Ver­such über die Dicht­kunst im In­ka­reich (II)

«< Fol­ge I

Drei: Gram­ma­tik und Kos­mo­vi­si­on des ru­na si­mi, ein me­di­zi­ni­scher Rat­ge­ber und wie mich um ein Haar hua­ca ge­streift hät­te.

Im ru­na si­mi (ge­nau­ge­nom­men han­delt es sich um ei­ne Grup­pe von 18 nah ver­wand­ten Spra­chen) of­fen­bart sich ei­ne Über­macht des ana­lo­gen über das de­duk­ti­ve Den­ken. Das Af­fek­ti­ve über­wiegt das Ra­tio­na­le, wes­halb die Spra­che kaum ab­strak­te Sub­stan­ti­ve kennt, da­für aber ei­ne rie­si­ge Fül­le von oft na­tur­be­zo­ge­nen Bil­dern und Me­ta­phern. Das ru­na si­mi ist ei­ne ag­glu­ti­nie­ren­de Spra­che mit nur we­ni­gen Re­gel­ab­wei­chun­gen in der Gram­ma­tik, ver­langt aber vom Spre­cher äu­sser­ste Prä­zi­si­on. Die üb­li­che Syn­tax ist Sub­jekt – Ob­jekt – Prä­di­kat, oh­ne da­bei je­doch starr zu sein. Fast im­mer liegt die Be­to­nung auf der zweit­letz­ten Sil­be, die beim An­fü­gen von Suf­fi­xen mit nach hin­ten wan­dert. Satz­zei­chen sind in­so­fern über­flüs­sig, als je­der Satz durch die Kom­bi­na­ti­on sei­ner Suf­fi­xe sei­ne ex­ak­te Be­stim­mung er­hält; Aus­sa­ge­satz und Fra­ge­satz bei­spiels­wei­se un­ter­schei­den sich nicht in ih­rer Satz­me­lo­die. Eben­so wer­den Be­to­nun­gen durch Suf­fi­xe aus­ge­drückt.

Di­mi­nu­tive wer­den ge­ra­de­zu in­fla­tio­när ver­wen­det und er­strecken sich prak­tisch auf al­le Wort­ar­ten. Sie ver­klei­nern nicht, son­dern drücken Wert­schät­zung, Dank­bar­keit und Re­spekt aus (Zärt­lich­keit na­tür­lich auch). Das äu­sserst sich dann in der Fremd­spra­che Spa­nisch als un­glaub­li­ches Ge­schach­tel an Di­mi­nü­tiv­chen, das ei­nen zum Wei­nen brin­gen könn­te („mei­ne Kühlein und Schwein­chen­lein auf dem Äcker­chen am ober­chen Berglein­chen­lein“, um ein we­nig zu über­trei­ben).

Um die li­te­ra­ri­sche Tra­di­ti­on im ru­na si­mi zu un­ter­su­chen, ist es viel­leicht von Be­deu­tung zu er­wäh­nen, dass es ne­ben ei­ner „all­ge­mei­nen Ver­gan­gen­heit“ und ei­ner „wie­der­ho­len­den Ver­gan­gen­heit“ zu­sätz­lich ei­ne „er­zäh­len­de Ver­gan­gen­heit“ gibt, die man bei­spiels­wei­se an­wen­det, wenn man ein Mär­chen er­zählt. Die er­zäh­len­de Ver­gan­gen­heit fä­chert sich wie­der­um in meh­re­re fein nu­an­cier­te Ver­gan­gen­heits­for­men auf: der Spre­cher hat­te über die ver­gan­ge­ne Hand­lung kei­ner­lei Kon­trol­le. Oder et­was ist voll­kom­men über­ra­schend ein­ge­tre­ten. Oder man kennt das Er­zähl­te nur vom Hö­ren­sa­gen. Die­ser „Ver­gan­gen­heits­reich­tum“ lässt un­end­li­che Mög­lich­kei­ten für die Epik er­ah­nen.

Der ru­na-si­mi-Spre­cher hat ein aus­ge­präg­tes Be­wusst­sein da­für, dass die Spra­che nicht ein­fach nur ein Mit­tel zur Kom­mu­ni­ka­ti­on und In­for­ma­ti­on ist. Sie ist Teil sei­ner selbst und des Uni­ver­sums, wie ein Kör­per­teil, ei­ne Tier­art, ei­ne Zeit oder ei­ne Him­mels­er­schei­nung. Dies lässt sich wun­der­bar auf­zei­gen an Án­gel Aven­da­ños me­di­zi­ni­schem Hand­buch Me­di­ci­na Po­pu­lar quechua. La re­bel­lión de los mall­kis, in des­sen Vor­wort er ge­steht, dass er für die zwei­te Auf­la­ge die „ly­ri­schen Ex­zes­se“ aus­ge­mi­stet ha­be. Das Buch glie­dert sich in sechs un­ge­fähr gleich ge­wich­ti­ge Ka­pi­tel:

  1. Ele­men­te der quechua-Gram­ma­tik (wor­in auch vom Selbst­be­wusst­sein und von der Schön­heit die Re­de geht, vom Ent­ko­lo­nia­li­sie­ren der Gram­ma­tik, Se­man­tik und Le­xi­ko­gra­phie; es fol­gen ei­ne Brand­re­de ge­gen die Con­qui­sta­do­ren und mo­der­nen Lin­gu­isten so­wie ein Dank an die­je­ni­gen christ­li­chen Mis­sio­na­re, die sich um Ver­ste­hen und Über­lie­fe­rung be­müht ha­ben)
  2. Be­schrei­ben­de Ana­to­mie (wo­bei als al­ler­er­ster Ge­gen­stand der Ana­to­mie die Le­bens­al­ter des Men­schen ab­ge­han­delt wer­den)
  3. Krank­hei­ten – all­ge­mei­ne No­men­kla­tur (der Na­me ist oft fast schon die Krank­heit selbst)
  4. Volks- und Pflan­zen­heil­kun­de
  5. Kos­mo­vi­si­on der An­den – Hei­ler und Glau­ben
  6. Glos­sar des Ok­kul­ten – Dä­mo­no­lo­gie und Pa­ra­psy­cho­lo­gie

Mu­tet das nicht ei­gen­ar­tig an, ein me­di­zi­ni­sches Hand­buch, das den er­sten Teil der Spra­che wid­met und auch in al­len an­de­ren Ka­pi­teln den Na­men der Or­ga­ne, Krank­hei­ten, Heil­pflan­zen, Gei­stern etc. so gro­sse Be­deu­tung bei­misst? Ja, doch. So­lan­ge, bis man sich ir­rever­si­bel auf die Zun­ge ge­bis­sen, ei­nen wich­ti­gen Na­men ver­ges­sen oder das Ge­hör ver­lo­ren hat. Die­ses Buch ist ge­ra­de­zu sym­pto­ma­tisch für die Kos­mo­vi­si­on der An­den; und an die­ser Stel­le sei auch gleich er­klärt, wes­halb ich „Kos­mo­vi­si­on“ ein­ge­deutscht ha­be, an­statt ein­fach „Welt­an­schau­ung“ zu sa­gen, wie es doch im Dik­tio­när steht: weil „Welt­an­schau­ung“ zu win­zig klingt, eher nach ei­nem neu­en Plüsch­über­zug fürs So­fa.

Das ru­na si­mi kennt zahl­rei­che Kon­zep­te, die für Au­ssen­ste­hen­de wohl nach hun­dert Jah­ren Ein­sam­keit in den An­den noch nicht fass­bar wür­den. Sa­gen wir: hua­ca. Viel­leicht steht es ja in ir­gend­ei­nem Rei­se­füh­rer; hua­ca geht et­wa durch als das, was die durch­schnitt­li­che Schwei­zer Mitt­vier­zi­ge­rin „Kraft­ort“ nen­nen wür­de. Für den Haus­ge­brauch mag das ja ge­nü­gen. Doch al­les kann hua­ca sein. Ein Ort, ei­ne Quel­le, ein Zeit­al­ter, ei­ne Schüs­sel, ein Blitz, ein Stein, ein Mensch, ein Wort, ei­ne Spin­ne, ei­ne Zwil­lings­ge­burt, ein selt­sa­mer Vor­gang, ein Mon­ster. Hua­ca ist manch­mal Sub­stan­tiv und manch­mal Verb und dann wie­der Ad­jek­tiv. Aber hua­ca meint ganz be­stimmt nicht „ma­gisch“. Das er­gä­be im ru­na-si­mi-Den­ken über­haupt kei­nen Sinn, denn das wür­de ja ei­nen Dua­lis­mus wie un­ser „na­tür­lich ver­sus über­na­tür­lich“ vor­aus­set­zen. Ich kann nicht wei­ter­hel­fen. An­drés (ay­mara aus Pu­no, Ar­chäo­lo­ge und Rei­se­füh­rer) leg­te mei­ne Hand (bei der Aus­gra­bung Sil­lu­sta­ni) auf ei­ne in Stein ge­ritz­te Spi­ra­le und hiess mich, wei­ter­zu­at­men und mit den Fin­gern ge­nau hin­zu­hö­ren. Just in dem Mo­ment, da ich mein­te, hua­ca an ei­nem Zip­fel zu fas­sen zu krie­gen, lach­ten die neu­rei­chen Mäd­chen aus Li­ma: „Pri­mi­ti­ver Aber­glau­be!“, be­lehr­te der Fran­zo­se in der North-Face-Jacke: „Geo­ma­gne­tis­mus!“, quen­gel­te die Eng­län­de­rin, die dum­mer­wei­se kei­ne sol­che Jacke hat­te: „Wann ge­hen wir end­lich zum Bus zu­rück?!“ – Nun wer­de ich nie­mals her­aus­fin­den, was hua­ca ist, da­bei war ich so nah dran! (War ich…?) Ein Trost, dass ich es oh­ne­hin nicht er­klä­ren könn­te, wenn ich‘s wüss­te. Und dass mich das noch lang nicht be­fä­hi­gen wür­de, ein ru­na-si­mi-Ge­dicht auf­zu­neh­men. Aber ich schwö­re, da war ir­gendwas!

