Jörg Ma­ge­nau: Prin­ce­ton 66

Jörg Magenau: Princeton 66

Jörg Ma­ge­nau:
Prin­ce­ton 66

Wie­der so ein Jah­res­tag: Im April 2016 ist es 50 Jah­re her, dass die Grup­pe 47 in Prin­ce­ton zu­sam­men­traf. Die Ta­gung gilt ge­mein­hin als der An­fang vom En­de der Grup­pe, nicht zu­letzt durch Pe­ter Hand­kes State­ment von der »Be­schrei­bungs­im­po­tenz«, die er bei Au­toren wie Kri­tik glei­cher­ma­ßen kon­sta­tier­te. Ein Wut­aus­bruch mit wuch­ti­gen Vo­ka­beln, ein Auf­bäu­men ge­gen das sich ein­ge­rich­te­te Li­te­ra­tur­estab­lish­ment und de­ren Äs­the­tik. Aber was kann man grund­le­gend Neu­es von die­sem Tref­fen er­fah­ren? Ist nicht schon al­les ge­schrie­ben und ge­sagt?

Ja. Und Nein. Jörg Ma­ge­nau ge­lingt mit sei­nem Buch »Prin­ce­ton 66« das Kunst­stück, aus leid­lich be­kann­ten Quel­len ei­ne packen­de und kon­zi­se Zeit­rei­se zu kom­po­nie­ren, die so­wohl die Stim­mung der Ta­gung prä­zi­se re­kon­stru­iert, als auch hi­sto­ri­sche Ein­ord­nun­gen vor­nimmt. Da­bei geht er chro­no­lo­gisch vor, auch wenn es ge­le­gent­li­che zeit­ge­schicht­li­che Ein­schü­be gibt, die, wie sich zeigt, not­wen­dig sind.

Prak­tisch von der er­sten Sei­te an wird der Le­ser hin­ein­ge­saugt. Man spürt die Lust und die Akri­bie des Au­tors sich durch die Auf­zeich­nun­gen der ins­ge­samt 31 Le­sun­gen (nebst Dis­kus­sio­nen), die al­le­samt auf der Web­sei­te der Prin­ce­ton-Uni­ver­si­tät im Ori­gi­nal ge­spei­chert sind, durch­ge­hört zu ha­ben. So er­schei­nen ei­ni­ge die­ser 50 Jah­re al­ten Tex­te plötz­lich in er­staun­li­cher Fri­sche. Ma­ge­nau er­zählt bei­spiels­wei­se über das (eher stei­fe) Dra­ma von Wal­ter Jens, be­tont die Bri­sanz des ero­tisch-def­ti­gen Grass-Ge­dichts und be­gei­stert sich für die Mi­li­tär-Sa­ti­re »Fein­de« von Rein­hard Lettau, die die ge­sam­te Struk­tur des mi­li­tä­ri­schen Den­kens für im­mer ad ab­sur­dum füh­re. Man scheint förm­lich die Er­zäh­lung des grund­sym­pa­thi­schen Pe­ter Bich­sel, das müh­sa­me Le­sen von Hel­ga M. No­vak oder Hand­kes Haupt­satz­an­ein­an­der­rei­hung zu hö­ren. Ähn­li­ches mit den Re­ak­tio­nen der Kri­tik: Der gut ge­öl­te Joa­chim Kai­ser; Wal­ter Jens, dem Wort­zer­tei­ler aus Tü­bin­gen, der nach sei­nem Vor­trag ganz schnell wie­der die Rol­le des Kri­ti­kers über­nahm. Hans May­ers ge­schlif­fe­ne For­mu­lie­run­gen. Dann Mar­cel Reich-Ra­nicki, ein Grob­motoriker des Ur­tei­lens, stets für Hei­ter­keit und gu­te Lau­ne sor­gend, nicht zu­letzt weil er al­len Red­nern recht gab, um al­len zu wi­der­spre­chen. Und der jun­ge Hell­muth Ka­ra­sek, der sich Mü­he gab, im­mer ein we­nig klü­ger zu wir­ken als er war – wo­ge­gen nichts zu sa­gen wä­re, denn das trifft ja auf al­le zu, bei ihm merk­te man es aber. Wei­ter­le­sen

