Verspätete Bemerkungen zu einer Pseudokritik über Stephan Thomes Buch »Grenzgang«
Stephan Thome hat einen Fehler gemacht. Er hatte sich in der Kulisse seines Heimatortes Biedenkopf für die Literaturbeilage der »Zeit« (Oktober 2009) fotografieren lassen (die Bilder sind nicht online). Eine Bildunterschrift lautet: »Stephan Thome lebt zwar gerade in Taiwan, geht hier aber im heimatlichen Biedenkopf für uns in die Hocke.« Jeder, der auch nur einen Funken Gefühl für Sprache hat, erkennt die verborgenen Invektiven. Zusammen mit der Rezension von Iris Radisch ergibt dies eine schwungvolle Denunziation des Romans »Grenzgang«.
Rezension? Nein, das ist es nicht. Radisch hat sich gar nicht erst die Mühe gemacht, den Roman zu begreifen. Dabei sind diese katapultartig herausgeschleuderten Wortkaskaden eher Dokumente virulenter Sprachlosigkeit. Und als Vertuschungsmittel wird eine in der deutschen Literaturkritik bekannte und beliebte Methode verwandt: Sie »beschuldigt« dieses Buch, provinziell zu sein. Festgestellt wird dies von selbst-autorisierten Provinzwächtern (Hajo Steinert oder Dennis Scheck wären da in vorderer Linie zu nennen). Die Diagnose trifft man in »diesem Herbst« beispielsweise auch noch bei Peter Henning [Hanau] und Siegfried Lenz [»Grünau«; Nelkenfest!].
Beschuldigungen dieser Art kommen immer sehr gut, weil sie den Rezensenten gleichzeitig auch als weltmännischen (weltfraulichen?) Protagonisten ins helle Licht stellen. Lässt sich der Autor (wie hier) dann auch noch auf der Wiese posierend als eine Art Ganghofer-Wiederkehrer deuten, ist das Glück vollkommen. Man muss diese Kritikergeneration auch verstehen. Ihrer Sozialisation nach ist ihnen der Begriff der Heimat immer noch reflexartig verhasst (trotz [oder wegen?] Edgar Reitz); man hatte ihn (vor ihrer Zeit) ziemlich bereitwillig der Kitschindustrie überlassen und dabei vorsorglich braun eingefärbt, damit er nicht mehr gefahrlos wiederbelebt werden kann.
So wittern die Diagnostiker der »Renaissance des deutschen Provinzromans« im immer stärker um sich greifenden europäischen Regionalismus (den sie außerhalb Deutschlands plötzlich goutieren und gelegentlich sogar mit Exotismus parfümieren) eine Wiederkehr der »Gewöhnlichkeit«. Unlängst bekannte Dennis Scheck beim schwungvollen Bücherwerfen, dass ihn Regionalkrimis immer ein bisschen an Musikantenstadl-Mief erinnern. Bemerkenswert nur, dass sie beispielsweise ihren amerikanischen Helden diesen sogenannten Provinzialismus nicht nur verzeihen, sondern ihn gar nicht erst zur Kenntnis zu nehmen scheinen (was vermutlich damit zu tun hat, dass für die in der Mehrzahl eher stubenhockenden Redakteure die USA per se als Großstadt durchgeht und wo die Anschauung fehlt, wird der Zwerg schnell zum Riesen). Aber wo spielen denn noch einmal Updikes »Rabbit«-Romane? Ist Philipp Roth tatsächlich ein Großstadtromancier? Was ist mit Franzen? Naja, lieber nicht so genau fragen, sonst müsste man die Definitionsfrage stellen und würde vielleicht auf das Resultat stoßen, dass der Erzählort per se nichts über den Erzählstil oder die Sprache eines Buches aussagt.
Anleihen bei Eric Rohmer
Radisch stellt »Grenzgang« die »großen literarischen Meilensteine dieses Herbstes« gegenüber: Foster Wallace und Bolaño. Beide Bücher sind typische Literatur-Literatur. Diese kommen meist ohne das störende Publikum aus. Einige wenige Meinungsmacher geben die (meist affirmative) Richtung vor (die erklärten Anti-Literatur-Literatur ist seltener). Widerspruch gilt als Unverständnis; ein mokantes Lächeln hat man sich zu denken. Mit Literatur-Literatur erhöhen sich Kritiker in den Propheten-Stand. Der auf diese Weise verstummte Leser soll mit hochrotem Kopf einfach nur noch nicken – oder schweigen.
