Chri­stoph Si­mon: Spa­zier­gän­ger Zbin­den

Christoph Simon: Spaziergänger Zbinden

Chri­stoph Si­mon: Spa­zier­gän­ger Zbin­den

Lu­kas Zbin­den ist 87 Jah­re alt und geht mit dem neu­en Zi­vil­dienst­lei­sten­den Kâ­zim ei­nen Tag durch das Be­tag­ten­heim. Er stellt ihm die ehr­ba­ren Da­men und ex­zen­tri­schen Her­ren, die ge­sprä­chi­gen Wit­wen und die schweig­sa­men Jung­ge­sel­len, die rou­ti­nier­ten Geh­rock­be­nüt­zer, schlur­fen­den Stu­ben­hocker mit dörr­flei­schi­gen Ge­sich­tern vor, weist de­zent auf die Ver­wirr­ten, de­ren Ge­dan­ken durch­ein­an­der­rol­len wie Erb­sen auf ei­nem Tel­ler hin und be­geg­net me­di­zi­nisch Be­treu­ten mit ei­nem Cock­tail in den Adern, bei dem Blut ei­ne ne­ben­säch­li­che Zu­tat ist. Die­ser Ort be­her­bergt aus­ge­dien­te In­ge­nieu­re, Ge­wer­be­trei­ben­de, Bü­ro­an­ge­stell­te, Haus­frau­en, Be­am­te, Ar­mee­an­ge­hö­ri­ge, Feu­er­lösch­ge­rä­te­kon­trol­leu­re, Bus­fah­rer, Über­soll­ar­bei­ter, Ser­vice, Pa­pe­te­rie und Leu­te, die sich Ur­laub erst gönn­ten, als Fe­ri­en ge­setz­lich vor­ge­schrie­ben wur­den.

Schon die­ser Be­ginn zeigt die Stim­mung die­ses Ro­mans an, der ein ein­zi­ger Mo­no­log des ehe­ma­li­gen Leh­rers Lu­kas Zbin­den ist. Die Ent­geg­nun­gen der an­de­ren Per­so­nen blei­ben dem Le­ser ver­bor­gen; er ent­nimmt sie al­len­falls Zbin­dens Re­ak­tio­nen. Die­ser klet­tert die Trep­pen­stu­fen hin­ab und hin­auf als sei er auf ei­ner Ex­pe­di­ti­on (wie elo­quent die Be­nut­zung des Fahr­stuhls trotz der Müh­sal des Trep­pen­stei­gens ab­ge­lehnt wird, ob­wohl: wäh­rend der Lift­fahrt baut man drau­ßen in we­ni­gen Se­kun­den die Welt um), nimmt am All­tag der ihm be­geg­nen­den Be­woh­ner und Pfle­ger re­gen An­teil, lä­stert ver­ein­zelt ein we­nig, amü­siert und är­gert sich über die über­trie­be­ne Ge­schäf­tig­keit des Heim­lei­ters und stellt Kâ­zim da­bei wie ei­nen per­sön­li­chen Pfle­ger vor.
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(Pl)Attitüden des Ka­ba­retts

Des­il­lu­sio­nie­ren­de und mes­ser­schar­fe Ana­ly­se des deut­schen po­li­ti­schen Ka­ba­retts in der Süd­deut­schen Zei­tung von Burk­hard Mül­ler – »Dumm zu sein be­darf es we­nig.« Zu­nächst macht Mül­ler ei­nen Par­force­ritt durch die Kul­tur­ge­schich­te des Ka­ba­retts, um dann fest­zu­stel­len:

    Das Ka­ba­rett war im al­ten West­deutsch­land, ne­ben Ma­ga­zi­nen wie Stern und Spie­gel, ei­ne der wich­tig­sten Aus­drucks­for­men der So­zi­al­de­mo­kra­tie auf der Ziel­ge­ra­den. Gibt es et­was Be­flü­geln­de­res, als kämp­fen­der Held und doch schon si­che­rer Sie­ger zu sein? Was das Ka­ba­rett sei­nem dank­ba­ren Pu­bli­kum schenk­te, war die be­se­li­gen­de Teil­ha­be an die­sem Ge­fühl. Der per­sön­li­che An­griff auf den Mäch­ti­gen und die per­sön­li­che Ge­fahr, die er be­deu­tet, die Ex­plo­si­on des Wit­zes, die ei­nen Gel­tungs­an­spruch zer­fetzt wie ei­ne Hand­gra­na­te den Leib des Po­ten­ta­ten: das setzt im Fall des Ge­lin­gens ge­wal­ti­ge Men­gen Glücks­hor­mo­ne frei.

