Weih­nach­ten mit Wolf­gang Welt

Mehr Ma­jo­ran

Weih­nach­ten vor fünf­zig Jah­ren

Von Wolf­gang Welt

Die Ze­che Bruch­stra­ße wür­de im näch­sten Jahr still­ge­legt, und es war das letz­te Weih­nach­ten da­vor. Das Lohn­bü­ro der Ze­che, in der der Va­ter be­schäf­tigt war, ar­bei­te­te bis nach­mit­tags, und als der Va­ter um vier Uhr noch nicht zu Hau­se war, ahn­te die Mut­ter, der Pa­pa ist hän­gen ge­blie­ben. Mal ab­ge­se­hen da­von, dass er blau sein wür­de: Wer soll­te den Christ­baum ein­stie­len? Mein drei­zehn­jäh­ri­ger Bru­der muss­te dran glau­ben und mit ei­nem Beil dran­ge­hen.

Um sechs kam der Va­ter, na­tür­lich be­sof­fen. Mein Bru­der steck­te die Ker­zen an. Der lie­ben Ru­he wil­len sag­te mei­ne Mut­ter nichts, und als er »Stil­le Nacht« an­stimm­te, sang sie mit. Mei­ne Mut­ter är­ger­te sich so­wie­so schon ge­nug, weil sie die Pull­over für ih­re Söh­ne nicht recht­zei­tig fer­tig­ge­strickt hat­te. Die Rän­der fehl­ten. Wir zo­gen sie trotz­dem an. Fern­se­hen guck­ten wir zu der Zeit Hei­lig­abend nicht. Meist lief auch was Ern­stes wie ein Fern­seh­spiel von Wolf­diet­rich Schnur­re oder so was.

Am näch­sten Mor­gen kam die Oma zu Fuß (wir hat­ten noch kein Au­to, um sie ab­zu­ho­len) aus dem be­nach­bar­ten Vor­ort Wer­ne und brach­te ei­ne Ta­sche voll Ge­schen­ke, für mich ein Ring­buch, wor­über ich ent­täuscht war, für mei­nen Bru­der die Schall­plat­te »Woo­den He­art« von El­vis Pres­ley, die Pres­leys Ab­schied von Deutsch­land mar­kier­te. Pro­du­ziert hat­te die­ses »Muß i denn zum Städ­te­le hin­aus« Bert Kaemp­fert, der auch den Song »Stran­gers In The Night« kom­po­nie­ren soll­te, den ich ihr Jah­re spä­ter schen­ken wür­de.

Mein Va­ter be­kam von der Oma den Kar­ne­vals­hit »Schnaps, das war sein letz­tes Wort (dann tru­gen ihn die Eng­lein fort)«. Er war sicht­lich sau­er und hör­te sich das Lied von Wil­ly Mil­lo­witsch nie an.

Mei­ne Mut­ter briet ei­ne Pu­te, und mei­ne Oma riet beim Ko­chen zu mehr Ma­jo­ran. Jah­re da­nach, vie­le Ze­chen­schlie­ßun­gen spä­ter – mein Va­ter hat­te längst mit dem Sau­fen auf­ge­hört, und die Oma war längst tot –, hör­te mei­ne Mut­ter am Weih­nachts­mit­tag beim Ko­chen ih­re Stim­me: »Mehr Ma­jo­ran.«

© Wolf­gang Wel­t/­Wolf­gang-Welt-Er­ben

Mit freund­li­cher Ge­neh­mi­gung der Er­ben von Wolf­gang Welt, Mar­tin Wil­lems und dem Ver­lag An­dre­as Reif­fer. Aus »Die Pann­schüp­pe« – Ver­lag An­dre­as Reif­fer, 2020

Wolfgang Welt: Die Pannschüppe (Hrsg.: Martin Willems)

Wolf­gang Welt: Die Pann­schüp­pe (Hrsg.: Mar­tin Wil­lems)

Wal­ter E. Rich­artz: Bü­ro­ro­man

Walter E. Richartz: Büroroman

Wal­ter E. Rich­artz:
Bü­ro­ro­man

Auf­merk­sam ge­wor­den auf Wal­ter E. Rich­artz wur­de ich durch Wolf­gang Welts Re­zen­si­on von »Rei­ters west­li­che Wis­sen­schaft«, dem letz­ten Ro­man des 1980 durch Frei­tod aus dem Le­ben Ge­schie­de­nen. Welt er­wähnt in sei­nem Text von 1981, den er in­ter­es­san­ter­wei­se mit dem Hand­ke-Ti­tel »Lang­sa­me Heim­kehr« über­schreibt, nur kurz den »Bü­ro­ro­man« von Rich­artz, aber da es in der (deutsch­spra­chi­gen) Li­te­ra­tur re­la­tiv we­nig Be­zü­ge zu Bü­ro­an­ge­stell­ten gibt (die häu­fig ge­nann­te »Abschaffel«-Trilogie von Wil­helm Gen­a­zi­no 1977–79 zählt ei­gent­lich nicht, weil die Haupt­fi­gur ei­ne eher in­tel­lek­tu­ell-skur­ri­le Per­sön­lich­keit dar­stellt), woll­te ich zu­nächst die­ses Buch le­sen.