Es dürfte kaum jemanden geben, der in der vom Betrieb für notwendig befundenen Eile Foster Wallaces »Unendlicher Spaß« vollständig gelesen und verstanden hat. Ulrich Blumenbach, der deutsche Übersetzer, brauchte mehrere Jahre dazu und auf dem entsprechenden Blog des Verlages hatte die teilnehmende Kulturschickeria irgendwann lieber über ihre eigenen Erlebnisse berichtet (Hauptsache, man hat das Leseexemplar des Verlages als repräsentatives Schmuckstück im Regal stehen). Bolaños »2666« ist deutlich eingängiger und eine Fundgrube für Exegeten, die hinter den potemkinschen Romankulissen mit den plakativ gesetzten Verweisen des Autors Literatur-Memory mit ihren Freunden spielen können. Diese Romane als Kronzeugen gegen Thomes Buch in Position zu bringen ist in etwa so absurd als wolle man einen Eric Rohmer-Spielfilm mit einem Actionthriller vergleichen wollen.
Tatsächlich hat Thomes »Grenzgang« Züge eines Rohmer-Filmes. Und Thomas Assheuers Nachruf auf den kürzlich verstorbenen Filmemacher zeigt sehr schön, worin dessen Kunst bestand und zeigt (ungewollt) verblüffende Parallelen zu Thome auf: »Wir, die Insassen der Moderne, haben kein Land mehr unter den Füßen, wir sind ‘eingeschifft’ und treiben durch das Meer der Zeit. Niemand führt Regie und verrät den Liebenden, wer für wen bestimmt ist. Das heißt, die moderne Freiheit macht es den Menschen nicht leichter, sie macht es ihnen schwerer, denn sie lässt das Doppelgesicht der Leidenschaft ’nackt’ hervortreten, ihr Dunkles, ihre Ambivalenz. Sie zwingt die Liebenden, den richtigen Gebrauch von ihrer Freiheit zu machen: Sie müssen den Augenblick des Gefühls ‘ergreifen’ und ihr Begehren in die Dauer der Liebe verwandeln. Sie müssen – wählen.«
Und dieses Wählen fällt heutzutage (verblüffenderweise) so verdammt schwer, da man sich in seiner platonischen (Gefühls-)Höhle irgendwie eingerichtet bzw. arrangiert hat. Am Anfang bei Thome die Idylle des Gartens an einem Morgen im Mai: Von Osten her brechen Sonnenstrahlen durch die Ligusterhecke, legen sich waagrecht über aufblühende Beete und nehmen die Stämme von Birken und Kastanien in Besitz. Eine Stille aus Vogelgezwitscher und Insektengesumm füllt die schattenkühle Luft des beginnenden Tages und lässt alle anderen Geräusche verblassen: Verkehr auf der Hauptstaße und Schülergeschrei unten im Ort. Ein Netz aus weißem Tau deckt die Wiese, löst sich langsam auf, wo Sonnentupfer durch das Blattwerk fallen, und beteiligt sich am Wechselspiel von Licht und Schatten.
Aber da gibt es ein trotz allem davor: Trotz allem denkt sie: Der Garten ist ein Traum). Und gleich danach wieder der Blick auf und in die Realität. Das alles geschieht sehr subtil, manchmal – zugegeben – fast ein bisschen behäbig. Aber am Ende heißt es dann, Liebe sei ein autistisches Gefühl. Und das ist noch nicht einmal nur resignativ gemeint.
Es geht um Kerstin Werner, geschieden, 44, mit 16jährigem Sohn Daniel. Sie leben in dem kleinen Ort Bergenstadt (aka Biedenkopf) mit ihrer an Demenz erkrankten Mutter im Haus. Im Ort gibt es alle sieben Jahre ein auch überregional bekanntes Volksfest, den sogenannten Grenzgang. Hauptsächlich spielt der Roman im Mai und Juni 2006; dem Sommer der Fußball-WM. Der »Grenzgang« im August 2006 kommt nur kursorisch vor. Immer mehr zeigt sich im Verlauf des Buches, wie die Grenzgang-Zyklen den Lauf Kerstins (und anderer Figuren) strukturieren. Es gibt Rückblenden auf 1999 (der Vergleich 1999/2006 wird sehr oft gezogen; erzählt), 1992, 1985 (Kerstin lernte da ihren Mann, Daniels Vater, kennen) und sogar einmal eine Vorschau auf das Jahr 2013.