Rai­ner Ra­bow­ski: Mon­tag Ru­he­tag

Rainer Rabowski: Montag Ruhetag

Rai­ner Ra­bow­ski:
Mon­tag Ru­he­tag

Nach dem auch hap­tisch opu­len­ten Er­zäh­lungs- und Ge­dicht­band »Hal­te­stel­len«, der vorder­gründig vom Rei­sen und Un­ter­wegs-Sein (im wei­ten wie im na­hen) han­del­te, ist von Rai­ner Ra­bow­ski kürz­lich das de­zent-klei­ne Büch­lein »Mon­tag Ru­he­tag« er­schie­nen. Wenn man Pe­ter Hand­kes »Ver­such über den Stil­len Ort« als ei­ne Ge­schich­te über den ver­meint­li­chen Un-Ort Toi­let­te liest, der für den Er­zäh­ler im­mer wie­der eben auch zum »Asyl­ort« wur­de, so ist »Mon­tag Ru­he­tag«, die­ses Tri­pty­chon aus drei Ge­schich­ten, die zu ei­ner »Er­zäh­lung« zu­sam­men­ge­fasst wer­den, viel­leicht so et­was wie ein ‘Ver­such über den Fri­seur­la­den’; auch er zu­wei­len Asyl­ort, aber auch Fol­ter­stät­te.

Na­tür­lich fin­det sich auch in die­sem Buch der für Ra­bow­ski ty­pi­sche Sound des psy­cho­lo­gisch-re­fle­xi­ven Rea­lis­mus, dies­mal fast aus­schließ­lich ver­or­tet in Düs­sel­dorf (selbst in Thai­land er­in­nert er sich an ei­nen Düs­sel­dor­fer Fri­sier­sa­lon). Es ist aber deut­lich we­ni­ger ein Sich-Selbst-ins-Wort-Fal­len als sonst, was den Phä­no­me­nen mehr (Erzähl-)Raum gibt und den Le­ser mehr ins Nach­sin­nen ver­setzt. Et­wa wenn er von der Schmach und Ohn­macht er­zählt, als er als Kind auf den Fri­seur­stuhl muss­te (»Haare­schneiden ist ei­ne Ver­let­zung«). Oder der Le­bens­ab­schnitt, in der ei­nem die Fri­sur als Di­stink­ti­ons- oder son­sti­ges Merk­mal plötz­lich nicht mehr wich­tig war, ein Ak­zep­tie­ren »in der Welt des Aus­se­hens ein Au­ßen­sei­ter« zu sein und es trot­zig ge­nüg­te »gar kei­ne Fri­sur« ha­ben zu wol­len. Dann war der Fri­seur auf dem Flug­ha­fen ge­ra­de recht; so wur­de die War­te­zeit halb­wegs sinn­voll aus­ge­füllt. Wei­ter­le­sen

De­cre­scen­do

Ir­gend­wann En­de der 1980er nahm ich das Jah­re zu­vor ge­schenk­te Ex­em­plar von »Der Na­me der Ro­se« zur Hand. Best­sel­lern stand (und ste­he) ich im­mer skep­tisch ge­gen­über, aber es war ein stür­mi­scher und reg­ne­ri­scher Kar­frei­tag und ich be­merk­te in mir ei­nen Über­druss an der so­ge­nann­ten ho­hen Li­te­ra­tur, der da­zu führ­te, dass ich mir ei­ne Aus­zeit ver­ord­ne­te, so zäh wa­ren mir ei­ni­ge hoch­ge­lob­te Pro­sab­rocken vor­ge­kom­men. So be­gann ich mit der Lek­tü­re und bin­nen kur­zer Zeit war par­al­lel zur Zeit­rei­se ins 14. Jahr­hun­dert auch mei­ne Zeit­rei­se in die Kind­heit ge­star­tet wor­den. Wäh­rend des Fests der Ver­wandlung ver­wan­del­te ich mich eben­falls und stu­dier­te auf der im Buch ab­ge­druck­ten Kar­te der Ab­tei Bru­der Wil­liams We­ge wie ich als Kind Ste­ven­sons Kar­te der Schatz­in­sel mit den Um­ris­sen von In­seln im At­las ver­gli­chen hat­te. Ich konn­te nicht ein­schla­fen oh­ne die näch­sten 20 oder 30 Sei­ten ge­le­sen zu ha­ben, lag dann wie­der wach und las noch wei­te­re Sei­ten.

