Pro­vinz­kri­ti­ker

Ver­spä­te­te Be­mer­kun­gen zu ei­ner Pseu­do­kri­tik über Ste­phan Tho­mes Buch »Grenz­gang«

Ste­phan Thome hat ei­nen Feh­ler ge­macht. Er hat­te sich in der Ku­lis­se sei­nes Hei­mat­or­tes Bie­den­kopf für die Li­te­ra­tur­bei­la­ge der »Zeit« (Ok­to­ber 2009) fo­to­gra­fie­ren las­sen (die Bil­der sind nicht on­line). Ei­ne Bild­un­ter­schrift lau­tet: »Ste­phan Thome lebt zwar ge­ra­de in Tai­wan, geht hier aber im hei­mat­li­chen Bie­den­kopf für uns in die Hocke.« Je­der, der auch nur ei­nen Fun­ken Ge­fühl für Spra­che hat, er­kennt die ver­bor­ge­nen In­vek­ti­ven. Zu­sammen mit der Re­zen­si­on von Iris Ra­disch er­gibt dies ei­ne schwung­vol­le De­nun­zia­ti­on des Ro­mans »Grenz­gang«.

Re­zen­si­on? Nein, das ist es nicht. Ra­disch hat sich gar nicht erst die Mü­he ge­macht, den Ro­man zu be­grei­fen. Da­bei sind die­se ka­ta­pult­ar­tig her­aus­ge­schleu­der­ten Wort­kas­ka­den eher Do­ku­men­te vi­ru­len­ter Sprach­lo­sig­keit. Und als Ver­tu­schungs­mit­tel wird ei­ne in der deut­schen Li­te­ra­tur­kri­tik be­kann­te und be­lieb­te Me­tho­de ver­wandt: Sie »be­schul­digt« die­ses Buch, pro­vin­zi­ell zu sein. Fest­ge­stellt wird dies von selbst-au­to­ri­sier­ten Provinz­wächtern (Ha­jo Stei­nert oder Den­nis Scheck wä­ren da in vor­de­rer Li­nie zu nen­nen). Die Dia­gno­se trifft man in »die­sem Herbst« bei­spiels­wei­se auch noch bei Pe­ter Hen­ning [Ha­nau] und Sieg­fried Lenz [»Grün­au«; Nel­ken­fest!].

Be­schul­di­gun­gen die­ser Art kom­men im­mer sehr gut, weil sie den Re­zen­sen­ten gleich­zei­tig auch als welt­män­ni­schen (welt­frau­li­chen?) Prot­ago­ni­sten ins hel­le Licht stel­len. Lässt sich der Au­tor (wie hier) dann auch noch auf der Wie­se po­sie­rend als ei­ne Art Gang­ho­fer-Wie­der­keh­rer deu­ten, ist das Glück voll­kom­men. Man muss die­se Kri­ti­ker­ge­nera­ti­on auch ver­ste­hen. Ih­rer So­zia­li­sa­ti­on nach ist ih­nen der Be­griff der Hei­mat im­mer noch re­flex­ar­tig ver­hasst (trotz [oder we­gen?] Ed­gar Reitz); man hat­te ihn (vor ih­rer Zeit) ziem­lich be­reit­wil­lig der Kit­sch­in­du­strie über­las­sen und da­bei vor­sorg­lich braun ein­ge­färbt, da­mit er nicht mehr ge­fahr­los wie­der­be­lebt wer­den kann.

