Der Hin­ter­welt­ler und die Igno­ranz

    Tat­säch­lich war es viel­leicht noch zu kei­ner Zeit we­ni­ger schwie­rig als heu­te zu Wir­kung und Gel­tung zu ge­lan­gen; und ge­ra­de weil es so leicht ist zu »wir­ken«, scheint es un­mög­lich zu wir­ken.

    Von je­der Pla­kat­säu­le droht ein neu­er, be­son­de­rer Welt­um­sturz, schrei­en Ent­hül­lun­gen, locken frisch ent­deck­te Di­men­sio­nen. Die Fol­ge ist, daß sich nie­mand mehr dar­über auf­regt; au­ßer den Leu­ten na­tür­lich, die von ih­rer Auf­re­gung le­ben.

    Wir sind über­füt­tert mit Ge­dan­ken.*

Ist das die Kla­ge ei­nes gut be­zahl­ten Re­dak­teurs ei­nes (so­ge­nann­ten) Qua­li­täts­me­di­ums, der sei­ne Mei­nungs­füh­rer­schaft durch neue, ob­sku­re Kräf­te un­ter­mi­niert sieht? Oder ein­fach nur ei­ne Fest­stel­lung ei­nes des­il­lu­sio­nier­ten Blog­gers, der das sou­ve­rä­ne Ig­norieren durch die eta­blier­ten Me­di­en sträf­lich un­ter­schätzt hat­te und trotz al­ler An­stren­gun­gen sei­ne re­gel­mä­ßi­gen Be­su­cher pro­blem­los in ei­nem Mit­tel­klas­se­wa­gen un­ter­brin­gen könn­te? Und mit­ten­drin der seuf­zen­de Le­ser, Zu­schau­er, Zu­hö­rer: Wir hin­ge­gen stöh­nen un­ter der Last von [...] Mei­nun­gen, von de­nen je­de ein­zel­ne nicht Un­recht hat und die doch we­der ein­zeln, noch mit­sam­men das Ge­fühl der Wahr­heit ge­ben. Es scheint, wir sind mit­ten im ak­tu­el­len Über­for­de­rungs-Kla­ge­dis­kurs à la »Payback«.

»Mu­si­kan­ten der Welt­weis­heit«

Mit­nich­ten. Denn die obi­gen Zi­ta­te sind nicht neu; im Ge­gen­teil. Sie stam­men aus dem er­sten Ka­pi­tel (mit dem wun­der­ba­ren Ti­tel »Die Mu­si­kan­ten der Welt­weis­heit«) des Bu­ches »Ver­kapp­te Re­li­gio­nen« des deut­schen Schrift­stel­lers und Pu­bli­zi­sten Carl Chri­sti­an Bry (1892–1926) aus dem Jahr 1925.

Die The­sen des Bu­ches wir­ken auch heu­te noch ver­blüf­fend frisch (wo­bei die tat­säch­li­che In­ten­ti­on des Au­tors, die De­cou­vrie­rung sich re­li­gi­ös-dog­ma­tisch ge­ben­der Weltanschau­ungen, an die­ser Stel­le nicht wei­ter­ver­folgt wer­den soll [ob­wohl dies sehr ver­lockend wä­re; man le­se bei­spiels­wei­se die Be­mer­kun­gen zur An­thro­po­so­phie]). Hier ist von be­son­de­rem In­ter­es­se, wie sich Bry mit den da­mals auf­kom­men­den mas­sen­me­dia­len Phä­no­me­nen und er am­bi­va­len­ten Re­zep­ti­on dar­auf aus­ein­an­der­setz­te.

Deutsch­land in den 1920er Jah­ren: Ver­la­ge, die das im­mer stär­ker auf­kom­men­de Bil­dungsbürgertum preis­wert und trotz­dem qua­li­ta­tiv gut mit zeit­ge­nös­si­scher wie klas­si­scher Li­te­ra­tur ver­sorg­ten, schos­sen nicht zu­letzt auf­grund tech­ni­scher In­no­va­tio­nen wie Pil­ze aus dem Bo­den; die Kon­kur­renz für die Platz­hir­sche S. Fi­scher oder Kurt Wolff nahm im­mer mehr zu. Par­al­lel gab es die Sor­ge, ob dem nor­ma­len Bür­ger zeit­ge­nös­si­sche Li­te­ra­tur über­haupt »zu­zu­mu­ten« sei und wel­che Aus­wir­kun­gen dies ha­ben könn­te – ein Re­flex ei­ner pa­ter­na­li­stisch-eli­tä­ren Ober­schicht, die da­mit in­di­rekt durch­aus dif­fu­se Äng­ste hin­sicht­lich des Ver­lusts ih­rer ge­sell­schaft­li­chen Pri­vi­le­gi­en zum Aus­druck brach­te.
Brys Sicht ist zu­nächst eben­falls skep­tisch. Er be­ginnt mit der Fra­ge Kann ein Buch noch wir­ken? Ziem­lich deut­lich wird da die Ge­fühls­la­ge der da­ma­li­gen Zeit aus Sicht der Au­toren ge­schil­dert:

    Wir­ken hat mit dem Er­folg um­ge­kehrt zu tun, als man ge­mein­hin an­nimmt. In der gu­ten al­ten Zeit [...] be­klag­te sich der Bü­cher­schrei­ber gräm­lich über die Tücke der Ver­le­ger, die ihn ab­lehn­ten, über die Grau­sam­keit der Re­zen­sen­ten, die ihn her­un­ter­mach­ten, über die Bös­wil­lig­keit von Kri­ti­kern, die ihn tot­schwie­gen und über die Blö­dig­keit des Pu­bli­kums, das ihn nicht las. Er glaub­te sich durch ro­he, kör­per­li­che, ka­pi­ta­li­sti­sche Ge­wal­ten vom Wir­ken ab­ge­schnit­ten.