Vier: Ge­schich­te der Über­lie­fe­rung und die Ent­wick­lung der Dich­tung wäh­rend und nach der Ko­lo­ni­al­zeit; mit ei­nem Ex­kurs über Le­ben und Werk des In­ka Gar­ci­la­so de la Ve­ga.

Lei­der ist un­ser Wis­sen über die Li­te­ra­tur der In­ka vor der Er­obe­rung sehr lücken­haft und durch den his­pa­ni­schen Fil­ter ver­zerrt, denn erst ge­gen En­de des 16. Jahr­hun­derts setz­te un­ter dem Vi­ze­kö­nig Fran­cis­co de To­le­do ei­ne in­ten­si­ve Aus­ein­an­der­set­zung mit der In­dio­kul­tur ein, und das aus sehr in­diof­eind­li­cher Per­spek­ti­ve. Eben­falls um 1600 be­fass­ten sich erst­mals Me­sti­zen oder his­pa­ni­sier­te In­di­os mit den spa­ni­schen Chro­ni­ken und äu­sser­ten sich vom in­dia­ni­schen Stand­punkt aus zum trau­ma­ti­schen Zu­sam­men­stoss der bei­den Kul­tu­ren (er­wähnt sei La ins­truc­ción del In­ca Don Die­go de Ca­stro von Ti­ti Cu­si Yu­pan­qui – der sich nach der Tau­fe eben Die­go de Ca­stro nann­te –, Nach­fol­ger des In­ka Man­co II.). Die we­ni­gen uns heu­te be­kann­ten Dich­tun­gen wur­den frü­he­stens zu Be­ginn des 17. Jahr­hun­derts über­tra­gen. Am we­nig­sten weiss man über die nar­ra­ti­ven Wer­ke. Hel­den­epen und My­then sind uns nur durch in­di­rek­te Dar­stel­lung der Chro­ni­sten und Mis­sio­na­re be­kannt, die sich dar­um be­müh­ten, den „al­ten Aber­glau­ben“ aus­zu­rot­ten. An­de­rer­seits je­doch ging die Mis­sio­nie­rung sehr lang­sam von­stat­ten, so dass die li­te­ra­ri­sche Pro­duk­ti­on in ru­na si­mi nie­mals ab­riss. In der Ko­lo­ni­al­zeit be­dien­te sich der me­sti­zi­sche Kle­rus so­wohl des ru­na si­mi als auch des Spa­ni­schen, um in­kai­sche Hym­nen und Ge­be­te kon­form mit der ka­tho­li­schen Kir­che um­zu­dich­ten. Auch die pro­fa­ne Dich­tung wur­de zu je­ner Zeit haupt­säch­lich von Me­sti­zen ver­fasst, un­ter Ver­wen­dung der ka­sti­li­schen Me­trik und spa­ni­scher Lehn­wör­ter. Ver­mut­lich gab es wei­ter­hin ei­ne ge­nu­in in­dia­ni­sche Dich­tung, die aber so­zu­sa­gen im Un­ter­grund und vor al­lem in der ora­len Tra­di­ti­on ver­blieb und nicht über­lie­fert wur­de.

Bis ins 18. Jahr­hun­dert hin­ein ent­stan­den stän­dig neue Dich­tun­gen, dar­un­ter sehr vie­le re­li­giö­se (christ­li­che oder syn­kre­ti­sti­sche) Thea­ter­stücke. Die Büh­ne wur­de in­stru­men­ta­li­siert, um bi­bli­sche Ge­schich­ten un­ter die an­alpha­be­ti­schen Lai­en zu brin­gen. In der Un­ab­hän­gig­keits­epo­che ge­wann die Aus­ein­an­der­set­zung mit dem in­dia­ni­schen Ele­ment iden­ti­täts­stif­ten­de Be­deu­tung; in die Zeit um 1800 fällt bei­spiels­wei­se die er­ste Nie­der­schrift des Dra­mas „Ol­lan­tay“. Tra­di­tio­nel­le For­men wur­den wie­der­be­lebt. So ver­such­te et­wa der pe­rua­ni­sche Dich­ter Ma­ria­no Mel­gar, das ya­ra­wí (Lie­bes­lied) in der spa­ni­schen Spra­che zu eta­blie­ren.