Tatsächlich ist das Erzählte vordergründig von einer geradezu provozierenden Unspektakularität. Zwar soll am Anfang der eigentlich gute Schüler Daniel Mitschüler erpresst haben, aber die Angelegenheit wird schnell aus der Welt geschafft. Sein Lehrer, Thomas Weidmann, der vor sieben Jahren zurück in den Ort kam, nachdem eine wissenschaftliche Karriere an Planstellenwirrwarr und Kollegengezänk scheiterte, »entdeckt« Kerstin bei dieser Gelegenheit wieder (nachdem es zwischen den beiden bereits bei einem früheren Grenzgang-Fest eine scheue, Effi-Briest-ähnliche Situation gab). Die Krankheit von Kerstins Mutter verschlimmert sich schnell und der Ex-Mann hat seine wesentlich jüngere Lebensgefährtin geschwängert. Kerstin fühlt sich schwunglos, überfordert, verunsichert; ein bisschen plakativ dabei der Gestus, den Thome immer wieder erwähnt: ihre so häufig verschränkten Arme.
Diese Form der Lebenskrise ist den deutschen Provinzkritikern natürlich suspekt, da zu profan und zu wenig abenteuerlich: Tatsächlich ist die Welt weder durch eine Terrortruppe bedroht noch erschüttert eine Hundertfache Mordserie die Region. Und auch der Besuch mit der (irgendwie) befreundeten Karin (Kerstin hatte auf Freundschaft gehofft und bekommt Komplizenschaft angeboten) in einen nahegelegenen Swingerclub führt nicht zu houellebecq-ähnlichen, exzessiven Ausschweifungen (wieder eine Enttäuschung!). Stattdessen entdeckt Kerstin Weidmann mit einer »Internetbekanntschaft« (das neue Pfui-Wort!) an der Bar und verlässt schockiert das Etablissement.
Es mag kosmopolitischen Bonvivants nun tatsächlich banal erscheinen, eines Sommerabends nackt im Badezimmer desjenigen zu stehen, den man begehrt und sich dort zur potentiellen Eroberung »frisch« zu machen. Eine Situation des Romans, die in einiger Breite erzählt wird und die Thomes Kunst, den Kitsch zu streifen, ihm aber nicht auf den Leim zu gehen, zeigt. Von all dem kein Wort bei Radisch. Merkwürdig. Und während man über die Internetjunkies und ihre Kunstwelt lästert wird selber hart am virtuellen Wind intellektueller Parallelwelten gesegelt.
Man kann im Einzelfall Thome vielleicht eine saloppe, gelegentlich etwas angestrengt daherkommende Sprache vorwerfen. Die Mehrzahl seiner Wortspiele trifft allerdings durchaus und zeigt von Ferne Woody Allen als Vorbild. Aber darum geht es gar nicht. Tatsächlich denunziert hier jemand eine Form der Literatur. Warum? Um sie nicht an sich heranlassen zu müssen? Weil sie mehr beißt als alle imaginierten Schreckensszenarien? Oder ist die »Gefühlsbetäubung bundesdeutscher Wohlstandsprofiteure«, die sie Thomes Protagonisten vorwirft, in Wirklichkeit ihre eigene Empathieunfähigkeit?
»Grenzgang« ist ein über weite Strecken gelungenes Sittenbild einer Mittelschicht-Bundesrepublik nach 1989, in der epochale, katastrophale oder einfach nur spektakuläre Ereignisse, die Massen erschüttern oder ins kollektive Unglück setzen, weitgehend fehlen. Vergeblich sucht man beispielsweise einen Rekurs auf den 11. September 2001. Politische und intellektuelle Diskussionen finden hier nicht statt. Das mag man beklagen – insbesondere wenn man zufällig unter diesen Menschen sitzen sollte (ein Trost: für Fußball interessieren sie sich auch nicht). Dieses Desinteresse begreifen Kritiker wie Radisch als persönliche Beleidigung. Hier würden ihre Aperçus, Thesen und Einlassungen abprallen. Faust wollte noch Mensch sein auf seinem Spaziergang. Sie wollen über Bolaño parlieren. Mit Gleichgesinnten. Drunter geht es nicht. (Als ob das auf Dauer nicht auch langweilig wäre.)