    Sein Kol­le­ge von heu­te ist viel un­glück­li­cher dar­an. Er glaubt und klagt, daß sei­ne Ver­le­ger nicht ge­nug für ihn tun, daß sei­ne Kri­ti­ker und Re­zen­sen­ten sei­ne Be­deu­tung nicht ge­nug un­ter­strei­chen, daß sein Pu­bli­kum ihn nicht ge­nug liest. Das heißt: er spürt in sei­nem und trotz sei­nem Er­folg, daß er nicht wirkt und nichts än­dert.

Die Mas­sen­pro­duk­ti­on (von Bü­chern und Zeit­schrif­ten) trägt zwar zur Viel­falt bei – aber der po­ten­ti­el­le In­ter­es­sent hat be­grenz­te Res­sour­cen. Er muss aus­wäh­len. Brys Sicht schwenkt schnell ins auf­klä­re­risch-op­ti­mi­sti­sche um: Die Wahr­heit vor­stür­men zu las­sen, die Rich­tig­kei­ten aus dem Fel­de zu schla­gen, kurz, der Si­tua­ti­on durch ei­nen entscheid­enden Sieg ein En­de zu ma­chen ist un­mög­lich. Und, so re­si­gniert es klingt: das ist ei­ne der Tat­sa­chen, die un­se­rer Zeit Eh­re ma­chen..

Der heu­ti­ge Me­di­en­kon­su­ment steckt in noch weit grö­ße­ren Pro­ble­men: ne­ben Bü­chern, Zei­tun­gen, Zeit­schrif­ten und (dem Mit­te der 20er Jah­re ra­pi­de auf­kom­men­den) Ra­dio buh­len noch zu­sätz­lich Fern­se­hen, Blogs, On­line­ma­ga­zi­ne, Smart-Pho­nes, Twit­ter und ei­ne un­ge­mein viel­fäl­ti­ge Frei­zeit­in­du­strie um sei­ne Auf­merk­sam­keit.

Da­mals Bü­cher – heu­te On­line

Mit Mü­he ver­mag man viel­leicht noch we­ni­ge, aus­ge­wähl­te The­men mul­ti­per­spek­ti­visch wahr­zu­neh­men. Für das Viel­fäl­ti­ge, das Um­fas­sen­de bleibt (schein­bar) im­mer we­ni­ger Zeit. Es ent­steht ein dif­fu­ses Un­be­ha­gen; durch­aus ein Ge­fühl der Über­for­de­rung. Der Me­di­en­kon­su­ment sieht sich ge­zwun­gen, The­men und Stand­punk­te da­zu we­nig­stens teil­wei­se an aus­ge­wähl­te In­stan­zen zu de­le­gie­ren. So ent­ste­hen Welt­bil­der, die verein­fachend sind aber ei­ne ge­wis­se Be­hag­lich­keit bie­ten. Ge­le­gent­lich ver­liert man da­bei je­doch die Ver­wal­tung sei­ner aus­ge­la­ger­ten An­schau­un­gen aus dem Blick. Das sind die Vor­bo­ten der Re­si­gna­ti­on, die ir­gend­wann ent­we­der in Zy­nis­mus oder – fast noch schlim­mer – in Gleich­gül­tig­keit um­zu­schla­gen droht.

Man er­tappt sich un­wei­ger­lich da­bei, wie man Brys Wor­te zur Wir­kungs­macht bzw. ‑lo­sig­keit von Bü­chern auf die heu­ti­ge Re­zep­ti­on von am­bi­tio­nier­ten On­line­me­di­en und Blogs an­wen­det (zu­min­dest wenn man den deutsch­spra­chi­gen Vir­tua­li­a­raum re­kapituliert). »On­line« wird das Schmud­del­image nicht los; fast im Ge­gen­teil. Selbst tum­be Bou­le­vard­zei­tun­gen schei­nen al­lei­ne auf­grund ih­rer Auf­la­ge längst sa­lon­fä­hig. »Das In­ter­net« als Pu­bli­ka­ti­ons­raum ist seit ei­ni­gen Jah­ren zum Schimpf­wort ge­wor­den, als wür­de dort aus­schließ­lich ei­ne pu­bli­zi­sti­sche Un­ter­schicht mit Hang zum Pä­do­phi­len­sex ih­ren Kol­por­ta­ge­schrott ver­öf­fent­li­chen. Es kommt bei­na­he ei­nem Ge­ständ­nis gleich, wenn man sagt, für ein On­line-Ma­ga­zin zu schrei­ben; ist ja »nur« In­ter­net. Ein be­kann­ter deut­scher (Fernseh-)Journalist ent­blö­de­te sich nicht, die Vo­ka­bel »Müll­hal­de« für »das In­ter­net« zu ver­wen­den.

Da­bei sind die for­ma­len Be­grün­dun­gen, die für die­se Pa­ria-Stel­lung ins Feld ge­führt wer­den, eher lä­cher­lich. Da wird bei­spiels­wei­se die An­ony­mi­tät der Au­toren ne­ga­tiv be­wer­tet – als wä­ren Pseud­ony­me ei­ne neue Er­fin­dung. Oder es wird pau­schal ei­ne man­geln­de Pro­fes­sio­na­li­tät von Blog­gern un­ter­stellt (»Blog­ger« wird da­bei meist mit ei­nem ge­wis­sen Haut­gout aus­ge­spro­chen). Da­bei ist es fast täg­li­che Pra­xis, wenn et­li­che On­line-Ab­le­ger auch be­kann­ter Zei­tun­gen und Zeit­schrif­ten ih­re Sorg­falts­pflich­ten kaum noch wahr­neh­men, statt­des­sen Prak­ti­kan­ten mit dem Ab­schrei­ben bzw. Va­ri­ie­ren von Agen­tur­mel­dun­gen be­schäf­ti­gen und dies dann als »On­line­jour­na­lis­mus« aus­ge­ben. Ein ge­rüt­telt Maß An­teil für die Er­nüch­te­rung in Be­zug auf On­line-Pu­bli­ka­tio­nen tra­gen die eta­blier­ten Me­di­en sel­ber.