Die Erst­pu­bli­ka­ti­on des »Bü­ro­ro­mans« ist von 1978; die Dio­ge­nes-Aus­ga­be von 2007 folgt die­ser auch in der al­ten Recht­schrei­bung. Er be­ginnt als lau­ni­ge Sa­ti­re im Er­zähl­stils ei­nes Con­fé­ren­ciers, der dem Pu­bli­kum wie auf ei­ner Büh­ne das 26 m² gro­ße Bü­ro­zim­mer Num­mer 1028 der (na­tür­lich fik­ti­ven) »DRAMAG« (»Deut­sche Regler‑, Ar­ma­tu­ren- und Meßgeräte‑A.G.«) in Frank­furt am Main-Ost vor­stellt. Dort sit­zen Wil­helm Kuhl­wein (23 Jah­re Be­triebs­zu­ge­hö­rig­keit), Frau Klatt (drei Jah­re we­ni­ger) und, seit drei Mo­na­ten, Fräu­lein Mau­ler. Sie ar­bei­ten im Rech­nungs­we­sen, sind be­schäf­tigt mit Ko­sten­stel­len­bu­chun­gen für die Er­mitt­lung der Ko­sten streng ge­trennt nach Ab­tei­lun­gen, die wie ei­ge­ne Fir­men be­han­delt wer­den – das, was man spä­ter »Pro­fit-Cen­ter« nen­nen soll­te. 41 Stun­den-Wo­che, Ko­sten­stel­le 68045. Drei Men­schen im Bü­ro, ei­ne Schreib­ma­schi­ne, ein Te­le­fon (auf ei­nem Te­le­fon­arm), ein Wasch­becken mit drei Hand­tü­chern, zwei Stem­peln (»EILT« und ERLEDIGT«), Schreib­tisch­un­ter­la­gen (in »SKAI«), je­de Men­ge Ak­ten­schrän­ke mit Ord­nern, Spin­den und die ob­li­ga­to­ri­sche Ur­laubs­kar­ten­wand. Sin­ni­ger­wei­se gibt es am En­de des Bu­ches ei­ne In­ven­tur­li­ste über all die Ge­gen­stän­de (vie­le aus Ba­ke­lit), die es in den 1970er Jah­ren in Bü­ros so gab, un­ter an­de­rem auch die Tin­ten­wip­pe, die man zwar schon da­mals nicht mehr brauch­te, die aber aus Tra­di­ti­on im­mer noch in den Schrän­ken auf­zu­fin­den war.

Zu­nächst wird je­doch ein Ar­beits­tag aus die­sem Zim­mer 1028 er­zählt, von der (un­be­zahl­ten) Früh­stücks­pau­se über die Pro­ze­du­ren beim Mit­tag­essen (in der Kan­ti­ne gab es nur ein Ge­richt – die An­ge­stell­ten müs­sen in Schich­ten ge­hen) bis zum se­kun­den­ge­nau­en Auf­bruch in den Fei­er­abend nebst »In­du­strie­sum­men« nach dem lee­ren Ge­bäu­de. Man be­kommt das Wort »Mit­ar­bei­ter« er­klärt und wird in die Un­ter­schie­de zwi­schen den ein­zel­nen Be­to­nun­gen des Wor­tes »Mahl­zeit« ein­ge­weiht, be­vor die Va­ri­an­ten von Kau­rhyth­men und Schmatz­ge­räu­schen beim Kan­ti­nen­es­sen se­ziert wer­den. Köst­lich die Sze­ne­rien des an­schlie­ßen­den Mit­tag­schla­fes – ent­we­der auf dem dann nicht mehr ganz so stil­len Ört­chen oder ein­fach auf­recht sit­zend im Bü­ro. Es wird ge­raucht, aber er­staun­lich we­nig ge­trun­ken. Was­ser gilt als exo­ti­sches Ge­tränk, Kuhl­wein nimmt Nes­ca­fé, mehr aus Ge­wohn­heit. Wei­ter­le­sen

