Ge­or­ges Si­me­non: Tro­pen­kol­ler

Georges Simenon: Tropenkoller

Ge­or­ges Si­me­non:
Tro­pen­kol­ler

Im Ori­gi­nal heißt der Ro­man ei­gent­lich »Le coup de lu­ne«, al­so un­ge­fähr »Mond­stich« – im Deut­schen hin­ge­gen zu­nächst »Tro­pen­fie­ber«, dann »Tro­pen­kol­ler«. Viel­leicht wür­de man das Buch an­ders le­sen, wenn der eher my­sti­sche Ori­gi­nal­ti­tel prä­zi­se über­setzt ge­wor­den wä­re. Aber die mit dem deut­schen Ti­tel ver­bun­de­ne Ent­my­sti­fi­zie­rung ist ei­gent­lich ganz gut.

Si­me­non hat­te den Ro­man bin­nen kur­zer Zeit – al­so wie im­mer – 1932 nach ei­ner Rei­se durch das ko­lo­nia­le Afri­ka für ein fran­zö­si­sches Ma­ga­zin ge­schrie­ben. Der schot­ti­sche Schrift­stel­ler Wil­liam Boyd weist in sei­nem kun­di­gen Nach­wort zu Recht dar­auf hin, dass man die­ses ha­sti­ge Ent­ste­hen dem Ro­man an­merkt. Es gibt Ab­schwei­fun­gen von der Ge­schich­te, die ins Nichts ver­lau­fen und bis­wei­len ei­ne stark dra­ma­ti­sie­ren­de Spra­che. Am stärk­sten hat mich die Un­ge­reimt­heit ge­stört, dass ge­gen En­de die Haupt­fi­gur Jo­seph Ti­mar plötz­lich ei­nen Re­vol­ver in der Ta­sche hat und nie­mand ge­nau weiß, wie der da her­ge­kom­men ist.

»Tro­pen­kol­ler« ist aber nicht nur in die­sem Punkt ein ty­pi­scher »ro­man durs« von Ge­or­ges Si­me­non, al­so ein Ro­man oh­ne sei­nen le­gen­dä­ren Kom­mis­sar Mai­gret. Ei­ne Tä­ter­jagd gibt es nicht; um Span­nung zu er­zeu­gen braucht es kei­ne Who­dun­nit-Kon­struk­ti­on. Der Tat­her­gang des Mor­des an ei­nen Schwar­zen ist schnell mehr oder we­ni­ger klar; das Mo­tiv wird früh prä­sen­tiert. Boyd weist dar­auf hin, dass die »Sto­ry« sel­ber nicht das mit­rei­ßen­de ist. Da­für be­sitzt der Ro­man ei­ne enor­me at­mo­sphä­ri­sche Ver­dich­tung der Stim­mung im ko­lo­nia­len Ga­bun der 1930er Jah­re, die enor­me Hit­ze, die Ge­rü­che, die Ein­tö­nig­keit des Le­bens dort, die Le­thar­gie der Prot­ago­ni­sten. Und vor al­lem geht es Si­me­non um die Aus­ge­stal­tung der Psy­che (und der Phy­sis) des 23jährigen Jo­seph. Er stammt aus wohl­ha­ben­dem Hau­se und wur­de von sei­nem On­kel nach Li­bre­ville, Ga­bun, ge­schickt. Dort soll er in ei­nem Un­ter­neh­men an­fan­gen, aber man weiß dort von ihm nichts (ein Sze­na­rio ähn­lich wie in »Die Schwar­ze von Pa­na­ma«, ein paar Jah­re spä­ter ge­schrie­ben). Die so­for­ti­ge Rück­rei­se nach Frank­reich ist nicht mög­lich (oder nicht ge­wollt, das bleibt un­klar).

Durch­aus mit fi­nan­zi­el­len Mit­teln aus­ge­stat­tet, quar­tiert er sich zu­nächst im »Ho­tel Cen­tral« ein. Das Pu­bli­kum dort be­steht aus Ko­lo­ni­al­be­am­ten, Holz­fäl­lern und Kauf­leu­ten – al­les Wei­ße. Schwar­ze die­nen als Per­so­nal. Noch glaubt er der Agen­da: »Es gab ins­ge­samt fünf­hun­dert Wei­ße in Li­bre­ville. Leu­te, die ein har­tes, manch­mal ge­fähr­li­ches Le­ben auf sich nah­men, nur da­mit man in Frank­reich be­gei­stert von der Er­schlie­ßung der Ko­lo­nien spre­chen konn­te.«