Wie ver­zwei­felt mu­ten da die ge­le­gent­li­chen Ver­su­che an, mit For­mal­qua­li­fi­ka­tio­nen und/oder ver­meint­li­cher Pro­mi­nenz der Ak­teu­re Glaub­wür­dig­keit zu si­mu­lie­ren. Als wür­de der Mei­ster­brief des Hand­wer­kers au­to­ma­tisch Ga­rant für die Qua­li­tät der Ar­beit sei­nes Lehr­lings sein oder die po­li­ti­sche Mei­nung ei­nes Star­fri­seurs al­lei­ne da­durch wich­ti­ger und kom­pe­ten­ter.

Ja, na­tür­lich gibt es schreck­li­che Web­sei­ten, On­line­ma­ga­zi­ne und Blogs. Oder ein­fach nur ba­na­le. Aber es gibt auch schreck­li­che und ba­na­le Bü­cher, Fil­me, Fern­seh­sen­dun­gen, Thea­ter­stücke, Zeit­schrif­ten und Zei­tun­gen oh­ne dass des­halb das Me­di­um kol­lek­tiv ver­wor­fen wird. War­um wird al­so die Po­ly­pho­nie wenn nicht als Ge­winn so doch min­de­stens als In­spi­ra­ti­on emp­fun­den? Hat es tat­säch­lich mit der Angst vor dem Ver­lust ei­ner Dis­kurs- oder Deu­tungs­ho­heit zu tun? Oder ist das auch wie­der so ei­ne größen­wahnsinnige Be­haup­tung der On­line-Adep­ten?

Je­mand wie Bry emp­fand plu­ra­li­sti­sche Durch­drin­gun­gen, die­se dif­fe­ren­ten Rich­tig­kei­ten, die in sei­ner Zeit mög­lich wur­den, als frucht­bar: Wir al­le seh­nen uns nach dem Ge­setz, dem ab­so­lu­ten – und blei­ben doch Re­la­ti­vi­sten, die das Ei­ne oh­ne das An­de­re nicht den­ken und füh­len kön­nen, die von je­dem Ge­dan­ken auch in sein Ge­gen­teil ge­wor­fen wer­den. Die­ser »Re­la­ti­vis­mus« gilt heu­te als Schwä­che. Das Ab­wä­gen, frü­her als Dia­lek­tik be­kannt (und ge­fürch­tet), er­scheint als ei­ne weit­ge­hend ver­al­te­te Tech­nik. Wer sei­ne Mei­nung nicht un­er­schüt­ter­lich, of­fen­siv und mög­lichst laut ver­tritt, droht nicht wahr­ge­nom­men zu wer­den.

Pro­vo­ka­tio­nen um je­den Preis

Das gilt längst für gro­ße Tei­le der gän­gi­gen Me­di­en, die mit stän­dig neu­en Su­per­la­ti­ven Be­deu­tung nicht auf­zei­gen son­dern künst­lich er­zeu­gen wol­len (die so­ge­nann­ten Hy­pes). Es gilt aber eben auch für die neu­en Mei­nungs­in­seln, die Blogs (die hier re­prä­sen­ta­tiv für jeg­li­che Form von On­line­pu­bli­ka­ti­on ste­hen). Mit der Zeit kri­stal­li­sie­ren die­se sich meist zu Re­fu­gi­en von Gleich­ge­sinn­ten. Die viel­leicht zu Un­recht dif­fa­mier­te Stamm­tisch­kul­tur hat ih­ren vir­tu­el­len Bru­der her­vor­ge­bracht. Ei­ne Dis­kus­si­on, die durch Le­ser­kom­men­ta­re be­för­dert wer­den soll, fin­det höch­stens in Nu­an­cen statt, da meist Ei­nig­keit herrscht (sieht man von den so­ge­nann­ten »Trol­len« ein­mal ab). Hier­in liegt ei­ne wich­ti­ge Dif­fe­renz, ins­be­son­de­re zu den über­re­gio­na­len Ta­ges- und Wo­chen­zei­tun­gen in Deutsch­land. Dort wer­den fast im­mer durch­aus kon­tro­ver­se Sicht­wei­sen of­fe­riert. Die Dis­kus­si­on fin­det in Form von Pro- und Con­tra-Bei­trä­gen statt; oft ge­nug auf ei­ner Sei­te ne­ben­ein­an­der oder zu­min­dest in ra­scher zeit­li­cher Ab­fol­ge.

Blogs da­ge­gen sind zu­meist Sprach­roh­re mei­nungs­star­ker In­di­vi­dua­li­sten. Sie müs­sen, um über­haupt wahr­ge­nom­men zu wer­den, laut, zu­spit­zend und pro­vo­ka­tiv sein. Min­de­stens glau­ben de­ren Be­trei­ber das und set­zen auf Auf­merk­sam­keit um je­den Preis wie wei­land Or­pheus die Si­re­nen durch sein ei­ge­nes Lei­er­spiel über­tön­te. Da­bei ent­wickeln sich vie­le mit der Zeit zu selt­sam-kau­zi­gen Welt­kom­men­tie­rern, die nur noch Mei­nun­gen nach ih­ren ei­ge­nen Maß­stä­ben zu­las­sen, über­all Skan­da­le und Ma­ni­pu­la­tio­nen wit­tern, die­se »auf­bereiten« und mit mehr oder we­ni­ger wuch­ti­ger Sprach­ge­walt den po­ten­ti­el­ler Le­ser zur Af­fir­ma­ti­on ver­ge­wal­ti­gen. Wi­der­stand zweck­los.

