In den 1980er Jahren verdichtete sich insbesondere in linksintellektuellen Kreisen die Furcht, ja Angst, vor einer staatlich kontrollierten und regulierten Welt, einer Art »Überwachungsstaat« gemäß dem Schreckensbild des Ende der 40er Jahre geschriebenen Buches »1984« von George Orwell. In der Bundesrepublik bekamen die Vorbehalte durch eine geplante Volkszählung zusätzliche Nahrung (wobei im Vergleich mit den heutigen technischen Möglichkeiten die Ängste von damals geradezu putzig erscheinen). Frank Schirrmacher zitiert in seinem Buch »Payback« eine Stelle aus Neil Postmans Buch »Wir amüsieren uns zu Tode« aus dem Jahr 1985, in dem dieser die Differenz zwischen Orwells »1984« und dem anderen, visionär-schaurigen Roman des 20. Jahrhunderts, Aldous Huxleys »Schöne neue Welt«, herausarbeitet:
»Orwell warnt davor, dass wir von einer von außen kommenden Macht unterdrückt werden. Aber in Huxleys Vision braucht man keinen Großen Bruder, um die Menschen ihrer Autonomie, Vernunft und Geschichte zu berauben. Er glaubte, dass die Menschen ihre Unterdrückung lieben und die Technologien bewundern werden, die ihnen ihre Denkfähigkeit nehmen. Orwell hatte Angst vor denjenigen, die Bücher verbieten würden. Huxley hatte Angst davor, dass es gar keinen Grund mehr geben könnte, Bücher zu verbieten. In ‘1984’ werden Menschen kontrolliert, indem man ihnen Schmerzen zufügt. In der ‘Schönen neuen Welt’ werden Menschen kontrolliert, indem man ihnen Freude zufügt.«
Schirrmacher fügt hinzu: Huxley ist damit unserer Gegenwart ein wenig nähergekommen als Orwell.
Keine reaktionär-primitive Kulturkritik
Alles nur Altherrengestöhne, wie uns (scheinbare) Heroen des Zeitgeists beruhigen wollen und den 50jährigen Schirrmacher, der mit entwaffnendem Gestus seine mediale Überforderung eingesteht, mit seinen eigenen Worten aus dem (intellektuellen) Verkehr ziehen wollen? Alles nur Panikmache, wenn Schirrmacher durch die gänzlich intransparente Weiterverwendung der von ihm durch die Nutzung diverser Software zur Verfügung gestellten Daten einen Kontrollverlust über sich selber befürchtet? Oder betreibt da jemand unter dem Deckmäntelchen der Kulturkritik hübsch verbrämten, aber knallharten Lobbyismus für »sein« Leitmedium, die Zeitung, denn schließlich ist er Mitherausgeber der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«?
Diese fast verleumderischen Bezichtigungen dokumentieren en passant ein paradoxes Verständnis von Kulturkritik und Technikfolgenabschätzung. Plötzlich gilt – verkehrte Welt! – Affirmation als progressiv während Kritik pauschal als reaktionär denunziert wird. Fast fühlt man sich bei neuen Religionsstiftern der Internetglückseligkeit an die (italienischen) Futuristen erinnert (da fehlt auch das »Manifest« nicht) oder mindestens an die geballte Professorenschar der 1960/70er Jahre, die uns mit den sicheren Atomkraftwerken die Lösung aller Energieprobleme versprachen und Kritiker noch Jahrzehnte später als Fortschrittsverweigerer denunzierten. Bei genauer Lektüre des Buches schnappen diese rüden Beißattacken ins Leere.
Aus anderen Gründen sollte man Schirrmachers Deutungen und Schlüsse dennoch zumindest distanziert betrachten. Davor jedoch ist es dringend erforderlich, die unterschiedlichen Argumentationsebenen, die vom Autor immer wieder (durchaus geschickt) vermengt werden, zu trennen. Natürlich ist die bereits erwähnte freimütig eingestandene Überforderung, die sich im fast flehentlich vorgebrachten ersten Satz Was mich angeht, so muss ich bekennen, dass ich den geistigen Anforderungen unserer Zeit nicht mehr gewachsen bin entlädt bei näherer Betrachtung arg kokett. Wer nämlich den geistigen Anforderungen nicht mehr gewachsen ist, dürfte auch nicht (mehr) in der Lage sein, ein solches Buch zu schreiben. Die persönliche Ebene, die Schirrmacher immer wieder ins Feld führt, dient also primär rhetorischen Zwecken (indem er sich mit dem Leser, der längst ähnlich empfindet, dies jedoch bisher nicht auszusprechen wagte, »gemein« macht).
Schirrmacher ist dem Strom der Informationen über Fernsehen, Radio, Internet, SMS, Mails, Tweets, Anrufen nicht mehr gewachsen. Er schließt dabei – nicht ganz unberechtigt – von sich auf andere und macht eine Informationsexplosion aus, die unsere Wahrnehmung verändert und gleichzeitig in eine ständige Alarmbereitschaft (eine Art permanente Nervosität) versetzt. Seine Kernthesen: Informationen kostet Aufmerksamkeit (ein schönes, sich erst später erschließendes Wortspiel, welches suggeriert, dass die im allgemeinen »kostenlos« flottierenden Informationen nicht »kostenlos« sind und dieses Attribut fälschlicherweise nur pekuniär verstanden wird). Hieraus folgt verschärfend: Informationen fressen Aufmerksamkeit. Und wir werden vom Strom der Informationen derart stark abgelenkt, dass wir zu deren Verarbeitung gar nicht mehr in der Lage sind (was zeitliche und kognitive Ursachen hat).
Hauptursache dieser Überproduktion von Informationen: Das Internet – ein gewaltiger Beschleunigungsapparat, den Schirrmacher trotzdem nicht per se verteufelt, denn selbst die schlechtesten Texte im Internet haben vermutlich nicht die gleiche verheerende Wirkung wie der Trash im Privatfernsehen oder visuelle Streams im Netz. Und weiter: Wenn es um die Verkrüppelung geistiger und emotionaler Fähigkeit geht, dann bliebt das Billig-Fernsehen bis auf Weiteres ungeschlagener Spitzenreiter. Das Internet »verblödet« also den Menschen nicht; zu einer solchen Plattitüde lässt sich Schirrmacher nicht hinreißen. Wir werden allerdings, so die These, mittelfristig zu anderen Intelligenzen; Fragen, die wir heute noch stellen, kommen uns vielleicht in ein paar Jahren nicht mehr in den Sinn. Wir verlernen, den Überblick zu behalten (und immer wieder führt Schirrmacher die aktuelle Wirtschaftkrise als Beleg für seine Thesen an – hier hätten die Datenjunkies jämmerlich versagt).
Multitasking ist Körperverletzung
Mit aller Macht stemmen wir uns gegen diese Überforderung – durch das vielbeschworene »Multitasking«, d. h. das gleichzeitige Arbeiten und Agieren, aber Schirrmacher weiß: Vieles spricht dafür, dass Multitasking Körperverletzung ist. Er nennt diese scheinbar so notwendige Eigenschaft des Informationsarbeiters des 21. Jahrhunderts eine Art digitaler Taylorismus mit sadistischer Antriebsstruktur. Indem der Mensch zum Multitasking sozusagen »vergattert« wird (entweder durch berufliche Vorgaben oder einer Art Selbstverpflichtung [sei es aus Gründen eines vagen kognitiven Veränderungsdruck[s], der aufgrund sozialer Akzeptanz beispielsweise einer Gruppe ausgeübt wird oder auch einfach nur aus Neugier]) wird er selber zur Maschine bzw. zur Maschine degradiert. Denn das Wesen des Multitasking, das Ausführen mehrerer Aufgaben zur gleichen Zeit, ist exakt das, was der Computer leistet bzw. zu welchem Zweck er angeschafft ist. Und schließlich bilanziert Schirrmacher: Multitasking funktioniert auch gar nicht, selbst bei allem guten Willen (nicht ganz unwichtig, dass Schirrmacher den Begriff ausschließlich digital definiert und das »mechanische« Multitasking, welches zum Beispiel jeder Koch täglich praktizieren muss, gar nicht zur Kenntnis zu nehmen scheint).
Die Folgen dieses nicht gewinnbaren Wettlaufs: Ich-Erschöpfung und Aufmerksamkeitsstörung[en]. Dies sei, so Schirrmacher, unabhängig vom Alter. Damit widerspricht er der landläufigen These, dass die Konditionierung der »Digital Natives« auf Computersysteme und deren Geschwindigkeit gegenüber der Generation der »Digital Immigrants«, welche mit solchen Techniken erst im Erwachsenalter konfrontiert wurde, vorteilhaft sei.
Eine weitere Folge des Multitaskings: Texte werden nicht mehr genau gelesen und höchstens noch mit »copy & paste« in eigene oder andere Texte integriert. Studenten übernehmen Teile von Publikationen, die sie in Gänze nicht gelesen haben und damit gar nicht beurteilen können, ob dieser Ausriss nicht eventuell kontextverfälschend zitiert wird. Wer sich in Unternehmen umhört, kennt das Problem: Mails werden häufig nur noch angelesen; der Sinn eines längeren Textes wird kaum noch erschlossen. Die Konzentration auf eine Tätigkeit wird durch dauernde Unterbrechungen abgelenkt (während des Lesens einer Mail gibt es einen Anruf; die Mail wird trotzdem weitergeschrieben und nebenher hört man mit halbem Ohr das Telefonat eines Kollegen mit). Ob es immer tatsächlich durchschnittlich fünfundzwanzig Minuten sind bis wir nach einer Unterbrechung wieder zu unserer ursprünglichen Tätigkeit zurückkehren darf man vielleicht trotz entsprechender Studie anzweifeln, denn dass wir einfach vergessen haben, was wir überhaupt getan haben, und das so entstandene Vakuum schnell mit noch zwei anderen Projekten füllen wollen, kommt allzu pauschalisierend daher.
Interpretationskompetenz und Powerpoint
Zweifellos: Die immer mehr vereinfachende, trivialisierende Darstellung von in Wirklichkeit komplexen Vorgängen findet statt. Die Interpretationskompetenz beispielsweise bei Statistiken schwindet – auch und vor allem bei ihren Interpreten: Journalisten, Publizisten, Autoren. Hier führt Schirrmacher ein bekanntes Beispiel an: Die Aussage, Brustkrebsvorsorgeuntersuchungen (das sogenannte Screening) würden das Krebsrisiko um 20% mindern. Selbst vielen Ärzten geht diese Aussage leicht über die Lippen. Die Zahl suggeriert, dass durch rechtzeitige Vorsorgeuntersuchungen 20 von 100 Frauen sozusagen »gerettet« werden könnten. Das ist jedoch falsch. Es heißt nur, dass von tausend Frauen, die sich keinem Screening unterziehen, fünf sterben, und von tausend Frauen, die eines machen, vier sterben werden. Der Unterschied von vier zu fünf ergibt die zwanzig Prozent. Diese korrekte Auslegung erschließt sich aber nur demjenigen, der das statistische Verfahren genau nachgelesen hat und nicht einfach Propaganda irgendwelcher interessengeleiteter Verbände nachplappert.
Wie weit dieser komplexitätsreduzierende Gestus schon fortgeschritten ist, soll am Beispiel der »Columbia«-Katastrophe aus dem Jahr 2003 illustriert werden. Durch ein Video hatte die NASA damals festgestellt, dass die Raumfähre zweiundachtzig Sekunden nach dem Start von einem Stück Hartschaum getroffen worden war, das womöglich lebenswichtige Systeme beschädigt hatte. Zwölf Tage erwogen die Techniker nun, welche Folgen beim Eintritt in die Erdatmosphäre zu befürchten seien. Nach ausführlichen Recherchen bleiben 28 Powerpoint-Illustrationen, auf deren Grundlage die Verantwortlichen der NASA zu der irrigen Annahme kamen, für die Columbia bestehe keine Gefahr.
Eine spätere Überprüfung der Präsentationen zeigte: Während erst später im Kleingedruckten und bei den kleinen Aufzählungspunkten Zweifel und technische Probleme geschildert wurden, waren die Überschriften und Zusammenfassungen der einzelnen Sheets, hervorgehoben durch besonders dicke Aufzählungspunkte, optimistisch und positiv. Die Verantwortlichen wurden also von der Grafik falsch navigiert, denn in den E‑Mails, die zwischen den Technikern ausgetauscht wurde, fanden sich ausführliche Stellungnahmen zu eventuellen Problemen. Erst die Übersetzung der Erkenntnisse für die höheren Leitungsebenen der NASA in die Informationsgrafik des Computersystems hatte zur Verfälschung geführt. Nach diesem Vorgang sind bei der NASA bei der Darstellung wichtige[r] Dokumentationen keine Powerpoint-Präsentationen mehr zugelassen.
Wer hat das nicht schon festgestellt, dass in der Kette des Multitasking und der sich stets erneut kopierenden Kopien niemand mehr eigene Schlüsse zieht oder vorhandene Diagnosen auch nur überprüft? Wer hat nicht festgestellt, dass Heuristiken wie Abwägen, Überschlagen, Gewichten immer weniger praktiziert werden? Die wahre Kunst in diesem Informationsbombardement besteht vor allem erst einmal darin, Prioritäten zu setzen, d. h. Wichtiges von Unwichtigem zu separieren. Und das ist mehr als ein Stoßseufzer, fast schon Verzweiflung: Ich weiß noch nicht einmal ob das, was ich weiß, wichtig ist oder das, was ich vergessen habe, unwichtig. Denn tatsächlich beansprucht jede Information zunächst einmal die gleiche Widmung – ob es sich um die Hochzeit von Boris Becker oder einen Beschluss der Bundesregierung handelt. Erst einmal in die Multitasking-Maschine eingetreten, so fällt das Aufhören schwer. Ein vages Gefühl, etwas zu verpassen, hält uns dabei. Vielleicht würde ja just der Artikel, den wir jetzt nicht anklicken, unser Leben verändern. Wieder nicht? Dann der nächste!?