Von Kon­bi­ni zu Kon­bi­ni

Ei­gent­lich sind es nur zwei. Al­so vier, näm­lich zwei­mal zwei. Zwei Fa­mi­ma, zwei Seh­bün, wie sie im Volks­mund hei­ßen. Wei­ter drü­ben ein drit­tes, Law­son, aber da kom­me ich sel­ten hin. Für mich ist es ei­ne El­lip­se, die ich durch­lau­fe. Mei­ne We­ge ha­ben un­ge­fähr die Form ei­ner El­lip­se, mit ei­nem Se­ven Ele­ven und ei­nem Fa­mi­ly Mart als Brenn­punk­ten und je ei­nem wei­te­ren Se­ven und Fa­mi an den äu­ßer­sten En­den der El­lip­se, die das Tal ist. In Wahr­heit ge­he ich aber oft auf der ge­ra­den Ver­bin­dungs­li­nie die­ser vier Punk­te. Im Win­ter eher auf der Ge­ra­den, im Som­mer auf der el­lip­ti­schen Au­ßen­li­nie, weil es dort am Abend, wenn es ein biß­chen ab­ge­kühlt hat, dun­kel ist und man die Ster­ne fun­keln se­hen und den Fluß rau­schen und die Frö­sche qua­ken hö­ren kann und sich nicht vom Strahl­licht der Kon­bi­nis, dem Blend­licht und dem Mo­to­ren­rau­schen der Au­tos be­drän­gen las­sen muß. Am Fluß­ufer, bei den Bam­bus­hai­nen und den Lo­tus­fel­dern, de­ren rie­si­ge Blät­ter hin und her schwan­ken oder still­ste­hen, ist der Wan­de­rer voll­kom­men al­lein, nie­mand stra­pa­ziert sei­ne Ner­ven, die Blend­lich­ter und Mo­to­ren­ge­räu­sche sind nur Ab­ar­ten des ho­hen Ge­fun­kels und des ewi­gen Rau­schens. Ta­guchi: ei­ne El­lip­se und ihr ova­les Feld, das die schla­fen­den Rei­her, die qua­ken­den Frö­sche, den letz­ten Wan­de­rer birgt.

Bild 1 - Von Konbini zu Konbini - © Leopold Federmair

Bild 1 – Von Kon­bi­ni zu Kon­bi­ni – © Leo­pold Fe­der­mair

Die Kon­bi­nis sind al­le gleich, lan­des­weit. Al­so die zu ei­ner der Fir­men, der Ket­ten sind gleich, au­ßen wie in­nen, mehr oder we­ni­ger gleich, und auch die der ver­schie­de­nen Fir­men un­ter­schei­den sich nicht sehr von­ein­an­der, ob­wohl sie auf ihr spe­zi­el­les De­sign, ih­re kenn­zeich­nen­den Far­ben, Schrift­ty­pen und Lo­gos Wert le­gen. Fa­mi­ma ist blau-weiß-grün, Se­ven rot-weiß-grün-oran­ge, ein biß­chen strei­fi­ger und bun­ter als Fa­mi­ma. Die Fa­mi­ma-Kä­sten sind aus wei­ßen Plat­ten ge­baut, die Se­ven-Kä­sten aus hel­le­ren und dunk­le­ren oran­ge- oder ocker­far­be­nen Back­stei­nen. Vor­ne na­tür­lich Glas­front. Im Som­mer wird der Ka­sten ge­kühlt wie ein Kühl­schrank, im Win­ter warm­ge­hal­ten, au­ßer in der Nä­he der Fen­ster­schei­ben und der Tür, da dringt kal­te Luft ein. Im Se­ven kau­fe ich mei­stens ein Me­lo­nen­brot und ein Ge­tränk mit Yu­zu, Zi­tro­ne und So­da; im Fa­mi­ma Fa­mi­chickin und ein sü­ßes Boh­nen­pa­ste­te­bröt­chen; in bei­den gibt es im Win­ter Oden (Kon­y­a­ku und Ei­er und Fleisch­spieß­chen lie­gen in damp­fen­den Kes­sel­chen). Vor ei­ni­gen Jah­ren sind vie­le Kon­bi­nis mit ein paar Stüh­len (mei­stens vier) und ei­nem Wand­brett (Tisch wä­re zu­viel ge­sagt) so­wie ei­ner Selbst­be­die­nungs­kaf­fee­ma­schi­ne aus­ge­stat­tet wor­den. Es gibt Zei­ten, da sit­ze ich früh­mor­gens, wenn al­le Ca­fés und Ge­schäf­te ge­schlos­sen ha­ben, mit mei­nem No­tiz­heft oder Note­book dort, ei­nen Papp­be­cher Kaf­fee ne­ben mir. Um halb acht, un­ge­fähr, se­he ich die Ka­ra­wa­nen der Volks­schü­ler vor­bei­zie­hen; vor ei­ni­gen Jah­ren er­kann­te ich im­mer wie­der ein­mal mei­ne Toch­ter in so ei­nem Pulk (aber oft ist sie mir, buch­stäb­lich, ent­gan­gen). Sie hat mich nie ge­se­hen, auch nicht mein Fahr­rad, das ich in der Ecke zwi­schen Kon­bi­ni­wand und Reis­feld­zaun ab­stel­le wie ein Ver­bre­cher, der sich nicht ein­fan­gen las­sen darf.