Da­vid Ge­lern­ter – um ei­nen heu­ti­gen Prot­ago­ni­sten zu zi­tie­ren – sprach in ei­nem Bei­trag in der F.A.Z. vom In­ter­net als ei­ner »Ma­schi­ne zur Ver­stär­kung un­se­rer Vor­ur­tei­le«. Oft ge­nug, so Ge­lern­ter, ent­schei­den wir uns »für ge­nau das, was uns zu­sagt, und igno­rie­ren al­les an­de­re. Das Netz ge­währt uns die Be­frie­di­gung, nur Mei­nun­gen zur Kennt­nis zu neh­men, mit de­nen wir be­reits kon­form ge­hen, nur Fak­ten (oder an­geb­li­che Fak­ten), die wir schon ken­nen.«

Dem ame­ri­ka­ni­schen Psych­ia­ter Abra­ham Ma­slow wird das Bon­mot zu­ge­schrie­ben, dass je­mand, der ei­nen Ham­mer in der Hand hat ir­gend­wann über­all nur noch Nä­gel sieht. Carl Chri­sti­an Bry präg­te für die­ses Phä­no­men den Be­griff des Hin­ter­welt­lers (ein Wort­spiel mit dem ge­bräuch­li­che­ren »Hin­ter­wäld­ler«; ei­nem Lehn­wort zum »back­woods­man«)**:

    …[D]er Hin­ter­welt­ler sieht die gan­ze Welt neu. Aber ihm die­nen al­le Din­ge nur zur Be­stä­ti­gung sei­ner Mo­no­ma­nie. […] Dem Hin­ter­welt­ler schrumpft die Welt ein. Er fin­det in al­lem und je­dem Ding nur noch die Be­stä­ti­gung sei­ner ei­ge­nen Mei­nung. Das Ding selbst er­greift ihn nicht mehr. Er kann nicht mehr er­grif­fen wer­den; so­weit ihn die Din­ge noch an­ge­hen, ist es als Schlüs­sel der Hin­ter­welt.

Der Be­griff des Hin­ter­welt­lers soll hier so­wohl für den fru­strier­ten Pu­bli­zi­sten ste­hen, der sei­ne se­lek­ti­ve Wahr­neh­mung ver­ab­so­lu­tiert als auch für den ähn­lich komplexitäts­reduzierenden Me­di­en­kon­su­men­ten. Im Hin­ter­welt­ler­tum west der Wunsch, der kom­pli­zier­ten Welt zu ent­rin­nen. Hin­ter­welt­ler gibt es na­tür­lich auch in den gän­gi­gen Main­stream­m­e­di­en in nicht ge­rin­ger An­zahl. Aber ge­ra­de des­halb ist ei­ne dif­fe­ren­zier­te­re Aus­ein­an­der­set­zung mit ih­nen, ih­ren The­sen und Me­tho­den not­wen­dig. Die Hin­ter­welt­ler be­kämpft man nicht mit ei­nem »Ge­gen-Hin­ter­welt­ler­tum«, wel­ches markt­schreie­risch da­her­kommt, sich fak­ten- und ar­gu­men­ta­ti­ons­re­si­stent ge­riert und in über­schäu­men­der, af­fek­tier­ter Po­le­mik agi­tiert. Die­ses Ver­hal­ten gibt dem in die Bre­douil­le ge­kom­me­nen Main­stream die be­que­me Mög­lich­keit, sei­ne schreck­lich­ste Waf­fe zu zie­hen: das mit ho­no­ri­ger Igno­ranz ver­se­he­ne Nicht­be­ach­ten (ähn­lich Odys­seus, der sich vor dem Si­re­nen­ge­sang durch Fest­bin­den und ge­schmol­ze­nem Wachs in den Oh­ren schütz­te; so konn­te er im­mer­hin den Ge­sang ver­neh­men, war aber un­fä­hig, sei­nen Ver­lockun­gen zu er­lie­gen).

Denn von ei­ni­gen we­ni­gen Aus­nah­men ab­ge­se­hen wer­den nur die blog­gen­den Jour­na­li­sten, die ih­re Blogs häu­fig nur als ei­ne Art Ne­ben­pro­dukt füh­ren, in der Zi­tier­welt als voll­wer­ti­ge Dis­kus­si­ons­part­ner to­le­riert. Wun­dert das? Wie kann man dau­er­haft ei­nen se­riö­sen po­li­ti­schen Dis­kurs auf­neh­men, in dem bei­spiel­wei­se Be­grif­fe wie »Is­la­mi­sie­rung Eu­ro­pas«, aber auch »Zen­sur­su­la« oder »Sta­si 2.0« nicht nur als al­ko­hol­ge­tränk­te, grif­fi­ge Party­formulierungen ver­wen­det wer­den, son­dern als se­riö­se Dis­kurs­bei­trä­ge ver­stan­den wer­den wol­len? Oder in Dis­kus­sio­nen um öf­fent­lich-recht­li­che Me­di­en: Da fal­len schnell Be­grif­fe wie »Sy­stem­me­di­en«, »Staats­fern­se­hen« oder »GEZ-Ab­zocker«. Und wie oft wird ka­te­go­risch so et­was wie »gei­sti­ges Ei­gen­tum« als über­kom­me­ner Be­sitz­an­spruch re­gres­si­ver Dumm­köp­fe be­trach­tet? Die­se rhe­to­ri­schen Aus­fäl­le ver­schaf­fen zwar Bei­fall in den ei­ge­nen Rei­hen. Aber statt ei­ne Dis­kus­si­on pro­duk­tiv zu schär­fen und ei­ne neue Form von De­bat­ten­kul­tur zu ent­wickeln wer­den The­men all­zu oft in ei­ner Ent­rü­stungs­so­ße er­tränkt (ge­le­gent­lich gar­niert mit kru­der Ver­schwö­rungs­rhe­to­rik), die je­de noch so gu­te, ed­le Zu­tat ge­schmack­lich ver­drängt und den Dis­ku­tan­ten nicht mehr sa­tis­fak­ti­ons­fä­hig er­schei­nen lässt.