Schirrmacher beschreibt diese Tretmühle sehr schön. Die Gefahren, die sich aus der kritiklosen Übernahme der uns zur Verfügung stehenden Informationen und deren oberflächliche Interpretation ergeben, werden deutlich. Aber ist diese Überforderung ein Phänomen, welches ausschließlich dem Internet geschuldet bzw. von ihm verschuldet ist? Kann es nicht auch sein, dass jemand bei zwei Tageszeitungen und zwei Wochenmagazinen den Überblick verliert? Oder bei der Lektüre dreier Bücher parallel irgendwann nichts mehr zuzuordnen weiß?
Die Fama von der Manipulation
Schirrmacher geht aber noch einen Schritt weiter. Und dieser Schritt ist es, der das Buch bedenklich macht, weil der Autor von dem eigenen, von ihm propagierten Menschenbild zwar das Idealbild ständig heraushebt, gleichzeitig jedoch den Menschen in einer Fatumposition sieht. Schirrmacher glaubt, dass Computer uns manipulieren – und das immer raffinierter.
Zwar werden für die nächste Zukunft ausdrücklich Verhältnisse wie in Stanley Kubricks Film »2001: Odyssee im Weltraum« bestritten, als die Maschine »HAL 9000« (die im Buch nur »HAL« heißt; auf den Sinn des Namens der Figur – sie steht nach Angabe des Autors Arthur C. Clarke für »Heuristic ALgorithmic« [Heuristisch Algorithmisch] – geht Schirrmacher nicht ein; vermutlich hat er dieses Detail übersehen) die Macht an Bord des Raumschiffs übernehmen wollte, in dem er zwei menschliche Astronauten umbrachte. Solange die Roboter in der wirklichen Welt noch nicht einmal den Rasen mähen können, ohne alles durcheinanderzubringen braucht man sich hierüber, so Schirrmacher, keine Sorge machen. Dennoch entwickelt er im weiteren Verlauf des Buches ein stetig steigendes Unbehagen welches (zunächst) in eine semi-apokalyptische Vision mündet.
Der »informationsfressende« Mensch begibt sich in den Wahn (oder die Hybris?), sich in punkto Informationsverarbeitung mit dem Computer zu messen. In Wahrheit habe der Computer längst den Menschen als Medium auf die von ihm gesammelten Daten hin manipuliert. Das Werkzeug arbeitet sich seinen Erfinder um. Im berühmten Turing-Test, den Schirrmacher anführt, können die Probanten nicht mehr unterscheiden, ob ein Mensch oder eine Maschine mit ihnen kommuniziert. Das ist für Schirrmacher ein Kriterium, dass die Maschinen in wenigen Jahrzehnten intelligenter sein werden als die Menschen (und man überlegt, warum er »HAL 9000« einige Seiten vorher ins Reich der Fabel verwies).
Schirrmacher hätte gar nicht auf diesen Test ausweichen müssen: Jeder handelsübliche Schach-Computer vermag heutzutage einen mittelstarken Turnierspieler nach Belieben zu schlagen. Im Buch wird der Mathematiker Steven Strogaz zitiert, der feststellt, dass kein Mensch…die Beweisführung der Computer in der Grundlagen-Mathematik mehr nachvollziehen kann (und selbst wenn es einer könnte, wie sollten wir ihm glauben?). Aber ist das schon Beleg für »Intelligenz«? Sind nicht Mathematik und das Schachspiel aufgrund ihrer streng berechenbaren Kausalitäten geradezu geschaffen für »Maschinen«? Natürlich hat Schirrmacher Recht, wenn er sein Unbehagen äußert, dass die Reihenfolge der uns zur Verfügung gestellten Informationen von anderen bestimmt wird (wobei er den Fehler macht, den Suchmaschinen-Algorithmus rein quantitativ zu erklären). Aber ist dieses Phänomen der intransparenten Prioritätensetzung nicht auch bei der »guten, alten« Zeitung oder einem Bücherregal im Buchhandel virulent? Wundert es nicht gelegentlich, welche Themen beispielsweise in den Hauptnachrichtensendungen des Fernsehens an welcher Stelle stehen (und welche Unterschiede es dort manchmal gibt)? Wer bestimmt dort – und vor allem: nach welchen Kriterien – die Reihenfolge?
Wo bleibt die Autonomie des menschlichen Geistes?
Spätestens jetzt beginnt man die im Buch fehlenden Definitionen für die verwendeten Begrifflichkeiten zu vermissen; ein Problem, weil Schirrmacher das Buch in einer Art anekdotischen Plauderton verfasst hat. Da ist zu vieles einfach nur »Information«, ohne zu differenzieren (d. h. er macht zur Demonstration seiner These genau das, was er als deren Resultat ableitet). Maschinen sind für ihn einfach »intelligent«, weil sie entsprechend (wie?) programmiert sind. Aber kann die Maschine des Turing-Tests, die täuschendechte Kommunikation mit Menschen führen kann, eine Stunde später eine Schach-Partie spielen und am nächsten Tag ein Buch lesen und zusammenfassen?
Sind denn die automatisch erzeugten (Werbe-)Vorschläge von Amazon, Google-Mail oder anderen tatsächlich derart gefährlich, wie hier suggeriert wird? Er irrt doch, wenn er meint, Softwareprogramme würde unsere Assoziationen bzw. unser assoziatives Gedächtnis versuchen, in Mathematik [zu] verwandeln (eine Lieblingsmetapher Schirrmachers, die er noch in einer unergiebigen Betrachtung über Parallelen von Kafkas Gregor Samsa zum Menschen im Informationszeitalter vertieft). Was »verwandelt« wird, sind nicht Assoziationen, sondern explizite Handlungen (vulgo: Klicks; Mails oder andere Textäußerungen im Internet, die bestimmte Schlagworte enthalten und entsprechend ausgewertet werden). Und diese Handlungen, die zur unerwünschten Kategorisierung führen, können unterlassen werden; die »Vorschläge« kann man ignorieren (vielleicht DIE neu zu erlernende Fertigkeit). Erst der menschliche Wille, sich selbst transparent zu machen ermöglicht diese Vorschläge. Und selbst wenn man »Wille« durch »Arglosigkeit« ersetzt, so ist es »nur« ein zu erlernender Vorgang, sich dieser Art von Transparenz zu verweigern.
Sehr früh heißt es im Buch: Der Computer ist kein Medium. Er ist ein Akteur. Hiermit wäre die Selbst-Amputation des Menschen, hervorgerufen durch technische Entwicklungen (bspw. hat die Entwicklung des Taschenrechners das Kopfrechnen bei den meisten Menschen vollkommen verkümmern lassen), beschrieben als eine Art numinoses Schicksal, dem nicht mehr zu entkommen ist. Aber wie wäre es, wenn der Computer als Werkzeug betrachtet, ja wiederentdeckt würde? Der Diagnose, dass wir viel zu häufig der Technik dienen, statt diese uns, können etwa Anwender von Warenwirtschaftssoftware bisweilen durchaus feststellen. Das ist allerdings oft genug eine Strategie der Anbieter, die sich eingängige Bedienung zusätzlich vergüten lassen wollen. Umgekehrt schreibt Schirrmacher durchaus zu recht, dass wir zum Beispiel die Entlastung durch Google gar nicht richtig…nutzen können und jeder Teilnehmer eines Word- oder Excel-Basiskurses ist erstaunt und überrascht, welche Möglichkeiten in den Programmen schlummern. Sind aber fehlende Kenntnisse der Nutzer und hierdurch unzureichende Bedienung den Programmen anzulasten?
Aber Schirrmacher lässt von seiner These nicht ab. Unsere Werkzeuge verändern unsere Umwelt, vor allem aber verändern sie uns selbst. Und dann eine kühne Volte: Die meisten Menschen denken, dass man eine Idee haben muss, um ein Werkzeug zu konstruieren. Aber sehr viel häufiger hat man ein Werkzeug in der Hand und überlegt sich dann erst, ob man damit nicht auch an unserer Vorstellung von der Welt herumbasteln kann. Eine interessante Aussage, deren Essenz im Satz gipfelt Wahrscheinlich hat der Urmensch erst den Faustkeil entdeckt und sich dann überlegt, was er mit ihm anstellen kann. Ein Hauch von Verschwörungstheorie umweht diesen Gedanken.
Die Vermenschlichung des Computers
Die Tatsache, dass es sich beim Computer zunächst einmal um eine Erfindung des Menschen handelt, würde dann zur Tragik: die Verselbständigung des Roboterintellekts zu Ungunsten der menschlichen Intelligenz ist ein unerwünschter, aber nicht mehr aufzuhaltender Effekt. Der Mensch als Goethes Zauberlehrling. Die Verhältnisse werden sukzessive umgekehrt – der Mensch dient der Maschine, die im Wesentlichen die Aufgaben des Menschen übernommen hat. Immerhin halten uns die Automaten – so weiß Schirrmacher – derzeit noch für nützlich.
Nicht ohne Grund wird auf die große Gefahr der Computerisierung des Menschen bzw. Vermenschlichung der Maschinen verwiesen. Aber Schirrmacher selber betreibt nicht nur exakt die Anthropomorphisierung des Computers, die er den Verfechtern der Informationsgesellschaft vorwirft, sondern unterminiert auch noch die Existenz des freien, menschlichen Willens, indem der Mensch zum rein passiven Nutzer wird, der den Algorithmen der Datensammler hilflos ausgeliefert ist und dies noch nicht einmal bemerkt. Dabei irritiert die zurückhaltende, ja fast devote Haltung, wenn es um Softwareentwickler oder Firmenchefs geht (die ihm, wie man in den Fußnoten nachlesen kann, viele Informationen »persönlich« gegeben haben). Handelt es sich doch um jene Menschen, die den Computer erst in die Lage versetzen, die Entmenschlichung des Menschen zu betreiben.
Und sonderbar diese Ausflüge in die Philosophie, dieses Changieren zwischen Ablehnung und Akzeptanz des »freien Willens« nebst abschließendem Resümee, dass es völlig egal sei, ob es einen freien Willen [gebe] oder nicht. Wichtig sei alleine, dass wir an ihn glauben – ein Glaube, den uns kein Computer der Welt geben kann, ja der im Widerspruch zu seinem Programmauftrag steht. Natürlich weiss Schirrmacher, dass, wenn der Glaube an den freien Willen schwindet,…sich das soziale Verhalten von Menschen schlagartig ändert. Unklar bleibt jedoch, wie ein freier Wille, der nur noch als »lame duck«-Hilfskonstruktion existiert (dazu auch mehr oder weniger »bis auf Widerruf« einer naturwissenschaftlich-beweiskräftigen Gegendarstellung), noch irgendwelche normbindende Wirkung erzeugen soll.
Im letzten Drittel des Buches wir dann ein Rettungsszenario entworfen. Die vorher hochgehaltenen menschlichen Eigenschaften wie Kreativität, Flexibilität und Spontaneität werden ergänzt. Vor allem setzt Schirrmacher auf die Unsicherheit, die uns erst zu produktiven, handelnden Menschen macht. Die Bildung der Zukunft muss darin bestehen, Unsicherheiten zu entwickeln. Sie muss Subjektivitäten, nicht Subjekte unterrichten. An anderer Stelle heißt es ein bisschen kryptisch: Die Bildung der Zukunft lehrt Computer zu nutzen, um durch den Kontakt mit ihnen das zu lehren, was nur Menschen können.
Es folgt ein inniges Plädoyer gegen die scheinbaren Eindeutigkeit[en], die uns immer als das nonplusultra »präsentiert« werden. Und natürlich tritt Schirrmacher auch für die Verzögerung ein (Die Verzögerung schafft Überblick und Nachdenklichkeit, sie ist gewissermaßen Papier und nicht Bildschirm) – nebst Exkurs über das Lesen. Sorgsam umkreist er das, was inzwischen überall als »Entschleunigung« präsentiert wird, ohne dies mit dem ausgelutschtem »Wellness«-Vokabular zu versehen, denn schließlich schreibt hier einer der führenden Intellektuellen Deutschlands, da wäre es ein bisschen zu einfach, mit Binsenweisheiten reüssieren zu wollen.
Widersprüche
Plötzlich kommt die Erkenntnis: Der Computer kann keinen einzigen kreativen Akt berechnen, voraussagen oder erklären. Kein Algorithmus erklärt Mozart oder Picasso oder auch nur den Geistesblitz den irgendein Schüler irgendwo auf der Welt hat. Aber wie kann dann jemand sagen, die NASA-Verantwortlichen wären von der Grafik falsch navigiert worden, obwohl doch die Grafiken durch Menschen erstellt und die Entscheidung durch andere Menschen getroffen wurde? Und es ist weder unser Schicksal, von Algorithmen gefesselt wie ein offenes Buch im Netz ausgelegt zu werden, noch eine »Pflicht«, sich den Verblödungsstrategien von News-Maschinen hinzugeben, die uns eine Ideologie des »Bestinformiertesten« einzureden versuchen. Verstörend, wie ein kluger Mensch wie Schirrmacher auch nur einen Moment den Blödsinn für möglich halten kann, dass wir in einer Welt leben, in der nicht existiert, was nicht digital existiert, ist doch diese Aussage geradezu konstituierend für das Mitmachen im Strom des Multitasking-Deppen.