Stephan Thome: Grenzgang

Ste­phan Thome: Grenz­gang


So wit­tern die Dia­gno­sti­ker der »Re­nais­sance des deut­schen Pro­vinz­ro­mans« im im­mer stär­ker um sich grei­fen­den eu­ro­päi­schen Re­gio­na­lis­mus (den sie au­ßer­halb Deutsch­lands plötz­lich gou­tie­ren und ge­le­gent­lich so­gar mit Exo­tis­mus par­fü­mie­ren) ei­ne Wie­der­kehr der »Ge­wöhn­lich­keit«. Un­längst be­kann­te Den­nis Scheck beim schwung­vol­len Bü­cher­wer­fen, dass ihn Re­gio­nal­kri­mis im­mer ein biss­chen an Mu­si­kan­ten­stadl-Mief er­in­nern. Be­mer­kens­wert nur, dass sie bei­spiels­wei­se ih­ren ame­ri­ka­ni­schen Hel­den die­sen so­ge­nann­ten Pro­vin­zia­lis­mus nicht nur ver­zei­hen, son­dern ihn gar nicht erst zur Kennt­nis zu neh­men schei­nen (was ver­mut­lich da­mit zu tun hat, dass für die in der Mehr­zahl eher stu­ben­hocken­den Re­dak­teu­re die USA per se als Groß­stadt durch­geht und wo die An­schau­ung fehlt, wird der Zwerg schnell zum Rie­sen). Aber wo spie­len denn noch ein­mal Up­dikes »Rabbit«-Romane? Ist Phil­ipp Roth tat­säch­lich ein Groß­stadt­ro­man­cier? Was ist mit Fran­zen? Na­ja, lie­ber nicht so ge­nau fra­gen, sonst müss­te man die De­fi­ni­ti­ons­fra­ge stel­len und wür­de viel­leicht auf das Re­sul­tat sto­ßen, dass der Er­zählort per se nichts über den Er­zählstil oder die Spra­che ei­nes Bu­ches aus­sagt.

An­lei­hen bei Eric Roh­mer

Ra­disch stellt »Grenz­gang« die »gro­ßen li­te­ra­ri­schen Mei­len­stei­ne die­ses Herb­stes« ge­gen­über: Fo­ster Wal­lace und Bo­la­ño. Bei­de Bü­cher sind ty­pi­sche Li­te­ra­tur-Li­te­ra­tur. Die­se kom­men meist oh­ne das stö­ren­de Pu­bli­kum aus. Ei­ni­ge we­ni­ge Mei­nungs­ma­cher ge­ben die (meist af­fir­ma­ti­ve) Rich­tung vor (die er­klär­ten An­ti-Li­te­ra­tur-Li­te­ra­tur ist sel­te­ner). Wi­der­spruch gilt als Un­ver­ständ­nis; ein mo­kan­tes Lä­cheln hat man sich zu den­ken. Mit Li­te­ra­tur-Li­te­ra­tur er­hö­hen sich Kri­ti­ker in den Pro­phe­ten-Stand. Der auf die­se Wei­se ver­stumm­te Le­ser soll mit hoch­ro­tem Kopf ein­fach nur noch nicken – oder schwei­gen.

Es dürf­te kaum je­man­den ge­ben, der in der vom Be­trieb für not­wen­dig be­fun­de­nen Ei­le Fo­ster Wal­laces »Un­end­li­cher Spaß« voll­stän­dig ge­le­sen und ver­stan­den hat. Ul­rich Blu­men­bach, der deut­sche Über­set­zer, brauch­te meh­re­re Jah­re da­zu und auf dem ent­spre­chen­den Blog des Ver­la­ges hat­te die teil­neh­men­de Kul­tur­schicke­ria ir­gend­wann lie­ber über ih­re ei­ge­nen Er­leb­nis­se be­rich­tet (Haupt­sa­che, man hat das Le­se­ex­em­plar des Ver­la­ges als re­prä­sen­ta­ti­ves Schmuck­stück im Re­gal ste­hen). Bo­la­ños »2666« ist deut­lich ein­gän­gi­ger und ei­ne Fund­gru­be für Ex­ege­ten, die hin­ter den po­tem­kin­schen Roman­kulissen mit den pla­ka­tiv ge­setz­ten Ver­wei­sen des Au­tors Li­te­ra­tur-Me­mo­ry mit ih­ren Freun­den spie­len kön­nen. Die­se Ro­ma­ne als Kron­zeu­gen ge­gen Tho­mes Buch in Po­si­ti­on zu brin­gen ist in et­wa so ab­surd als wol­le man ei­nen Eric Roh­mer-Spiel­film mit ei­nem Ac­tion­thril­ler ver­glei­chen wol­len.