Vom Elend des rhe­to­ri­schen Wett­rü­stens

All das er­in­nert nicht nur an die Feind­bil­der der Stu­den­ten­re­vo­lu­ti­on En­de der 60er Jah­re, die ih­re durch­aus le­gi­ti­men An­lie­gen mit pau­scha­li­sier­ter Ra­di­ka­li­tät ver­sa­hen, son­dern auch an die Aus­ein­an­der­set­zun­gen Mit­te der 80er Jah­re, als die deut­sche kon­ser­va­ti­ve Re­gie­rung, de­ren Man­gel an In­tel­lek­tua­li­tät nur noch von den op­po­si­tio­nel­len Kräf­ten un­ter­bo­ten wur­de, mit ei­nem ju­sti­zia­blen In­nen­mi­ni­ster die Volks­zäh­lung im Jahr 1987 um­set­zen woll­te. Auch hier gab es Pro­test­be­we­gun­gen, die schnell über die rein ar­gu­men­ta­ti­ve Ebe­ne hin­aus­gin­gen und Or­wells »1984« kurz zur Mod­e­lek­tü­re wer­den ließ (die Kin­der die­ser »Ge­ne­ra­ti­on Or­well« le­gen heu­te be­gie­rig ih­re Nut­zer­pro­fi­le bei Face­book oder My­Space an). Kor­rek­tu­ren und Ver­än­de­run­gen am da­ma­li­gen Volks­zäh­lungs­ge­setz wur­den üb­ri­gens durch in­sti­tu­tio­nel­le Klä­ger beim Bundesver­fassungsgericht durch­ge­setzt – we­ni­ger durch Or­well-Pa­ni­ker, be­kennt­nis­lau­te Volks­zäh­lungs­ver­wei­ge­rer und Graf­fi­ti-Spray­er.

Wo­mit wir wie­der beim An­fang wä­ren: Wir­kungs­macht er­zielt man dau­er­haft nicht durch halt­lo­se Spe­ku­la­tio­nen, Skan­da­li­sie­run­gen, Hy­ste­ri­sie­run­gen oder an­ar­chisch-pseu­do­ra­di­ka­le Ver­laut­ba­run­gen, die von wohl­stands­ge­form­ten Möch­te­gern­re­vo­luz­zern ver­fasst wer­den. Sie lie­fern höch­stens ei­ne gut­ge­setz­te Poin­te und ver­schaf­fen kurz­fri­sti­ge Er­leich­te­rung. Auf Dau­er stump­fen die­se Po­sen nur ab und er­zeu­gen eher das Ge­gen­teil des­sen, was sie ei­gent­lich in­ten­dier­ten. Da­bei zei­gen sie ent­we­der ziem­lich we­nig Ver­trau­en in die ei­ge­ne Ar­gu­men­ta­ti­on oder man­geln­de Fä­hig­kei­ten zur Dis­pu­ta­ti­on.

Schlimm ge­nug, wenn sich in­zwi­schen selbst se­riö­se Me­di­en die­sem Irr­weg des rhe­to­ri­schen Wett­rü­stens glau­ben hin­ge­ben zu müs­sen. Was zählt ist Ge­nau­ig­keit und Prä­zi­si­on des Ar­gu­ments. Na­tür­lich durch­aus poin­tiert vor­ge­bracht. Aber nicht ar­ro­gant. Viel­leicht müss­ten sich ei­ni­ge Blogs auch min­de­stens zeit­wei­se zu ei­nem Po­li­tik- und Kul­tur­raum zu­sam­men­schlie­ßen, ih­re Kräf­te bün­deln und da­mit der ein­zel­kämp­fer­haf­ten Ato­mi­sie­rung ent­ge­gen­wir­ken. Das Schie­len hin zur mas­sen­me­dia­len Ver­brei­tung, zum Ak­zep­tie­ren im Kon­zert der Gro­ßen, in dem man de­ren Feh­ler ein­fach po­ten­ziert – das soll­te man nicht ver­su­chen. Blogs wer­den, selbst wenn sie gut ge­macht sind, im­mer nur Ni­schen be­die­nen. Die­se Ni­schen schöp­fen sie der­zeit al­ler­dings bei wei­tem nicht aus. Sie soll­ten sich aber we­der dem Bou­le­vard an­die­nen noch ei­nem Hin­ter­welt­ler­tum zu­nei­gen. Da­für braucht man sie de­fi­ni­tiv nicht.

Im üb­ri­gen muss man ja nicht so­weit ge­hen wie Bry, der am En­de fast eu­pho­risch vom Mut, ein­an­der Feind zu sein spricht, denn dann mö­gen wir uns noch als Fein­de lie­ben, weil je­der dem an­de­ren zu hel­le­rer Klar­heit, zu stär­ke­rer Kraft hilft. Die­ses Zu­trau­en in den Dis­kurs mu­tet heu­te all­zu rüh­rend an. Lei­der.



* Text­stel­len in kur­siv sind Zi­ta­te aus Carl Chri­sti­an Brys »Ver­kapp­te Re­li­gio­nen«, zi­tiert nach die­ser Web­sei­te. Der Ord­nung hal­ber wur­de um Zi­tat­ge­neh­mi­gung ge­fragt, ob­wohl die­se nicht zwin­gend er­for­der­lich ist. Lei­der gab es vom in der Rechts­be­leh­rung ge­nann­ten Kon­takt trotz mehr­ma­li­ger Mail-An­fra­ge kei­ne Re­ak­ti­on.

** Im wei­te­ren Ver­lauf sei­ner Aus­füh­run­gen ver­wen­det Bry bei­spiel­haft den »Hin­ter­welt­ler« in Be­zug auf den An­ti­se­mi­ten. Dies ist in die­sem Zu­sam­men­hang hier kei­nes­falls in­ten­diert. Hin­ter­welt­ler wird von mir je­mand be­zeich­net, der ge­mäß der zi­tier­ten De­fi­ni­ti­on in sei­ner selbst­ge­schaf­fe­nen Ideo­lo­gie ge­fan­gen und da­her ra­tio­na­len Ar­gu­men­ten nicht mehr zu­gän­gig ist.

15 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Über­for­de­rung: Das Pro­blem ist ja, dass der In­put zu groß ist, um be­wäl­tigt zu wer­den, d.h. man muss ihn be­schrän­ken, se­lek­tie­ren. Und ir­gend­wie steht dann doch die Fra­ge im Raum: War­um nicht igno­rant sein, und sich da­für auf we­ni­ges kon­zen­trie­ren, dem man sich dann ganz an­ders wid­men kann?

    Dass das Web mehr da­zu ver­lockt als her­kömm­li­che Me­di­en, sich nur mit dem zu be­schäf­ti­gen was man hö­ren will, se­he ich ei­gent­lich nicht (bzw. wenn, dann nur in der Mög­lich­keit, dass der Nut­zer bes­ser ent­schei­den kann, was er kon­su­miert, aber das heißt ei­gent­lich noch nichts).

