal der Zür­cher Ge­sell­schaft trifft. Er ist ver­hei­ra­tet mit Lau­ren, ei­ner per­ma­nent deng­lisch plap­pern­den Frau. Os­kars Freund ist Vik­tor Ha­sen­cle­ver, der als er­folg­rei­cher Un­ter­neh­mer vor­ge­stellt wird, was sich al­ler­dings als ei­ne Achil­les­ver­se des Bu­ches her­aus­stellt, denn über sei­ne Qua­li­fi­ka­ti­on als Kauf­mann er­fährt man rein gar nichts. Sei­ne Frau Mild­red ist die Toch­ter der so­eben ver­stor­be­nen Mill­vina Van Runk­le, aber die­se hat­te Os­kar auf dem Ster­be­bett ein Ge­heim­nis an­ver­traut, denn Mild­red ist ad­op­tiert und nicht das leib­li­che Kind. Na­tür­lich bleibt es ein streng ge­hü­te­tes Ge­heim­nis – un­ge­fähr da­hin­ge­hend, dass es tat­säch­lich ir­gend­wann al­le ken­nen, au­ßer die­je­ni­ge, die es be­trifft.

Vik­tor hat ein­ge­bil­de­te oder tat­säch­li­che Ehe­pro­ble­me mit sei­ner Mild­red (so ge­nau wird man das nicht er­fah­ren), die ihm ei­ne The­ra­pie beim der­zeit an­ge­sag­ten The­ra­peu­ten Leo­nid Hock­städ­der (Pa­ti­en­ten hei­ßen hier Kli­en­ten – so viel Pie­tät muss sein) mehr als ans Herz legt. Vik­tor kommt nun auf die Idee, Os­kar sol­le nun so­zu­sa­gen stell­ver­tre­tend für ihn die The­ra­pie ma­chen, wäh­rend er sich zur glei­chen Zeit beim Lai­en­thea­ter ver­wirk­li­che. Os­kar wil­ligt schließ­lich ein, als ihm ein Mehr­wert an In­spi­ra­ti­on für sei­ne (stocken­de) Pro­sa­pro­duk­ti­on in die va­ge Aus­sicht ge­stellt wird.

Und so be­ginnt nun die­se Ca­mou­fla­ge, die Tin­glers Im­pre­sa­rio mit ge­nau dem iro­nisch-sar­ka­sti­schen Tim­bre er­zählt, der die Prot­ago­ni­sten nicht bloß­stellt oder gar dif­fa­miert, aber auch nicht ganz ernst nimmt. Über­ra­schend ent­wickelt Os­kar ei­ne wi­der­stän­di­sche Po­si­ti­on zum The­ra­peu­ten Hock­städ­der. Es ist ei­ne Art von Selbst­be­haup­tung ei­nes ei­gen­stän­di­gen Le­bens­sin­nes, viel­leicht weil es ja gar nicht um ihn sel­ber geht, son­dern um die The­ra­pie des Freun­des. Als dann um Os­kars El­tern und sei­ne Kind­heit zur Spra­che kommt, ge­rät das ver­ein­bar­te Kon­strukt zwi­schen den Freun­den ein we­nig ins Wan­ken. Ei­ne kur­ze Ab­senz des The­ra­peu­ten nutzt Os­kar schließ­lich, um des­sen Auf­zeich­nun­gen, die aus aus lo­sen Le­gal Pads be­stehen, zu le­sen. Er ist em­pört über die Zu­wei­sun­gen Hock­städ­ders und für ei­nen kur­zen Mo­ment droht die Fas­sa­de aus Hyalu­ron­säu­re und Gol­d­etuis ei­nen klei­nen Sprung zu be­kom­men. Aber da der The­ra­peut sel­ber ein Mit­spie­ler in dem Mi­lieu der Ner­ze und Nar­ko­ti­ka ist, bleibt al­les hübsch fol­gen­los.

Da man dies ahnt be­kommt der Show­down beim Din­ner, der sich ei­ni­ge Ta­ge spä­ter in Las Ve­gas fort­setzt, rein un­ter­hal­ten­den Cha­rak­ter. Es bleibt span­nungs­los, weil es buch­stäb­lich um nichts geht. Die Er­kennt­nis­se der Prot­ago­ni­sten ba­lan­cie­ren zwi­schen Le­bens­kunst und Ka­len­der­spruch, was sie im­mer­hin auch sel­ber ah­nen. Aber sie kön­nen und wol­len nicht an­ders und die Fest­stel­lung, es ge­be Men­schen, die le­ben und Men­schen, die ihr Le­ben füh­ren gilt schon als bes­se­res Bon­mot.