Tat­säch­lich hat Tho­mes »Grenz­gang« Zü­ge ei­nes Roh­mer-Fil­mes. Und Tho­mas Ass­heu­ers Nach­ruf auf den kürz­lich ver­stor­be­nen Fil­me­ma­cher zeigt sehr schön, wor­in des­sen Kunst be­stand und zeigt (un­ge­wollt) ver­blüf­fen­de Par­al­le­len zu Thome auf: »Wir, die In­sas­sen der Mo­der­ne, ha­ben kein Land mehr un­ter den Fü­ßen, wir sind ‘ein­ge­schifft’ und trei­ben durch das Meer der Zeit. Nie­mand führt Re­gie und ver­rät den Lie­ben­den, wer für wen be­stimmt ist. Das heißt, die mo­der­ne Frei­heit macht es den Men­schen nicht leich­ter, sie macht es ih­nen schwe­rer, denn sie lässt das Dop­pel­ge­sicht der Lei­den­schaft ’nackt’ her­vor­tre­ten, ihr Dunk­les, ih­re Am­bi­va­lenz. Sie zwingt die Lie­ben­den, den rich­ti­gen Ge­brauch von ih­rer Frei­heit zu ma­chen: Sie müs­sen den Au­gen­blick des Ge­fühls ‘er­grei­fen’ und ihr Be­geh­ren in die Dau­er der Lie­be ver­wan­deln. Sie müs­sen – wäh­len.«

Und die­ses Wäh­len fällt heut­zu­ta­ge (ver­blüf­fen­der­wei­se) so ver­dammt schwer, da man sich in sei­ner pla­to­ni­schen (Gefühls-)Höhle ir­gend­wie ein­ge­rich­tet bzw. ar­ran­giert hat. Am An­fang bei Thome die Idyl­le des Gar­tens an ei­nem Mor­gen im Mai: Von Osten her bre­chen Son­nen­strah­len durch die Li­gu­ster­hecke, le­gen sich waag­recht über auf­blühende Bee­te und neh­men die Stäm­me von Bir­ken und Ka­sta­ni­en in Be­sitz. Ei­ne Stil­le aus Vo­gel­ge­zwit­scher und In­sek­ten­ge­summ füllt die schat­ten­küh­le Luft des be­gin­nen­den Ta­ges und lässt al­le an­de­ren Ge­räu­sche ver­blas­sen: Ver­kehr auf der Haupt­sta­ße und Schü­ler­ge­schrei un­ten im Ort. Ein Netz aus wei­ßem Tau deckt die Wie­se, löst sich lang­sam auf, wo Son­nen­tup­fer durch das Blatt­werk fal­len, und be­tei­ligt sich am Wech­sel­spiel von Licht und Schat­ten.

Aber da gibt es ein trotz al­lem da­vor: Trotz al­lem denkt sie: Der Gar­ten ist ein Traum). Und gleich da­nach wie­der der Blick auf und in die Rea­li­tät. Das al­les ge­schieht sehr sub­til, manch­mal – zu­ge­ge­ben – fast ein biss­chen be­hä­big. Aber am En­de heißt es dann, Lie­be sei ein au­ti­sti­sches Ge­fühl. Und das ist noch nicht ein­mal nur re­si­gna­tiv ge­meint.

Es geht um Ker­stin Wer­ner, ge­schie­den, 44, mit 16jährigem Sohn Da­ni­el. Sie le­ben in dem klei­nen Ort Ber­gen­stadt (aka Bie­den­kopf) mit ih­rer an De­menz er­krank­ten Mut­ter im Haus. Im Ort gibt es al­le sie­ben Jah­re ein auch über­re­gio­nal be­kann­tes Volks­fest, den so­ge­nann­ten Grenz­gang. Haupt­säch­lich spielt der Ro­man im Mai und Ju­ni 2006; dem Som­mer der Fuß­ball-WM. Der »Grenz­gang« im Au­gust 2006 kommt nur kur­so­risch vor. Im­mer mehr zeigt sich im Ver­lauf des Bu­ches, wie die Grenz­gang-Zy­klen den Lauf Ker­stins (und an­de­rer Fi­gu­ren) struk­tu­rie­ren. Es gibt Rück­blen­den auf 1999 (der Ver­gleich 1999/2006 wird sehr oft ge­zo­gen; er­zählt), 1992, 1985 (Ker­stin lern­te da ih­ren Mann, Da­ni­els Va­ter, ken­nen) und so­gar ein­mal ei­ne Vor­schau auf das Jahr 2013.