    Dem Ge­dan­ken Kräf­te zu bün­deln, kann ich ei­ni­ges ab­ge­win­nen. Viel­leicht soll­te man das ein­mal ver­su­chen. Die Fra­ge wä­re nur mit wel­cher Aus­rich­tung? »Jour­na­li­stisch«? Feuil­le­to­ni­stisch? Oder viel va­ger? Und was dem ent­ge­gen­steht, ist, dass Blogs ei­ne per­sön­li­che Kom­po­nen­te be­sit­zen, die die­se Ge­mein­schafts­pro­jek­te nicht ha­ben kön­nen oder dür­fen. Ge­ra­de die­se spür­ba­re per­sön­li­che Kom­po­nen­te macht vie­le Blogs wie­der­um sehr reiz­voll.

  2. »War­um nicht igno­rant sein, und sich da­für auf we­ni­ges kon­zen­trie­ren, dem man sich dann ganz an­ders wid­men kann?«

    Das kommt mit dem Al­ter ganz al­lei­ne; da weiß man end­lich was man wirk­lich will — und liest, hört und ge­nießt nur noch das; mit we­ni­gen »Aus­fäl­len«, die aber meist nur be­stä­ti­gen: es lohnt kaum.
    Je­den­falls ging/geht mir das so.
    Ich bin gern igno­rant, ja, ge­be so­gar manch­mal da­mit an: ich hab’ nicht mal’n »Han­dy«.
    Und »mo­der­ne Kunst«? gar »Free Jazz«? schon wie­der mal klein­schrei­bung in mo­der­nen ge­dich­ten? – da hab ich mich in den sech­zi­ger Jah­ren für be­gei­stert; heut’ wird’s lä­chelnd und wis­send igno­riert.

  3. Igno­rant kann man in Wahr­neh­mun­gen be­stimm­ter The­men­be­rei­che ja durch­aus sein. Wenn ich aber über ein The­ma ei­nen Auf­satz schrei­be, rächt sich die­se Igno­ranz. Vie­le Jour­na­li­sten (und auch Blog­ger – hier­um ging es mir) schrei­ben über The­men, ob­wohl sie be­reits ei­ne vor­ge­afss­te Mei­nung ha­ben. Es wird ei­ne Schein-Dia­lek­tik sug­ge­riert. So ist es bspw. leicht die »Hartz-IV«-Problematik an­hand von Fall­bei­spie­len da­hin­ge­hend dar­zu­stel­len, dass die Be­trä­ge, die ge­zahlt wer­den, un­zu­läng­lich ist. Dann su­che ich mir ein­fach Leu­te, die mit dem Geld nicht aus­kom­men. Um­ge­kehrt sucht der Schrei­ber, der das Sy­stem für aus­rei­chend hält, pri­mär Leu­te auf, die kei­ne Pro­ble­me ha­ben.

  4. Ich ha­be u.U. ei­ne (ir­gend­wie la­ten­te) Mei­nung zu The­men zu de­nen ich mich äu­ße­re, rich­te mich aber nach Ar­gu­men­ten, wes­halb sich mei­ne An­sich­ten wäh­rend des Schrei­bens schon än­dern kön­nen. Ich ver­su­che mir mehr ei­ne Of­fen­heit zu er­hal­ten, als völ­lig neu­tral an ein The­ma her­an­zu­ge­hen (das geht oh­ne­hin kaum).

  5. Ei­ne par­al­le­le Dis­kus­si­on ist die nach der Miss­ra­ten­heit der Ju­gend. Dar­über wird nicht bloß seit Jahr­hun­der­ten, son­dern so­gar seit Jahr­tau­sen­den ge­jam­mert, je­weils von den be­reits Er­wach­se­nen über ih­re Kin­der.

    Was die On­line­me­di­en wohl nicht ge­än­dert ha­ben, ist die Tat­sa­che der Re­zep­ti­on von Tex­ten. es sieht so­gar so aus, als ob mehr als frü­her ge­le­sen wird. Al­ler­dings an­ders, weil das Me­di­um selbst an­ders ist und sich der ge­fühl­te Zeit­takt des Le­bens be­schleu­nigt hat. Ich glau­be, ich ha­be das in ei­nem Ar­ti­kel über John F. Ken­ne­dy ge­le­sen: Der Durch­schnitts­ame­ri­ka­ner liest heu­te pro Tag dop­pelt so vie­le Wör­ter wie vor 50 Jah­ren.

    Ich ha­be den Zau­ber­berg von Mann nach et­wa ei­nem Drit­tel bei­sei­te ge­legt. Die sprach­li­che Qua­li­tät emp­fand ich als sehr gut, aber die Be­hä­big­keit, mit der sich Hand­lung ent­wickelt, ha­be ich ein­fach nicht mehr er­tra­gen. Und da­bei le­se ich schnell und viel. Ich glau­be, man muss ein­fach ak­zep­tie­ren, dass ei­ne an­de­re Zeit auch an­de­re Kom­mu­ni­ka­ti­ons­for­men ent­wickelt und al­te Din­ge ent­sor­gen muss, da­mit Platz für Neu­es frei wird.

    In­so­fern muss man »bloß« für sich be­stim­men, was man für wich­tig hält und was man für­der­hin igno­rie­ren will.

  6. Der »Zau­ber­berg« ist mei­ner An­sicht nach ein Buch, dass nur wäh­rend ei­ner chro­ni­schen Krank­heit, die ei­nen zur weit­ge­hen­den Un­tä­tig­keit zwingt, mit Ge­nuss ge­le­sen wer­den kann. (Es sei denn, die­se Krank­heit ist aus­ge­rech­net TBC.)