Seit dem zwan­zig­sten Jahr­hun­dert blüht die in­di­ge­ne Dich­tung wie­der auf. Nach wie vor wird sie aber als min­der­wer­tig dis­kri­mi­niert und für we­ni­ger kom­plex ge­hal­ten als die von der eu­ro­päi­schen Tra­di­ti­on ge­präg­ten Na­tio­nal- oder Kon­ti­nen­tal­li­te­ra­tu­ren. So wird die mo­der­ne ru­na-si­mi-Dich­tung ei­ner­seits von au­ssen mar­gi­na­li­siert, bleibt an­de­rer­seits aber auch von in­nen her­me­tisch (und zu ei­nem gro­ssen Teil nach wie vor oral). Oft pro­phe­zeit ein aus­schlie­ssen­des Wir hi­sto­risch-so­zia­le Ka­tak­lysmen, zieht der in­dia­ni­sche Mes­si­as in ei­ne ri­tu­el­le Schlacht oder blu­tet ein bäu­er­li­cher Mär­ty­rer aus, was auf Au­ssen­ste­hen­de ent­we­der weh­lei­dig oder ana­chro­ni­stisch wirkt, oder für sie aus Un­kennt­nis ei­ner Tra­di­ti­on, die über Jahr­hun­der­te im Un­ter­grund ope­rie­ren muss­te, schlicht nicht zu­gäng­lich ist. Auch die in­di­ge­ne Ge­mein­schaft selbst hat sich auf­ge­spal­ten in zwei Kul­tu­ren: die wei­ter­hin länd­li­che, so­wie die ur­ba­ne Dia­spo­ra der Land­flüch­ti­gen. Be­reits Jo­sé Ma­ría Argued­as (1911 – 1969), ei­ner der wich­tig­sten Ver­tre­ter des in­di­ge­nis­mo, hat aber be­wie­sen, wel­ches Po­ten­ti­al die mo­der­ne ru­na-si­mi-Dich­tung ent­fal­ten könn­te, wenn man sie denn lie­sse. Um die ab­ge­dro­schen­ste al­ler Phra­sen auch noch un­ter­zu­brin­gen: Glo­ba­li­sie­rung und In­ter­net wer­den wo­mög­lich da­zu bei­tra­gen, den in­di­ge­nen Stim­men (nicht nur des ru­na si­mi) mehr Ge­hör zu ver­schaf­fen, hof­fent­lich aber oh­ne in ei­nem ro­man­ti­sie­ren­den, pro­fil­lo­sen Ein­heits­brei zu ver­kö­cheln wie die so­ge­nann­te world mu­sic.

Doch zu­rück zur In­ka-Dich­tung. Da al­le Über­lie­fe­run­gen ly­ri­scher Wer­ke auf den Tran­skrip­tio­nen in den Chro­ni­ken ba­sie­ren, sind die ur­sprüng­li­chen For­men kaum zu re­kon­stru­ie­ren. Die Chro­ni­sten wa­ren ent­we­der eben dies, rei­ne Ge­schichts­schrei­ber, die bar je­des dich­te­ri­schen Hand­werks ein­fach grob in kru­de Pro­sa über­setz­ten, oh­ne Rück­sicht auf Form, Me­trum oder Reim (wo­mit wir nicht mit Si­cher­heit wis­sen, ob der Reim über­haupt ver­wen­det wur­de), wäh­rend an­de­re Chro­ni­sten durch­aus poe­tisch ge­schult wa­ren, die Ge­dich­te und Lie­der je­doch in eu­ro­päi­sche For­men um­gos­sen. Es be­steht ei­ne auf­fäl­li­ge Ähn­lich­keit zwi­schen man­chen in­kai­schen Ge­dich­ten und früh­mit­tel­al­ter­li­chen Lied­for­men der ibe­ri­schen Halb­in­sel, bei­spiels­wei­se in den Wie­der­ho­lungs­struk­tu­ren, aber es lässt sich nicht sa­gen, ob dies Merk­ma­le der Dich­tung selbst sind oder nur ih­rer Über­lie­fe­rung.