Schirrmachers begeisterte Rede für den nicht perfekten Mensch wirkt nicht besonders überzeugend. Zu zeitgeistgemäss seine Ablehnung der reinen Wissensvermittlung und des Wissenslernens (und die Angriffe auf den »Bologna«-Prozess). Zu sehr auf Huxleys negativem Diktum fixiert, dass wir uns unserer inneren Freiheit zu sicher seien. Wenn dies so wäre – warum dann dieses Buch? Und zu glatt die These, wir hätten die falsche Vorstellung vom Lernen. Einerseits beklagt er die Verkümmerung bestimmter Fähigkeiten bei Menschen, die durch Maschinen übernommen bzw. delegiert werden bzw. andererseits verlangt ja wohl der generöse Verzicht auf Wissen beim Menschen eine Speicherung des Wissens an anderer Stelle (von der Frage, wer und wie diese Speicherung kontrolliert wird einmal abgesehen). Es sei denn, man will auch gleich noch dem marktwirtschaftlich-kapitalistischen System ein neues entgegensetzen, aber hierfür findet man im Buch kein Indiz.
Und wenn man vorher Studien zitiert und ausführlich berichtet hat, wie schädlich die Ablenkung vom Wesentlichen ist und damit Aufmerksamkeitsdefizite antrainiert werden, dann müsste man mindestens erläutern, warum das »aufmerksam sein«, dieses Ideal, seine Gedanken nicht abschweifen zu lassen urplötzlich wohl einer der gefährlichsten Irrtümer von Erziehung und Selbsterziehung sein soll – natürlich nach allem, was die Forschung heute dazu weiß. Und auf einmal erkennt Schirrmacher, dass Ablenkung, die er auf gefühlten hunderten von Seiten verteufelte, den Perspektivwechsel bringt, neue Ideen und Gedanken freisetzt und sogar die Gesundheit verbessert. Hier wäre von Beginn an eine deutliche Unterscheidung der unterschiedlichen Arten von »Ablenkung« (falls es sie denn gibt) produktiver gewesen.
Außer an die »menschlichen Eigenschaften« zu appellieren, dem emphatischen Appell für das Lesen (insbesondere von Büchern) und dem Ratschlag Informationen zu überdenken, statt sie zu sammeln, gibt es zu wenige Ideen, um beispielsweise dem anonymen (und nicht-transparenten) Suchmaschinen-Algorithmus und seiner scheinbaren Omnipräsenz und Omnipotenz zu entkommen. Tatsächlich besteht keine Veranlassung, immer die EINE Suchmaschine zu verwenden; die so oft kritisierte »marktbeherrschende Stellung« von Google ist weder ergaunert noch mit anderen illegalen Mitteln erreicht worden: sie existiert, weil die Nutzer sie herbeigeführt haben und immer wieder bestätigen. Oder warum nicht den Perspektivwechsel im FAZ-Feuilleton beginnen? Warum immer in Bestseller- und Auflagenkategorien denken und dem Mainstream hinterherjagen (und sei es auch nur, um ihm wortgewaltig zu widersprechen – das Wesen der Feuilleton-Debatten), statt in Ruhe beispielsweise neue, talentierte Künstler herauszufinden und diese vorzustellen?
Der Umweg
Wenn Schirrmacher konzediert, dass viele Journalisten nur noch nach algorithmischen Regeln schreiben und ihre Texte nach Pyramidenstrukturen verfassen müssen, in denen das Neue nach oben gehört, der Hintergrund nach unten und dies alles nur, damit Google die Texte findet – wer sagt ihnen, dass sie dies zu unterlassen haben und gibt ihnen die Chance, durch mehr Zeit ein Thema sorgfältiger zu recherchieren und ggf. zu überdenken? Warum wird das Bekenntnis zum »Qualitätsjournalismus« (ein Begriff, der bedauerlicherweise inzwischen schon fast zum Schimpfwort geworden zu sein scheint) so häufig nur verbal geäußert, in Wirklichkeit dann jedoch fast immer einer perversen Nachrichtenökonomie geopfert? Warum glaubt jede Wochenzeitung mit einer täglichen Nachrichtenberichterstattung auf seiner Webseite im Internet mit »tagesschau.de« mithalten zu müssen? Worin liegt der Grund, dass wir glauben, rund um die Uhr über Mobiltelefon erreichbar sein zu müssen? Und was hat das alles mit Bildung zu tun?
Es gibt ein phantastisches Buch von Manfred Osten mit dem Titel »Alles veloziferisch oder: Goethes Entdeckung der Langsamkeit«. Osten zeigt auf wunderbare Weise, wie Goethe der von ihm als Bedrohung empfundenen beschleunigten Zeit in seinen Werken Kontrapunkte setzte. Neben zahlreichen Belegen dazu im »Faust« beschäftigt sich Osten mit Ottilie aus den »Wahlverwandtschaften«, die, so die These, durch Eduard den »Geist der Ungeduld als feindseligen Dämon erkennt« und daran zerbricht, weil sie »mit jeder Art uneigentlichen Lebens« unfähig ist, einen Kompromiss zu schließen. Ostens Buch zeigt nicht nur Goethes gravierende Vorbehalte gegen die ersten Anzeichen der industriellen Revolution, die auch im Flickenteppich Deutschland im 18. Jahrhundert unübersehbar waren. Es wird illustriert, wie Goethe durch und in seiner Prosa versuchte, diese auf den Menschen zukommende Entfremdung aufzuzeigen und einzuordnen. Auch dies ohne in kulturpessimistischem Alarmismus zu verfallen, aber durchaus deutlich – und parteiisch. Vielleicht wäre die Lektüre von Ostens Buch, die unbändige Lust auf die erneute Lektüre von Goethe macht, die bessere Variante, sich über Auswirkungen und Konsequenzen dessen, was wir »Informationstechnologie« nennen, zu präparieren.
Manchmal sind Umwege nicht nur nützlich, sondern notwendig. Da würde sicherlich auch Frank Schirrmacher zustimmen.
Die kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.
Anmerkung zu den Kommentaren: Mit der Übertragung von begleitschreiben.twoday zu dieser Plattform wurde der »Kommentarbaum« geopfert. Die eingegangenen Kommentare wurden über die Steuerung des Datums und der Uhrzeit so geordnet, dass die Thread-Struktur und vor allem die Nachvollziehbarkeit und Übersichtlichkeit dieser gehaltvollen Diskussion einigermassen erhalten bleibt.
Für strukturkonservative Teilnehmer wird jedoch ausnahmsweise die Kommentarbaumstruktur der Diskussion vom 15.12.2009–03.02.2010 als pdf-Dokument geliefert. Hier können auch die »Original«-Daten (Uhrzeit) eingesehen werden. –> Kommentarbaum Payback
Dies soll Teilnehmer nicht davon abhalten, weiter zu diskutieren.
G.K.
Besten Dank für den ausführlichen Text!
Ich bin richtig froh, dieses Buch nunmehr mit gutem Gewissen nicht mehr selber lesen zu müssen :-)
Naja, das war nicht die Intention der Besprechung...
Schön auch der Hinweis auf das Buch von Manfred Osten, von dem ich gerne mehr erfahren würde.
Übrigens hat Stanislaw Lem über viele der von Schirrmacher angesprochenen Themen vor etwa zehn Jahren intelligentere und weit tiefergehende Kolumnen verfasst, die bei Telepolis nachzulesen sind:
1997 hat er offenbar bereits das Wort »Informationsexplosion« gebraucht.
Interessant der Hinweis auf Lem (davon habe ich leider keine Ahnung; Bildungslücke).
Das Buch von Osten ist unbedingt empfehlenswert.
Zuerst einmal Dank für die Rezension
Es hat mich ja wirklich interessiert, was Sie dazu meinen. Die Textauszüge sind sehr stimmig gewählt und auch die Darstellung der Schirrmacherschen Interpretation erscheint logisch.
In der Gesamtheit allerdings bin ich doch vollkommen anderer Meinung.
1) Ich glaube nicht, dass Schirrmacher das Buch geschrieben hat, um den Umsatz der FAZ oder anderer gedruckten Medien zu heben. Ich sehe bei ihm eher die wahrgenommene Möglichkeit, aus seinem Erfahrungsschatz die unterschiedlichen Phänomene zusammen zu fügen.
2) Ich habe das Buch in keiner Weise als negativierend empfunden. Nicht schlechter werden wir sondern anders. Das Zitat, dass er bringt und dass ich jetzt nur annähend widergeben kann, lautet dazu: jede Revolution amputiert bestimmte Fähigkeiten des Menschen.
3) Die Geschichte mit der Unfähigkeit des Computers »kreativ« zu sein, ist möglicherweise eine Schwäche Schirrmachers, auf die ich noch in einem Leserbrief an ihn eingehen möchte. Wir wissen nicht, was einen Menschen kreativ macht. Ich wäre noch am ehesten geneigt, an sich positiv ausbildende Defekte in einem evolutionären Vorgang im Gehirn zu denken.
Es soll nur 3% kreative Leute geben und ohne über den Prozentsatz diskutieren zu wollen, halte ich zumindest aufrecht, dass die Mehrzahl der Menschen nicht kreativ sind sondern angelernten Mechanismen und Aktionen anhängen. Vielleicht gibt es auch einen Instinkt des Intellekts. Zumindest beim Schachspiel, das so oft und so gerne als Vergleich bemüht wird, ist der Mensch nicht imstande, die komplette Vielfalt auszuschöpfen. Und der Computer auch nicht! Und trotzdem spielt der Computer heute so, dass ein Weltmeister, ich glaube es war Kasparov sagt, dass er nicht mehr erkennen könne, ob ein Zug von einem Menschen oder einem guten Computer käme.
4) Ich könnte hier noch ein paar Punkte aufzählen, doch läuft bei mir gerade ein psychologischer Shutdown. »Kill signal all in 120 Sekunden«, weil ich programmiert bin, ein Konzert zu besuchen.
Es gibt einen Punkt, der mir gerade momentan sehr am Herzen liegt und in dem ich Schirrmacher vielleicht nicht korrigieren sondern ergänzen will. Auch S postuliert eine gewisse Unfehlbarkeit der Logik, mit der ein Computer operiert. Dies stimmt aber gerade in den heutigen komplexen Systemen nicht mehr. Die Systeme und Ansammlungen von Software müssen zwangsläufig in sich inkonsistent und falsch sein (siehe Gödel), womit teilweise auch für den Computer Entdeckungsstränge möglich sind, wie man sie Kekule bei der Entdeckung des Benzolrings zuschreibt. Er hat den Ring geträumt. Als wenn wir davon ausgehen, (und ich bin überzeugt davon) dass das Unterbewusstsein eine sehr starke Rechnerleistung aufweist, dann kann ich sogar ähnliche Effekte bei einem »defekten« Programm vermuten.
‑30 Sekunden.
Resümee: Schirrmacher kommt so nahe an die Schlüsse, die ich selber ziehen würde, heran, dass ich es persönlich für ein großartiges Werk halte, welches vielleicht einige weitere nach sich ziehen wird, die nicht so gut sind, aber eine bestimmte Richtung noch viel besser erklären können.
‑5 Sekunden.
Ich selbst kann seinen Beispielen im Eigenexperiment sehr gut nachfolgen.
+5 Sekunden.
Schluss
45 Sekunden
Zu 1) Ich habe ja geschrieben, dass ich NICHT glaube, dass Schirrmacher das Buch als »Lobbyismus« verwendet.
Zu 2) Es ist schon negativ, wenn er von der Vision des manipulierten Menschen à la Huxley spricht, der dies noch nicht einmal merkt, weil diese Manipulation nicht mit Gewalt, sondern sozusagen spielerisch erfolgt.
Zu 3) Ich glaube, dass Schirrmacher Recht hat, wenn er dem Computer keine Kreativität zugesteht. Es obliegt letztlich übrigens, ob wir bspw. eine Zufallsauswahl, die ein Computer trifft als Kreativität definieren oder nicht. Aber dieses Problem haben wir auch mit der zeitgenössischen Kunst, die ihre Beliebigkeit oft genug hinter der Pose des Bedeutungsvollen versteckt.
Ich nehme an, Du hast Deine Aufmerksamkeit für einen Blogkommentar um 5 Sekunden überschritten. Immerhin.
Siezen wir uns wieder?
Entgegnung
Das Sie sollte nur meinen Beitrag amtlicher erscheinen lassen:)
Bei 1) habe ich dich missverstanden. Ich hatte dein Statement als Ironie verstanden.
2) Der Tatbestand mag negativ sein, aber S prangert ihn nicht als negativ an. Er stellt nur fest, dass es so zu sein scheint.
3) Ok, gestehen wir dem Computer keine Kreativität zu. Dann hat der Mensch aber auch keine. Ein Standpunkt, den ich nicht unbedingt so hart formulieren möchte. Doch wenn man Kreativität dem Computer abspricht, dann mit dem gleichen Recht dem Menschen.
Ich nehme jetzt zuerst einmal mich selbst als Beispiel. Dann braucht niemand beleidigt sein.
Ich bin NICHT KREATIV.
Manche Personen würden das vielleicht aus der Menge geschriebenen Materials ableiten wollen. Andere würden meine Hardware-Patente und die Software, die es vor mir noch nicht gegeben hat, als Beweis für Kreativität heranziehen. Eine dritte Gruppe würde meine künstlerische Ader ins Treffen führen.
Kein Argument kann für Kreativität herangezogen werden. Was ich tue und denke, ist die Folge von Dingen, die an mich herangebracht wurden – seit meiner Geburt. Informationen und bedingte Reflexe, die darauf reagieren, dass ich irgendwo eine Belohnung bekommen. Ich kann vielleicht Dinge erfinden, die für jemand anderen als neu erscheinen. Doch sie entstehen aus logischen Schlussfolgerungen mit leicht emotionalisierten (weil Belohnung winkt) Einschlag.
Ich würde mir wünschen, einmal etwas schreiben zu können, bei dem ich nicht weiß, warum ich etwas bestimmtes schreibe.
Ich habe schon die Erfahrung gemacht, dass sich beim Schreiben einer Geschichte oder eines Romans die Figuren zu verselbstständigen beginnen. Aber diese Verselbstständigung ist ebenfalls kausal bedingt.
