Schrift­stel­ler und Werk

Ein Schrift­stel­ler schreibt zum gro­ßen Teil, da­mit man ihn liest (be­wun­dern wir je­ne, die das Ge­gen­teil be­haup­ten, aber glau­ben wir ih­nen nicht). Doch mehr und mehr schreibt er bei uns, um je­ne Wei­he zu er­rei­chen, die dar­in be­steht, nicht ge­le­sen zu wer­den. Von dem Au­gen­blick an näm­lich, wo er den Stoff für ei­nen pit­to­res­ken Ar­ti­kel in un­se­rer Pres­se mit gro­ßer Auf­la­ge lie­fern kann, hat er al­le Aus­sich­ten, von ei­ner gro­ßen An­zahl von Leu­ten ge­kannt zu wer­den, die ihn nie mehr le­sen, weil sie sich da­mit be­gnü­gen wer­den, sei­nen Na­men zu ken­nen und über ihn zu le­sen. Er wird in Zu­kunft be­kannt (und ver­ges­sen sein), nicht, wie er ist, son­dern nach dem Bild, das ein ei­li­ger Pres­se­jour­na­list von ihm ent­wor­fen hat.

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Frank Fi­scher: Die Süd­harz­rei­se

Frank Fischer: Die Südharzreise

Frank Fi­scher: Die Süd­harz­rei­se


Wie­so wer­den in den Zei­tun­gen ne­ben Bü­chern und Fil­men ei­gent­lich nicht sy­ste­ma­tisch Au­to­bah­nen re­zen­siert? fragt Frank Fi­scher am 3. Ok­to­ber 2008 um 4.28 Uhr bei Bad Lauch­städt. Da ist er schon seit fast vier­ein­halb Stun­den auf der A38 (bzw. das, was zu die­sem Zeit­punkt be­reits A38 war) un­ter­wegs. Am 2. Ok­to­ber um 23.59 Uhr von Leip­zig aus ge­star­tet bis nach Göt­tin­gen (21.20 Uhr, 612 km) und am 4.10. um 1:01 Uhr wie­der in Leip­zig ein­tref­fend (noch ein­mal rd. 250 km). Dar­aus ent­stand »Die Süd­harz­rei­se« – tat­säch­lich par­ti­ell so et­was wie ei­ne Re­zen­si­on der A38, et­wa wenn um 3.59 Uhr das Kreuz Ripp­ach­tal wie ei­ne ver­bor­ge­ne Va­ri­an­te der Schwe­be­bahn­li­ni­en von Got­ham Ci­ty wirkt (nur ein Bei­spiel für die im Buch im­mer wie­der auf­schei­nen­den, prä­gnan­ten Bil­der), die­ser »Hän­del-Au­to­bahn« (wie sie schon halb­of­fi­zi­ell ge­nannt wird; der Au­tor fin­det tref­fen­de­re und manch­mal fast zärt­li­che Be­zeich­nun­gen).

Ein we­nig er­in­nert das an Aste­rix’ und Obe­lix’ »Tour de France«, als die bei­den Un­be­sieg­ba­ren von je­dem be­such­ten Ort ei­ne (meist ku­li­na­ri­sche) Spe­zia­li­tät mit­brach­ten (wo­bei es Uder­zo und Go­scin­ny of­fen­ge­las­sen ha­ben, wie man die­se Köst­lich­kei­ten vor dem Viel­esser Obe­lix ins Ziel ret­ten konn­te). Wei­ter­le­sen

Cle­mens Mey­er: Ge­wal­ten


Ei­ne wil­de, alp­traum­haf­te Er­zäh­lung von ei­nem Mann, der an ein Bett ge­fes­selt, fi­xiert ist und ge­ra­de des­halb schier unge­ahnte Kräf­te be­kommt, be­ginnt mit dem Bett zu rei­ten, es be­wegt sich so­gar und er schreit. »Ge­wal­ten«. Da­bei Ge­dankenflut, Ga­lopp­ren­nen, Bars, be­son­ders das »Brick’s«, die ewi­gen 89er, die zur Ni­ko­lai­kir­che pil­gern. Leip­zig al­so. Hilf­lo­sig­keit, Ver­zweif­lung ge­paart mit Trotz und Auf­leh­nung. Ei­ne Schwe­ster kommt, er spuckt ihr ins Ge­sicht (ei­ne Kunst aus die­ser Ent­fer­nung und die­sem Win­kel) und sie kom­men mit ei­nem Kis­sen, wel­ches sie ganz lang­sam auf sein Ge­sicht le­gen und et­was War­mes schießt in sei­nen Arm, Er­in­ne­rung an New York, den Ma­ler Pau­le Ham­mer (sein Bild »AUA« ist das Co­ver des Bu­ches) und spä­ter dann ein Ich bin noch da, ihr Schwei­ne.