Die Wir­tin Adè­le Renaud führt dort ei­ne har­te Hand. Aber be­reits in der er­sten Nacht ver­führt die »fül­li­ge fünf­und­drei­ßig­jäh­ri­ge Frau«, die stets nur ein schwar­zes Kleid trägt, mit ih­rer »dumpfe[n] Sinn­lich­keit« Jo­seph. Tags dar­auf wird bei ei­nem klei­nen Fest un­ter du­bio­sen Um­stän­den ein Schwar­zer er­schos­sen. Fast gleich­zei­tig stirbt der bett­lä­ge­ri­ge Mann von Adè­le. Die Be­hör­den agie­ren eher lust­los, um Zeu­gen für das Ver­bre­chen zu ver­neh­men. Es ist eh klar: Nie­mand hat et­was ge­se­hen. Jo­seph lernt die kor­rup­te und trä­ge Ko­lo­ni­al­bü­ro­kra­tie ken­nen, de­nen die Be­stückung ih­rer Bar wich­ti­ger ist als ei­ne se­riö­se Er­mitt­lung. Der On­kel ist dem Kom­mis­sar und so­gar dem Gou­ver­neur als öko­no­mi­sche und po­li­ti­sche Grö­ße be­kannt und hoch an­ge­se­hen. Adè­le ent­wickelt in­des­sen Plä­ne mit Jo­seph: Im Lan­des­in­ne­ren, weit ent­fernt von der Haupt­stadt, möch­te sie ein Ge­biet pach­ten. Es gibt dort Tro­pen­holz, wel­ches lu­kra­tiv nach Eu­ro­pa ver­kauft wer­den kann. Mit 1 Mil­li­on Francs bin­nen we­ni­ger Jah­re kön­ne man dann nach Frank­reich zu­rück und dort sorg­los le­ben. Jo­seph te­le­gra­phiert sei­nen On­kel an, der ihm die Mög­lich­keit er­öff­net, das Grund­stück zu pach­ten, wäh­rend Adè­le mit dem Ver­kaufs­preis für das Ho­tel ein­steigt. Die bei­den bre­chen auf.

Es be­ginnt zu­nächst viel­ver­spre­chend, aber Jo­seph quält sich mit Al­ko­hol, dem in Schü­ben auf­tre­ten­den Den­gue-Fie­ber und noch mehr mit sei­ner Ah­nung, dass Adè­le den Schwar­zen um­ge­bracht hat. Über­haupt ist er von Be­ginn an star­ken Stim­mungs­schwan­kun­gen un­ter­wor­fen. Un­be­ha­gen, Eu­pho­rie, de­pres­si­ve Schü­be, Wahn­vor­stel­lun­gen und dann auch wie­der Ru­he­pha­sen wech­seln in im­mer schnel­le­rer Fol­ge ab. Si­me­non be­schreibt de­tail­liert je­des Auf­kom­men die­ser Stim­mun­gen, die oft kei­nes be­son­de­ren An­las­ses be­dür­fen. Hin­zu kom­men noch das tro­pi­sche Kli­ma und ei­ne zu­neh­men­de, zeh­ren­de Ei­fer­sucht. Ir­gend­wann ist ihm klar, dass Adè­le ir­gend­wann mit al­len Ho­no­ra­tio­ren ge­schla­fen ha­ben muss und auch den Vor­ar­bei­ter im Holz­be­trieb hat er in Ver­dacht. Je­der noch so kur­ze Ab­senz von Adè­le macht ihn un­ru­hig, fah­rig. Jo­seph scheint mehr­mals dem Wahn­sinn na­he, aber Adè­le kann ihn zu­nächst im­mer be­sänf­ti­gen. Ei­nes Nachts stellt er sie zur Re­de – und sie ge­steht den Mord.

Jetzt auch noch das schlech­te Ge­wis­sen. Kann er da­mit wei­ter­le­ben? Am näch­sten Mor­gen ist Adè­le nicht da, sie ist nach Li­bre­ville zum Pro­zess ge­fah­ren. Adè­le oder wer auch im­mer hat­te für ei­nen Schul­di­gen be­zahlt: »Der Dorf­äl­te­ste wähl­te den­je­ni­gen aus, den er am we­nig­sten lei­den konn­te«. Ra­send in ei­ner Mi­schung aus Ei­fer­sucht, Trotz und Lie­be be­schließt er eben­falls auf­zu­bre­chen – in ei­nem Ru­der­boot mit ei­nem Dut­zend Schwar­zer.

Der Ro­man nimmt mit die­ser Rei­se ei­ne klei­ne Aus­zeit. Die Sze­nen mit den Schwar­zen im Boot auf der nicht ganz un­ge­fähr­li­chen Rei­se sind fast episch ge­schil­dert. Jo­seph be­kommt ei­nen an­de­ren Blick­win­kel auf die Schwar­zen, die ihm bis­her nur als Skla­ven er­schie­nen wa­ren. Ih­re Kraft, ih­re Ge­sän­ge, mit der sie traum­wand­le­risch das Boot si­cher ru­dern und steu­ern, ih­re Nackt­heit, ihr Da­sein in die­ser Welt – al­les im­po­niert ihm. Da­zwi­schen er, der Wei­ße, der ei­gent­lich nichts von ih­nen weiß, des­sen Macht­in­si­gni­en Al­ko­hol, Zi­ga­ret­ten und, vor al­lem, der Tro­pen­helm ist. Jo­seph ahnt zum er­sten Mal: Er hat hier nichts zu su­chen. Die ge­lun­ge­ne Sze­ne zer­stört Si­me­non dann doch noch, in dem er Jo­seph wäh­rend ei­ner Rast mit ei­ner schö­nen Schwar­zen schla­fen lässt und das mit al­ler­lei Schwulst gar­niert.