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Durs Grün­bein: Jen­seits der Li­te­ra­tur

Durs Grünbein: Jenseits der Literatur

Durs Grün­bein:
Jen­seits der Li­te­ra­tur

Die so­ge­nann­ten Ox­ford Lec­tures am St. Anne’s Col­lege gibt es seit 1993. Es sind Ein­la­dungs­vor­le­sun­gen, in de­nen im wei­te­sten Sinn in­ter­dis­zi­pli­när über Li­te­ra­tur und de­ren Be­deu­tung re­flek­tiert wer­den soll. Fach­leu­te nen­nen das »Kom­pa­ra­ti­stik«. Ge­or­ge Stei­ner und Um­ber­to Eco ge­hör­ten zu den Vor­tra­gen­den wie auch Amos Oz, Ma­rio Var­gas Llosa und Bern­hard Schlink (der auf der Web­sei­te »Ber­nard« heißt). 2019 wur­de die­se Ein­la­dung Durs Grün­bein zu­teil. Die vier Vor­le­sun­gen lie­gen nun als Buch­form vor, was bei den Vor­le­sun­gen an­de­rer Au­toren bis­her eher sel­ten der Fall war.

Der Ti­tel »Jen­seits der Li­te­ra­tur« ist, wenn man am En­de al­les ge­le­sen hat, ein­leuch­tend. Er ist pro­gram­ma­tisch. Der in­ter­dis­zi­pli­nä­re An­satz wird von Grün­bein voll aus­ge­reizt. Zwi­schen­zeit­lich hat man eher das Ge­fühl in ei­nem Ge­schichts­se­mi­nar zu sit­zen. In der er­sten Vor­le­sung er­in­nert sich Grün­bein an die Hit­ler-Brief­mar­ken, die er einst in sei­nem Brief­mar­ken­al­bum sor­tiert hat­te. Es gab sie in vie­len Far­ben, je nach Wert. Be­reits da­mals stell­te sich ei­ne Mi­schung aus Gru­seln und Ehr­furcht ein. Er er­zählt kurz von ei­nem Made­lai­ne-Er­leb­nis, wenn er Brief­mar­ken­al­ben heu­te sieht um dann über die Mar­ke­ting- und Wer­be­stra­te­gien der Na­zis zu re­flek­tie­ren. Dann wird von ei­nem ge­wis­sen Ed­mund Kalb er­zählt, ei­nem öster­rei­chi­schen Ma­ler, er in ei­ner wil­den Mi­schung aus Que­ru­lan­ten- und Idio­ten­tum sei­nen per­sön­li­chen Wi­der­stand lei­ste­te, da­für ins Ge­fäng­nis kam und trotz­dem, wie durch ein Wun­der, über­leb­te. Kalb ist für Grün­bein ein Bart­le­by, der Schrei­ber aus Mel­vil­les No­vel­le (»I would pre­fer not to«).

Der Ma­ler ver­such­te mit sei­ner Fa­mi­lie aut­ark zu le­ben, vom An­bau in sei­nem Gar­ten, ver­edel­te er­folg­reich Bäu­me. Er ge­noss das Ge­fäng­nis, so­lan­ge er sei­ne Ru­he hat­te. Nach dem Krieg än­der­te er sich nicht. Grün­bein liest sei­ne Ta­ge­buch­auf­zeich­nun­gen: »Ein­mal auf dem tief­sten Grund der Ir­ri­ta­ti­on, hält er den Ge­dan­ken fest: daß die viel­fäl­ti­gen Ge­füh­le, die ei­nem beim Wahr­neh­men der Welt be­glei­ten, nie im Wor­ten aus­zu­drucken sind – son­dern al­len­falls, hin und wie­der mit et­was Glück, mit Hil­fe von Zeich­nun­gen.« Ge­fühls­er­leb­nis­se sei­en, so Grün­bein Kalb zi­tie­rend, nicht an an­de­re »zu über­tra­gen und auf­zu­be­wah­ren.« Sie sei­en jen­seits der Li­te­ra­tur. Da­mit sind die Ko­or­di­na­ten für die wei­te­ren Tex­te vor­ge­ge­ben. Wei­ter­le­sen