Tat­säch­lich ist das Er­zähl­te vor­der­grün­dig von ei­ner ge­ra­de­zu pro­vo­zie­ren­den Un­spektakularität. Zwar soll am An­fang der ei­gent­lich gu­te Schü­ler Da­ni­el Mit­schü­ler er­presst ha­ben, aber die An­ge­le­gen­heit wird schnell aus der Welt ge­schafft. Sein Leh­rer, Tho­mas Weid­mann, der vor sie­ben Jah­ren zu­rück in den Ort kam, nach­dem ei­ne wissen­schaftliche Kar­rie­re an Plan­stel­len­wirr­warr und Kol­le­gen­ge­zänk schei­ter­te, »ent­deckt« Ker­stin bei die­ser Ge­le­gen­heit wie­der (nach­dem es zwi­schen den bei­den be­reits bei ei­nem frü­he­ren Grenz­gang-Fest ei­ne scheue, Ef­fi-Briest-ähn­li­che Si­tua­ti­on gab). Die Krank­heit von Ker­stins Mut­ter ver­schlim­mert sich schnell und der Ex-Mann hat sei­ne we­sent­lich jün­ge­re Le­bens­ge­fähr­tin ge­schwän­gert. Ker­stin fühlt sich schwung­los, über­for­dert, ver­un­si­chert; ein biss­chen pla­ka­tiv da­bei der Ge­stus, den Thome im­mer wie­der er­wähnt: ih­re so häu­fig ver­schränk­ten Ar­me.

Die­se Form der Le­bens­kri­se ist den deut­schen Pro­vinz­kri­ti­kern na­tür­lich su­spekt, da zu pro­fan und zu we­nig aben­teu­er­lich: Tat­säch­lich ist die Welt we­der durch ei­ne Ter­ror­trup­pe be­droht noch er­schüt­tert ei­ne Hun­dert­fa­che Mord­se­rie die Re­gi­on. Und auch der Be­such mit der (ir­gend­wie) be­freun­de­ten Ka­rin (Ker­stin hat­te auf Freund­schaft ge­hofft und be­kommt Kom­pli­zen­schaft an­ge­bo­ten) in ei­nen na­he­ge­le­ge­nen Swin­ger­club führt nicht zu hou­el­le­becq-ähn­li­chen, ex­zes­si­ven Aus­schwei­fun­gen (wie­der ei­ne Ent­täu­schung!). Statt­des­sen ent­deckt Ker­stin Weid­mann mit ei­ner »In­ter­net­be­kannt­schaft« (das neue Pfui-Wort!) an der Bar und ver­lässt schockiert das Eta­blis­se­ment.

Es mag kos­mo­po­li­ti­schen Bon­vi­vants nun tat­säch­lich ba­nal er­schei­nen, ei­nes Sommer­abends nackt im Ba­de­zim­mer des­je­ni­gen zu ste­hen, den man be­gehrt und sich dort zur po­ten­ti­el­len Er­obe­rung »frisch« zu ma­chen. Ei­ne Si­tua­ti­on des Ro­mans, die in ei­ni­ger Brei­te er­zählt wird und die Tho­mes Kunst, den Kitsch zu strei­fen, ihm aber nicht auf den Leim zu ge­hen, zeigt. Von all dem kein Wort bei Ra­disch. Merk­wür­dig. Und wäh­rend man über die In­ter­net­jun­kies und ih­re Kunst­welt lä­stert wird sel­ber hart am vir­tu­el­len Wind in­tel­lek­tu­el­ler Par­al­lel­wel­ten ge­se­gelt.

Man kann im Ein­zel­fall Thome viel­leicht ei­ne sa­lop­pe, ge­le­gent­lich et­was an­ge­strengt da­her­kom­men­de Spra­che vor­wer­fen. Die Mehr­zahl sei­ner Wort­spie­le trifft al­ler­dings durch­aus und zeigt von Fer­ne Woo­dy Al­len als Vor­bild. Aber dar­um geht es gar nicht. Tat­säch­lich de­nun­ziert hier je­mand ei­ne Form der Li­te­ra­tur. War­um? Um sie nicht an sich her­an­las­sen zu müs­sen? Weil sie mehr beißt als al­le ima­gi­nier­ten Schreckens­sze­na­ri­en? Oder ist die »Ge­fühls­be­täu­bung bun­des­deut­scher Wohl­stands­pro­fi­teu­re«, die sie Tho­mes Prot­ago­ni­sten vor­wirft, in Wirk­lich­keit ih­re ei­ge­ne Em­pa­thie­un­fä­hig­keit?