Vielleicht gibt es nichtkausale Vorgänge, aber die stehen dem Computer genauso offen – in dem Moment, wo es plötzlich auf kurze Zeit eine Fehlfunktion gibt.
Wir glauben, dass der Computer nicht so »kreativ« wie wir sein kann. Da unterliegen wir einem ganz großen Irrtum, wenn wir meinen, dass die schnellere Rechengeschwindigkeit den Grad der Vernetzung im Gehirn bereits ausreichend simulieren kann.
Rein zeitmäßig wird es noch 50 Jahre dauern, bis ein Computer, der mich heute vielleicht im Schach schlägt, auch auf anderen Gebieten eine ausreichende kognitive Erkennung erfahren kann.
Ich behaupte einmal, dass der Mensch bei seiner Geburt auch nicht kreativ ist. Uns mag es aber als Kreativität erscheinen, dass er mit einem Jahr den Zusammenhang begreift, dass er am Tischtuch ziehen muss, damit die Tasse näher kommt und letztlich vielleicht vom Tisch fällt.
Wir haben uns in den Achtzigerjahren bei der Forschung von KI auf Dinge konzentriert, die wirklich nicht besonders hilfreich waren. Doch wir mussten mit den technischen Gegebenheiten leben.
Ein ausgewachsenes Pferd soll in etwas die Intelligenz eines Vierjährigen haben. Ist der Vierjährige bereits kreativ? Würden wir dem Pferd als belebtem Lebewesen die gleiche Kreativität zugestehen.
Und wieviel Lernzeit haben wir dem Computer zugestanden. In Wirklichkeit ist der Computer heutzutage ein Kaspar Hauser, der von den Erziehenden im Wald stehen gelassen worden ist. Es ist so, als wollten wir unser Kind, wenn es gehen kann, nur dazu einsetzen, Wasser zu holen, weil wir das brauchen. Sonst bringen wir ihm nichts bei.
Also ich behaupte daher, dass ich von den Möglichkeiten nicht kreativer bin als ein Computer. Ich hatte nur einen Vater und gute Lehrer, die mir vieles beigebracht haben. Und sie haben mir vor allem Schlussfolgern beigebracht und nicht statisches Wissensgut.
Eine Zufallsauswahl würde ich nicht als Kennzeichen für Kreativität gelten lassen. Weder beim Menschen noch beim Computer. Dort wo der Zufall eine Rolle spielt, ist die Mutation und die Entwicklung besserer Überlebensstrategeme. Aber das ist auch schon keine Kreativität mehr.
Ich habe mich immer geweigert, die Kriegskunst als etwas Kreatives zu sehen.
Meines Erachtens steht und fällt die Diskussion mit der Definition von Kreativität. Geht man davon aus, dass Kreativität immer auf Vorgefundenen basiert, so hast Du wohl recht. Ich sehe aber Kreativität tatsächlich anders, und zwar nicht als Schöpfen aus einer Art vorgefundenem Pool, sondern als einen Prozess, der darüber hinausgeht und – das klingt jetzt ein bisschen nach Zeitgeist – über die eigenen Grenzen hinausgeht. (Ich bin mir bewusst, auf sehr dünnem Eis zu stehen, denn streng genommen ist natürlich diese »Entgrenzung« auch nur möglich, weil sie eine Basis besitzt, usw.)
Interessant finde ich, dass Du die Kreativität des Computers bei dessen Fehlfunktionen feststellst. Demzufolge wäre ja ein kreativer Prozess aus einer »Fehlfunktion« abzuleiten. Das kann genauso wenig sein, wie mein Zufalls-Beispiel (was Du zu recht ablehnst).
Kreativität setzt m. E. ein autonomes Subjekt voraus. Der Trend geht in der letzten Zeit in die andere Richtung: Der Mensch ist anscheinend – wie die Griechen dies schon immer wussten – in seinen Entscheidungen nicht frei; es gibt ja eine durch die sogenannte Neurowissenschaft gespeiste Renaissance des vorbestimmten Subjekts (was freilich eine Gegenbewegung zum bestimmenden Soziologendiskurs der 1960er-80er Jahre darstellt). Parallel dazu wird der Computer immer mehr als gleichberechtigter »Partner« angesehen (oder, wie von Schirrmacher, als Bedrohung), was einerseits zwar den Programmierern schmeichelt, andererseits jedoch eine grundlegende Revision unseres Menschenbildes verlangen würde.
Vielleicht ist es mit »menschlichen« Eigenschaften ähnlich wie Schirrmacher mit dem freien Willen vorgeht: Man muss sie als Postulate setzen (und hier dem Menschen sozusagen exklusiv zuordnen), um nicht von vornherein vor den Möglichkeiten des Computers zu kapitulieren. Hierin könnte ein Grund legen, dass Computer – wie Du schreibst – nur zum »Wasser holen« konstruiert werden (in der Praxis ist dies durchaus schon anders; Firmen würden zusammenbrechen, wenn ihre Computersysteme »kreativ« wären). Solche »Setzungen« sind jedoch höchst problematisch, da sie den Erkenntnisdrang hemmen und als reine Dogmen unwissenschaftlich sind.
Ich glaube, wir können uns auf den Punkt einigen, dass es zuerst den Begriff Kreativität zu definieren gilt.
Gerade heute habe ich mich mit einem Ex-Chef von mir unterhalten, der gerade eine ähnliche Gedankenwelt wie ich vertritt. Es geht um einen spezifischen Aspekt der Programmierung, der in der Fachsprache »aspektorientierte Programmierung« genannt wird.
Eine Weiterführung des Gedankens endet in einer Tätigkeit des Programmierers, bei der der Programmierer bestimmte unterschiedliche Wünsche definiert, die letztlich im Programm auch interagieren, wobei die Komplexität so hoch ist, dass der Programmierer nicht mehr die eigentliche Funktionalität des Programmes durchschauen kann.
(Vergleichbar mit dem, was Schirrmacher mit den mathematischen Beweisen anführt)
In der Angelegenheit stimmen wir überein, dass zukünftige Programmierung tatsächlich so aussehen wird.
Ich habe so etwas Ähnliches 1996 mit Smalltalk versucht, aber die Maschinen waren nicht genügend leistungsstark.
Die »Kreativität« liegt in diesem Fall noch beim Menschen, der sich bestimmte Aspekte wünscht. Allerdings könnten diese Aspekte oder ihre Notwendigkeit auch von statistischen Beobachtungen und Auswertungen im Internet errechnet worden sein. In diesem Fall wäre der Mensch gar nicht gefragt.
Es ist nicht so, dass ich die »Kreativität des Computers« an den Fehlern festmachen will. Da sind zwei Dinge etwas zu nahe nebeneinander gestanden. Die Fehler sind eine Sache. Grob gesagt, Computer können heute nicht mehr richtig »rechnen«. Im Endeffekt wird die Richtigkeit eines Computerergebnisses auch durch eine Wahrscheinlichkeit ausgedrückt werden können.
Doch wir haben uns bereits in eine Komplexitätsebene begeben, bei der mehrere (auch widersprüchliche) Ergebnisse bei gleicher Eingabe möglich sind. Und dann wird nicht gewürfelt, sondern es ist vielleicht die Umgebungstemperatur, welche entscheidet, welches Ergebnis früher schlagend wird. Genauso, wie ich mich als Mensch »spontan« entscheide, etwas zu machen, weil mir entweder zu kalt oder zu heiß ist.
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Um auf das Buch zurück zu kommen. Ich habe noch selten eine derart kondensierte Anordnung all der Phänomene beschrieben gesehen, mit denen ich tagtäglich konfrontiert bin. Kein Mensch würde behaupten können, dass ich vom Computer überfordert bin. Er ist für mich »Enhancement«. Doch wenn ich heute ausrechnen möchte, wieviel ich gerade wieder an der Hypo Alpe Adria-Pleite steuerlich beteiligt bin, brauche ich dafür vielleicht eine halbe Minute statt drei Sekunden. Wenigstens mache ich es noch im Kopf.
[EDIT: 2009-12-17 00:02]
Um auf das Buch zu kommen
Die beschriebenen Phänomene fand ich eher blass; es sind Allerweltsprobleme, die jeder Nutzer feststellt (oder beklagt). Gewürzt sind sie mit kernigen Behauptungen (»Multitasking ist ein Verbrechen«) und ein bisschen schaurigen Zukunftserwartungen (ich finde da Huxley und auch Houellebecq treffender).
Natürlich ist er kein Verteufler, was das Buch auch angenehm macht), aber sein pochen auf die »Ungewissheit«, dieses Plädoyer für den fehlerhaften mensch – das bekommt in Anbetracht des Fatums, welches er gleichzeitig entwirft, etwas widersprüchliches.
Ich vermute, dass Du ein konziseres Buch hättest verfassen können. Der Werbeaufwand in den Medien ist nur durch Schirrmachers Position zu erklären; jedem Nobody wäre das Manuskript zurückgeschickt worden.
(ich gehe auf Deine Argumente vielleicht später, nach genauem Nachdenken, ein.)
[EDIT: 2009-12-17 08:02]
@gk
Ich hätte das Buch sicher nicht konziser verfassen können.
Die Phänomene sind deswegen blass, weil sie sich doch einschleichend eingestellt haben. Das kann ich nach mittlerweise 40 Jahren Beschäftigung mit dem Computer feststellen. Ich habe das ja schon bei mir beschrieben. Vom Mainframe mit weniger Leistung als ein heutiger Taschenrechner, über die ersten Mikroprozessoren 4004, 8008, 8080, 780, von der Dec PDP-11 bis zum heutigen Mainframe einer Z10 habe ich alles miterlebt und teilweise auch praktisch mitgestaltet. Es ist die Zusammensetzung der Details, die so schlüssig für mich ist.
Im übrigen kann ich da auch Sloterdijk abgewandelt anwenden. Bei allen Aussagen, die heute über den Computer gemacht werden, glauben die meisten Menschen, dass wir heute wissen, was Sache ist. Ich wage zu behaupten, dass den meisten Menschen die Vorstellung fehlt, sich extrapolierend in die Zukunft zu bewegen. So ist das heute beschworene »Cloud-Computing« nach meinem Dafürhalten nur eine Übergangslösung, die sich letztendlich wieder wie in ein »Closed-Shop« in den Siebzigerjahren zurückentwickeln wird, weil nach einigen Jahren die Kriminalität zu einer derartigen Paranoia führen wird, dass Daten sorgsamer als Geld gehütet werden.
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Huxley finde ich tatsächlich prophetischer. Als ich das Buch vor 40 Jahren zum ersten Mal las, konnte ich mir selbst nicht vorstellen, dass zu meiner Lebenszeit so viel davon wahr werden würde. Und es ist in den Dreißigerjahren geschrieben.
Dagegen ist Houellebecq für mich fast schon abgelutscht. (Ich hab ihn gern gelesen.) Die Schlussfolgerungen sind schon zu linear voraussagbar. Elementarteilchen ist ja auch weniger prophetisch als rückblickend verfasst – als Abrechnung.
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»Natürlich ist er kein Verteufler, was das Buch auch angenehm macht), aber sein pochen auf die »Ungewissheit«, dieses Plädoyer für den fehlerhaften mensch – das bekommt in Anbetracht des Fatums, welches er gleichzeitig entwirft, etwas widersprüchliches.«
Genau das ist es, was in meinen Augen seine Stärke darstellt.
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Und was wir alles noch nicht wissen, habe ich vor mehr als einem Jahr einmal hier dargestellt:
(Sorry für den »Marketing Link«)
[EDIT: 2009-12-17 09:19]
@steppenhund – Stärken und Schwächen
Interessante Sichtweise: Wo ich die Schwächen sehe, siehst Du eine Stärke.
Der Brückenschlag zum Sloterdijk ist tatsächlich mindestens rudimentär vorhanden.
Natürlich sind Aussagen in eine Zukunft hinein immer von dem mitgeprägt, wie wir es heute vorfinden. Orientieren sich Prognosen zu sehr am Vorgefundenen, sind sie in der Tat langweilig und wenig kreativ (sic!) – sind sie zu »abgehoben« schallt ihnen der Vorwurf der Apokalypse oder Harmlosigkeit entgegen.
Ich glaube, dass die Phänomene, die Schirrmacher beschreibt, letztlich irreversibel sind. Die Lesekompetenz wird sich verändern (pauschal betrachtet: zurückgehen); die Konzentrationsfähigkeit wird abnehmen. Dies mit einem Plädoyer für den Fehler beantworten zu wollen, halte ich für blauäugig. Nicht einmal ein Schriftsteller käme auf eine solche Idee. Die Frage, die Schirrmacher nicht beantwortet: Wie weit wollen wir die Infiltration durch Computer und deren Programme dulden? Geben wir uns dem jeweiligen hype hin oder nicht? Die Generation der heute 55jährigen (und älter) wird seit Jahren in Unternehmen systemastisch »abgebaut« (in Frührente geschicjkt), weil sie sich in ihrer Mehrheit weigern, dem Technisierungsfortschritt zu folgen. In zehn jahren kommen diese Leute in die Altenheime – es wird die letzte Generation sein, die noch ihren Bankverkehr am Schalter abwickeln möchte (ich generalisiere jetzt ein bisschen). Danach kommt schon meine Generation, die sich in schätzungsweise fünf bis acht Jahren »ausklinken« wird, usw.
(PS: »Marketing-LinK« – Du bestätigst meine Aussage, der konziseseren Behandlung...im übrigen: ich glaube nicht, dass mein Blog ein gutes »Marketing-Instrument« ist. Dafür wird er viel zu wenig beachtet. Danke dennoch für diesen Text, den ich irgendwie nicht mehr in Erinnerung hatte.)