Hat­te ich mich vor­her wie in ei­nem im Schlamm stecken­ge­blie­be­nen Au­to ge­fühlt, so war »Der Na­me der Ro­se« der Trak­tor, der mich wie­der auf die Stra­ße setz­te. Ein Luxus­kreuzer hät­te das so nicht ge­schafft. Nein, ganz gro­ße Li­te­ra­tur war das nicht, aber es lö­ste bei mir ei­ne In­itia­ti­on aus. Um mir die­ses Ge­fühl zu kon­ser­vie­ren, ha­be ich das Buch nie mehr ge­le­sen. (Den Film hat­te ich nur aus dem Au­gen­win­kel als Ko­stüm­thea­ter wahr­ge­nom­men.)

Na­tür­lich war dann die Neu­gier auf »Das Fou­cault­sche Pen­del« 1989 groß. Und um­so grö­ßer die Ent­täu­schung über die­se wir­re Ge­schich­te, ei­nen »un­ver­dau­ten Ro­man­brei« (Wil­li Wink­ler) mit­samt dem fast ma­ni­schen Zur­schau­stel­len des Wis­sens des Au­tors; es gab so­gar ein Le­se­zei­chen, auf dem »Pass­wor­te« er­klärt wa­ren, da­mit der Le­ser nicht dau­ernd Le­xi­ka wäl­zen und/oder im An­mer­kungs­ap­pa­rat nach­schla­gen muss­te (es gab noch kein In­ter­net). »Ka­ba­la«, »Ro­sen­kreu­zer«, »Temp­ler« wur­den dort grif­fig er­klärt. Eco spiel­te mit den Be­grif­fen, knüpf­te Ana­lo­gien, ver­wob (oft un­ent­wirr­bar) Wirk­lich­keit mit Fik­ti­on. Auch spä­ter wa­ren Ecos Ro­ma­ne durch­drun­gen von ge­heim­nis­vol­len Ve­xier­spie­len, Ver­schwö­rung­theo­rien und de­ren Ent­deckun­gen, die dann wie­der neue ei­gen­ar­ti­ge Er­eig­nis­se zu Ta­ge führ­ten und lust­voll-or­na­men­tal kol­por­tiert wur­den. Eco war so et­was wie der Er­fin­der ei­ner neu­en, post­mo­der­nen Form der li­te­ra­ri­schen Do­ku-Fik­ti­on, die er mit My­stery-Ele­men­ten würz­te. Oh­ne Eco hät­ten Dan Brown et. al. nicht der­art re­üs­sie­ren kön­nen. Als sich Eco mit »Der Fried­hof von Prag« an die De­struk­ti­on der so­ge­nann­ten »Pro­to­kol­le der Wei­sen von Zi­on« her­an­wag­te, schei­ter­te er, weil er eben auch im­mer ein Stück der Fas­zi­na­ti­on der Ver­schwö­run­gen und ih­rer Wir­kungs­macht er­lag. Ecos Mi­schung aus Fik­ti­on und hi­sto­ri­scher Rea­li­tät stieß an ih­re äs­the­ti­schen Gren­zen.

Eco be­ton­te noch im letz­ten Jahr, dass er »Das Fou­cault­sche Pen­del« für sein be­stes Buch hält. Und ja, bei al­ler Kri­tik über die »Sto­ry« gibt es dort, gut ver­steckt, ei­nen klei­nen, wun­der­ba­ren Ne­ben­strang, der sich zu­nächst nur in klei­nen Er­wäh­nun­gen an­deu­tet und am Schluß, im vor­letz­ten Ka­pi­tel, dann an­hebt zu ei­ner klei­nen gro­ßen Er­zäh­lung. Es ist die Ge­schich­te des Hel­den des Bu­ches als Kind, der auf ei­ner Be­er­di­gung von zwei Par­ti­sa­nen En­de April 1945 fei­er­lich die Trom­pe­te zu spie­len hat und dem dies wi­der je­de Er­war­tung mit In­brunst ge­lingt und der die­sen Au­gen­blick ver­mut­lich als den schön­sten sei­nes Le­bens für im­mer in Er­in­ne­rung be­hal­ten wird: »Er set­ze ab, setz­te neu an und blies ei­nen ein­zi­gen ho­hen Ton, den er in ei­nem sanf­ten De­cre­scen­do ab­schwel­len ließ, um die Welt an die Me­lan­cho­lie zu ge­wöh­nen, die auf sie war­te­te«. Die Be­er­di­gung war zu En­de, die Trau­er­ge­sell­schaft zer­streu­te sich, die To­ten­grä­ber gin­gen, nach­dem sie die Gru­ben zu­ge­schüt­tet hat­ten. Dann erst ging der Jun­ge. »Er konn­te sich nicht los­rei­ßen von die­sem Ort des Glücks«.