Neben den von ihnen Verachteten, die durchaus mit ambivalenten Gefühlen Zuflucht in kollektive Freudenfeste suchen (und deren Erlebniswert gerade deshalb schal bleibt), strafen sie den Überbringer der Botschaft gleich mit ab. Dabei zeigt der Roman durchaus klug den fast körperlich präsenten Zwang, die allgemeinen Glückserwartungen, die einem in dieser Gesellschaft so offeriert werden, zu ergreifen und auszufüllen bzw. erfüllt zu bekommen. Und es wird erzählt, wie dieses Drängen zwischen Individualismus und Pseudo-Bierseligkeit changiert.
Die furchtbaren Siege
Die großen Dramen gibt es nicht mehr. Man kann aus deutscher Feder keine Kriegsheimkehrerprosa mehr erwarten. Vermutlich auch Thomes Pech, keinen Widerstandskämpfer oder NS-Kollaborateur in der Verwandtschaft zu haben und sich pflichtschuldigst an dessen Biografie abarbeiten zu können. Wie eine Mutter, die sich über eine durchzechte Nacht ihres längst erwachsenen Sohnes ärgert, zetert Radisch am Ende ihrer Epistel noch über des Autors Ausbildung und Wohnsitz. Hätte er doch nur einen Roman aus Taiwan oder China geschrieben. Davon hätte die Kritikerin zwar (auch) keine Ahnung gehabt, hätte sich jedoch mit der Affirmation besser schmücken können.
Kerstin, Thomas, Karin, ihr Mann (der sich später trennen wird), der Schuldirektor Granitzky und wie sie alle sonst noch heissen gehören der Generation der Baby-Boomer an, die im Wohlstand der 1960er Jahre wie selbstverständlich groß geworden sind und nun spüren, dass ihre beste Zeit bald vorüber ist. Die Glücksverheißungen werden schwieriger und ein Pragmatismus kehrt ein. Sehnsüchte existieren noch, werden jedoch schnell der Lage angepasst. Skepsis durchdringt den Alltag. Man hat zu viele Rechnungen gesehen, um an Gratisangebote noch zu glauben. Erfahrungen kann man eben nicht ablegen wie schmutzige Wäsche. Und man darf bloß nicht anfangen, die Tiefe ihrer Wunden zu vergleichen, das würde am Ende zu furchtbaren Siegen führen. Es gilt, sich mit Anstand auf das Alter vorzubereiten. Im Leben war nicht alles schlecht, aber die Chancen, die man vermeintlich hatte, stellten sich anfangs immer als grösser heraus, als sie es nachher waren. Gefragt ist die Kunst, sich selbst nicht zu früh zu desillusionieren und daran zu arbeiten, die Dinge in die Hand zu nehmen, solange sie noch im Fluss sind statt ängstlich abzuwarten, bis alles vorbei ist und dann nur noch die Trümmer beiseite zu räumen.
All dies wird ohne Larmoyanz, Innerlichkeitspose oder künstlich-erzeugtem Tiefsinn erzählt. Das ist schon richtig. Und bisweilen rutschen die Pointen auch mal in den Kalauer ab (etwa wenn Weidmann am morgen »danach« ein Weidmanns Heil in den Sinn kommt). Die fast durchgängige Ironie weicht aber glücklicherweise selten dem Zynismus (auch wenn es mal Spaghetti-Träger über Nilpferd-Schultern zu konstatieren gibt oder der Spaß das Festzelt füllte wie eine verstopfte Arterie).
Weidmanns Fazit mit um die 50 fällt nüchtern und ernüchternd aus und schlägt (unbewusst) genau in Radischs Kerbe. Diese Tiraden gegen das Spießertum, pardon Bürgertum, gegen die satte Selbstzufriedenheit auf intellektuell subterranem Niveau – ironische Tributzahlungen sind das an den, der er mal war, oder den, der er hätte werden können oder gerne geworden wäre. q.e.d.