Wie die­se Ge­sell­schaft so al­so auch die­ses Buch, das je­den noch so klei­nen sich am Ho­ri­zont an­deu­ten­den Tief­gang im Bas­sin der Be­lang­lo­sig­kei­ten mit mehr oder we­ni­ger amü­san­ten Wort­kas­ka­den er­tränkt. Im wei­te­ren Ver­lauf der Lek­tü­re zeigt sich, dass der oben an­ge­spro­che­ne Ver­gleich mit Woo­dy Al­len un­zu­tref­fend ist, denn an des­sen Dop­pel­bö­dig­keit (aber auch zu­wei­len Har­mo­nie­sucht) kom­men Tin­glers Zür­cher Ge­schnet­zel­te in kei­nem Au­gen­blick her­an.

Bleibt al­so der Bou­le­vard. Der vor­lie­gen­de Text hat mit die­ser Thea­ter­form tat­säch­lich ei­ne gro­ße Ge­mein­sam­keit: Es ist die voll­kom­men ab­we­sen­de Se­xua­li­tät, die im Le­ben und bei den Ran­kü­nen der Post-Ro­ko­ko-Schicki­mickis kei­ne Rol­le (mehr?) zu spie­len scheint. Das er­spart dem Buch zwar je­ne pein­li­che Alt­her­ren­geil­heit vor der selbst ge­stan­de­ne Li­te­ra­ten nicht ge­feit sind, lässt aber das oh­ne­hin schon tri­ste Da­sein der Prot­ago­ni­sten noch freud­lo­ser (!) er­schei­nen. So sind die The­ra­peu­ten zwar gut aus­ge­la­stet, aber die mör­de­ri­sche »Rossini«-Frage bleibt nicht nur un­be­ant­wor­tet, sie stellt sich erst gar nicht. Die Ehen sind zer­rüt­tet, aber dann doch in Lie­be ge­bet­tet (bzw. das, was man da­für hält). So er­klärt sich auch Mild­reds Auf­re­gung über Vik­tors Lü­ge, als sie er­fährt, dass er Thea­ter spiel­te statt sich auf die Psy­cho­lo­gen-Couch zu le­gen: »Du be­trügst mich mit Spaß«. Un­ver­zeih­lich.

War­um soll­te man sich über­haupt den Tort an­tun, sich mit die­sen Fi­gu­ren zu be­schäf­ti­gen? Ei­ne mög­li­che Ant­wort: Das Buch wur­de vom im »Li­te­ra­tur­club« so scharf­zün­gi­gen wie row­dy­haf­ten Phil­ipp Tin­gler ge­schrie­ben und dem­entspre­chend er­war­tet man ein sprach­li­ches Feu­er­werk, das ei­nem den Dia­man­ten-Pro­vin­zia­lis­mus der Prot­ago­ni­sten weg­weht wie ein Sturm den Ne­bel. Be­son­ders zu Be­ginn ge­lingt es Tin­gler, den Le­ser in ei­ne Ba­lan­ce zwi­schen Ent­zücken, Gau­di­um und Mit­leid zu wie­gen. Aber als sich her­aus­stellt, dass Os­kars Über­nah­me von Vik­tors The­ra­pie­stun­den der ein­zi­ge Screw­ball sein wird, plät­schert der vor­her so em­pha­ti­sche Er­zähl­strom doch ein we­nig mü­de da­hin. Und so sind mehr als 300 Sei­ten für die­ses Büch­lein ein biss­chen viel »bla­bla­bla« – par­don: ya­da­ya­da­ya­da heisst es ja stil­echt in Zü­richs Krei­sen. Über­haupt wirkt der Er­zäh­ler im­mer dann ener­vie­rend, wenn er mit Pau­se oder Stil­le Regie­anweisungen gleich mit ver­fasst. Manch­mal war­tet man förm­lich noch auf ein »Os­kar ab«.

Ein klei­nes Fa­zit gibt’s dann doch noch: Je mehr wir be­dau­ern, wie wir nicht ge­lebt ha­ben – al­so je hö­her der An­teil un­ge­leb­ten Le­bens an un­se­rem Da­sein aus­fällt -, de­sto mehr fürch­ten wir den Tod. Das sagt der Schrift­stel­ler Os­car Ca­now mit sei­nem ein­ge­übt beteiligte(n) Ge­sicht ei­ne Art Da­vid Let­ter­mann-Kro­ko­dillä­cheln mit va­kan­tem Blick, ei­nen Aus­druck, den er oh­ne Mü­he für län­ge­re Zeit fest­hal­ten konn­te. Dass das Aper­çu nicht von ihm, son­dern von Hock­städ­der kam, spielt na­tür­lich kei­ne Rol­le, denn mit der der Zah­lung der The­ra­peu­ten-Rech­nung geht still­schwei­gend die Ur­he­ber­schaft an den Zah­len­den über. Ein Lä­cheln um­spielt am En­de Os­kars Ge­sicht. Auch der Le­ser lä­chelt. Er kann jetzt end­lich zu­rück ins Le­ben. Er­leich­te­rung.

Die kur­siv ge­druck­ten Pas­sa­gen sind Zi­ta­te aus dem be­spro­che­nen Buch.