[EDIT: 2009-12-17 09:42]
Ein referenzierender Text aus gegebenem Anlass
http://steppenhund.twoday.net/stories/weihnachten/
Ich weiß nicht genau, ob ich damit recht habe, Aber ich wollte einmal meine Schätzung von 60 Jahren anbringen. Erst in 60 Jahren wird der Computer so viel können, dass sich Menschen ohne visionäre Vorstellungskraft vorstellen können, dass die Begrenzungen des Computers nicht in der »Kreativität« liegen:)
[EDIT: 2009-12-17 18:53]
Ist das nicht auch wieder eine Prognose, die auf den »Fakten« von heute basiert?
[EDIT: 2009-12-17 18:56]
Anmaßung
Ich behaupte einmal voller Anmaßung: NEIN.
Der Unterschied zwischen den meisten Sichten und meiner (und natürlich der von ein paar anderen, mit denen ich mich abgesprochen und verschworen habe) liegt darin, dass ich mich seit vierzig Jahren mit der Materie in realiter beschäftige.
Ich erinnere mich an die Zeit, in der bei Siemens im TRI, TRA, TRE – Assembler programmiert wurde. (Deutsche Mnemoics)
Ich kann Leistungszahln und funktionale Leistung statistisch über 40 Jahre belegen. Dabei kommt dann folgendes heraus. Die echte Datenverarbeitung hat im kommerziellen Bereich heute vielleicht die 100-fache funktionale Leistung wie 1971, obwohl die technischen Spezifikationen um den Faktor 1 Billion (europäisch 12 Nullen) gestiegen ist. Die Zahl habe ich vor 4 Jahren einmal auf der Basis Volumen * 1/Geschwindigkeit normiert auf eine komplexe Rechenoperation berechnet.
Ein Mainframe im Jahre 2000 hatte vielleicht ide Rechenkapazität einer damaligen Pentium CPU-200 MHz, doch die Rechnerarchitektur war hinsichtlich der Eingabe/Ausgabe-Kanäle so optimiert, dass 1000 Benutzer gleichzeitig an der einen Anlage arbeiten konnten.
Das allermeiste der Rechenpower ist in die Hilfestellung für Personen hineingeflossen, die sonst Angst vor dem Computer gehabt haben, in Spiele, Bildbearbeitung und Musik. Das Marketing hat dominiert und eine bestimmte Dominanz der zu lösenden Probleme geschaffen. Wie weit das Militär mitbestimmt hat, (das wissen wir nicht so genau) ist nicht ergründbar aber natürlich auch eklatant. Militär an sich ist aber nicht kreativ. Ganz im Gegenteil: militärische Gerätschaften zerstören. Sic.
Jetzt gibt es also eine steile Kurve, wie sich Rechnerleistung für den Laien darstellt. Was echte neue Erkenntnisse und Resultate sind, steigen die vielleicht nur mit einem Hebelfaktor 1 zu einer Million oder noch weniger.
Weil sich also meine Voraussage nicht auf den Zeitraum beschränkt, zu dem die meisten Laien das erste Mal selbst mit dem Computer zu tun hatten, sondern ungefähr 4 mal länger ist, kann meine Sichtweise differenzierter sein. Ich glaube an stetige Entwicklungen. Manchmal gibt es einen Sprung, doch im Prinzip können Erhaltungsätze, auch bezüglich der Entropie in der Informatik, nicht vernachlässigt oder geleugnet werden.
Ich gebe zu, dass ich mich um plus minus 20 Jahre irren kann. Aber in der Aussage selbst bin ich sehr zuversichtlich, dass ich Recht behalten werde.
[EDIT: 2009-12-17 21:53]
Ich halte Deine Prognose nicht für anmaßend (aus den von Dir selbst genannten Gründen). Wir werden ja sehen... (und vielleicht buddelt irgendjemand in 60 Jahren diesen Beitrag aus und lacht sich über meine Engstirnigkeit kaputt)
Eine Frage hätte ich da aber noch: Was fängt der Mensch mit diesen Möglichkeiten, die ihm durch den Computer »zufliessen« an?
–
Bei Dir scheint Schirrmachers Anthropomorphisierung schon voll durchzudringen...(sorry, aber diese Vorlage war einfach zu verführerisch)
[EDIT: 2009-12-18 08:49]
Dazu war die Vorlage ja da
Und ich pflege ja auch manchmal scherzhaft zu behaupten, »dass ein Computer auch nur ein Mensch ist.« Das dann, wenn sich Menschen über irgendeine Fehlfunktion aufregen und dabei übersehen, dass auch Menschen falsch reagieren, wenn sie mit den falschen Informationen gefüttert werden.
Was die Menschen damit anfangen werden?
Die Frage kann ich dir nicht so einfach beantworten. Bis jetzt habe ich den größten Nutzen der Computer in der Prothetik gesehen. Taube, die wieder hören können, Blinde, die wieder sehen können, Knochen, die dreidimensional so gut nach dem Original geformt werden können, dass heute eine Oberschenkelhalsbruchoperation kein großes Problem darstellt (meine Großmutter ist letztlich an den Folgen einer heute einfachen Operation gestorben) oder auch künstliche Knie einen Sportler nicht am Erreichen eines Meistertitels hindern. (Ein Freund von mir.)
Möglicherweise wird es einmal zu einer Technokratie kommen, die – falls jemand ähnlich wie Obama oder skandinavische Politiker denkt – tatsächlich einen Gewinn für das betreffende Volk darstellen könnte.
Vielleicht muss die Unterhaltungsindustrie durch einen Höhepunkt wandern, in der technische Details nicht mehr überbietbar sind und eine Rückkehr auf die Mensch-zu-Mensch-Kommunikation stattfindet. Das sind alles Utopien, die nicht mehr Wahrscheinlichkeit als die entsprechenden Distopien aufweisen.
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Momentan stellt der Computer eher eine Belastung dar. Aber das halte ich für eine transiente Phase, weil wir als Menschen uns noch nicht eingestellt haben, wie man damit umgeht.
Der beste Vergleich, der mir dazu einfällt, ist das Autofahren. In Amerika recht nüchtern betrachtet – ein Mittel zum Zweck. In Deutschland? Ein Mittel zur Selbst beweihräucherung, zum sich besser fühlen, etc., etc. Der Mensch muss den Umgang mit bestimmten Dingen erst über Jahrzehnte lernen. Wir haben das mit dem Computer halt noch nicht gelernt.
Beantwortet das deine Frage?
[EDIT: 2009-12-18 10:12]
@steppenhund
Jein. Ich glaube nur (und da gehe ich ja mit Schirrmacher konform), dass die Möglichkeiten, die uns bereits jetzt zur Verfügung stehen, gar nicht genutzt werden. Wie sieht es dann erst aus, wenn Systeme optimiert und erweitert werden?
Die von Dir angesprochenen Fortschritte in der Gesundheitstechnik sind derzeit gar nicht flächendeckend vorhanden; etliches hat Pilotprojektcharakter (meine Schwiegermutter wird derzeit mit ihrem Oberschenkelbruch sehr konventionell behandelt [mit einem Nagel] – ohne besonderen Erfolg übrigens).
In der Unterhaltungsindustrie wird alle gefühlte zwei Jahre eine neue Sau durchs Dorf getrieben, z. B. was die Speichermedien angeht (Videorekorder – DVD – Blueray). Hier geht es weniger um Innovation als um Umsatz (die Vorteile sind nur marginal wenn überhaupt zu bemerken). Über die Überdimensionierung von einfacher Textverarbeitungssoftware hatte ich ja in meiner Besprechung gesprochen. Was brauche ich eigentlich alle drei Jahre ein neues »Word«-Programm, wenn ich bisher nur rd. 20% von Word 1998 bemerkt und verstanden habe?
Wenn man natürlich »visonär« in die Zukunft denkt, dann fallen einem spontan vollkommen überflüssige Kulturtechniken ein – eine davon ist tatsächlich das Autofahren – die man doch getrost Maschinen anvertrauen könnte. Aber auch hier bliebe ein Unbehagen des Ausgeliefertseins (was beispielsweise Leute überkommt, die Flugangst haben).
[EDIT: 2009-12-18 11:22]
Ich gestehe, überfordert zu sein, speziell im Augenblick wegen all der zu bedienenden Gadgets und offenen Kanäle, die es zu beobachten gilt, keine Zeit für einen angemessenen u/o ausgewogenen Kommentar zu haben. (Naja, eigentlich habe ich nur gerade viel zu tun, nicht ausreichend Muße.)
Das mag Zeitgeist sein, und auf diesem Niveau plätschern die meisten Rezensionen dahin, die ich bisher zur Kenntnis genommen habe. Lächerlich auch der Einwurf, Schirrmacher habe wohl noch nichts von Filtertechniken gehört. – Diese Rezension hier ist dagegen von anderem Kaliber. Und zuallererst auch ein Dank dafür, gleich eingangs auf den rhetorischen Kniff Schirrmachers hingewiesen zu haben, mit dem er wohl nur möglichst viele Leser »mitnehmen« möchte.
Insgesamt stimme ich dem Tenor vom steppenwolf zu: auch für mich ist es kein negativ konnotiertes, pessimistisches Buch. Weder verteufelt Schirrmacher »die Computer«, noch Google. Er wird alles auch künftig nutzen. Worauf er hingewiesen hat, und nicht nur hier, sondern auch in diesem Text ist, dass die nahezu ubiquitäre Präsenz des Computers, von Informatik im Alltag uns Menschen verändert. Wirklich verändert, sozusagen epigenetisch. Und wie das passiert, und wohin es führt, darauf haben die Informatiker und Programmierer Einfluss. – Soweit ich sehe, ist das eine der ganz seltenen (wertfreien) Anerkennungen der faktischen Leistungen der Informatik durch »Fachfremde«.
Wenn man ein bißchen bei edge.org herumstöbert, dann merkt man, woran gearbeitet, worüber nachgedacht wird. Es liegt auf der Hand, dass sich Computer-Intelligenz nicht mit Amazon-Vorschlägen erschöpft. Das ist genauso Training der Matrix wie Googles Book-Scan. Dass da mehr kommen wird, sobald die Technik und das Data Mining reifer sein wird, das liegt für mich auf der Hand.
Für mich ist auch nachvollziehbar, geradezu erfahrbar, dass unvollständig, fehlerhaft und spontan Sein eine Möglichkeit ist, sich zu behaupten gegen Berechenbarkeit und Vorhersehbarkeit. Überraschende Perspektivwechsel, Fehlertoleranz, der souveräne Umgang mit Unsicherheiten gehören dazu. Zumindest eine Weile kann das helfen, aber die heutigen, wirklich gut entworfenen Systeme sind genauso – der steppenwolf weiß das am besten.
Wo bitte sehen Sie da eine Verschwörungstheorie?: »Aber sehr viel häufiger hat man ein Werkzeug in der Hand und überlegt sich dann erst, ob man damit nicht auch an unserer Vorstellung von der Welt herumbasteln kann. Eine interessante Aussage, deren Essenz im Satz gipfelt Wahrscheinlich hat der Urmensch erst den Faustkeil entdeckt und sich dann überlegt, was er mit ihm anstellen kann.«
Ich denke, auch der naive, spielerische Umgang mit Werkzeugen, Computern, immer leistungsfähigeren Netzen, Grids, Clouds whatever kann einen auf Gedanken bringen, Begehrlichkeiten wecken, etwas zu machen, was bisher nicht ging.
Dabei kommt mir gerade ein Bild, eine Sequenz aus Kubricks 2001 in den Sinn: die Eröffnungsszene, das Entdecken der Werkzeuge Faustkeil und Keule...
Für mich ist auch nachvollziehbar, geradezu erfahrbar, dass unvollständig, fehlerhaft und spontan Sein eine Möglichkeit ist, sich zu behaupten gegen Berechenbarkeit und Vorhersehbarkeit. Überraschende Perspektivwechsel, Fehlertoleranz, der souveräne Umgang mit Unsicherheiten gehören dazu. Zumindest eine Weile kann das helfen, aber die heutigen, wirklich gut entworfenen Systeme sind genauso – der steppenwolf weiß das am besten.
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Eine Zeitlang war es eine gute Strategie beim Schachspiel mit dem Computer sich von ausgefahrenen Wegen weg zu bewegen, damit der Computer nicht so leicht auf Eröffnungs- oder Endspielbibliotheken zugreifen kann. Heute kann ich noch so spontan und unberechenbar spielen, der Computer wird gnadenlos meine Fehler aufdecken und einfach die Gewinnlösung herunter spielen. Umgekehrt muss ich mich allerdings mit Zügen des Computers anfreunden, die vollkommen aberwitzig erscheinen:)
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Die Informatiker und Programmierer sind es nicht, welche die Entwicklung so stark beeinflussen. Es ist der Markt, Kaufleute in erster Linie, die sich bestimmte Systeme wünschen. Ein Programmierer ist meistens ein ziemlich dummes Tier, das sich zwar im Zuge der Zeit Fachwissen über die Probleme der eigenen Firma aneignet, aber in den seltensten Fällen Überlegungen anstellt, was der Computer mit ihm oder mit der Allgemeinheit anstellt. Leider. Vor zehn Jahren bin ich noch manchmal über die Uninteressiertheit der Programmierer erschüttert gewesen. Heute sehe ich es bereits gelassener.
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Momentan gibt es eine Reihe wirklich gescheiter Leute, die sich den Kopf zerbrechen, wie man den Entwicklungsprozess verbessern kann, wie man eine Softwarearchitektur verbessern kann. Aber fast immer kommt man an einen Punkt, wo man bestimmte sehr intelligente »Treiber« (Manager mit Motivation und, und, und...) braucht, um etwas Neues und Besseres umzusetzen. Und dann stellt es sich heraus, dass es von dieser Gattung zu wenig Exemplare gibt.