Die kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus dem Buch »Grenzgang« von Stephan Thome.
Schön und wahr. Ich hab zwar Thome immer noch nicht gelesen, aber den Henning sehr wohl. Und der war gut, in der Provinz angesiedelt und doch eben allgemeingültig. Und überhaupt : was spräche gegen Provinz, so es sie doch gibt als Teil der (bundesdeutschen) Realität und inzwischen als Marketing – Vehikel diverser »Regionalkrimis« ? Und existentielle Grundfragen sind und bleiben allgemein menschlich, unabhängig vom Wohnort, ja sogar Heimatland....
Zum Henning...
wollte ich Dir damals noch etwas auf Deinem Blog schreiben (aber da war er schon weg). Den aktuellen Roman habe ich nicht gelesen. Ich fand seinen Erstling (Tod eines Eisvogels) sehr schön; was danach kam...naja. Hier ein Radiogespräch mit ihm.
Danke. :)
Und während man über die Internetjunkies und ihre Kunstwelt lästert wird selber hart am virtuellen Wind intellektueller Parallelwelten gesegelt.
Das nenne ich einen Treffer, danke! Und die Rezension-Rezension fasse ich als Empfehlung auf.
Eine dem Thome-Fall vergleichbare Ignoranz der Provinzkritiker sehe ich übrigens bei der Rezeption Kappachers. (Da half nicht einmal der Büchner-Preis.)
»Rezension-Rezension« ist interessant (daran hatte ich nicht gedacht, zumal ich das Wort »Rezension« nicht besonders mag).
Über Kappacher weiss ich leider wenig. Er wurde ja vor einiger Zeit von Handke »ins Gespräch« gebracht und bekam 2004 den Hermann-Lenz-Preis. Dann hat es nur fünf Jahre bis zum Büchner-Preis gedauert. (Auch wenn es gegen mich sprechen sollte: Von Preisen halte ich wenig, wenn sie auch notwendig sind. Dass aber jemand wie Walter Kempowski nie den Büchner-Preis bekommen hat, entwertet diese Auszeichnung enorm. Und er ist nicht der einzige.)
Preise
Ich wollte die Preis-Maschinerie des Literaturbetriebes gewiß nicht bejubeln. Ich fand es nur merkwürdige: sonst stürzen sich die Medien auf die Preisträger, siehe Tellkamp, siehe Müller. Und promoten die Bücher. Nicht so bei Kappacher. Der scheint als Mensch spröde, unzugänglich zu sein.
Ich kenne nur seine letzten beiden Bücher, Selina sowie Der Fliegenpalast – und die sind thematisch und vom Handlungsort eben »provinziell« im obigen Sinne.
Ingendaays Lobrede hatte mich ihm als Leser zugeführt. (Dass Handke ihn schätzt, las ich erst später.)
Naive Frage
Radisch bespricht das Buch ohne es eigentlich zu besprechen, das merkt man recht schnell, und sie selbst wohl zu aller erst. Warum also? Viel Wahl bleibt tatsächlich nicht...
Ich vermag da nur zu spekulieren...
Unsinnsstrahlen
»Von Osten her brechen Sinnenstrahlen durch die Ligusterhecke, legen sich waagrecht über aufblühende Beete und nehmen die Stämme von Birken und Kastanien in Besitz. Eine Stille aus Vogelgezwitscher und Insektengesumm füllt die schattenkühle Luft des beginnenden Tages und lässt alle anderen Geräusche verblassen: Verkehr auf der Hauptstaße und Schülergeschrei unten im Ort. Ein Netz aus weißem Tau deckt die Wiese, löst sich langsam auf, wo Sonnentupfer durch das Blattwerk fallen, und beteiligt sich am Wechselspiel von Licht und Schatten.«
– »Sinnenstrahlen« mag ja ein Vertipper hier im Blog sein, er paßt aber m.E. sehr gut zum Rest des Zitats. Ich kenne den Roman nicht, vielleicht ist er gut und das Zitat einfach nur schlecht ausgewählt – aber es enthält eine solche Menge Krampf und sprachlichen Schrott, daß ich das bezweifle. Daß Sonnenstrahlen Baumstämme »in Besitz nehmen«, kommt nur in Wunschträumen alter Jungfern vor; das »waagrecht« stimmt natürlich auch nicht, es müßte fast waagerecht heißen, aber das raunte ja nicht so anheimelnd. Die »Stille aus Gezwitscher und Gesumm« ist ein mutwillig hingekrampfter Pseudo-Tiefsinn, vor allem wegen des harmlos scheinenden »aus«, wo es ein »mit« auch getan und sogar: die Wendung gerettet hätte. »Schattenkühle Luft« – die alte Jungfer mit ihren lyrisch umhäkelten Blusenbündchen. Dann die offene Stilblüte auf Primanerniveau: »Geräusche verblassen« – während die Gemälde verstummen, nicht wahr? Der prätentiöse Doppelpunkt vor den banalen Dorfgeräuschen. Der »weiße« Tau scheint ein Niederschlag der Milch der frommen Denkungsart zu sein; daß er ein »Netz« bildet, ist offener Unsinn, und daß sich dieses »Netz aus weißem Tau ... am Wechselspiel von Licht und Schatten beteiligt« – spielt Herr Thome Tennis? Das könnte es vielleicht erklären.