Ir­gend­wann wer­den al­le los­ge­ris­sen, vom Ort ih­res Glücks. Wie jetzt Um­ber­to Eco mit 84. Wenn es in un­se­rer Zeit so et­was wie ei­nen Uni­ver­sal­ge­lehr­ten über­haupt noch ge­ben kann, dann war er ei­ner da­von.

Wei­ße Emi­nenz

Ein Ort wie – viel­leicht wie ein Gar­ten, der er­träum­te Gar­ten Can­di­des. Ein Gar­ten, ab­so­lut: Welt­gar­ten oh­ne Haus, zu dem er ge­hört. In der Wirk­lich­keit ei­ne auf den Erd­bo­den ge­stell­te, in die Wie­se bug­sier­te Con­tai­ner­hüt­te mit Ein­gangs­tür knapp über dem Bo­den, fast schwel­len­los, Fen­ster an zwei Wän­den, Rol­los, bü­ro­ar­tig: ein Land­bü­ro. Kli­ma­an­la­ge, Ent­lüf­tung, das ver­ti­ka­le Rohr und der Kreis, wo es – man oder nie­mand – ins In­ne­re geht, der Mo­tor mit Ven­ti­la­tor. Zwei groß­bauchi­ge Gas­fla­schen, ei­ne ro­stig, die an­de­re re­la­tiv neu, mit blau­er Auf­schrift. Bam­bus­wäld­chen, gel­be Stäm­me, ins Grü­ne spie­lend, oder um­ge­kehrt. Und dann die Wie­se, nicht ganz eben, leich­tes Auf und Ab, ge­schnit­ten, nicht ge­scho­ren, nicht ge­stampft, aber be­gan­gen (von?). Ein win­zi­ger jun­ger Fei­gen­baum, reicht mir bis an die Knie, drei grü­ne Fei­gen hän­gen an Äst­chen, grü­ne bläu­li­che Trop­fen, kaum grö­ßer als ein Dau­men­na­gel. Vor der Wie­se, zur Stra­ße hin, par­al­lel zum Bam­bus­hain, ei­ne Be­fe­sti­gung aus grau­en Stein­blöcken, von de­nen je­der ei­ne Ver­tie­fung in der Mit­te auf­weist, eben­falls von qua­dra­ti­scher Form, Wie­der­ho­lung der grö­ße­ren Form. Viel­leicht von der Fluß­ver­bau­ung ent­wen­det, ge­borgt? Be­har­ren als Recht­eck wie der Con­tai­ner, Stein­häuf­chen oh­ne Zweck, Grab­mal viel­leicht Er­in­ne­rung an Can­di­de, den Er­bau­er. Noch ein paar klei­ne­re, hel­le­re Bam­bus­bäu­me im Vor­der­grund. Zwei Pfäh­le und ei­ne Quer­stan­ge, zum Wä­sche­auf­hän­gen, wie­der ein Recht­eck. Und ei­ne ein­zeln ste­hen­de Lö­wen­zahn­blu­me, re­la­tiv hoch­ge­wach­sen, die Hälf­te der wei­ßen Spo­ren noch dran, der klei­ne kah­le, nicht so luf­ti­ge Kopf in der Mit­te. Drum­her­um ei­ne An­zahl von nied­ri­gen gel­ben Lö­wen­zahn­blu­men, das Fuß­volk. Wei­ße Emi­nen­zen im Hin­ter­grund, zu­rück­hal­tend in ih­rem Da­sein, man nimmt sie nicht so­fort und nicht im­mer wahr. Au­ren, trans­pa­ren­te Hei­li­gen­schei­ne, Flug­kör­per. Ein mü­des Pfau­en­au­ge, das sich nie­der­läßt und ver­bleibt, Wie­se wird. Ein paar klei­ne­re Schmet­ter­lin­ge, die trotz­dem noch flat­tern. Ei­ne ro­te, ner­vö­se Li­bel­le, Akatom­bo ge­nannt (im Kopf, im Her­zen, auf der Zun­ge das Kinder­lied). Zwei graue Zie­gel­stei­ne, die ei­gent­lich mehr aus Hohl­räu­men be­stehen, und ein grö­ße­rer Fund­stein, ab­ge­run­det wahr­schein­lich vom trü­ben, aber un­er­müd­li­chen Was­ser des Flus­ses, mar­kie­ren die Zu­fahrt als klei­ner Strich in der Land­schaft. Sie la­den den ein, der sie be­merkt, näm­lich nie­mand. Ei­ne ab­ge­ris­se­ne rost­ro­te Ton­ne, aus der Gras ragt, grü­nes fri­sches und gel­bes ver­trock­ne­tes. Da­ne­ben, ver­schwim­mend, wie­der­um wei­ßes Wie­sen­schaum­kraut.