Inca Garcilaso de la Vega

In­ca Gar­ci­la­so de la Ve­ga

Zu ei­nem nicht un­we­sent­li­chen Teil stüt­ze ich mich in die­sem Es­say auf die Co­men­ta­ri­os rea­les des In­ka Gar­ci­la­so de la Ve­ga. Den Vor­wurf sub­jek­ti­ver Sym­pa­thie (nein, Be­wun­de­rung!) las­se ich mir gern ge­fal­len, aber es wird Gar­ci­la­so all­ge­mein at­te­stiert, dass er um sei­ne Ver­ant­wor­tung wuss­te und sehr sorg­fäl­tig vor­ging bei der Aus­wer­tung hi­sto­ri­scher Quel­len. Man muss nur im Hin­ter­kopf be­hal­ten, dass er so­wohl die In­kas als auch die Spa­ni­er als Zi­vi­li­sa­to­ren glo­ri­fi­zier­te und bei­de idea­li­siert dar­stell­te, teils be­stimmt auch in der Ab­sicht, sei­ne ei­ge­nen „El­tern­kul­tu­ren“ mit­ein­an­der zu ver­söh­nen (im Ge­gen­satz zu sei­nem Kol­le­gen und Zeit­ge­nos­sen Fe­li­pe Hu­a­man Po­ma de Aya­la, der, aus ei­nem nie­de­ren Ge­schlecht ei­nes von den In­kas un­ter­wor­fe­nen Vol­kes stam­mend, bei­de ver­teu­fel­te und höchst merk­wür­di­ge Vor­schlä­ge zur Er­rich­tung ei­nes neu­en in­dia­ni­schen Im­pe­ri­ums vor­brach­te – uns da­bei in sei­nen rei­chen Il­lu­stra­tio­nen aber eben­falls un­schätz­bar vie­le De­tails aus dem All­tags­le­ben und der Ge­schich­te der In­kas über­lie­fert).

Gar­ci­la­so de la Ve­ga wird 1539 als un­ehe­li­cher Sohn ei­nes Con­qui­sta­dors und ei­ner chri­stia­ni­sier­ten In­ka-Prin­zes­sin (ei­ne Cou­si­ne Ata­hual­pas und Huas­cars) in Cuz­co ge­bo­ren. Sei­ne Kind­heit ver­bringt er im Schoss der Ver­wand­ten müt­ter­li­cher­seits und nimmt so die (ad­li­ge) In­ka­kul­tur buch­stäb­lich mit der Mut­ter­milch auf. Er ge­niesst zu­dem ei­ne vor­züg­li­che Schul­bil­dung. Mit 21 reist er auf Wunsch sei­nes Va­ters zum Stu­di­um nach Spa­ni­en und wid­met sich dort dem Waf­fen­hand­werk und der Dicht­kunst. Er kämpft als Söld­ner, macht sich als Über­set­zer neo­pla­to­ni­scher Wer­ke ei­nen Na­men und pu­bli­ziert schliess­lich 1605 La Flo­ri­da del In­ca, ei­ne Dar­stel­lung der Con­qui­sta in der Er­zähl­wei­se ei­nes hi­sto­ri­schen Ro­mans. 1609 er­scheint der er­ste von drei Bän­den der Co­men­ta­ri­os rea­les über in­kai­sche Her­kunft, Ge­schich­te und Kul­tur, an de­nen er be­reits seit über 20 Jah­ren ge­ar­bei­tet hat. Gar­ci­la­so – er ist in­zwi­schen Geist­li­cher – wird auf ei­nen Schlag als bril­lan­ter Sti­list be­rühmt und ver­kör­pert ge­ra­de­zu den kul­tu­rel­len und in­tel­lek­tu­el­len me­stiz­aje. Erst­mals be­zeich­net ein spa­nisch schrei­ben­der, hu­ma­ni­stisch ge­bil­de­ter Au­tor Pe­ru als „Va­ter­land“ und be­kennt sich im sel­ben Atem­zug zu sei­ner in­dia­ni­schen Ab­kunft. Gar­ci­la­so kehrt nie wie­der in sein Mut­ter­land zu­rück; er stirbt 1616 77-jäh­rig, am sel­ben Tag wie Cer­van­tes.

Al­lein die über al­le Mas­sen ab­schät­zi­ge Dar­stel­lung der vor­in­kai­schen und von den In­kas un­ter­wor­fe­nen Völ­ker kann ich Gar­ci­la­so nicht ver­zei­hen. Wohl leb­te er in sol­chem Zeit­kli­ma, wohl wuchs er gleich in zwei Kul­tu­ren als Snob auf. Aber ein Mann mit sei­ner In­tel­li­genz, Bil­dung, Er­fah­rung, Sen­si­bi­li­tät, ei­ner, der so sorg­fäl­tig ar­bei­te­te und es nicht nö­tig hat­te, dem Zeit­geist das Wort zu re­den, die An­ti­the­se des Schwarz-Weiss-Den­kers, wie konn­te der so da­ne­ben­hau­en?! (Und ich bin wohl selbst­ge­recht.)