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Der Hin­ter­welt­ler und die Igno­ranz

    Tat­säch­lich war es viel­leicht noch zu kei­ner Zeit we­ni­ger schwie­rig als heu­te zu Wir­kung und Gel­tung zu ge­lan­gen; und ge­ra­de weil es so leicht ist zu »wir­ken«, scheint es un­mög­lich zu wir­ken.

    Von je­der Pla­kat­säu­le droht ein neu­er, be­son­de­rer Welt­um­sturz, schrei­en Ent­hül­lun­gen, locken frisch ent­deck­te Di­men­sio­nen. Die Fol­ge ist, daß sich nie­mand mehr dar­über auf­regt; au­ßer den Leu­ten na­tür­lich, die von ih­rer Auf­re­gung le­ben.

    Wir sind über­füt­tert mit Ge­dan­ken.*

Ist das die Kla­ge ei­nes gut be­zahl­ten Re­dak­teurs ei­nes (so­ge­nann­ten) Qua­li­täts­me­di­ums, der sei­ne Mei­nungs­füh­rer­schaft durch neue, ob­sku­re Kräf­te un­ter­mi­niert sieht? Oder ein­fach nur ei­ne Fest­stel­lung ei­nes des­il­lu­sio­nier­ten Blog­gers, der das sou­ve­rä­ne Ig­norieren durch die eta­blier­ten Me­di­en sträf­lich un­ter­schätzt hat­te und trotz al­ler An­stren­gun­gen sei­ne re­gel­mä­ßi­gen Be­su­cher pro­blem­los in ei­nem Mit­tel­klas­se­wa­gen un­ter­brin­gen könn­te? Und mit­ten­drin der seuf­zen­de Le­ser, Zu­schau­er, Zu­hö­rer: Wir hin­ge­gen stöh­nen un­ter der Last von [...] Mei­nun­gen, von de­nen je­de ein­zel­ne nicht Un­recht hat und die doch we­der ein­zeln, noch mit­sam­men das Ge­fühl der Wahr­heit ge­ben. Es scheint, wir sind mit­ten im ak­tu­el­len Über­for­de­rungs-Kla­ge­dis­kurs à la »Payback«. Wei­ter­le­sen

Leo Pe­rutz: Zwi­schen neun und neun

Tat­säch­lich ei­ne ge­lun­ge­ne Neu­auf­la­ge von Leo Pe­rutz’ 1918 er­schie­ne­nem Buch »Zwi­schen neun und neun«. Ne­ben der tem­po­rei­chen Er­zäh­lung gibt es ei­nen klei­nen aber fei­nen, fünf­sei­ti­gen An­mer­kungs­teil und ein kennt­nis­rei­ches,

Leo Perutz: Zwischen neun und neun

Leo Pe­rutz: Zwi­schen neun und neun

be­hut­sam er­gän­zen­des Nach­wort von Tho­mas Bleit­ner. Das al­lei­ne wä­re schon Grund zur Freu­de, aber da sind auch noch die wun­der­ba­ren, die Stim­mung des Bu­ches und der Prot­ago­ni­sten kon­ge­ni­al tref­fen­den me­lan­cho­lisch-ex­pres­sio­ni­sti­schen Il­lu­stra­tio­nen von Ra­sha El Sa­wiy, die er­staun­li­cher­wei­se die Phan­ta­sie des Le­sers nicht ein­engen, son­dern so­gar er­wei­tern. (Klei­ner Wer­muts­trop­fen: Lei­der wird der Na­me der Künst­le­rin aus­ge­rech­net auf Sei­te 3 falsch ge­schrie­ben.)