Als er end­lich in Li­bre­ville an­kommt, be­äugt man ihn arg­wöh­nisch. Die aus­ge­mach­te Sa­che wird na­he­zu of­fen kom­mu­ni­ziert; nur mit Mü­he vom Rich­ter un­ter­drückt. Jo­seph sitzt im Zu­schau­er­raum, be­trun­ken, de­li­rie­rend und sorgt schließ­lich für ei­nen Eklat wäh­rend der Ver­hand­lung. Er muss doch sa­gen, wer der wirk­li­che Mör­der war. Die Poin­te: Am En­de wis­sen we­der Jo­seph noch der Le­ser so ge­nau, wie die Sa­che aus­ge­gan­gen ist. Jo­seph be­fin­det sich im letz­ten Ka­pi­tel auf ei­nem Schiff zu­rück nach Frank­reich; er scheint end­gül­tig gei­stes­krank ge­wor­den zu sein, sei­ne Er­in­ne­run­gen sind ver­wir­rend.

Boyd weist zu Recht dar­auf hin, dass »Tro­pen­kol­ler« ein zu­tiefst an­ti­ko­lo­nia­li­sti­scher Ro­man ist. Si­me­non ver­steht es mei­ster­haft, die Ver­stö­rung des wohl­stands­ver­wöhn­ten Fran­zo­sen in ein ihm frem­des und im­mer fremd­blei­ben­des Land zu er­zäh­len, in der nur we­ni­ge Wei­ße ein auf Dau­er ver­lo­re­nes Re­gime auf­recht er­hal­ten, in dem sie all das, wor­auf sie im ei­ge­nen Land so stolz sind, hier mit Fü­ßen tre­ten. Der Grad der »Hit­ze« des Prot­ago­ni­sten kor­re­spon­diert da­bei mit dem Ekel vor dem Vor­ge­fun­de­nen. Jo­seph will sich nicht mit ei­nem ge­fälsch­ten Mord­ur­teil ab­ge­ben, selbst wenn es sei­ner Ge­lieb­ten zum Vor­teil reicht.

Für die Neu­auf­la­ge hat der Kam­pa-Ver­lag auf die frü­he­re Über­set­zung von Hans­jür­gen Wil­le und Bar­ba­ra Klau zu­rück­ge­grif­fen. Er­gänzt und si­cher­lich hier und da »ent­schärft« wur­de sie von Ul­ri­ke Oster­mey­er. Wo frü­her »Ne­ger« stand, wird jetzt fast aus­schließ­lich »Schwar­zer« ver­wen­det. Das nimmt dem Buch nichts von sei­ner Fas­zi­na­ti­on. Boyds Ver­gleich mit Jo­seph Con­rads »Herz der Fin­ster­nis« stimmt nur be­dingt. Con­rad lässt den See­mann Char­lie Mar­low als »Ich« er­zäh­len, Si­me­non (wie fast im­mer) bleibt beim all­wis­sen­den Er­zäh­ler. Con­rad er­zählt my­stisch, ins­be­son­de­re, was die Land­schaft an­geht; die Ver­kom­men­heit der Ko­lo­ni­al­her­ren wird in ei­ner Per­son – dem Sta­ti­ons­lei­ter Kurtz – ge­bün­delt und fast sa­ti­risch über­höht dar­ge­stellt (wo­bei auch Mar­lows Ras­sis­mus prä­sent ist). Si­me­non agiert sub­ti­ler, we­ni­ger pla­ka­tiv, was bei pa­ter­na­li­stisch-sen­si­blen Ge­mü­tern Ras­sis­mus-Vor­wür­fe auf­kom­men lässt. Wie Boyd zu­recht an­merkt, kommt kein Wei­ßer in die­sem Ro­man mo­ra­lisch »da­von«. Jo­seph Ti­mars Wahn­sinn ist ei­ne wei­te­re Al­le­go­rie.

Den Tro­pen­helm bei ei­ner Schlä­ge­rei, an die sich Jo­seph nur noch dumpf er­in­nert, für im­mer ver­lo­ren, hal­lu­zi­niert er ein ver­drän­gen­des »Afri­ka, das gibt es nicht!« Ein En­de, das eben­falls ty­pisch für Si­me­non ist. Denn die Fi­gur des Jo­seph lebt im Le­ser wei­ter. In ei­ner Mi­schung aus Mit­leid und Ekel.