[Fort­set­zung folgt]

4 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. War­um hua­ca nicht auch in Eu­ro­pa spü­ren?
    Heu­te ha­be ich end­lich Zeit ge­fun­den, mich mit dem zwei­ten Teil Ih­res in­ter­es­san­ten Es­says zu be­fas­sen. Lei­der kann ich dem wun­der­ba­ren In­halt nicht ge­recht wer­den, es fehlt mir zu­viel an Hin­ter­grund­wis­sen. Trotz­dem ka­men Fra­gen beim Le­sen auf, wenn auch an­de­rer Art.
    Ich frag­te mich, wie die In­kas im pe­rua­ni­schen Hoch­ge­bir­ge At­mung und Spra­che vereinbar(t)en. Da ja be­kann­ter­ma­ßen die Luft in ex­tre­men Hö­hen­la­gen im­mer dün­ner wird, ver­än­dert sich die At­mung. Und ei­ne Grund­vor­aus­set­zung für die laut­sprach­li­che Laut­bil­dung ist ja die At­mung. Gibt es da ana­to­mi­sche Ver­än­de­run­gen im Ra­chen­raum (der we­sent­li­che Funk­tio­nen für die Laut­bil­dung über­nimmt)? Oder hängt das da­mit gar­nicht zu­sam­men?
    Das Be­wusst­sein, dass Spra­che auch ein Teil sei­ner selbst und des Uni­ver­sums ist, das ist ein be­son­de­rer Ge­dan­ke, den es fest­zu­hal­ten gilt.
    Und zu ei­nem der näch­sten Ab­sät­ze, mei­ne Fra­ge: War­um kann man/frau hua­ca nur in Pe­ru spü­ren?
    In­ter­es­sant für mich ist die Be­schrei­bung Gar­ci­la­so de la Ve­ga. Ist sein Buch La Flo­ri­da del In­ca ins Deut­sche über­setzt und ha­ben sie es ge­le­sen?
    Ich ha­be schon oft weh­lei­dig dar­über nach­ge­dacht, wie­viel Kul­tur­gü­ter über die Jahr­hun­der­te ver­schwun­den sind. Z.B. hat auch A. Hum­boldt in sei­nem For­scher­drang vie­le Ta­bus ge­bro­chen ( u.a. Mu­mi­en ge­stoh­len) und nicht Er­setz­ba­res nach Über­see ver­frach­ten las­sen, um es im Hei­mat­land zu er­for­schen. Und wie­vie­le Schif­fe sind zu der Zeit mit die­sen Frach­ten ge­sun­ken! Und wenn sie nicht ge­sun­ken sind, dann ist hier vie­les un­ter die Rä­der ge­kom­men. Und vor­her wa­ren da ja noch Kon­qui­sta­do­ren in Mit­tel-und Süd­ame­ri­ka recht ak­tiv im Aus­beu­ten des Lan­des. Von den Mis­sio­na­ren ganz zu schwei­gen. Ob­wohl Sie ja schrei­ben, dass es an­schei­nend Mis­sio­na­re gab, die um Über­lie­fe­rung und um Ver­ste­hen be­müht wa­ren
    Nun bin ich al­so wirk­lich ge­spannt, wie es wei­ter­geht in Ih­rer Ab­hand­lung über die Dicht­kunst im In­ka­reich.
    ( Üb­ri­gens, an die Di­mi­nu­tive hier im schwä­bi­schen Sprach­raum kann ich mich als Nord­deut­sche auch nach zig Jah­ren des „hier­le­bens“ nicht ge­wöh­nen :). LG l‑s

  2. Das wür­de ja be­deu­ten, daß man sich die An­den­be­woh­ner leicht über­trie­ben als jap­sen­de, kurz­at­mi­ge Ge­schöp­fe vor­stel­len müß­te, die vor lau­ter Atem­not nur Ein­sil­bi­ges von sich gä­ben. Nein: Der Kör­per paßt sich an die dün­ne Luft an, nicht die Spra­che. Herz­lei­stung und Lun­gen­vo­lu­men sind grö­ßer, die Zahl der ro­ten Blut­kör­per­chen ist hö­her. Das al­les spielt für die Laut­bil­dung kei­ne Rol­le. Da die Form der Pha­ry­nx für die At­mung un­er­heb­lich ist, ist sie auch nicht von den kör­per­li­chen An­pas­sun­gen an die Hö­hen­luft be­trof­fen.