Ge­or­ges Si­me­non: Tro­pen­kol­ler

Georges Simenon: Tropenkoller

Ge­or­ges Si­me­non:
Tro­pen­kol­ler

Im Ori­gi­nal heißt der Ro­man ei­gent­lich »Le coup de lu­ne«, al­so un­ge­fähr »Mond­stich« – im Deut­schen hin­ge­gen zu­nächst »Tro­pen­fie­ber«, dann »Tro­pen­kol­ler«. Viel­leicht wür­de man das Buch an­ders le­sen, wenn der eher my­sti­sche Ori­gi­nal­ti­tel prä­zi­se über­setzt ge­wor­den wä­re. Aber die mit dem deut­schen Ti­tel ver­bun­de­ne Ent­my­sti­fi­zie­rung ist ei­gent­lich ganz gut.

Si­me­non hat­te den Ro­man bin­nen kur­zer Zeit – al­so wie im­mer – 1932 nach ei­ner Rei­se durch das ko­lo­nia­le Afri­ka für ein fran­zö­si­sches Ma­ga­zin ge­schrie­ben. Der schot­ti­sche Schrift­stel­ler Wil­liam Boyd weist in sei­nem kun­di­gen Nach­wort zu Recht dar­auf hin, dass man die­ses ha­sti­ge Ent­ste­hen dem Ro­man an­merkt. Es gibt Ab­schwei­fun­gen von der Ge­schich­te, die ins Nichts ver­lau­fen und bis­wei­len ei­ne stark dra­ma­ti­sie­ren­de Spra­che. Am stärk­sten hat mich die Un­ge­reimt­heit ge­stört, dass ge­gen En­de die Haupt­fi­gur Jo­seph Ti­mar plötz­lich ei­nen Re­vol­ver in der Ta­sche hat und nie­mand ge­nau weiß, wie der da her­ge­kom­men ist.

»Tro­pen­kol­ler« ist aber nicht nur in die­sem Punkt ein ty­pi­scher »ro­man durs« von Ge­or­ges Si­me­non, al­so ein Ro­man oh­ne sei­nen le­gen­dä­ren Kom­mis­sar Mai­gret. Ei­ne Tä­ter­jagd gibt es nicht; um Span­nung zu er­zeu­gen braucht es kei­ne Who­dun­nit-Kon­struk­ti­on. Der Tat­her­gang des Mor­des an ei­nen Schwar­zen ist schnell mehr oder we­ni­ger klar; das Mo­tiv wird früh prä­sen­tiert. Boyd weist dar­auf hin, dass die »Sto­ry« sel­ber nicht das mit­rei­ßen­de ist. Da­für be­sitzt der Ro­man ei­ne enor­me at­mo­sphä­ri­sche Ver­dich­tung der Stim­mung im ko­lo­nia­len Ga­bun der 1930er Jah­re, die enor­me Hit­ze, die Ge­rü­che, die Ein­tö­nig­keit des Le­bens dort, die Le­thar­gie der Prot­ago­ni­sten. Und vor al­lem geht es Si­me­non um die Aus­ge­stal­tung der Psy­che (und der Phy­sis) des 23jährigen Jo­seph. Er stammt aus wohl­ha­ben­dem Hau­se und wur­de von sei­nem On­kel nach Li­bre­ville, Ga­bun, ge­schickt. Dort soll er in ei­nem Un­ter­neh­men an­fan­gen, aber man weiß dort von ihm nichts (ein Sze­na­rio ähn­lich wie in »Die Schwar­ze von Pa­na­ma«, ein paar Jah­re spä­ter ge­schrie­ben). Die so­for­ti­ge Rück­rei­se nach Frank­reich ist nicht mög­lich (oder nicht ge­wollt, das bleibt un­klar).

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Diet­mar Dath: Steh­satz

Dietmar Dath: Stehsatz

Diet­mar Dath: Steh­satz

Diet­mar Dath nennt sei­ne Poe­tik­vor­le­sun­gen, ge­hal­ten En­de Ja­nu­ar 2020, »Schreib­leh­re«. Sei­ne Ka­pi­tel hei­ßen »Vor­satz«, »An­satz«, »Ein­satz« und »Ge­gen­satz«. Zum Teil Be­grif­fe aus dem Buch­druck, al­so aus ver­gan­ge­nen Zei­ten. Das spannt den Bo­gen: Man kann »Steh­satz« als ei­ne Art vor­läu­fi­ger Bi­lanz sei­nes 35jährigen Schrei­bens le­sen – be­gon­nen im ana­lo­gen Zeit­al­ter.