Ei­ne neue Ge­schich­te, ei­ni­ge Mo­na­te spä­ter. Der Le­ser er­fährt über die Zwi­schen­zeit nichts. Der Er­zäh­ler will sich mit ei­nem Mann am Leip­zi­ger Bahn­hof tref­fen, ei­nem In­ter­es­sen­ten für Film­dreh­bü­cher. Die gan­ze Sze­ne­rie im Bahn­hof ist na­he­zu kaf­ka­esk, der Agent sucht das schlech­te­ste Ca­fé aus, spricht lei­se, man fach­sim­pelt über Fil­me, Regiss­eure, Peckin­pah, Bog­d­a­no­vich, Sze­nen, bei­de sind Ken­ner, der Frem­de ver­lässt das Ca­fé für zehn Mi­nu­ten und kommt plötz­lich mit ei­ner Map­pe wie­der. Dann ein Schnitt. Plötz­lich in sei­nem ver­dun­kel­ten Zim­mer, so­zu­sa­gen ver­gra­ben, Bil­der an der Wand, die grin­sen, Abu Ghraib, Gu­an­tá­na­mo und die Ge­schich­te von K. Ein mo­der­ner K. und der Er­zäh­ler er­lei­det mit, die De­mü­ti­gun­gen. Re­mi­nis­zenz an Char­lie Chap­lin in »Mo­dern Times« in den rie­si­gen Zahn­rä­dern und dann die Rea­li­tä­ten der Woh­nung, die Zi­ga­ret­ten, die er weg­spült und dann kurz da­nach sucht, ob er nicht ei­ne da­ne­ben ge­wor­fen hat. Der Fall K. als »M.A.S.H.«-Film? Ge­dan­ken zum Is­lam, zum Glau­ben (ich kann das näm­lich nicht mehr), Goe­the und sein Re­spekt vor dem Ko­ran (gro­ße Dich­tung!). »My film is Gu­an­tá­na­mo« wird Cop­po­la pa­ra­phra­siert. Und dann ver­schmel­zen al­le Fi­gu­ren, die pri­va­ten, die Leu­te auf den Fo­to­gra­fien, die Frau, die ei­nen Häft­ling aus Abu Ghraib an der Lei­ne führt und plötz­lich ist er K., sieht sich Ver­hör­leu­ten ge­gen­über; de­li­riert. Die Ent­span­nung dann: das Ge­fühl, in sei­nem Zim­mer be­ob­ach­tet zu wer­den, wie in ei­nem »Bern­stein« ein­ge­schlos­sen.
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Die Un­fä­hig­keit, zu goog­len (2)

Ste­fan Win­ter­bau­er schaut ja ein biss­chen trau­rig auf dem Fo­to. Er hat auch ei­nen Ar­ti­kel ge­schrie­ben, der trau­rig ist. Trau­rig für Jour­na­li­sten.

Win­ter­bau­er schreibt für Mee­dia, des­sen Chef Ge­org Alt­rog­ge bei Ste­fan Nig­ge­mei­er für die Be­richt­erstat­tung über ei­nen ver­meint­li­chen Be­trug ei­nes Jour­na­li­sten stark kri­ti­siert wur­de. Alt­rog­ge hat nun et­was ge­macht, was sel­ten ist, er hat sich in die Dis­kus­si­on bei Nig­ge­mei­er ein­ge­bracht. So weit, so gut.

Ir­gend­wann ver­lief die Dis­kus­si­on je­doch nicht mehr so, wie sich je­mand wie Alt­rog­ge das of­fen­sicht­lich vor­stellt. Er stell­te dann ir­gend­wann die »Grund­satz­fra­ge«, die sehr ger­ne her­vor­ge­holt wird, wenn die Ar­gu­men­te brü­chig wer­den: nach der An­ony­mi­tät der Kom­men­ta­to­ren. Er schrieb dem Kom­men­ta­tor »treets« am 31.03.10 um 23.07 Uhr:

»Von Ih­nen wür­de ich mir wün­schen, dass Sie bei Ste­fan Nig­ge­mei­er wie bei Mee­dia un­ter Ih­rem Klar­na­men kom­men­tie­ren wür­den. Wenn ei­ner sich so wie Sie ann­onym [sic!] der­art aus dem Fen­ster lehnt, ist das lei­der nur fei­ge.«

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Ein Hauch von Ya­moussou­kro