»Grenz­gang« ist ein über wei­te Strecken ge­lun­ge­nes Sit­ten­bild ei­ner Mit­tel­schicht-Bun­des­re­pu­blik nach 1989, in der epo­cha­le, ka­ta­stro­pha­le oder ein­fach nur spek­ta­ku­lä­re Er­eig­nis­se, die Mas­sen er­schüt­tern oder ins kol­lek­ti­ve Un­glück set­zen, weit­ge­hend feh­len. Ver­geb­lich sucht man bei­spiels­wei­se ei­nen Re­kurs auf den 11. Sep­tem­ber 2001. Po­li­ti­sche und in­tel­lek­tu­el­le Dis­kus­sio­nen fin­den hier nicht statt. Das mag man be­kla­gen – insbe­sondere wenn man zu­fäl­lig un­ter die­sen Men­schen sit­zen soll­te (ein Trost: für Fuß­ball interess­ieren sie sich auch nicht). Die­ses Des­in­ter­es­se be­grei­fen Kri­ti­ker wie Ra­disch als persön­liche Be­lei­di­gung. Hier wür­den ih­re Aper­çus, The­sen und Ein­las­sun­gen ab­pral­len. Faust woll­te noch Mensch sein auf sei­nem Spa­zier­gang. Sie wol­len über Bo­la­ño par­lie­ren. Mit Gleich­ge­sinn­ten. Drun­ter geht es nicht. (Als ob das auf Dau­er nicht auch lang­wei­lig wä­re.)

Ne­ben den von ih­nen Ver­ach­te­ten, die durch­aus mit am­bi­va­len­ten Ge­füh­len Zu­flucht in kol­lek­ti­ve Freu­den­fe­ste su­chen (und de­ren Er­leb­nis­wert ge­ra­de des­halb schal bleibt), stra­fen sie den Über­brin­ger der Bot­schaft gleich mit ab. Da­bei zeigt der Ro­man durch­aus klug den fast kör­per­lich prä­sen­ten Zwang, die all­ge­mei­nen Glücks­er­war­tun­gen, die ei­nem in die­ser Ge­sell­schaft so of­fe­riert wer­den, zu er­grei­fen und aus­zu­fül­len bzw. er­füllt zu be­kom­men. Und es wird er­zählt, wie die­ses Drän­gen zwi­schen In­di­vi­dua­lis­mus und Pseu­do-Bier­se­lig­keit chan­giert.

Die furcht­ba­ren Sie­ge

Die gro­ßen Dra­men gibt es nicht mehr. Man kann aus deut­scher Fe­der kei­ne Kriegsheim­kehrerprosa mehr er­war­ten. Ver­mut­lich auch Tho­mes Pech, kei­nen Wider­stands­kämpfer oder NS-Kol­la­bo­ra­teur in der Ver­wandt­schaft zu ha­ben und sich pflicht­schuldigst an des­sen Bio­gra­fie ab­ar­bei­ten zu kön­nen. Wie ei­ne Mut­ter, die sich über ei­ne durch­zech­te Nacht ih­res längst er­wach­se­nen Soh­nes är­gert, ze­tert Ra­disch am En­de ih­rer Epi­stel noch über des Au­tors Aus­bil­dung und Wohn­sitz. Hät­te er doch nur ei­nen Ro­man aus Tai­wan oder Chi­na ge­schrie­ben. Da­von hät­te die Kri­ti­ke­rin zwar (auch) kei­ne Ah­nung ge­habt, hät­te sich je­doch mit der Af­fir­ma­ti­on bes­ser schmücken kön­nen.

Ker­stin, Tho­mas, Ka­rin, ihr Mann (der sich spä­ter tren­nen wird), der Schul­di­rek­tor Gra­nitz­ky und wie sie al­le sonst noch hei­ssen ge­hö­ren der Ge­ne­ra­ti­on der Ba­by-Boo­mer an, die im Wohl­stand der 1960er Jah­re wie selbst­ver­ständ­lich groß ge­wor­den sind und nun spü­ren, dass ih­re be­ste Zeit bald vor­über ist. Die Glücks­ver­hei­ßun­gen wer­den schwie­ri­ger und ein Prag­ma­tis­mus kehrt ein. Sehn­süch­te exi­stie­ren noch, wer­den je­doch schnell der La­ge an­ge­passt. Skep­sis durch­dringt den All­tag. Man hat zu vie­le Rech­nun­gen ge­se­hen, um an Gra­tis­an­ge­bo­te noch zu glau­ben. Er­fah­run­gen kann man eben nicht ab­le­gen wie schmut­zi­ge Wä­sche. Und man darf bloß nicht an­fan­gen, die Tie­fe ih­rer Wun­den zu ver­glei­chen, das wür­de am En­de zu furcht­ba­ren Sie­gen füh­ren. Es gilt, sich mit An­stand auf das Al­ter vor­zu­be­rei­ten. Im Le­ben war nicht al­les schlecht, aber die Chan­cen, die man ver­meint­lich hat­te, stell­ten sich an­fangs im­mer als grö­sser her­aus, als sie es nach­her wa­ren. Ge­fragt ist die Kunst, sich selbst nicht zu früh zu des­il­lu­sio­nie­ren und dar­an zu ar­bei­ten, die Din­ge in die Hand zu neh­men, so­lan­ge sie noch im Fluss sind statt ängst­lich ab­zu­war­ten, bis al­les vor­bei ist und dann nur noch die Trüm­mer bei­sei­te zu räu­men.