    Und selbst wenn: Ab­ge­se­hen von ei­ni­gen Uvu­lar­lau­ten in man­chen Quechua-Va­rie­tä­ten ist der Laut­be­stand die­ser Sprach­fa­mi­lie nicht be­son­ders »pha­ry­nx­la­stig«. Uvu­la­re gibt es zu­dem in zahl­rei­chen Spra­chen au­ßer­halb des An­den­rau­mes, zum Bei­spiel im K’i­che’ (ei­ne Ma­yaspra­che in Mit­tel­ame­ri­ka), in man­chen ara­bi­schen Va­rie­tä­ten und im Deut­schen, um nur we­ni­ge Bei­spie­le zu nen­nen. Aber die an­di­nen Spra­chen sind auch nicht et­wa arm an Plo­si­ven des hin­te­ren Mund- bzw. des Ra­chen­be­reichs. Ve­lar- und Uvu­lar­rei­hen sind kei­ne Sel­ten­heit. Kurz­um, es ist am Laut­be­stand oder Sprach­typ (hoch­gra­dig ag­glu­ti­nie­rend) nichts, was es nicht auch an­ders­wo gä­be. Die­se Be­ob­ach­tung kann man im­mer wie­der ma­chen, wenn man vie­le Spra­chen mit­ein­an­der ver­gleicht: Kaum ei­ne exo­ti­sche Er­schei­nung ir­gend­ei­ner Spra­che ist wirk­lich ein­zig­ar­tig; das mei­ste kommt auch noch wo­an­ders vor.
    Ins­be­son­de­re ist nir­gend­wo auf der Welt ein Ein­fluß des Le­bens­rau­mes auf die Art der Spra­che oder der Sprach­ent­wick­lung zu be­ob­ach­ten (wenn man von der gänz­lich tri­via­len Fest­stel­lung ab­sieht, daß der Le­bens­raum den Wort­schatz mit­be­stimmt), eben­so­we­nig wie ei­ne Be­zie­hung zwi­schen dem Sprach­typ und der Kul­tur der Spre­cher fest­stell­bar ist – auch wenn das im 19. Jah­rund­ert vie­le nam­haf­te Ge­lehr­te ha­ben ver­mu­ten wol­len. De­ren ras­si­stisch an­ge­färb­ten An­nah­men und Vor­ur­tei­le ba­sier­ten da­mals al­ler­dings mehr auf der Prä­mis­se oder Wunsch­vor­stel­lung, daß La­tein und Grie­chisch die »voll­kom­men­sten« Spra­chen sei­en (was auch im­mer sie mit »voll­kom­men« ge­meint ha­ben mö­gen).

  3. @ Tala­kal­lea Thy­mon: dan­ke! So aus­führ­lich und fun­diert hät­te ich die er­ste Fra­ge nicht be­ant­wor­ten kön­nen, über die Lun­gen und Blut­kör­per­chen wä­re ich nicht hin­aus­ge­kom­men. Ich freue mich im­mer wie­der sehr über die­se lin­gu­isti­schen Ein­füh­rungs­kur­se (manch­mal hat es al­so sein Gu­tes, wenn man spät dran ist mit Kom­men­tar­kom­men­tie­ren, oft kommt ei­nem je­mand zu­vor, der vom rich­ti­gen Fach ist). ... Und eben­so freue ich mich, un­se­rem al­ten Be­kann­ten, dem Uvu­lar, wie­der zu be­geg­nen; ha­be ich das nicht ein­mal mit der mul­ti­plen Ovu­la­ti­on der Ka­nin­chen­zib­be ver­wech­selt?!

    @ lou-sa­lo­me:

    »hua­ca« ist selbst­ver­ständ­lich über­all, spe­zi­fisch an­din ist das »Kon­zept« der hua­ca (es fällt mir ein­fach kein an­de­res Wort ein als »Kon­zept«). Ich konn­te aber schon öf­ter be­ob­ach­ten, dass Süd­ame­ri­ka­nern hier in Mit­tel­eu­ro­pa »hua­ca« oder »hua­ca-Sen­si­bi­li­tät« oder wie man das nen­nen will nach ei­ner Wei­le ab­han­den kommt, was sich oft in ei­ner ma­ni­fe­sten De­pres­si­on äu­sserst. Klingt et­was eso­te­risch, aber ich glau­be, es hat et­was mit der kol­lek­ti­ven Wahr­neh­mung zu tun – wo für die mei­sten »hua­ca« nicht exi­stiert, ent­steht ei­ne At­mo­sphä­re, in der »hua­ca« tat­säch­lich »ver­schwin­det«. ... Ich hö­re hier lie­ber auf, sonst steht bald je­des Wort in An­füh­rungs­zei­chen und ich wer­de von der Blog-Po­li­zei ein­ge­lie­fert.