»Zwi­schen neun und neun« – das sind zwölf Stun­den im Le­ben des Sta­nis­laus Dem­ba im Mai 1917. Dem­ba lebt als Stu­dent in Wien und ist ein kau­zi­ger, zu­wei­len cho­le­ri­scher Ge­sel­le, der sich als Nach­hil­fe- bzw. Haus­leh­rer in den bes­se­ren Krei­sen ver­dingt. Er hat her­aus­be­kom­men, dass sei­ne Freun­din Son­ja ei­nen neu­en Lieb­ha­ber hat, mit dem sie am näch­sten Tag nach Ve­ne­dig fah­ren will. Dem­ba will dies un­be­dingt ver­hin­dern, ak­zep­tiert Son­jas Ab­wen­dung nicht und glaubt, sie um­stim­men und mit ihr die Rei­se ma­chen zu kön­nen, wenn er ihr das Geld in den näch­sten Stun­den vor­legt. So ha­stet er nun durch die Groß­stadt, möch­te ein (ge­stoh­le­nes) Buch ver­kau­fen, treibt Schul­den ein, er­bit­tet Vor­schüs­se und fin­det sich so­gar am Bu­ki­do­mi­no-Spiel­tisch wie­der, ob­wohl er die Re­geln gar nicht kennt.
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Das un­wür­di­ge Count-Up

Als im Lau­fe des heu­ti­gen Vor­mit­tags (27. Fe­bru­ar 2010) die Mel­dun­gen über das schreck­li­che Erd­be­ben vor der Kü­ste Chi­les auf­ka­men, wur­de dies na­tür­lich auch Ge­gen­stand di­ver­ser Me­di­en. Das bei die­sen Ge­le­gen­hei­ten er­bärm­li­che und wür­de­lo­se »Count-Up« be­gann fast so­fort: Trotz un­si­cher­ster Nach­rich­ten­la­ge wer­den im­mer wie­der sinn­lo­se Zah­len von To­des­op­fern wei­ter­ge­mel­det.

Es be­gann mit ver­meint­lich 16 Op­fern, die auch bei SWR1 ge­mel­det wur­den. Die Geo­gra­phie­kennt­nis­se des Re­dak­teurs wa­ren je­doch eher be­schei­den, wie man se­hen kann:

SWR1
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Kai­ser­quar­tett

Als Hel­mut Kohl ans Ru­der ge­wählt wur­de, wir wa­ren da­mals so et­wa 17 Jah­re alt, stieg der Trom­pe­ter un­se­rer Schü­ler­band auf das Dach sei­nes Hau­ses und spiel­te das Kai­ser­quar­tett in Moll. Un­se­re Schü­ler­band war die cool­ste Schü­ler­band al­ler Zei­ten, und das Kai­ser­quar­tett in Moll wur­de ein recht­schaf­fe­ner Kat­zen­jam­mer.

Die El­tern des Trom­pe­ters wa­ren bei der ört­li­chen SPD-Ver­an­stal­tung, und wir al­le hat­ten uns des­halb bei ihm ge­trof­fen. Nach der Be­kannt­ga­be des Wahl­er­geb­nis­ses im Fern­se­hen war er ein­fach oh­ne was zu sa­gen in sein Zim­mer rü­ber ge­gan­gen, hat­te die Trom­pe­te ge­nom­men und war aufs Dach ge­stie­gen. Na­tür­lich dach­ten wir zu­erst, dass er aufs Klo oder noch Chips aus der Kü­che ho­len wol­le, aber dann hör­ten wir ihn auf der Trep­pe. Sei­ne klei­ne Schwe­ster schrie so­fort: »Wo gehstn du hin?!!!«. Wei­ter­le­sen

Bar­ba­ra Hoff­mei­ster: S. Fi­scher, der Ver­le­ger

Barbara Hoffmeister: S. Fischer - Der Verleger

Bar­ba­ra Hoff­mei­ster: S. Fi­scher – Der Ver­le­ger

In den 70er Jah­ren gab es im deut­schen Fern­se­hen ei­ne Sen­dung mit dem Ti­tel »Das ist ihr Le­ben«. Pro­mi­nen­te wur­de un­ter ei­nem Vor­wand in ein Stu­dio ge­lockt. Dort war­te­te ein auf­ge­kratz­ter Mo­de­ra­tor mit ei­nem Mäpp­chen auf sie, ging die ein­zel­nen Sta­tio­nen des Le­bens die­ses Pro­mi­nen­ten durch, lud ehe­ma­li­ge Freun­de und so­ge­nann­te Weg­ge­fähr­ten des Ga­stes ein (ty­pi­sche Kör­per­be­we­gung: die Um­ar­mung des seit Jah­ren nicht mehr Ge­se­he­nen) und frisch­te die Kar­rie­re­hö­he­punk­te auf (sel­te­ner die Rück­schlä­ge). Das hat­te ir­gend­wie den Charme von Klas­sen­tref­fen, Stamm­tisch und vor­weg­ge­nom­me­ner Grab­pre­digt. Un­ver­ges­sen die Per­si­fla­ge von Lo­ri­ot auf die­se Sen­dung, in der der Mo­de­ra­tor dem fik­ti­ven Schau­spie­ler »Ted Brown« man­gels Ver­füg­bar­keit kei­nen Schul­ka­me­ra­den aus der ei­ge­nen Klas­se prä­sen­tie­ren konn­te, son­dern nur je­man­den, der zur glei­chen Zeit in ei­ner an­de­ren Stadt zur Schu­le ging. »Er ist Ih­nen al­so völ­lig un­be­kannt« – und trotz­dem heu­te im Stu­dio. »Kön­nen wir jetzt ge­hen« fragt dann ir­gend­wann Ted Brown, als die Re­kon­struk­tio­nen im­mer ab­stru­ser wur­den.