Wer mehr über den Unterschied zwischen Tief- und Blödsinn bei Landschaftsschilderungen wissen möchte, dem sei wärmstens Karlheinz Deschners »Kitsch, Konvention und Kunst« (1957) ans Herz gelegt, das mir bei dieser Gelegenheit seit langem mal wieder in den Sinn gekommen ist.
Sie plädieren wohl eher für Realismus. Gnade uns vor solchen Fetischisten.
»Sinnenstrahlen« ist tatsächlich ein Vertipper. Ich habe ihn korrigiert. Danke dafür.
Vermittlungsversuch.
Die Unpässlichkeit einer Beschreibung hängt – egal ob man sich nun für oder gegen den Realismus ausspricht – doch immer auch von der Perspektive und dem Kontext der Szenerie ab. Also: Was wird wie geschildert, und warum. Und dazu kommt dann noch der persönliche Geschmack.
Der Ausdruck Sinnesstrahlen kann sich durch die Bedeutung der Sonnenstrahlen für jemanden erklären, aus dem Bezug auf eine Perspektive, dito das in Besitz nehmen und das waagrecht. Stille mit oder Stille aus ist inhaltlich verschieden, lässt sich auch wieder nur aus dem Kontext entscheiden.
Geräusche verblassen sehe ich schon problematisch, auch das am Wechselspiel von Licht und Schatten beteiligt, weil logisch nicht stimmig (will sagen: es ist schwer vorzustellen, wie der Tau das tun soll).
Zum Raunen: Natürlich ist es naiv heute noch zu raunen, wie anno dazumal, aber das Irrationale zu verbannen, wäre es doch genauso, oder?
Schreibt Deschner über Kunst und Kitsch so polemisch, wie er das über historische Themen tat? Dann ist es vielleicht nicht die beste Empfehlung.
Sinnenstrahlen war ein Vertipper – es musste Sonnenstrahlen heissen. Das Zitat sind die Sätze ab Nummer drei aus dem Buch. Sie sollen eine Stimmung evozieren. Das steht beides in meinem Text (insofern ist der Imperativ, man solle »Lesen« – s. u. – unsinnig). Auch die Intention des Autors, die ich zumindest vermute, hatte ich erwähnt.
Man nennt so etwas, wenn man es nicht besonders schätzt, Lyrismus. Wenn man es hasst, nennt man es Kitsch. Man hasst es, wenn man eine streng formal realistische Sicht auf die Welt bevorzugt und dies als Zweck der Literatur sieht. »Richtiger« Kitsch ist etwas anderes. Das hat Deschner sicherlich gewusst.
Danke, ich hatte den Vertipper anders verstanden. [Und über das was Kitsch ist, kann man wahrscheinlich lange diskutieren.]
Herr Keuschnig, ich plädiere dafür, daß man LIEST – und nicht bloß »sinnt«. Und ich habe argumentiert – Sie antworten mit Invektiven. Ich vermag nicht zu erkennen, inwiefern ich Sie persönlich angegriffen hätte.
Ich fühle mich nicht persönlich angegriffen. Und ich habe gelesen. Und ich habe tatsächlich eine andere Lesart als Sie.