    Ich konn­te nach ei­ni­ger Goo­ge­lei kei­ne deut­sche Über­set­zung von »La Flo­ri­da del In­ca« fin­den – falls je­mand ei­ne kennt, bin ich eben­falls um Hin­wei­se dank­bar. Mei­ne ei­ge­ne An­den­bi­blio­thek setzt sich aus spa­nisch­spra­chi­gen Raub­ko­pien von Bou­qi­ni­sten zu­sam­men, so dass ich von Gar­ci­la­so pein­li­cher­wei­se nur den er­sten Band der »Co­men­ta­ri­os Rea­les« ge­le­sen ha­be (in drei Bän­de auf­ge­teilt, so dass ich lan­ge glaub­te – noch pein­li­cher! – ich hät­te die ge­sam­ten Co­men­ta­ri­os ge­le­sen :-) ). Die Co­men­ta­ri­os je­den­falls gibt es auf Deutsch und Eng­lisch. Man wür­de da­zu heu­te wohl »Sach­buch« sa­gen, liest sich aber sehr flüs­sig, Gar­ci­la­so ist nun mal ein be­gna­de­ter Er­zäh­ler (und – wie er­wähnt – ein bril­lan­ter Sti­list, die­ses Spa­nisch ist heu­te noch schön und da­zu leicht zu le­sen; ich hof­fe, die Über­set­zun­gen tra­gen dem Rech­nung).

  4. „An­den-EPO“*
    Mei­ne Ge­dan­ken zur At­mung und ana­to­mi­schen Be­ge­ben­hei­ten bei der Be­völ­ke­rung aus den Hoch­ge­bir­gen, al­so nicht nur zu den An­den-auch zu den Hi­ma­ly­abe­woh­ner, wa­ren et­was zu „laut“ ge­dacht.
    Dan­ke, für die aus­führ­li­che Er­klä­rung.
    Jetzt ver­su­che ich wie­der laut zu den­ken,( ich mach’ es ein­fach noch ein­mal): durch die Evo­lu­ti­on hat ei­ne phy­sio­lo­gi­sche An­pas­sung statt­ge­fun­den, hier: bei Völ­kern aus den Hoch­ge­bir­gen ( und ei­ne Evo­lu­ti­on nicht nur der Hä­ma­to­lo­gie, son­dern auch der Ana­to­mie) und da­mit könn­te doch auch die Aus­spra­che ei­ne ge­wis­se Ent­wick­lung durch­ge­macht ha­ben.
    Für In­hal­te, die aus­ge­drückt wer­den, sind Ana­to­mie und At­mung ganz si­cher oh­ne Be­deu­tung.

    Ich ha­be noch ein we­nig ver­sucht, er­gän­zend et­was über In­ka-Dich­tung her­aus­zu­fin­den. Wie er­nüch­ternd die Fun­de sind: das Hua­ro­chi­rí-Ma­nu­skript, das in Quechua-Spra­che ge­schrie­be­ne Schau­spiel Ol­lan­ta, das es Dich­ter­schu­len gab, sog. Amau­tes ( er­in­nert mich an die „Ta­feln“ in Ägyp­ten). Der Be­griff Ya­ra­huis, –>Ly­rik be­stehend aus Ge­dich­ten und Lie­dern, wird er­wähnt. Gar­ci­la­so de la Ve­ga wird in ho­hen Tö­nen ge­lobt ( Wi­ki­pe­dia) und bleibt ei­ner der ganz we­ni­gen Quechua-Über­lie­fe­rer. Und wie Sie schrei­ben: „Da al­le Über­lie­fe­run­gen ly­ri­scher Wer­ke auf den Tran­skrip­tio­nen in den Chro­ni­ken ba­sie­ren, sind die ur­sprüng­li­chen For­men kaum zu re­kon­stru­ie­ren“.
    Ach ja, und ein we­nig ha­be ich noch über die „Kno­ten­schrift“, das sog. Ki­pu (-sy­stem), er­fah­ren.
    Es wur­de viel von münd­li­cher Über­lie­fe­rung be­rich­tet, bis in die heu­ti­ge Zeit hin­ein.
    Wenn in den noch kom­men­den Fol­gen dies von Ih­nen al­les noch be­schrie­ben wird , hof­fe ich, nichts vor­weg­ge­nom­men zu ha­ben.
    Mir ist noch et­was zum hua­ca ein­ge­fal­len. Ein ganz be­stimm­tes Ge­fühl über­kommt mich, wenn ich in­dia­ni­schen Stra­ßen­mu­si­kern zu­hö­re. Viel­leicht schwingt sich ganz sanft hua­ca über die Pan­flö­ten in mei­ne Oh­ren hin­ein? ( Das mei­ne ich ernst!)
    Und wie ich am 6.2. er­wähn­te, ich bin sehr ge­spannt auf Fol­ge 2.

    * EPO ( be­kannt als Do­ping beim Sport), da­von ha­ben die An­den­be­woh­ner mehr als die Flach­län­der. Ery­thro­zy­ten ( ro­te Blut­kör­per­chen), de­ren Hä­mo­glo­bin den Sau­er­stoff im Kör­per trans­por­tie­ren, wer­den vom Ery­thro­poe­tin an­ge­kur­belt, von de­nen die An­den­be­woh­ner auch mehr ha­ben. Die Hoch­land­völ­ker sind auf das syn­the­ti­sche EPO für ih­re Leistunsgstei­ge­rung über­haupt nicht an­ge­wie­sen.