All dies wird oh­ne Lar­moy­anz, In­ner­lich­keits­po­se oder künst­lich-er­zeug­tem Tief­sinn er­zählt. Das ist schon rich­tig. Und bis­wei­len rut­schen die Poin­ten auch mal in den Ka­lau­er ab (et­wa wenn Weid­mann am mor­gen »da­nach« ein Weid­manns Heil in den Sinn kommt). Die fast durch­gän­gi­ge Iro­nie weicht aber glück­li­cher­wei­se sel­ten dem Zy­nis­mus (auch wenn es mal Spa­ghet­ti-Trä­ger über Nil­pferd-Schul­tern zu kon­sta­tie­ren gibt oder der Spaß das Fest­zelt füll­te wie ei­ne ver­stopf­te Ar­te­rie).

Weid­manns Fa­zit mit um die 50 fällt nüch­tern und er­nüch­ternd aus und schlägt (un­bewusst) ge­nau in Ra­dischs Ker­be. Die­se Ti­ra­den ge­gen das Spie­ßer­tum, par­don Bür­ger­tum, ge­gen die sat­te Selbst­zu­frie­den­heit auf in­tel­lek­tu­ell sub­ter­ra­nem Ni­veau – iro­ni­sche Tri­but­zah­lun­gen sind das an den, der er mal war, oder den, der er hät­te wer­den kön­nen oder ger­ne ge­wor­den wä­re. q.e.d.


Die kur­siv ge­setz­ten Pas­sa­gen sind Zi­ta­te aus dem Buch »Grenz­gang« von Ste­phan Thome.

15 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Schön und wahr. Ich hab zwar Thome im­mer noch nicht ge­le­sen, aber den Hen­ning sehr wohl. Und der war gut, in der Pro­vinz an­ge­sie­delt und doch eben all­ge­mein­gül­tig. Und über­haupt : was sprä­che ge­gen Pro­vinz, so es sie doch gibt als Teil der (bun­des­deut­schen) Rea­li­tät und in­zwi­schen als Mar­ke­ting – Ve­hi­kel di­ver­ser »Re­gio­nal­kri­mis« ? Und exi­sten­ti­el­le Grund­fra­gen sind und blei­ben all­ge­mein mensch­lich, un­ab­hän­gig vom Wohn­ort, ja so­gar Hei­mat­land....

  2. Zum Hen­ning...
    woll­te ich Dir da­mals noch et­was auf Dei­nem Blog schrei­ben (aber da war er schon weg). Den ak­tu­el­len Ro­man ha­be ich nicht ge­le­sen. Ich fand sei­nen Erst­ling (Tod ei­nes Eis­vo­gels) sehr schön; was da­nach kam...naja. Hier ein Ra­dio­ge­spräch mit ihm.

  3. Und wäh­rend man über die In­ter­net­jun­kies und ih­re Kunst­welt lä­stert wird sel­ber hart am vir­tu­el­len Wind in­tel­lek­tu­el­ler Par­al­lel­wel­ten ge­se­gelt.

    Das nen­ne ich ei­nen Tref­fer, dan­ke! Und die Re­zen­si­on-Re­zen­si­on fas­se ich als Emp­feh­lung auf.

    Ei­ne dem Thome-Fall ver­gleich­ba­re Igno­ranz der Pro­vinz­kri­ti­ker se­he ich üb­ri­gens bei der Re­zep­ti­on Kapp­a­chers. (Da half nicht ein­mal der Büch­ner-Preis.)

  4. »Re­zen­si­on-Re­zen­si­on« ist in­ter­es­sant (dar­an hat­te ich nicht ge­dacht, zu­mal ich das Wort »Re­zen­si­on« nicht be­son­ders mag).