Hans-Jo­chen Vo­gel wird 90

Groß in Er­schei­nung ge­tre­ten ist Hans-Jo­chen Vo­gel im Ver­gleich zu den da­mals »gro­ßen« So­zi­al­de­mo­kra­ten Brandt, Bahr oder Schmidt eher sel­ten. Selbst als er Bun­des­ju­stiz­mi­ni­ster im »Deut­schen Herbst« war. Nach Schmidts er­zwun­ge­ner De­mis­si­on 1983 ließ er sich über­re­den, als Kanz­ler­kan­di­dat zur Ver­fü­gung zu ste­hen. Selbst aus da­ma­li­ger Sicht, als die Me­di­en noch nicht der­art hy­per­ven­ti­lier­ten, er­schien dies ku­ri­os. Ein Men­schen­fi­scher war Vo­gel ma­xi­mal auf der kom­mu­na­len Ebe­ne, weil er von den Pro­ble­men vor Ort et­was ver­stand. Im Bund zähl­te das da­mals schon nicht. Sein Image als Ord­nungs­fe­ti­schist, der Vor­gän­ge in Klar­sicht­hül­len zu­sam­men­fass­te, war ex­akt das Ge­gen­teil des­sen, was der Ma­cher Hel­mut Schmidt ver­kör­per­te. Vo­gel wirk­te als Kanz­ler­kan­di­dat steif. Zu­dem war die Par­tei zer­strit­ten, der Schmidt-Kurs in der Nach­rüstungsdebatte wur­de be­er­digt, aber der Kan­di­dat konn­te mit dem The­ma we­nig an­fan­gen. Heu­te bin ich über­zeug­ter denn je, dass Hans-Jo­chen Vo­gel ein sehr gu­ter Kanz­ler ge­wor­den wä­re, aber als Kan­di­dat war er ein­fach über­for­dert.

Vo­gel hat mehr­mals in sei­nem po­li­ti­schen Le­ben Äm­ter und Funk­tio­nen über­nom­men weil sei­ne Par­tei, die SPD, ihn dar­um ge­be­ten hat­te. Fast im­mer hat man ihm das an­ge­merkt. Der Bay­er in Ber­lin. Das war nicht Vo­gel. Er war dünn­häu­tig, wenn die po­li­ti­sche Sach­ebe­ne ver­las­sen wur­de; im heu­ti­gen durch­iro­ni­sier­ten Po­li­tik­be­trieb hät­te er – lei­der – kei­ne Chan­ce mehr. Sein Auf­tritt bei ZAK aus den 1990ern ist le­gen­där; sein Be­fund da­mals war nicht ganz falsch. Gut war Vo­gel, wenn er Lei­den­schaft mit Sach­kenntnis kom­bi­nie­ren konn­te. Da­bei war er im­mer prag­ma­tisch und kon­sens­ori­en­tiert; Ideo­lo­gie war ihm ver­hasst. Die hat­te er als jun­ger Mann bei den Na­zis ken­nen­ge­lernt und ihr, so Vo­gel spä­ter, nicht ge­nü­gend wi­der­stan­den. Hier­aus spei­ste sich sei­ne Mo­ti­va­ti­on für die Po­li­tik.

Heu­te wird Hans-Jo­chen Vo­gel 90 Jah­re alt. Er lebt seit ei­ni­gen Jah­ren mit sei­ner Frau in ei­nem Se­nio­ren­stift. Das Ge­spräch, das er vor ei­ni­gen Jah­ren BR2 gab, ist ab­so­lut hö­rens­wert. Ich ha­be nicht im­mer mit ihm über­ein­ge­stimmt, aber ich ha­be ihn im­mer re­spek­tiert. Es fal­len ei­nem viel­leicht ein Dut­zend an­de­rer Po­li­ti­ker ein, die ein ähn­li­ches For­mat hat­ten wie er.