(Ein Umstand, der übrigens verteufelte Ähnlichkeit mit den Problemen in der Politik aufweist)
Danke für den Link. Sehr interessant.
steppenhund
abgesehen davon dass sie kaum definieren – ich würde sagen dass
3 % der menschen nicht kreativ sein können,
nun korrekterhalber dürfte diese zahl ( fiktion ) divergieren also
eine fiktional geschöpfte verbindlichkeit aufkündigen können – naja -
also ich möchte den 4 jährigen sehen und dessen intelligenzleistung
( statistisch ) und dann möchte ich ein pferd mit händen sehen -
nennen wir es mozart.
also mozart spielt klavier im 18. jahrhundert, tollt herum und dann ist alles tutti, wa ?
@steppenwolf und programmierer
Vielleicht sind es nicht die Informatiker und Programmierer, die die Entwicklung antreiben. (Kritische) Informatiker gar bremsen eher. Und dass Programmierer Codeknechte sind – geschenkt.
Aber Sie beeinflussen die Entwicklung doch! Die Art und Weise wie sie implementieren, die Benutzerschnittstelle, die Benutzerführung, der ganze Umgang mit Ausnahmezuständen usw. sind originäre Domäne der Informatiker / Programmierer, nicht der Manager. (Letztere bilden sich das vielleicht ein.)
.@steppenhund und programmierer
.. ‘reingefallen ;)
@intelligente Treiber
Ja, es braucht Visionäre, Menschen die Verschiedenes zusammendenken können.
Ebendas scheint mir bei edge.org und den summer classes dort zu passieren.
@Jürgen
Hier hab ich deutlicher Stellung genommen zu dem Buch. Dennoch finde ich die affektartigen Antworten auf Schirrmacher (insbesondere der Netzapologeten wie Sascha Lobo aber auch diesen dummen Artikel der Passig, den man als Gegenentwurf lesen könnte) falsch.
Zum Einwand der »Verschwörungstheorie«: Schirrmacher schreibt, dass zuerst das Werkzeug und dann das »Problem« da gewesen sei, welches mit dem Werkzeug behoben werden soll. Das halte ich für Unsinn und ist Teil eines pseudo-Originalitätenspiels, wie es viel eim Buch gibt. Umgesetzt auf die Computer/Mensch-Problematik bedeutet dies (für mich), dass die Erfindung des Computers (der ja ursprünglich nichts anderes als ein »Rechenwerkzeug« gewesen war) vom eigentlichen Zweck losgelöst war. Da die Maschine uns ja – wie Schirrmacher glaubt – »manipuliert« wird damit insinnuiert, dass dies eine Art »Plan« gewesen sein könnte. Das kommt für mich arg verschwörungstheoretisch daher (zugegeben: das ist vielleicht nicht so gemeint).
Den verlinkten Nerd-Artikel habe ich nur angelesen (naja, das mache ich manchmal auch; über 200 Seiten geballter Schirrmacher reicht erst einmal). Ich glaube, Schirrmacher sieht sich zwischen Apologeten und Verteufler (Gaschke et.al) als eine Art Vermittler. Auch da kann man mit Goethe und den »Wahlverwandtschaften« kommen: Mittler richtete mit seinen Versuchen zu vermitteln nur noch mehr Unheil an.
@Gregor
Passig im Merkur – ein dummer Artikel?
Finde ich eigentlich nicht. Im Gegenteil, die Muster und Phasen der Kritik finde ich ganz gut herausgearbeitet. Manches ist wie ein Spiegel für mich, habe mich auch schon bei solchen floskelhaften Ablehnungen erwischt.
(Dabei lasse ich ‘mal den Background von Passig und die Lobo-Connection gnädig außer Acht.)
Ja, Payback ist kein Klasse-Buch, das gebe ich ja zu. Schirrmacher scheint viele, sehr viele erreichen zu wollen; vielleicht ist deshalb manches platt bzw. nicht wirklich »zu Ende« gedacht. Oder er kann es nicht besser, will nicht nur Mittler sein, sondern seine Position ist auch dort, in der Mitte.
Trotz »Unheil« ragt es / er über den Feuilleton-Durchschnitt (was die Zeit und SZ betrifft) hinaus.
@Jürgen
Passigs Artikel ist deswegen dumm, weil er alle technikfeindlichen Klischees, die sich im nachhinein als lächerlich herausgestellt haben, wie an der Perlenschnur aufreiht und einen Analogieschluss auf die Gegenwart suggeriert. Sowas hätte im »Merkur« früher nicht einmal auf der Toilettenrolle gestanden. Aber lassen wir das.
Natürlich ist Schirrmachers Buch besser und differenzierter als das Gekeife aus den anderen Redaktionsstuben (inklusive der eigenen). Und ich habe es auf den ersten rund 120 Seiten gerne gelesen; danach war es zunehmend redundant. Aber ein Steakhaus wird nicht zum Gourmettempel, nur weil es von Imbißbuden umgeben ist.
Steakhouse reicht mir vollkommen
Steakhouse gegenüber Döner-Kebap ziehe ich auf alle Fälle vor. Was besseres habe ich in dem Zusammenhang noch nicht gelesen.
Möglich, dass Besseres nachkommt. Doch zuerst muss man einmal einen Anfang machen.
Columbia-Beispiel
Das Beispiel der Columbia-Katastrophe finde ich etwas unglücklich gewählt. Die NASA-Verantwortlichen haben nicht aufgrund der Powerpoint-Präsentation entschieden, daß die Raumfähre nicht gefährdet sei.
Es war eher andersherum: Die für den Raumflug verantwortliche Flight-Managerin (und eigentlich die komplette Leitungsebene) hat gegenüber ihren untergebenen Technikern sehr deutlich durchblicken lassen, daß das Äußern von Bedenken nicht erwünscht war. Im Grunde exakt das gleiche Verhalten wie 17 Jahre zuvor bei der Challenger-Explosion, was dieses Versagen umso unverständlicher macht.
Ich stimme diesem Kommentar [#31] zu.
Aha. Danke für den Hinweis.
nach der lektuere der rezension und aller kommentare bin ich immer noch neugierig auf das buch, da beibt wohl nur selber lesen ... auszerdem hab ich schon lang keine so anregende diskussion verfolgt – man dankt!
Selber lesen...i
st immer gut!
(Würde nach der Lektüre dann gerne den Eindruck hier lesen...)
Kreativität
Sehr schöne Rezension, sehr schöne Diskussion in den Kommentaren. Auch wenn ich gestehen muss, dass ich nicht das Buch selbst, sondern lediglich den Artikel bei Spiegel online gelesen habe.
...und als Konsequenz der Lektüre die automatische Aktualisierung meiner E‑Mails im Büro von 2 auf 15 Minuten geändert habe und seitdem etwas entspannter und zielgerichteter arbeite, aber das nur am Rande. Der rhetorische Dreh, sich mit dem Leser gemein zu machen, hat bei mir zumindest verfangen.
Überrascht bin ich über das Verständnis von Kreativität in den Kommentaren: Welche Vorstellung Schirrmacher hat, deutet er ja mit dem »Geistesblitz eines Schülers« an. Kreativität in diesem Sinne ist nach meinem Verständnis die Verknüpfung von vorhandenem Wissen zu neuem Wissen (so logisch zwingend diese Verknüpfung im Nachhinein auch sein mag). Nicht jede kreative Leistung bewegt sich auf Mozart- und Beethoven-Niveau, aber weder Rezension noch Kommentaren will ich die Kreativität absprechen. So gesehen sind nicht 3%, sondern eher 100% der Menschheit kreativ – es bleibt die Frage des Ausmaßes. ;-)
Sehr schöner Kommentar [#36]. Auch, was die Diskussion um die Kreativität angeht.
Kreativität, Multitasking und Mathematik
Ich halte Schirrmachers Buch für einen guten Weg, um Menschen zumindest darauf aufmerksam zu machen, dass sie sich zu sehr auf die Maschine auf ihrem Schreibtisch verlassen. Die Einzelheiten und eventuelle Widersprüche und Unstimmigkeiten im Detail (die Sache mit den Ablenkungen hat mich auch irritiert) lasse ich hier einmal außen vor, es dreht sich hier ja um Populärliteratur.
Zum Thema Kreativität kann ich nur sagen, dass es dem Menschen gewiss schadet, wenn er sich bei jeglicher Form der Arbeit auf Maschinen verlässt. Ich glaube, dass wir Menschen in unserer Kreativität (ich pflichte in dem Punkt Daniels Auffassung desbezüglich bei) vermindert werden, wenn wir unsere Augen auf etwas richten, was viele Arbeiten besser und schneller verrichten kann als wir. Vielleicht ist es gewissermaßen »Neid«, vielleicht aber auch nur die eigene Faulheit, die mich dazu veranlasst, so etwas zu behaupten. Jedenfalls, wenn ich mich vom PC löse und etwa an die frische Luft gehe, so habe ich dort meist viel bessere Ideen als vor dem Monitor. Und nichts belastet meinen schöpferischen Sinn (bitte keine Anmaßung dort hineininterpretieren!) mehr, als auf beispielsweise eine Mail zu warten.
—
Multitasking:
Als ich Schirrmachers Auffassung jemand anderen dargelegt habe, meinte er kritisch, dann müsse Klavierspielen auch schädlich sein (wir standen zufällig neben einem Flügel). Ich glaube, die fehlende Unterscheidung von digitalen und »mechanischen« Multitasking ist durchaus ein berechtigter Kritikpunkt.
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Das Strogatz-Zitat:
Ich hielt es für eine wirklich treffende Formulierung, als dieser behauptete, die Mathematik werde zu einem »Zuschauer-Sport« (im Buch Seite 76f.). Es stimmt irgendwie. Man hat da – salopp gesagt – seine Maschine (sei es ein einfacher Taschenrechner oder sogar schon ein CAS [Computer-Algebra-System]), füttert die mit irgendeinem Zeug, zu dessen Berechnung per Hand wir zu faul sind (oder keine Zeit haben (wollen)) und er spuckt uns dann das Ergebnis aus.
Aber in dem Punkt sehe ich den Sinn der Mathematik: Nicht irgendein Algorithmus fordert den Mathematiker, sondern die Verknüpfung zwischen Alltag und abstraktem Lösungsweg, sozusagen das Schaffen eines Ansatzes. Deswegen stimme ich ihrem Punkt, diese Wissenschaft sei wie für Computer geschaffen, nur teilweise zu.
—
Im Übrigen finde ich es irgendwie humorvoll – sei es beabsichtigt oder nicht – dass Schirrmacher von Informationsflut und dem daraus resultierenden Verlust des Sinnes, Wichtigkeiten abzuwiegen, spricht und den Leser selber mit unglaublich vielen Studien, Nachforschungen, vermeintlichen Fakten etc. bombardiert. Irgendwie paradox...
Die Anmerkung mit dem Klavierspiel finde ich ganz amüsant. Es gibt Personen, mein Vater gehörte dazu, die Klavier spielen können und daneben eine Erklärung über irgendein Detail sprechen.
Ich selber verhaspel mich gnadenlos, wenn ich neben dem Klavier spielen noch zu sprechen versuche.
Ich kann angesprochen werden und bringe gerade ein ja oder nein heraus. Beim Bemühen, einen ganzen Satz zu sprechen gerate ich automatisch außer Tritt.
Allerdings spiele ich sehr viel vom Blatt und habe dabei selbstverständlich eine ganz spezifische Form des Multi-Tasking. Lesen, Interpretieren, Hand-Koordination und Emphase ausleben.
Während des Auto-Chauffierens kann ich reden oder auch telefonieren, während des Klavierspiels? Unmöglich:)
@Count Lecrin
Jedenfalls, wenn ich mich vom PC löse und etwa an die frische Luft gehe, so habe ich dort meist viel bessere Ideen als vor dem Monitor. Und nichts belastet meinen schöpferischen Sinn (bitte keine Anmaßung dort hineininterpretieren!) mehr, als auf beispielsweise eine Mail zu warten.
Dem stimme ich rückhaltlos zu. Aber wem will Schirrmacher das sagen? Demjenigen, der an die frische Luft geht, wenn sein Kopf »verstopft« ist? Der hat diesen Hinweis nicht nötig. Oder demjenigen, der es nicht macht? Der ist auch mit Argumenten nicht zu überzeugen (etwa wie man passionierte Autofahrer, die die 300 m Weg zum Bäcker mit dem Auto fahren, nicht zum Gehen bringen kann).
zu dessen Berechnung per Hand wir zu faul sind (oder keine Zeit haben (wollen)) und er spuckt uns dann das Ergebnis aus.
Meines Erachtens ging es Schirrmacher darum, dass das »ausgespuckte« Ergebnis von niemandem mehr kontrolliert werden kann. Selbst bei leichteren Aufgaben verwenden die Leute ja inzwischen Taschenrechner und übernehmen das Resultat, was sie erhalten, ohne es durch Überschlagsrechnung zu überprüfen. Wenn sie sich bei der Einnahme vertippt haben, merken sie es häufig nicht mehr.
Ihr »Paradoxon« ist ein guter Einwand. Das war mir so gar nicht aufgefallen.
@steppenhund
Ich kenne mich da zwar nicht aus, aber ich glaube, dass das Klavierspielen eine Art des Multitaskings ist, welche dem Menschen mehr nutzt als schadet. Beim Musizieren allgemein und WÄHRENDDESSEN noch etwas anderes tun, sehe ich da hingegen eher die negative Seite als überwiegend. Das ist bestimmt in der Beanspruchung bestimmter Teile des Gehirns begründet, aber fragen Sie nicht mich, ich bin kein Neurologe.