    Über Kapp­a­cher weiss ich lei­der we­nig. Er wur­de ja vor ei­ni­ger Zeit von Hand­ke »ins Ge­spräch« ge­bracht und be­kam 2004 den Her­mann-Lenz-Preis. Dann hat es nur fünf Jah­re bis zum Büch­ner-Preis ge­dau­ert. (Auch wenn es ge­gen mich spre­chen soll­te: Von Prei­sen hal­te ich we­nig, wenn sie auch not­wen­dig sind. Dass aber je­mand wie Wal­ter Kem­pow­ski nie den Büch­ner-Preis be­kom­men hat, ent­wer­tet die­se Aus­zeich­nung enorm. Und er ist nicht der ein­zi­ge.)

  5. Prei­se
    Ich woll­te die Preis-Ma­schi­ne­rie des Li­te­ra­tur­be­trie­bes ge­wiß nicht be­ju­beln. Ich fand es nur merk­wür­di­ge: sonst stür­zen sich die Me­di­en auf die Preis­trä­ger, sie­he Tell­kamp, sie­he Mül­ler. Und pro­mo­ten die Bü­cher. Nicht so bei Kapp­a­cher. Der scheint als Mensch sprö­de, un­zu­gäng­lich zu sein.
    Ich ken­ne nur sei­ne letz­ten bei­den Bü­cher, Se­li­na so­wie Der Flie­gen­pa­last – und die sind the­ma­tisch und vom Hand­lungs­ort eben »pro­vin­zi­ell« im obi­gen Sin­ne.
    In­gen­da­ays Lob­re­de hat­te mich ihm als Le­ser zu­ge­führt. (Dass Hand­ke ihn schätzt, las ich erst spä­ter.)

  6. Nai­ve Fra­ge
    Ra­disch be­spricht das Buch oh­ne es ei­gent­lich zu be­spre­chen, das merkt man recht schnell, und sie selbst wohl zu al­ler erst. War­um al­so? Viel Wahl bleibt tat­säch­lich nicht...

  7. Un­sinns­strah­len
    »Von Osten her bre­chen Sin­nen­strah­len durch die Li­gu­ster­hecke, le­gen sich waag­recht über auf­blü­hen­de Bee­te und neh­men die Stäm­me von Bir­ken und Ka­sta­ni­en in Be­sitz. Ei­ne Stil­le aus Vo­gel­ge­zwit­scher und In­sek­ten­ge­summ füllt die schat­ten­küh­le Luft des be­gin­nen­den Ta­ges und lässt al­le an­de­ren Ge­räu­sche ver­blas­sen: Ver­kehr auf der Haupt­sta­ße und Schü­ler­ge­schrei un­ten im Ort. Ein Netz aus wei­ßem Tau deckt die Wie­se, löst sich lang­sam auf, wo Son­nen­tup­fer durch das Blatt­werk fal­len, und be­tei­ligt sich am Wech­sel­spiel von Licht und Schat­ten.«
    – »Sin­nen­strah­len« mag ja ein Ver­tip­per hier im Blog sein, er paßt aber m.E. sehr gut zum Rest des Zi­tats. Ich ken­ne den Ro­man nicht, viel­leicht ist er gut und das Zi­tat ein­fach nur schlecht aus­ge­wählt – aber es ent­hält ei­ne sol­che Men­ge Krampf und sprach­li­chen Schrott, daß ich das be­zweif­le. Daß Son­nen­strah­len Baum­stäm­me »in Be­sitz neh­men«, kommt nur in Wunsch­träu­men al­ter Jung­fern vor; das »waag­recht« stimmt na­tür­lich auch nicht, es müß­te fast waa­ge­recht hei­ßen, aber das raun­te ja nicht so an­hei­melnd. Die »Stil­le aus Ge­zwit­scher und Ge­summ« ist ein mut­wil­lig hin­ge­krampf­ter Pseu­do-Tief­sinn, vor al­lem we­gen des harm­los schei­nen­den »aus«, wo es ein »mit« auch ge­tan und so­gar: die Wen­dung ge­ret­tet hät­te. »Schat­ten­küh­le Luft« – die al­te Jung­fer mit ih­ren ly­risch um­hä­kel­ten Blu­sen­bünd­chen. Dann die of­fe­ne Stil­blü­te auf Pri­man­erni­veau: »Ge­räu­sche ver­blas­sen« – wäh­rend die Ge­mäl­de ver­stum­men, nicht wahr? Der prä­ten­tiö­se Dop­pel­punkt vor den ba­na­len Dorf­ge­räu­schen. Der »wei­ße« Tau scheint ein Nie­der­schlag der Milch der from­men Den­kungs­art zu sein; daß er ein »Netz« bil­det, ist of­fe­ner Un­sinn, und daß sich die­ses »Netz aus wei­ßem Tau ... am Wech­sel­spiel von Licht und Schat­ten be­tei­ligt« – spielt Herr Thome Ten­nis? Das könn­te es viel­leicht er­klä­ren.
    Wer mehr über den Un­ter­schied zwi­schen Tief- und Blöd­sinn bei Land­schafts­schil­de­run­gen wis­sen möch­te, dem sei wärm­stens Karl­heinz De­sch­ners »Kitsch, Kon­ven­ti­on und Kunst« (1957) ans Herz ge­legt, das mir bei die­ser Ge­le­gen­heit seit lan­gem mal wie­der in den Sinn ge­kom­men ist.