Was der Tag ver­spricht

Was der Tag ver­spricht, hält er schon ganz am An­fang nicht. Vor der rei­nen Hel­le, von der Zacken­li­nie ab­ge­grenzt, ruht ein dump­fer, lang­ge­zo­ge­ner Schat­ten­fleck, der, wenn über­haupt, in ei­ner Zu­kunft be­hä­big er­wa­chen wird. Die durch­hän­gen­de Dop­pel­schnur, die den Ge­rä­ten und Ge­bräu­chen der Men­schen Kraft zu­tra­gen soll, zum Bei­spiel den knopf­förmigen, auf Lan­zen ge­spieß­ten Lam­pen, die nicht ein­mal leuch­ten, nur trot­zi­ge Dis­kus­se bie­ten, ist von zahl­lo­sen Punk­ten be­setzt, win­zi­gen Aus­wüch­sen, die Vö­gel vor­stel­len, Schla­fen­de, die in ei­ner kaum er­reich­ba­ren Zu­kunft er­wa­chen, das knap­pe Ge­fie­der schüt­teln und auf­flat­tern wer­den. Nä­he: ei­ne Ver­mumm­te fährt auf ih­rem Mo­ped an den Glas­ka­sten her­an, steigt vom Ge­fährt, mei­det je­den Blick (ich mei­de den ih­ren – fast), ver­schwin­det für ei­ne win­zi­ge Wei­le; er­scheint, steigt auf das­sel­be Ge­fährt, ver­schwin­det für im­mer, bis mor­gen.

Die­ser Tag wird sang- und klang­los un­ter­ge­hen; er wird, wenn es dun­kelt, kaum ge­wahrt wor­den sein. Erst im Abend­schein, viel­leicht erst im silb­ri­gen Mond­schein, in der Käl­te, die sich in die Kno­chen, die Zwei­ge und Äste, die Haa­re, die Er­de gräbt, wird ei­ne Ah­nung neu­er­lich auf­tau­chen, ein Ver­spre­chen, un­glaub­wür­dig, das schüt­zen­de, viel­leicht so­gar wär­men­de Dun­kel.

Auf­blick: Die klei­nen Vö­gel sind fort­ge­flo­gen, flie­gen im­mer noch, bil­den gro­ße For­men, schwin­gen­de For­ma­tio­nen, ge­sel­len sich in die jetzt schon mä­ßi­ge, mü­ßi­ge Hel­le. Er­weitern den Luft­raum, dif­fe­ren­zie­ren Sphä­ren, in de­nen sich die Le­ben der schon nicht mehr Ver­mumm­ten ab­spu­len, ab­spie­len wer­den. Die Lam­pen­knöp­fe sind ver­löscht; je­mand, der Fin­ger ei­nes Je­mand, hat ih­re Spei­sung un­ter­bro­chen. Un­ter der Doppel­schnur zeigt sich ein Rücken, der in der Frü­he nicht da war. Und auf der Kup­pe, in der Wöl­bung leuch­tet wie ei­ne Flam­me ein Baum, des­sen Fin­ger – ro­te Nä­gel! – sich an­schicken zu blät­tern. Ver­stumm­te öff­nen die Mün­der, dar­aus tritt der Hauch oder Rauch von der wie je­den Tag un­schein­ba­ren Fa­brik.

Wenn Ent­lar­ven schei­tert

Durch die Dis­kus­sio­nen um die Be­set­zung der Fern­seh­run­den vor den Land­tags­wah­len in Rhein­land-Pfalz und Ba­den-Würt­tem­berg wur­de wie­der­holt die For­de­rung laut, die rechts­po­pu­li­stisch agi(ti)erende AfD trotz al­ler Be­den­ken zu­zu­las­sen, um sie und ih­re Ideo­lo­gie zu ent­zau­bern. Da­bei wur­de kaum be­rück­sich­tigt, dass ei­ne Diskussions­sendung, in der meh­re­re Par­tei­en ih­re Wahl­pro­gram­me in po­pu­lä­rer Form und dis­kur­siv vor­stel­len, ein sol­cher »Ent­lar­vungs­dis­kurs« nicht prak­ti­ka­bel ist, weil die Kon­zen­tra­ti­on auf ein Wahl­pro­gramm nicht der Zweck der Sen­dung sein kann.