Dath zi­tiert zu Be­ginn fast lust­voll aus Feuil­le­ton-Ver­ris­sen über sei­ne Bü­cher. »Bil­dungs­ge­prot­ze« und »An­ge­ber­tum« wer­den ihm da at­te­stiert. Er macht da­mit aus sei­ner »Schreib­leh­re« – ge­wollt oder nicht – ei­ne Recht­fer­ti­gung. Ob­wohl ihn, wie er spä­ter zu­gibt, die an­de­ren (des Be­triebs) nicht in­ter­es­sie­ren. Be­zie­hungs­wei­se in­ter­es­sie­ren sie ihn als Geg­ner, als Rei­bungs­flä­che.

Das li­te­ra­ri­sche Schrei­ben, wie Dath es ver­steht, ver­mit­telt »nicht vor­ran­gig In­for­ma­tio­nen über die wirk­li­che Welt« son­dern ei­ne »Hal­tung zu ihr«. Al­les hängt so­mit an der De­fi­ni­ti­on des Hal­tungs­be­griffs: »Ei­ne Hal­tung ist mir nicht ein­fach ei­ne Mei­nung, die sagt, dies oder das sei so oder so zu be­wer­ten. Ei­ne Hal­tung ist für mich ei­ne be­wuss­te Dis­po­si­ti­on zu Hand­lun­gen oder Un­ter­las­sun­gen.«

Ich ge­ste­he, dass mich die­se Er­läu­te­rung nicht zu­frie­den­stellt. Zum ei­nen ist sie deut­lich, ja lo­gisch. Aber ich er­ken­ne da­hin­ter kein Schreib­prin­zip, es sei denn, man ver­wen­det die leicht ab­ge­grif­fe­ne Vo­ka­bel des »en­ga­gier­ten Schrei­bens« als Ma­xi­me. Ir­gend­wann, als man Daths Hal­tung-De­fi­ni­ti­on fast schon ver­ges­sen hat­te, kommt er dar­auf zu­rück und prä­zi­siert: »Es geht bei Bal­zac um Hal­tun­gen zu Reich­tum, Lie­be oder Kar­rie­re, bei Tol­stoi um Hal­tun­gen zu Schick­sal, Ge­walt, Po­li­tik oder Ge­schich­te, bei bei­den kaum um Na­men und Da­ten, die nur im je­wei­li­gen Ro­man ste­hen, da­mit die Hal­tun­gen nicht in der Luft hän­gen, kei­ne blei­chen All­ge­mein­plät­ze sind, son­dern mit Er­leb­nis­qua­li­tä­ten elek­tri­siert und ma­gne­ti­siert.« Und Dath? Er schreibt das, was man ge­mein­hin Sci­ence Fic­tion nennt. Die Welt sei dar­zu­stel­len, wie sie sein könn­te, po­stu­liert er ein­mal. Wie geht das zu­sam­men? Rächt sich hier, dass ich von ihm kein fik­tio­na­les Werk ge­le­sen ha­be?

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Gräu­el der Ge­gen­wart ‑11/11-

(← 10/11)