@Gregor Keuschnig
Ihn Ihrer Auffassung von Schirrmachers Position sehe ich durchaus auch die Quintessenz dieses Aspektes. Ich wollte jedoch betonen, dass das eigentliche Rechnen im Informationszeitalter mehr und mehr in den Hintergrund tritt. Wenn Sie etwa eine Brücke bauen müssten, dann müssen Sie irgendwelche mathematischen Funktionen suchen, die mit der statischen Integrität des Bauwerks sinnvoll korrespondieren. Das Modellieren scheint mir aktuell wichtiger zu sein als das eigentliche Rechnen, deswegen stimme ich Ihrer Aussage aus dem kommentierten Text nur teilweise zu. War also nur eine Anmerkung an Ihrer Formulierung und keine Verbesserung an der Aussage.
»Aber wem will Schirrmacher das sagen?«:
Das ist wieder das klassische Problem einesjeden Autors. Zwischen den Instanzen »Wahrnehmen«, »Verstehen« und »Beherzigen« liegen offenbar Welten, die man leider nur selten überbrücken kann, bzw. will. Sicherlich war Schirrmachers Botschaft eher an die zweite von Ihnen genannte Gruppe gerichtet, aber wie Sie auch angemerkt haben, muss man sich die unausweichliche Frage stellen, wer sich eigentlich auch davon nachhaltig beeinflussen lässt.
@Count Lecrin
Die meisten Architekten verwenden längst eine Software für ihre Arbeit (»CAD«). Hierzu schreibt Richard Sennett in seinem Buch »Handwerk« einiges interessantes.
[EDIT: 2009-12-20 20:33]
Klavierspielen an sich ist noch kein Multitasking – wenn man dabei noch singt, dann sieht es allerdings anders aus.
Die Erkenntnis, dass Multitasking beim menschlichen Gehirn nicht funktioniert ist indes nicht wirklich neu. Allerdings sehe ich das Schirrmacher nach, denn ich glaube (ich muss dazu sagen, dass ich erst gestern mit dem Lesen begonnen habe, da ich das Geschenk dann doch erst zu Weihnachten »richtig« ausgepackt habe), dass sich die Mehrzahl der Bevölkerung erst jetzt so langsam den Wirkungen der »Segnungen« des »Computerzeitalters« ausgesetzt sieht, die unsereins, der quasi damit aufgewachsen ist, seit 18 Jahren »vernetzt« lebt (und von daher mit jedem »next big thing« so seine deja-vu-Erlebnisse hat) für sich schon verarbeitet und in den Alltag integriert hat, ohne wirklich Schaden davonzutragen. Es gehört natürlich ein Blick hinter die Kulissen dazu, und man muß sich dessen bewußt sein, daß das Gehirn eben kein Computer ist, von daher halte ich das Buch jetzt bereits für wichtig und bin gespannt, was in der zweiten Hälfte noch kommt... wie auch immer: Was meiner Meinung nach wirklich gebraucht wird ist eine gesunde Medienkompetenz, das Wissen darum, daß Nachrichten nicht unbedingt wahr sein müssen (aber war auch das nicht schon immer so?) und die simple Einsicht, daß man Mobiltelefone auch ausschalten kann, ohne etwas lebenswichtiges zu verpassen ;-)
[EDIT: 2009-12-27 00:19]
Ein kleiner Zusatz zur Kreativitätsdebatte:
Ich habe heute die Begegnung mit einem Kunstsalon geschildert, wo ich die Protokolle der Kybernetik-Konferenzen zwischen 1946 und 1953 nicht nur gefunden sondern letztlich auch gekauft habe.
Hierin befinden sich nicht nur Visionäres sondern auch »Kreatives«, wenn man davon absieht, dass auch nach meiner Definition auch diese Leute nur das neu verknüpft haben, was das damalige Wissen der Zeit war.
Wenn ich einen der Beiträge heute bringen würde, wäre er noch immer visionär. Ich könnte mich bejubeln lassen, weil die allgemeine Haltung, dass nur das Moderne zählt, verhindert, dass irgendjemand mein Plagiat entdecken würde. Hier gibt es nämlich auch keine Quellen im Internet.
Doch in Wirklichkeit geht es doch nur um die sinnvolle Zusammenfügung von Gedanken, die bereits andere hatten, und deren Angleichung an heutige Ergebnisse.
Ich ziehe also die Konzeption einer stetigen, ableitenden Weiterentwicklung in den Köpfen einiger Menschheitsvertreter der idealisierenden Anbetung einer nicht durchschaubaren Kreativität vor.
Hm. Ist denn ein Schriftsteller nicht (unter Umständen) »kreativ«, obwohl (oder weil?) er doch »nur« die schon vorhandenen Wörter (oder – um es auf die Spitze zu treiben – Buchstaben) neu ordnet? Ist Kreativität nicht mehr als das?
Das kann ja wohl der Computer auch, oder?
@steppenhund
also dass kreativität aus verknüpfungsprozessen besteht würde ich soweit auch sagen, es sei denn man isoliert etwas ( z.b. einen – womöglich rudimentären – gedankengang ) und baut dies(en) aus
( was allerdings wohl auch nur über verknüpfungsvorgänge geschehen kann ). wie aus kreativen akten verbindlichkeiten entwachsen wäre wohl die frage – und da komme ich zu dem aspekt der nützlichkeit ( der nutzbarmachkeit ) von aus kreativität entstandenem ( material,
zeug, o.ä. ). ohne letztliche einigungen von subjekten hierüber wäre für meine begriffe etwas sinnlos. ob das die kunst generell anbeträfe, wäre ich vorsichtig. ich kann mir noch vorstellen dass man z.b. ein bild malt, welches keinem gefällt und sich trotzdem bis an sein lebensende an jenem erfreuen kann. allerdings kann ich mir kaum vorstellen dass jeder mensch in der lage wäre, ( jeweils ) ein bild zu malen was dann keinem gefällt.
p.s. sorry dass ich mich hier noch ( wohl etwas linkisch ) ranhänge – also irgendwie reicht meine (formulierungs)kompetenz kaum für dieses blog – bin eigentlich nur leser.
@wavefeather
allerdings kann ich mir kaum vorstellen dass jeder mensch in der lage wäre, ( jeweils ) ein bild zu malen was dann keinem gefällt.
-
Das halte ich für einen sehr geschickten Denkansatz, den ich eigentlich als Unterstützung meiner These verwerten könnte.
Allerdings muss ich über die damit verbundenen Implikationen auch erst nachdenken.
fragte mich eben noch ob man planmässig ein bild malen könnte welches keinem gefällt. komme vorerst zu dem schluss, dass das vielleicht in richtung miniaturformat ginge ( wo man mit der lupe rangehen müsste und daraufhin entsetzliches wahrnähme ).
vielleicht implizierte das dann aber schon eine vorfreude darüber, etwas geschaffen haben zu wollen was wirklich keinem gefällt.
( wenn ich es mir genauer durch den kopf gehen lasse, wird es wohl immer jemanden geben der sich selbst über entsetzliches im mikroformat freuen kann ) naja – also soweit halt richtung kunst spekuliert – und nicht eine kreativität im allgemeinen anvisiert habend.
ansonsten können sie sicherlich den von meinem post isolierten gedankenzug sowohl für eine favorisierung einer elitären auslegung des begriffes kreativität verwenden als auch für eine einer verallgemeinernden jenes würde ich mal so vermuten.
@steppenhund
Der Computer kann Romane, Erzählungen, Novellen schreiben? Wie sehen die aus?
@wavefeater
nur leser? Wieso »nur«?
Es gibt Programme, da gibst Du nur mehr Personen, Hauptsujet und Anzahl Worte ein und es kommt etwas vom Format eines Bastei-Lübke-Formats heraus.
Ob die Dinger auch schon kommerziell verwertet werden, weiß ich nicht. Und ich glaube, momentan geht es nur auf englisch. Allerdings ist es schon Jahre her, seit ich die letzte Information darüber erhalten habe. Die war aber glaubhaft.
Und dann gibt es ja hier auf Twoday
auch die zufallsartige Zusammenfassung:)
Vielleicht ist der springende Punkt in der Kreativitätsfrage die Zielsetzung.
Sich Ziele zu setzen, an die vorher noch keiner gedacht hat, wäre vielleicht der »kreative« (schöpferische) Akt. Aber dann wiederhole ich meine Statistik von weiter oben. Denn ich bezweifle, dass jemand der regelmäßig Fernsehen und die damit verbundene Werbung genießt, noch zu einer eigenen Zielsetzung fähig ist.
Wenn das der Fall wäre, dann wäre die Wiener Innenstadt nicht zu 25% von SUVs verparkt. Die sind das Resultat von eingeredeten Zielen und einem unheimlichen Minderwertigkeitskomplex der betroffenen Fahrer!
Hihihi. Ich freue mich schon auf die Reaktionen derer, die ich mit dem letzten Satz beleidigt habe:)
Nachtrag: und dann lassen sich natürlich auch Urlaubsfahrten in die Karibik und die Safaris nach Afrika unter die gleiche Rubrik reihen. Und wenn unsere deutschen Touristen nach Österreich Skifahren kommen, reihen sie sich gleich in die gleiche Schar ein. Oder was sollten englisch sprechende Flachinselbewohner in Land Salzburg zu suchen haben, die nie Skifahren anders als im Fernsehen erfahren haben, zu suchen haben.
@Gregor Keuschnig
auch der »nur-leser« sollte zumindest ein interesse an wortbedeutungsfähigkeit mitgenommen haben, 4 sure ;)
@steppenhund
ich kann mir nicht vorstellen dass es ziele gibt, die keiner vorher hatte
es sei denn das wären zielsetzungen welche sich auf reine differenzen im detail beriefen.
ansonsten könnte ich jetzt vielleicht endlich mal david lynch filme im ansatz womöglich begreifen ( derer entstehungsgeschichte )
computer(programm) isoliert und montiert plotversatzstücke vor und
supervidierender master ( d, lynch ) konnektiert nach gusto schöpferischer launenhaftigkeit ( etwas behäbig – schärfelos – dargestellt ) ;)
@s.h.-
... fiel ich dann wohl auf bastei-lübbe bislang rein
@waverfeather
Nun ja, was soll ich dazu sagen? Ja. Ja, sehe ich auch so.
Nur die Models haben ein originäres Ziel: Weltfrieden;)
@steppenhund
mitunter ersatzbefriedigung ( dem schöpferischen ) usw. //// ;)
süssigkeiten.
@steppenhund
Es gibt Programme, da gibst Du nur mehr Personen, Hauptsujet und Anzahl Worte ein und es kommt etwas vom Format eines Bastei-Lübke-Formats heraus.
Achtung, Polemik: Dafür brauche ich doch keine Programme, sondern nur Illustriertenromanschreiber.
Hoffnung Computer
Ich lese gerade in Axel Roths Buch zu Claude Shannon dessen in seinem Todesjahr 2001 ausgesprochene Hoffnung: »[The] symbolic year 2001 [...] could mark the beginning of a phase-out of stupid, entropy-increasing, and militant human race in favor for more logical, energy-conserving, and friendly species – the computer.«
bisschen enttäuschend ...
die lektüre war leichter als ich dachte, die substanz der getätigten aussagen allerdings auch deutlich geringer, als ich sie – eigentlich aufgrund des niveaus der hier geführten diskussion – erwartete.
schirrmacher schreibt ja nichts grundfalsches, aber ich finde, er schreibt auch nichts besonders aufregendes.
der erste teil hat mich eher belustigt – einfach aus der eventuell doch ein wenig herablassenden sicht der langjährigen berufserfahrung (vor allem in der edv) – und ich tue ganz sicher nicht, was ich nicht tun will. im gegenteil, ich bilde mir immer noch ein, relativ genau zu wissen, was eine maschine kann und was nicht, selbst wenn ich garantiert nicht mehr bei jeder neuen mode am neuesten technischen stand firm bin. sobald ich mit mindestens einem anderen zusammenarbeiten muss, lerne ich, dass menschen nicht logisch sind und nicht logisch handeln müssen, allerdings erfüllen menschen sehr wohl erwartungen, die an sie gestellt werden, wenn sie selber sinn oder gewinn darin erkennen können.
ich lebe davon, informationen quasi aufzubereiten, einzuspeisen und in adäquater form für meinen bereich wieder zu verkaufen. vielleicht entspannt das die sicht auf den wert aller informationen, die mir zwangsläufig entgehen müssen. ich war auch als kind schon traurig, dass es mir beim besten willen nicht gelingen wird, alle bücher, die es gibt, zu lesen, und ich lese bis heute – trotz aller ablenkungen – in sehr überdurchschnittlicher menge ..
*
auch der zweite teil war ganz nett zu lesen, aber dass ein perspektivenwechsel ab und zu sehr sinnreich ist oder dass der beobachter sich dessen immer bewusst sein muss, dass er nicht weiß, was er nicht weiß, waren jetzt für mich auch nicht gerade ganz neue gedanken.
je länger ich schirrmachers ausführungen über das suchen gefolgt bin, desto mehr hat sich in mir ein anderer gedanke festgesetzt: wir googlen keinesfalls, um einen wettbewerbsvorteil zu haben – wir wollen hauptsächlich unterhalten werden und unserer langeweile mit uns selbst zu entkommen. und deshalb bin ich wiederum optimistisch – jeder, der nämlich – statt nur zu konsumieren- freundlicherweise auch etwas produziert, hat in dem augenblick etwas für ihn und andere sinnstiftendes – egal ob auf einem zetterl oder in seinem blog oder von mir aus sogar getwittert – getan.
@la-mamma
Eben wegen der professionellen Sicht auf das, was die dummen Blechkisten können und was eben nicht finde ich die im Buch geäußerten Bedenken bezüglich der »Intelligenz« der Maschinen auch eher naiv Die Gefahr sehe ich dann eher darin, daß eben Otto Normalverbraucher nicht in der Lage ist, das entsprechend zu durchleuchten und daher die »künstliche Intelligenz« in der Tat als solche anzuerkennen bereit ist...