In den po­li­ti­schen Talk­show­for­ma­ten der öf­fent­lich-recht­li­chen Sen­der wird der »Ent­lar­vungs­dis­kurs« zu­wei­len durch­aus ver­sucht. Der Pro­to­typ der »Entlarvungs«-Talkshow fand al­ler­dings im deut­schen Pri­vat­fern­se­hen am 5. Fe­bru­ar 2000 in der ntv-Sen­dung »Talk in Ber­lin« statt. Erich Böh­me (ehe­ma­li­ger »Spiegel«-Chefredakteur) hat­te dort den Vor­sit­zen­den der öster­rei­chi­schen FPÖ, Jörg Hai­der, zu Gast.1 Hai­der war zum da­ma­li­gen Zeit­punkt Lan­des­haupt­mann (Mi­ni­ster­prä­si­dent) von Kärn­ten. Im Bund wur­de Öster­reich in ei­ner so­ge­nann­ten schwarz-blau­en Ko­ali­ti­on aus ÖVP und FPÖ re­giert. For­mal war Hai­der an die­ser Re­gie­rung nicht be­tei­ligt. Tat­säch­lich war er aber da­mals auf dem Hö­he­punkt sei­ner Macht und dürf­te maß­geb­lich die Strip­pen bei den Ko­ali­ti­ons­ver­hand­lun­gen ge­zo­gen ha­ben.

Die schwarz-blaue Re­gie­rung in Öster­reich rief in­ter­na­tio­na­le Pro­te­ste her­vor. Die FPÖ war un­ter Hai­ders Vor­sitz von ei­ner li­be­ral-kon­ser­va­ti­ven in ei­ne rechts­extre­me Par­tei ver­wan­delt wor­den. Ein­zel­ne Aus­sa­gen von FPÖ-Po­li­ti­kern und auch von Hai­der sel­ber rie­fen Skan­da­le her­vor.

Ei­ne Sen­dung mit Hai­der – zu­mal im deut­schen Fern­se­hen – war ein Coup. Öf­fent­lich-recht­li­che An­stal­ten hat­ten es vor­her ab­ge­lehnt, Hai­der »ein Fo­rum« zu bie­ten. Die Re­dak­ti­on der Sen­dung bei n‑tv be­ließ es je­doch nicht bei ei­nem Dia­log, son­dern wähl­te das üb­li­che For­mat mit meh­re­ren Per­so­nen. Als wei­te­re Gä­ste wur­den ein­ge­la­den: Frei­mut Duve (SPD), Mi­cha­el Glos (CSU) und Ralf Giord­a­no, Pu­bli­zist. Hier­in kann man den er­sten Feh­ler fest­ma­chen. Wei­ter­le­sen


  1. Wenige Tage nach der Sendung, am 28. Februar, trat Haider als FPÖ-Vorsitzender zurück. 

Klei­ne Bei­trä­ge zur Her­zens­bil­dung (2)

Ein In­ter­view mit Leo­pold Fe­der­mair, ge­führt von Ma­sa­hi­ko Tsu­chi­ya ‑2. Teil

Hier Teil 1

Wie stehst du als Es­say­ist zur ja­pa­ni­schen Kul­tur und Ge­sell­schaft? Wie be­schreibst du dei­ne Ja­pan-Er­fah­run­gen? Mit Iro­nie und Witz, nicht wahr?

Ich fürch­te, zum Witz ha­be ich kein gro­ßes Ta­lent, aber ganz oh­ne Iro­nie kann je­mand wie ich we­der le­ben noch schrei­ben. Ich ha­be sehr ver­schie­de­ne Zu­gän­ge, aber das be­trifft nicht nur Ja­pan, son­dern al­le »Ge­gen­stän­de«. In ei­nem Buch wie Die gro­ßen und die klei­nen Brü­der ver­mi­sche ich be­wußt die Gen­res, von der Re­por­ta­ge bis zur ly­ri­schen Kurz­pro­sa. Der um­fang­reich­ste Teil des Buchs sind die To­kyo Frag­men­te, die ich im­mer noch fort­füh­re, sie er­schei­nen re­gel­mä­ßig, mit von mir ge­mach­ten Fo­tos, im On­line-Ma­ga­zin fixpoetry.com. In die­sen Frag­men­ten er­kun­de ich mit ei­nem ge­wis­sen Maß an Sy­ste­ma­tik, aber zu­gleich an­ar­chisch, in­dem ich mich und die Spra­che trei­ben las­se, die ja­pa­ni­sche Groß­stadt. Da­bei in­ter­es­sie­ren mich klei­ne All­tags­sze­nen und Or­te ab­seits der tou­ri­sti­schen Pfa­de – ob­wohl ich auch die­se nicht grund­sätz­lich ver­schmä­he. Es gibt so­gar ei­nen ro­ten Er­zähl­fa­den in die­sen Frag­men­ten, er wird in er­ster Li­nie von ei­ner Bar in Mus­a­shi­koy­a­ma und der dort sich re­gel­mä­ßig ein­fin­den­den dra­ma­tis per­so­nae ge­bil­det. Im Prin­zip sind die­se Ge­schich­ten nicht fik­tio­nal, aber es ist auch Er­fun­de­nes da­bei. Mei­ne Lieb­lings­sze­ne dar­in ist er­fun­den, auch de­ren Prot­ago­nist.