  8. Sie plä­die­ren wohl eher für Rea­lis­mus. Gna­de uns vor sol­chen Fe­ti­schi­sten.

    »Sinnen­strah­len« ist tat­säch­lich ein Ver­tip­per. Ich ha­be ihn kor­ri­giert. Dan­ke da­für.

  9. Ver­mitt­lungs­ver­such.
    Die Un­päss­lich­keit ei­ner Be­schrei­bung hängt – egal ob man sich nun für oder ge­gen den Rea­lis­mus aus­spricht – doch im­mer auch von der Per­spek­ti­ve und dem Kon­text der Sze­ne­rie ab. Al­so: Was wird wie ge­schil­dert, und war­um. Und da­zu kommt dann noch der per­sön­li­che Ge­schmack.

    Der Aus­druck Sin­nes­strah­len kann sich durch die Be­deu­tung der Son­nen­strah­len für je­man­den er­klä­ren, aus dem Be­zug auf ei­ne Per­spek­ti­ve, di­to das in Be­sitz neh­men und das waag­recht. Stil­le mit oder Stil­le aus ist in­halt­lich ver­schie­den, lässt sich auch wie­der nur aus dem Kon­text ent­schei­den.

    Ge­räu­sche ver­blas­sen se­he ich schon pro­ble­ma­tisch, auch das am Wech­sel­spiel von Licht und Schat­ten be­tei­ligt, weil lo­gisch nicht stim­mig (will sa­gen: es ist schwer vor­zu­stel­len, wie der Tau das tun soll).

    Zum Rau­nen: Na­tür­lich ist es na­iv heu­te noch zu rau­nen, wie an­no da­zu­mal, aber das Ir­ra­tio­na­le zu ver­ban­nen, wä­re es doch ge­nau­so, oder?

    Schreibt De­sch­ner über Kunst und Kitsch so po­le­misch, wie er das über hi­sto­ri­sche The­men tat? Dann ist es viel­leicht nicht die be­ste Emp­feh­lung.

  10. Sin­nen­strah­len war ein Ver­tip­per – es muss­te Sonnen­strah­len hei­ssen. Das Zi­tat sind die Sät­ze ab Num­mer drei aus dem Buch. Sie sol­len ei­ne Stim­mung evo­zie­ren. Das steht bei­des in mei­nem Text (in­so­fern ist der Im­pe­ra­tiv, man sol­le »Le­sen« – s. u. – un­sin­nig). Auch die In­ten­ti­on des Au­tors, die ich zu­min­dest ver­mu­te, hat­te ich er­wähnt.

    Man nennt so et­was, wenn man es nicht be­son­ders schätzt, Ly­ris­mus. Wenn man es hasst, nennt man es Kitsch. Man hasst es, wenn man ei­ne streng for­mal rea­li­sti­sche Sicht auf die Welt be­vor­zugt und dies als Zweck der Li­te­ra­tur sieht. »Rich­ti­ger« Kitsch ist et­was an­de­res. Das hat De­sch­ner si­cher­lich ge­wusst.

  11. Herr Keu­sch­nig, ich plä­die­re da­für, daß man LIEST – und nicht bloß »sinnt«. Und ich ha­be ar­gu­men­tiert – Sie ant­wor­ten mit In­vek­ti­ven. Ich ver­mag nicht zu er­ken­nen, in­wie­fern ich Sie per­sön­lich an­ge­grif­fen hät­te.