@la-mamma/virtualmono
Danke für Ihre Eindrücke!
Die im Buch geäusserten Bedenken, was die »Intelligenz« der Maschinen bzw. dessen Undurchdringlichkeit für den »normalen« User angeht treten nur bei dem auf, der dem Computer eine Objektivität unterstellt. Jeder der googlet muss wissen, dass der Algorithmus, der die Reihenfolge festlegt, bestimmten Kriterien folgt. Schirrmacher erwähnt dies ja durchaus, macht es aber nur an der Klickhäufigkeit fest, die – meines Wissens – nur ein Teil des Rankings bestimmt.
Die Crux ist, dass der Computer eine Objektivität vortäuscht, die er definitiv (aus den verschiedendsten Gründen) nicht hat. Aber das ist letztlich bei einer Zeitungsredaktion, Nachrichtenagentur, dem Buchhändler um die Ecke oder dem Arzt des Vertrauens genau so. Auch hier werden Entscheidungen getroffen, die (1.) für den Konsumenten nicht transparent sind und (2.) Präferenzen folgen. Auch der Buchhändler hat nicht alle Bücher des Autors X im Regal – sondern nur die aktuellsten. Die Redaktion einer Nachrichtensendung gewichtet Themen in Selektionsprozessen; die Nachrichten, die es nicht in die Sendung geschafft werden, fallen weg (bei Google stehen sie vielleicht noch auf Seite 5 oder 6). Die Autoren einer Enzyklopädie entscheiden nach ihrem Gusto, welche Stichworte bedient werden und welche nicht; wie lang ein Artikel ausfällt oder welche Persönlichkeiten aufgenommen werden. Das war niemals anders. Dass es jetzt befragt wird hat damit zu tun, dass das »Ranking« nicht mehr in hermetischen (akademischen, publizistischen) Zirkeln ausgekungelt wird, sondern durch die Teilnahme quasi aller Nutzer quantitativ wie qualitativ neu definiert wird. Das zeigt sich bei Wikipedia zum Beispiel sehr deutlich: Da es keine Begrenzung der Themen mehr gibt und praktisch jeder teilnehmen kann, gibt es einerseits eine grössere Vielfalt, andererseits droht jedoch unter Umständen auch eine schnelle Multiplikation falscher, fehlerhafter oder tendenziöser Informationen, die dann in den Suchmaschinen immer weiter getragen werden. Das Recherchieren ist durch das Internet meines Erachtens nicht einfacher, sondern schwieriger geworden.
Daher halte ich tatsächlich die so oft herbeizitierte »Medienkompetenz« für den Schlüssel, wie man Fallen und Versuchungen widerstehen kann. Hier leistet Schirrmacher meines Erachtens so gut wie gar nichts, weil es in seinem Theoriegebäude nicht so recht hineinpasst. Aber als Ratgeber war es wohl auch nicht gedacht.
Gefühlte Unkreativität
Beim Lesen der Kommentarspalte bin ich auch in den Diskussionstrang zum freien Willen gelangt und habe mich so in Gedanken und Diskussionen mit Kollegen verstrickt, dass ich noch keinen geordneten Weg zu antworten gefunden habe.
I) Als Beispiel vielleicht auch das Schachspiel bei dem das menschliche Gehirn schon geschlagen geben musste. Wann können wir sagen, dass die Maschine einen genialen Zug ‘versteht’? Wenn sie den Variantenbaum tadellos herunterspielt? – Der Gedanke, Maschinen könnten denken, ist uns unheimlich, ja unangenehm. Ein Gedanke von einem menschlichen, lebendigen Wesen gedacht, dem muss eine ander Qualität innewohnen. Vielleicht so eine Art Hintergrundmotiv – welches zum Beispiel etwas plump in der Aussage zum Ausdruck kommt, dass die Maschinen keine Fehler machen könnten? Warum diese Angst? Warum sollte nicht auch ein entsprechend komplexes neuronales Netzwerk Bewusstsein entwickeln dürfen? Warum soll ein Beweis nicht von einem Algorithmus geführt werden dürfen? – Für mich ist zu nah daran schon beim Irrationalismus Zuflucht zu suchen, denn irrational zu sein, das würd’ die Maschine nie zustande bringen. Was ist denn beispielsweise mit:
II) Wo bleibt die Emergenz, wenn man sie mal brauchen könnte? Ist zwar schon ne olle Kamelle, aber ich bin immer noch ein Fan von Andersons »More is different« – Momentan begreife ich so die Wissenschaften als Teilrationalismen oder Sprachspiele für eine gewisse Komplexitätsstufe an Systemen. Die Emergenz macht neue Beschreibungen und Begriffe notwendig und der richtige Gebrauch eben jener ist das ‘Verstehen’ der entsprechenden Systemklasse.
III) Ein Kollege brachte folgenden Gedanken vor: Wenn das Gehirn durch eine neuronales Netz beschrieben werden kann, so ist dieses auf eine Turing-Maschine abgebildet werden kann. Da das Turingsche Halteproblem auf einer Turingmaschine nicht gelöst werden kann, existieren Probleme, die wir nicht lösen können. (Vielleicht ein interessanterer Gedanke als all die falschen Gottesbeweise.)
IV) Was ist mit der Umkehrung des Problems der Vermenschlichung des Computers? Manche sprechen doch schon von ihrer »Festplatte« – (ganz absurd fand ich es in ‘Avatar’, wo Tiere und Außerirdische mit USB-Ports ausgestattet wurden). Wozu wird es führen, wenn wir unsere eigenen Gedanken so begreifen? Wird es ähnliche Auswirkungen haben wie die Trennung von Verstand und Gefühl, von bewusst und unbewusst, wenn wir schließlich nur noch glauben, das Abarbeiten eines Algorithmus zu sein?
argh..
so viele Tippfehler, grauenvoll. Bitte entschuldigen Sie diesen Murks, es war schon etwas spät (leider kann ich nun nicht mehr editieren).
@Phorkyas
Vieler Ihrer Fragen kann ich nicht beantworten.
Ich spüre bei Schirrmacher ein starkes Unbehagen daran, dass »sich« Maschinen menschliche Eigenschaften aneignen, die sie dann sozusagen unverwechselbar machen.
Ich glaube (aber das ist von mir nicht belegbar), dass der Schachcomputer den genialen Zug nicht »versteht«. Er »sieht« ihn – das ist ein logischer Prozess, aber er vermag bspw. keinerlei ästhetischen Genuss daran zu finden. Das macht es für mich uninteressant Schachpartien nachzuspielen, in denen beide Teilnehmer Computer sind. Beim Wettkampf Mensch vs. Maschine »bewundert« man die Maschine (das war wenigstens am Anfang so) und fiebert mit dem Menschen. Die Bewunderung für den Computer ist aber eventuell nichts anderes als die Bewunderung für die Programmierer.
Schirrmacher greift nicht nur die Vermenschlichung des Computers auf (die betreibt er selber), sondern auch die Computerisierung des Menschen (das Beispiel mit der Festplatte bringt er auch). Ich sehe hierin ein unterschwelliges Bedürfnis, der Kränkung durch den Computer zu entgehen, in dem man Eigenschaften und Begrifflichkeiten auf sich selber anwendet.
vorbei – an der Diskussion, die vorbei ist
Vielleicht waren es auch noch nicht die richtigen Fragen. – Aber gerade beim Schachspiel, dachte ich, haette man ein hervorragendes Beispiel dafuer, was in anderen Bereichen noch passieren wird, wenn die Algorithmen besser werden.
Wie reagieren wir darauf, kognitiv von der Maschine ueberholt zu werden? Natuerlich hat der Programmierer die Intelligenz sozusagen in das Programm gesteckt, aber damit stecken gerade ja auch die Dinge darin, die ein menschlicher Schachspieler lernen muss, wenn er von Taktik, Strategie, oder von positionellen oder materiellen Vorteilen spricht. – Eigentlich hatte ich gehofft Herrn steppenhund zur Diskussion anzuregen.. aber wie ich gesehen habe wurde das Thema bei Herrn Köppnick schon ausführlich diskutiert. (Und ja, irgendwie habe ich auch das Gefühl, dass der Computer nix kapiert,.. aber wie ist das dann mit neueren, evolutionären Algorithmen, aber da ist wohl abermals Herr steppenhund der Fachmann)
Was ich als möglichen Kritikpunkt ansehe, ist dass die Angst von der Maschine überholt zu werden ja auch nur dadurch entsteht, den Menschen nur noch auf ein Buendel kognitiver Faehigkeiten zu reduzieren. Dass wir dann Maschinen bauen können, die in einzelnen Dingen besser sind, könnte uns doch egal sein. Es kratzt doch auch nicht an unserem Menschsein, dass Maschinen schneller oder stärker sind. Nur nehmen wir die Maschinen in diesen Bereichen natürlicherweise als Hilfswerkzeuge hin.. (So wie es beim Schach in den Diskussionen bei Herrn Köppnick auch schien: Für KI hat Schach nicht das gebracht, was man erwartete, aber es hat sogar die Mensch gegen Mensch Partien interessanter gemacht.)
@Phorkyas
dass die Angst von der Maschine überholt zu werden ja auch nur dadurch entsteht, den Menschen nur noch auf ein Buendel kognitiver Faehigkeiten zu reduzieren
Damit treffen Sie m. E. genau ins Schwarze. Die Angst des (eines, mehrerer) Menschen vor der Maschine resultiert wohl auch daraus, dass der Mensch inzwischen auf neurobiologische und chemische Prozesse reduziert wird. Ich glaube, dass hier inzwischen so etwas wie die zweite (oder dritte?) narzisstische Kränkung des Menschen respekt. des Menschseins zu beobachten ist (nach der Säkularisierung und der Psychoanalyse).
Derzeit simulieren Computer bestimmte Prozesse als »Dienstleistung« für den Menschen. Die Furcht besteht dann darin, dass die Simulation dieser Prozesse, die eigentlich auf die Lösung bestimmter Aufgaben reduziert ist (bspw. aufs Schach-Spielen oder Lösen mathematischer Aufgaben) (1.) nicht mehr kontrollierbar ist und (2.) immer mehr auch auf »zwischenmenschliche« Ebenen ausgeweitet wird. Das ist auch Thema bei Schirrmacher, der zwar nicht unmittelbar eine »Weltherrschaft der Computer« als Schreckensszenario ausmalt, aber doch ein Entgleiten befürchtet. Diese Furcht halte ich für eine vorweggenommene Kapitulation und sogar für gefährlich. Das wäre in etwa so, als würde jemand, der Löwen für den Zirkus dressiert, Angst davor haben, dass die Löwen ihn in der Manege irgendwann zerfleischen. Ist ihm nämlich diese Angst anzumerken, werden die Löwen ihn irgendwann nicht mehr als Führungspersönlichkeit wahrnehmen und seine Autorität angreifen.
Natürlich besitzt ein Computer diese Empathie, dieses »Gefühl« nicht. Daher ist es doppelt wichtig, nicht in Resignation zu verfallen und auf die »menschlichen« Eigenschaften zu rekurrieren. Die Frage ist nur, wie man das macht (ich halte Schirrmachers Weg ein bisschen naiv).
–
Diskussionen sind auch immer schnellebiger geworden. Das hat nur am Rande mit dem Internet zu tun. Ich bin schon dankbar gewesen, dass es überhaupt eine solch interessante Diskussion gab; das ist nämlich auch ziemlioch selten geworden.
martialisch
Ihre Löwenmetapher ist vielleicht etwas martialisch, aber es trifft, – wenn man vielleicht, meiner Meinung nach, noch ergänzt, dass der Löwe nur eine Konstruktion ist, die ihre Existenz unserem festen Glauben an ihn verdankt. -
Ähnlich wie bei der Sloterdijk-Debatte (ja, schon wieder): erst reduzieren wir den Menschen auf das rein biologische und dann gruseln wir uns davor, dass wir drin rummatschen könnten.. obwohl unsere Faszination vor diesem Abgrund, diesen Dystopien gar nicht möglich wäre, hätten wir im ersten Schritt den Menschen nicht schon so über alle Maßen reduziert oder gar erledigt...
(Auf der anderen Seite, täte uns Menschen manchmal auch ein bisschen Demut gut.. wo ich jetzt den »Menschen« so über alle Maßen hoch zu halten versuchte..)
Hunde statt Löwen
Dann ist es nicht mehr so martialisch.
–
Ich nehme an, Sie spielen auf Sloterdijks »Regeln für den Menschenpark« an. Auch hier würden Sie mit Ihrer Bemerkung m. E. den Kern der Sache treffen: Der Biologismus, der uns seit Jahren »verkauft« wird, soll letztlich konsequenzlos bleiben. Dieser Spagat ist auf Dauer nicht durchzuhalten.
Metapher
Ihr Metapher hätte ich nicht anrühren sollen; mit den Löwen ist es schon in Ordnung. -
In beiden Fällen, dem Biologismus und unserem neueren »Neurologismus« sehe ich die Wissenschaft entstellt. Vielleicht weil sie sich verkaufen müssen oder wollen, wird so groß posaunt: Wir haben bewiesen, dass es keinen freien Willen gibt, usw.
Über die Medien bleiben dann nur noch die Parolen und eine Schrumpfform von Wissenschaft übrig; unser neuer Götze. (..und ich arbeite in der Wissenschaft,.. aber diese ganze Technologie- und Fortrschritts-Propaganda ist mir schon zu wieder..)
Müssten wir oder unsere Kinder es nicht ausbaden, man könnte darüber lachen: dass es die selbst heraufbeschwörenen Löwen, Dämonen oder Geister sind,.. aber das Lachen könnte einem stecken bleiben, wenn nur noch eine Schrumpfform übrigbleibt, von »Mensch« oder auch von »Wissenschaft«..
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