  7. Ein gu­ter Text – der mich ziem­lich hef­tig trifft
    Ich bin, im be­schei­de­nen Rah­men, Blog­ger. Das heißt, ich bin im Gro­ße und Gan­zen da­mit zu­frie­den, dass ich im­mer­hin mehr Stamm­le­ser ha­be, als in ei­nem Mit­tel­klas­se­wa­gen Platz fün­den – ich bräuch­te da­für schon ei­nen Bus. Die­ses dann doch über­schau­ba­re Pu­bli­kum er­laubt es mir an­de­rer­seits, in mei­nem »Senf­blog« auch spon­tan, nachts um halb zwei, leicht an­ge­trun­ken und schwer fru­striert, mei­ne An­sich­ten zum Be­sten zu ge­ben, oh­ne das aus ei­ner Un­aus­ge­go­ren­heit ein Skan­dal wür­de. Ich kann mich so­gar »un­ge­straft« zwi­schen die Stüh­le set­zen: et­wa in­dem ich ei­ner­seits den Be­griff des »gei­sti­gen Ei­gen­tums« als un­sin­nig ab­leh­ne, an­der­seits nichts von mut­wil­li­gen Ur­he­ber­rechts­ver­let­zun­gen hal­te.

    Nor­ma­ler­wei­se ist mein Blog eher harm­los, und nicht im­mer ist es Sprach­rohr mei­nes mei­nungs­star­ken In­di­vi­dua­lis­mus. Den­noch gibt es in mei­nen Blog – und im über­wie­gend von mir be­stück­ten »Gjall­ar­horn« – ei­ni­ge Spe­ku­la­tio­nen, Skan­da­li­sie­run­gen oder pro­vo­ka­tiv non­kon­for­mi­sti­sche, mei­net­hal­ben an­ar­chi­schen, Aus­sa­gen.

    Des­halb weckt die­ser Ar­ti­kel, wenn ich dar­über nach­den­ke, ziem­lich mas­si­ve Selbst­zwei­fel.
    Po­le­mi­sche Be­grif­fe wie »Zen­sur­su­la« oder »Sta­si 2.0« ver­wen­de ich ja auch – mei­stens, wie ich ein­räu­men muss, so­gar un­re­flek­tiert, oh­ne die mög­li­che Wir­kung auf ei­nen Dis­kus­si­ons­part­ner mit an­de­ren An­sich­ten auch nur zu er­wä­gen.
    Auch den Vor­wurf, ein Hin­ter­welt­ler zu sein, muss ich mir ge­fal­len las­sen. Was et­was An­de­res ist, als dass ich die­sen Vor­wurf für zu­tref­fend hal­ten wür­de. »Ge­fal­len las­sen« heißt in die­sem Zu­sam­men­hang: ich kann es nie­man­dem übel neh­men, wenn sie oder er mich für ei­nen Hin­ter­welt­ler hält. Et­wa für ei­nen An­ti­fa-Hin­ter­welt­ler, dem es nur noch dar­auf an­kä­me, bei Ge­sin­nungs­ge­nos­sen zu punk­ten, aber nicht dar­um, die De­mo­kra­tie zu stär­ken.

    Was mir fehlt – und was wahr­schein­lich vie­len Blog­gern fehlt – das ist die Be­reit­schaft, po­li­ti­sche und ge­sell­schaft­li­che Dis­kur­se ziel­ori­en­tiert zu füh­ren. Die Fra­gen: »Was will ich er­rei­chen?« und »Wen will ich er­rei­chen?« wer­den ver­nach­läs­sigt oder gar nicht erst ge­stellt. Ich kann nie­man­den über­zeu­gen, oder auch nur er­war­ten, ernst ge­nom­men zu wer­den, wenn ich ihn be­lei­di­ge.
    Ein an­de­rer heik­ler Punkt ist der »Konsenz­kor­ri­dor«. Wenn ich mich de­mon­stra­tiv au­ßer­halb die­ses Kor­ri­dors be­we­ge, dann darf ich mich nicht wun­dern, dass ich nicht et­wa nur als »En­fant ter­ri­ble«, son­dern, wenn über­haupt, nur als Lach­num­mer wahr­ge­nom­men wer­de.
    Das The­ma »Neu­hei­den­tum«, das in mei­nem Blog nicht eben un­wich­tig ist, liegt, da ich als be­ken­nen­der Neu­hei­de schrei­be, de­fi­ni­tiv au­ßer­halb des »re­li­giö­sen« bzw. »spi­ri­tu­el­len« Konsenz­kor­ri­dors. Ich darf mich da­her we­der wun­dern noch är­gern, wenn mich je­mand für ei­nen Spin­ner, oder so­gar für wahn­sin­nig im psych­ia­tri­schen Sin­ne hält – oder, was auch schon vor­ge­kom­men ist, für ei­nen Rechts­extre­mi­sten, der sich in de­mo­kra­ti­scher Mi­mi­kry übt – denn: es gibt, aus ih­ren Wis­sen und ih­rer Er­fah­rung her­aus, kei­nen »ver­nünf­ti­gen« Grund da­für, Neu­hei­de zu sein, au­ßer dem, da­mit deutsch­völ­ki­sche Ger­ma­nen­spin­ne­rei­en zu ka­schie­ren.

    Wenn ich das nicht be­rück­sich­ti­ge, dann scha­de ich mei­ner Sa­che mehr, als wenn ich mei­ne An­sich­ten für mich be­hal­ten wür­de.

  8. Ich bin ja kei­nen Deut bes­ser – und wür­de mich in ei­ni­gen Punk­ten durch­aus auch als »Hin­ter­welt­ler« be­zeich­nen. Wich­tig ist zu­nächst ein­mal, dass man sich des­sen be­wusst ist. Ich ha­be auch nichts ge­gen Pro­vo­ka­tio­nen in Blogs – und das dort mal rich­tig auf­ge­mischt wird. Al­les d’­ac­cord.

    Die Grat­wan­de­rung, die Blogs schaf­fen müs­sen, um ei­ne ge­wis­se Ak­zep­tanz zu er­rei­chen, ist schwie­rig. Sind sie zu »brav«, wer­den sie tat­säch­lich nicht wahr­ge­nom­men. Dann schreibt man bes­ser ei­nen Le­ser­brief an ei­ne Re­dak­ti­on. Al­so wählt man das Mit­tel des Su­per­la­tivs, des Alar­mis­mus. Un­be­wusst ahmt man da­mit in­zwi­schen längst das Bou­le­vard-Ver­hal­ten der Main­stream-Me­di­en nach. Und be­gibt sich da­mit m. E. prompt in die Fal­le.