An­de­rer­seits schrei­be ich Ro­ma­ne wie Wand­lun­gen des Prin­zen Gen­ji, die eng mit mei­nen rea­len Er­fah­run­gen ver­bun­den sind, wo aber die Ge­samt­an­la­ge fik­tio­nal ist und auch die dar­in vor­kom­men­den Fi­gu­ren von et­wa­igen Vor­bil­dern in der Wirk­lich­keit mehr oder min­der stark ab­wei­chen. Die­ser Ro­man ent­hält auch ei­ne es­say­isti­sche Ebe­ne, die wie­der­um zu gro­ßen Tei­len aus Nach­er­zäh­lun­gen und Kom­men­ta­ren zum Gen­ji-Mo­no­ga­ta­ri be­stehen. Schon der Ro­man Er­in­ne­rung an das, was wir nicht wa­ren spielt aber et­wa zur Hälf­te in Ja­pan, zur an­de­ren in Ar­gen­ti­ni­en (die drit­te Hälf­te in Eu­ro­pa). Bei die­sem Buch, bis­her mein um­fang­reich­stes, in­ter­es­sier­te mich be­son­ders die Ge­gen­über­stel­lung sehr un­ter­schied­li­cher Kul­tu­ren mit teil­wei­se ge­gen­sätz­li­chen Le­bens­ge­wohn­hei­ten wie der ar­gen­ti­ni­schen und der ja­pa­ni­schen. Ich le­be gern zwi­schen sol­chen Ge­gen­sät­zen, weiß aber auch aus ei­ge­ner Er­fah­rung, daß so ei­ne Exi­stenz gro­ßen in­ne­ren Druck er­zeu­gen kann. Es gibt Gren­zen des Iden­ti­täts­plu­ra­lis­mus.

Wo­für in­ter­es­sierst du dich zur Zeit und war­um?

Es wird wahr­schein­lich bis zu mei­nem Le­bens­en­de so sein, daß ich ei­ne be­stimm­te Zahl von Pro­jek­ten vor mir ha­be, die ich zu rea­li­sie­ren be­strebt bin. Al­les zu schaf­fen, wird die Zeit nicht rei­chen. Auch das muß man ak­zep­tie­ren. Der­zeit schrei­be ich an ei­nem Ro­man, der durch ein ja­pa­ni­sches fait di­vers an­ge­regt ist, aber ei­nen ima­gi­nä­ren Schau­platz hat. Seit ei­ni­gen Wo­chen glau­be ich, die rich­ti­ge Form da­für ge­fun­den zu ha­ben, nach­dem ich jah­re­lang dar­an her­um­ge­dacht und her­um­pro­biert ha­be. Wie Kenzabu­ro Oe sagt, die Form ist das Ent­schei­den­de. Ein an­de­res Pro­jekt, in dem ich stecke, ist die Über­set­zung ei­nes um­fang­rei­chen Ly­rik­zy­klus von Ju­an Ramón Ji­mé­nez, 1916 wäh­rend sei­ner Ame­ri­ka­rei­se ent­stan­den. Und dann ha­be ich noch ei­ne Idee, die ich bes­ser nicht ver­ra­te. Es hat mit der Fi­gur Adolf Hit­lers zu tun und ist das er­ste Mal, daß ich das Ge­fühl ha­be, man könn­te mir die Idee klau­en, wenn ich sie wei­ter­erzäh­le.

Wie schreibst du Ro­ma­ne oder Er­zäh­lun­gen? Bis dei­ne li­te­ra­ri­sche Form aus­ge­reift ist und dich selbst über­zeugt? Wei­ter­le­sen