Ich per­sön­lich glau­be nicht an die Mär von den ar­men aus­ge­beu­te­ten Men­schen; ich glau­be nicht mehr dar­an. Im 19. Jahr­hun­dert und bis weit ins zwan­zig­ste hin­ein mag das zu­ge­trof­fen ha­ben; wahr­schein­lich trifft es in den (vor al­lem süd­li­chen) Welt­ge­gen­den zu, die de­ren Be­woh­ner scha­ren­wei­se ver­las­sen, um in un­se­ren Schla­raf­fen­län­dern die ana­chro­ni­sti­sche Rol­le des Aus­ge­beu­te­ten zu spie­len (wir brau­chen al­so doch noch wel­che). Hier bei uns, im We­sten wie im ver­west­lich­ten Osten, sind die Men­schen nun ein­mal zu dem ge­wor­den, was sie sind. Sie hat­ten und ha­ben ihr Schick­sal selbst in der Hand, je­den­falls bis zu ei­nem ge­wis­sen Grad. Die­se Frei­heit ist heu­te Wirk­lich­keit. Je­der Ein­zel­ne hät­te auch ein an­de­rer wer­den kön­nen. Es be­steht nicht mehr der ge­ring­ste Grund, Be­völ­ke­rungs­schich­ten, ehe­dem »Klas­sen«, zu idea­li­sie­ren und he­roi­sie­ren, da sie als um­reiß­ba­re so­zia­le Grup­pen im Aus­ster­ben be­grif­fen sind. Auch wenn die öko­no­mi­schen Un­gleich­hei­ten grö­ßer wer­den, ten­die­ren die mei­sten so­zia­len Ele­men­te zur Mit­te, und die­se Mit­te ist sehr breit ge­wor­den, auch wenn sich vie­le ih­rer Mit­glie­der öko­no­misch be­droht füh­len und in be­stimm­ten Mo­men­ten – Fi­nanz­kri­se 2008 – tat­säch­lich be­droht sind. Die­se Mit­te ist für die in der Drit­ten Welt Da­hin­ve­ge­tie­ren­den das Schla­raf­fen­land. »Die Welt zer­fällt. Die Mit­te hält nicht mehr«, sagt der afro­ame­ri­ka­ni­sche Hi­sto­ri­ker Cor­nel West mit Be­zug auf au­to­ri­tä­re Po­li­tik und schran­ken­lo­ses Pro­fit­stre­ben. Dies ist ei­ne Pro­phe­zei­ung, ein Kas­san­dra­ruf. Tat­säch­lich wird sie wohl noch ein paar Jah­re oder Jahr­zehn­te hal­ten, aber es könn­te schon sein, daß in­ne­re Wi­der­sprü­che und sei­ne Schran­ken­lo­sig­keit das neo­li­be­ra­le Sy­stem zur Im­plo­si­on oder Ex­plo­si­on (oder bei­dem) brin­gen wer­den.1

West er­wähnt gern die Hel­den des afro­ame­ri­ka­ni­schen Frei­heits­kamp­fes, aber man hat den Ein­druck, das al­les sei de­fi­ni­tiv Ge­schich­te: Mar­tin Lu­ther King, John Le­wis und so wei­ter. Di­dier Eri­bon be­schreibt in Rück­kehr nach Reims die Be­schränkt­heit, den Ras­sis­mus, die In­to­le­ranz, die in fran­zö­si­schen Ar­bei­ter­mi­lieus nach dem En­de der Ar­beit herrscht, al­so un­ter Leu­ten, die sich als Zu­kurz­ge­kom­me­ne se­hen. Er hält trotz­dem an den über­kom­me­nen so­zio­lo­gi­schen Ka­te­go­rien fest. Sein Schütz­ling Édouard Lou­is, des­sen Schil­de­run­gen an Här­te eben­falls nichts zu wün­schen las­sen, ist da et­was frei­er. Auch dann, wenn Sym­pa­thie mit den Op­fern der Mo­der­ni­sie­rung auf­kommt, weint er dem Ver­schwin­den der Ar­bei­ter­klas­se kei­ne Trä­ne nach. Do­nald Trump, der die­ser Klas­se be­kannt­lich kei­nes­wegs an­ge­hört, ist oder gibt sich in die­ser Hin­sicht viel nost­al­gi­scher, al­so rück­schritt­li­cher. Er ver­spricht den wirk­lich oder ver­meint­lich Zu­kurz­ge­kom­me­nen, was ih­nen nie­mand ge­ben kann. Aus wahl­tak­ti­schem Kal­kül ver­mut­lich. Und weil er ei­ne Ideo­lo­gie ver­kör­pert, die ei­nen Schein auf­recht­erhält, dem, wie die Ideo­lo­gen ge­nau wis­sen, kei­ne Wirk­lich­keit mehr ent­spricht. An der Be­sei­ti­gung die­ser Wirk­lich­keit ha­ben sie selbst mit­ge­wirkt. Wei­ter­le­sen


  1. Auch Cornel West läßt sich von rhetorischer Dynamik und ideologischen Vorgaben leiten und kümmert sich wenig um Fakten. So behauptet er, 40 Prozent der Bevölkerung der USA würden in Armut oder nahe an der Schwelle dazu leben. Die offizielle Statistik gibt als Zahl 11,8 Prozent an; dazu die Erläuterung, daß die Armut in den letzten Jahren kontinuierlich geringer geworden sei. Es ist übrigens aufschlußreich zu lesen, wie West es beklagt, daß schwarze Freiheitskämpfer, sobald sie in die Politik gingen, in den Sog des Neoliberalismus gerieten und ihre früheren Positionen aufgaben. Gibt es wirklich keine Alternative? Womöglich nicht. Cornel West outet sich als Mann des Blues: "Mit all diesem Schrecken trotzdem irgendwie klarzukommen, bedeutet, ein Mann oder eine Frau des Blues zu sein. Es bedeutet, Kummer zu akzeptieren, aber niemals dem Kummer und damit den Katastrophen das Feld zu überlassen." 