  9. Auf­ruf zum Mit­tel­maß
    Wer hat denn noch mal fest­ge­legt, dass ein Kom­pro­miss das Ziel ist? Kann es viel­leicht sein das vie­le der von Dir Ge­rüg­ten gar nicht »se­ri­ös« wir­ken wol­len?
    Ich bin froh, dass es sol­che noch gibt, die nicht ver­su­chen ver­ständ­nis­voll die Ge­gen­sei­te zu in­te­grie­ren. Wenn Du et­was ge­gen ei­ne Wort­wahl wie Zen­sur­su­la hast oder ein Pro­blem mit der ge­ne­rel­len Frag­wür­dig­keit von gei­sti­gem Ei­gen­tum, dann möch­te ich gar nicht mir Dir ein ei­nen »Dis­kurs« tre­ten.
    Denn Dei­ne An­sich­ten sind da­mit für mich of­fen­sicht­lich so­weit von ei­ner mög­li­chen to­le­ra­blen Über­ein­kunft ent­fernt, dass sich die Mü­he nicht mehr lohnt. Ein Mensch der et­was (zum ver­meint­lich Bes­se­ren) be­we­gen möch­te kann sich für solch Har­mo­ni­e­süch­ti­ge, zu de­nen Du wie Du den An­schein er­weckst ge­hörst, (lei­der) die­ser Ta­ge kei­ne Zeit mehr (oder noch nicht) neh­men.
    Wenn ge­gen VDS nicht mehr mit Ter­ror­angst ar­gu­men­tiert wird, wenn ei­ne Mix­tape auf dem Schul­hof nicht mehr »ge­werbs­mä­ßi­ger Um­fang« ist, wenn ELENA wie­der ne­ben Street­View ge­nannt wird, dann nimmt sich auch si­cher je­mand die Zeit für das von Dir ge­for­der­te oder ge­wünsch­te Entgegenkommen...aber bis da­hin...:)

  10. Wer Ar­gu­men­ta­ti­on mit »Mit­tel­maß« über­setzt, hat we­nig ver­stan­den und tritt of­fen­sicht­lich für das Recht des Stär­ke­ren ein. Man über­sieht da­bei leicht, wer der Stär­ke­re ist.

  11. »Mög­lichst to­le­ra­ble Über­ein­kunft«
    Wenn man das be­haup­tet, soll­te man es gut be­grün­den. An­son­sten bleibt die Be­haup­tung ei­ne rhe­to­ri­sche Hül­se, die sich die Mü­he et­was ver­ste­hen zu wol­len, er­spart. Dis­kurs­ver­wei­ge­rung ist in ei­ner De­mo­kra­tie m.E. ei­nes der letz­ten Mit­tel.

  12. Der ver­rä­te­ri­sche Duk­tus zeigt sich ja schon hier: Wenn Du et­was ge­gen ei­ne Wort­wahl wie Zen­sur­su­la hast oder ein Pro­blem mit der ge­ne­rel­len Frag­wür­dig­keit von gei­sti­gem Ei­gen­tum, dann möch­te ich gar nicht mir Dir ein ei­nen »Dis­kurs« tre­ten. Ein sel­ten of­fe­nes Be­kennt­nis zur In­to­le­ranz. Man kennt so­was ja durch­aus.

  13. Durch­hal­te­ruf zur Po­le­mik?
    Nach der Ver­lin­kung im Bild­blog (die mich sehr über­rascht hat) hät­te es sol­che Kom­men­ta­re doch ha­geln sol­len. Scha­de.
    – Wenn ich den Schrei­ber rich­tig in­ter­pre­tie­re so sieht er sol­che Be­grif­fe als Teil ei­ner not­wen­di­gen schar­fen Po­le­mik ge­gen die Miss­stän­de (erst wenn die nicht mehr be­stün­den könn­te man sich wie­der sach­lich und [begriffs-]neutraler da­mit aus­ein­an­der­set­zen?!).
    Lei­der muss ich Herrn Keu­sch­nig bei­pflich­ten, dass al­lein die Min­der­wer­tig­keit die­ser Be­grif­fe (dann be­glei­tet mit dem üb­li­chen Ver­fol­gungs-/ Über­wa­chungs­wahn) schon be­nutzt wer­den kön­nen, um der Aus­ein­an­der­set­zung in der Sa­che zu ent­flie­hen. – Dann kann man das gan­ze aus­sit­zen bis den Po­le­mi­kern die Luft aus­geht.
    Es ist scha­de, Teo, dass Ihr rhe­to­ri­sches Ma­nö­ver der Dis­kus­si­ons­ver­wei­ge­rung hier auf­ge­grif­fen auch zu sel­bi­ger führt. Viel­leicht ant­wor­ten Sie ja trotz­dem noch ein­mal.

  14. @Phorkyas
    Dass es aus dem »Bild­blog« her­aus kei­nen Kom­men­tar ge­ge­ben hat, kann vie­le Grün­de ha­ben: (1) Der Text taugt nichts. (2) Er ist zu kom­pli­ziert und/oder zu lang. (3) Das The­ma wird nicht ge­se­hen. (4) Man hat kei­ne Lust, dar­über zu re­den.

    Die Blogo­sphä­re be­schäf­tigt sich lie­ber mit ei­nem Phä­no­men, dass ein sehr be­kann­ter Blog sei­nen Feed auf Teaser um­ge­stellt hat, um die Le­ser auf sei­ne Sei­te zu »locken« (fin­de ich le­gi­tim) und die Auf­ruhr in den glau­be ich über 300 Kom­men­ta­ren geht da­hin, dass man mehr­heit­lich nicht auf die Sei­te des Blog­gers möch­te, weil da doch bö­se, bö­se Wer­bung ist. Die­ser ei­gent­lich lä­cher­li­che Vor­gang und das noch lä­cher­li­che­re Ver­hal­ten der Kom­men­ta­ren zeigt, wo die Prio­ri­tä­ten lie­gen...