Ein biss­chen er­in­nert Bar­ba­ra Hoff­mei­sters Buch »S. Fi­scher, der Ver­le­ger« an die­se Si­tua­ti­on. Da wer­den Zi­ta­te von Im­re Kér­tesz und Sieg­fried Un­seld in ei­ne Le­bens­ge­schich­te des aus­ge­hen­den 19. Jahr­hun­derts ein­ge­streut und man fragt sich wo­zu. Zwar ver­mei­det Hoff­mei­ster die Gat­tungs­be­zeich­nung »Bio­gra­fie« und ver­wen­det statt­des­sen den Be­griff der »Le­bens­be­schrei­bung«, aber so ganz ver­mag sie den bio­gra­fi­schen An­spruch nicht auf­zu­ge­ben. Die di­rek­te Quel­len­la­ge scheint al­ler­dings min­de­stens zu be­stimm­ten Le­bens­pha­sen Fi­schers eher dürf­tig. Hin­zu kommt ei­ne ver­tief­te Ver­schwie­gen­heit Fi­schers. Er hat­te we­der Ta­ge­buch ge­schrie­ben, noch äu­ßer­te er sich re­gel­mä­ßig in der Öf­fent­lich­keit. Da­her übt sich die Au­torin in Spe­ku­la­tio­nen, die sie je­doch im­mer­hin als sol­che kenn­zeich­net. Den­noch be­frem­den ir­gend­wann die zahl­los er­schei­nen­den Kon­junk­ti­ve. Na­tür­lich könn­te sich Fi­scher auf der Welt­aus­stel­lung am Stand der »Fir­ma S. Reich & Co.« be­fun­den ha­ben. Oder wo­mög­lich un­ter den Schau­lu­sti­gen ir­gend­ei­ner Ver­an­stal­tung ge­we­sen sein. Wahr­schein­lich war Fi­scher am 29. Ju­li 1890 bei der Grün­dungs­ver­samm­lung der »Frei­en Büh­ne« da­bei und wenn ja, so weiß Hoff­mei­ster zu­ver­läs­sig, dürf­te ihm die Mas­sen­ver­an­stal­tung nicht be­hagt ha­ben. Aber was wür­de dies be­deu­ten? Und war­um ver­stei­fen sich die­se Ver­mu­tun­gen ab und an fast zu Un­ter­stel­lun­gen?
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Ver­such über die Dicht­kunst im In­ka­reich (IV)

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Acht: Ly­ri­sche Gat­tun­gen; mit Schwer­punkt auf dem Lie­bes­lied so­wie ei­nem Ex­kurs über den Um­gang mit Lie­bes­leid und über an­di­ne Hoch­zeits­bräu­che.

Da uns die Chro­ni­sten Ge­be­te und Hym­nen in Pro­sa über­setzt ha­ben, zwei­feln man­che Au­toren an, dass der Vers über­haupt exi­stiert hat. Dies steht nun für mich au­sser Fra­ge; man weiss nur nicht, in­wie­weit die Über­tra­gun­gen an spa­ni­sche Me­tren an­ge­passt wur­den. Gar­ci­la­so spricht von „kur­zen und lan­gen Ver­sen“ und von „Sil­ben als Mass“. Wei­ter sagt Gar­ci­la­so: „No us­aron de con­so­nan­te en los versos, to­dos eran suel­tos.” Ich kann mir dar­auf nur ei­nen Reim ma­chen, wenn ich “con­so­nan­te” als “Gleich­klang“ über­set­ze, was dann hie­sse, dass kein Reim ver­wen­det wur­de. Wei­ter­le­sen