»Im­mer vor­an«

Wolfgang Welt: Kein Schlaf bis Hammersmith (Hrsg.: Martin Willems)

Wolf­gang Welt:
Kein Schlaf bis
Ham­mer­s­mith (Hrsg.: Mar­tin Wil­lems)

Wolf­gang Welt (1952 bis 2016) be­saß vie­le Ta­len­te. Er hat­te ein pho­to­gra­phi­sches Ge­dächt­nis, er­in­ner­te sich Jahr­zehn­te spä­ter noch ge­nau, wann er was mit wem ge­macht (oder nicht ge­macht) hat­te, konn­te wil­de As­so­zia­ti­ons­ket­ten kon­stru­ie­ren, ent­deck­te Ver­bin­dun­gen von Mu­si­kern, Pro­du­zen­ten, Sän­gern, Men­to­ren, wuss­te wer mit wem wel­chen Song auf­ge­nom­men, ge­sam­pelt oder auch nur in­ter­pre­tiert hat wer im Back­ground war oder, noch in­ter­es­san­ter, wer nicht und war­um. Er war ein le­ben­des Rock’n’Roll-Lexikon, kam ins Schwär­men über das, was Bob Dy­lan die »ganz ur­sprüng­li­che Mu­sik« nann­te, die Mu­sik der 1950er und 60er Jah­re, an der Spit­ze Bud­dy Hol­ly und die Beat­les, aber na­tür­lich auch Bob Dy­lan, der wie ein Geist durch Welts Mu­sik­kos­mos weht, über den er aber di­rekt erst 1991 ei­nen Text schreibt, ein spru­deln­der Hym­nus auf ty­pi­schem Welt-Ni­veau, der am En­de Bud­dy Hol­lys To­des­tag, den 3. Fe­bru­ar 1959, zum mu­si­ka­li­schen In­ti­tia­ti­ons­tag von Bob Dy­lan aus­macht, der drei Ta­ge vor Hol­lys Tod auf des­sen letz­tem Kon­zert ge­we­sen war.

Nur ei­nes war die­ser Wolf­gang Welt – Kür­zel: WoW – nicht: ei­ne »Edel­fe­der«. Sein Schrei­ben war eher Mar­ke »ab­ge­kau­ter Ku­gel­schrei­ber«, ra­di­kal sub­jek­tiv, bis­wei­len hart, teil­wei­se vul­gär (min­de­stens aus heu­ti­ger Sicht), aber nie un­ge­recht. Na­ja, fast nie. Das Ich als In­stanz wähl­te er sehr früh und setz­te es im­mer durch. Mar­tin Wil­lems, der im Hein­rich-Hei­ne-In­sti­tut in Düs­sel­dorf den Nach­lass von Wolf­gang Welt um­sich­tig und kennt­nis­reich ver­wal­tet (und im Früh­jahr ei­ne groß­ar­ti­ge Wolf­gang-Welt-Nacht auf Deutsch­land­funk Kul­tur prä­sen­tier­te), hat­te des­sen Tex­te zu Mu­sik und Li­te­ra­tur 2012 im Klar­text-Ver­lag un­ter dem Ti­tel »Ich schrieb mich ver­rückt« her­aus­ge­ge­ben. Die­ser Band ist lan­ge ver­grif­fen. Nun al­so ei­ne Neu­auf­la­ge mit vie­len Er­gän­zun­gen. Man kann ihm und dem Ver­lag An­dre­as Reif­fer nicht ge­nug dan­ken, dass nun ei­ne um auch bis­her un­ver­öf­fent­lich­te Tex­te er­wei­ter­te Text­samm­lung her­aus­ge­bracht wur­de (klei­ner Wer­muts­trop­fen: in neu­er Recht­schrei­bung), un­ter an­de­rem mit sei­nem mei­ner Mei­nung nach schön­sten »fik­tio­na­len» Text, dem Ro­man­frag­ment »Pann­schüp­pe«, die dem zwei­ten Band gleich den Na­men gab.

Wolfgang Welt: Die Pannschüppe (Hrsg.: Martin Willems)

Wolf­gang Welt: Die Pann­schüp­pe (Hrsg.: Mar­tin Wil­lems)

Den gan­zen Bei­trag hier bei Glanz und Elend wei­ter­le­sen