Nie­mand spricht das heh­re Wort von »der Kul­tur« so in­brün­stig aus wie Ti­na Men­dels­ohn, wenn sie wie­der ein­mal in ei­nem »Kul­tur­zeit ex­tra« oder ir­gend­ei­ner Ra­dio­dis­kus­si­on mit Funk­tio­nä­ren und Kul­tur­schaf­fen­den zu­sam­men­sitzt und über die Zu­kunft »der Kul­tur« dis­ku­tiert. Lei­der kommt man dann ziem­lich schnell auf den ei­gent­li­chen Punkt: das Geld. Hier sub­ven­tio­nier­te Geld­ein­trei­ber, die längst ver­in­ner­licht ha­ben, dass Kul­tur und Geld sia­me­si­sche Zwil­lin­ge sind und in In­sti­tu­tio­nen und Etats den­ken. Und dort die Kommunal‑, Lan­des- und Bun­des­po­li­ti­ker, die mit dem Wort »Kul­tur« zu­nächst ein­mal je­ne Form von Event-Fe­ti­schis­mus ver­bin­den, den sie jahr­aus jahr­ein er­öff­nen, be­fei­ern, be­su­chen und be­schlie­ßen. Wie steht es mit ei­ner »Kul­tur«, wie sie sich in der Auf­takt­ver­an­stal­tung zur Kul­tur­haupt­stadt Ruhr­ge­biet 2010 in Es­sen vom 10. Ja­nu­ar 2010 zeigt? Wei­ter­le­sen

Leer­stel­le Gy­si?

Ma­ri­an­ne Birth­ler, die Bun­des­be­auf­trag­te für die Sta­si-Un­ter­la­gen, hat­te im ZDF am 22. Mai 2008 (laut Spie­gel On­line) in Be­zug auf ein Tref­fen zwi­schen Gre­gor Gy­si und sei­nem Man­dan­ten Ro­bert Ha­ve­mann ge­sagt: In die­sem Fall ist wil­lent­lich und wis­sent­lich an die Sta­si be­rich­tet wor­den, und zwar von Gre­gor Gy­si über Ro­bert Ha­ve­mann.

Gre­gor Gy­si hat­te ge­gen die Wei­ter­ver­brei­tung die­ser Äu­ße­rung ge­klagt und vor dem LG Ham­burg recht be­kom­men. Das ZDF ging in Be­ru­fung und un­ter­lag jetzt er­neut. In­ter­es­sant ist die Be­grün­dung. Es geht schein­bar gar nicht dar­um, ob Birth­lers Aus­sa­ge rich­tig ist oder falsch. Laut OLG darf die Äu­ße­rung Birth­lers nur nicht in der Art und Wei­se, wie dies er­folg­te, wie­der­ge­ge­ben wer­den. Das ZDF schreibt zur Ur­teils­be­grün­dung auf sei­ner Web­sei­te: »Nach Auf­fas­sung des Ge­richts hät­te das ZDF je­doch Gy­si kon­kre­ter zu den Äu­ße­run­gen Birth­lers be­fra­gen und Gy­sis Ver­tei­di­gungs­ar­gu­men­te aus­führ­li­cher dar­stel­len müs­sen.« Wei­ter­le­sen

Ro­bert Ha­beck: Pa­trio­tis­mus – Ein lin­kes Plä­doy­er

Robert Habeck: Patriotismus - Ein linkes Plädoyer

Ro­bert Ha­beck: Pa­trio­tis­mus – Ein lin­kes Plä­doy­er

Die Feind­schaft zum Staat als Re­pres­si­ons­in­stanz, »Atom­staat«, »Bul­len­staat«, als pa­ter­na­li­sti­scher Ak­teur, Hü­ter fau­ler Kom­pro­mis­se, ver­stell­te den grü­nen Blick dar­auf, was (mit ei­nem) ge­sche­hen wür­de, wenn man selbst zu dem ge­hör­te. Der zi­vi­le Mut woll­te im­mer über den Staat hin­aus, ziel­te auf die Idee ei­nes Ge­mein­we­sens oh­ne Staat. Als dann rot-grün 1998 an die Re­gie­rung kam, wa­ren die li­be­ra­len Vor­stel­lun­gen von Ge­mein­wohl nicht mehr ge­gen, son­dern mit dem Staat durch­zu­set­zen. Auf die­sen Schritt wa­ren die pro­gres­si­ven Kräf­te schlecht vor­be­rei­tet und sind es bis heu­te.

Hart geht Ro­bert Ha­beck, 41, Frak­ti­ons­vor­sit­zen­der der Grü­nen im schles­wig-hol­stei­ni­schen Land­tag, mit der Lin­ken im All­ge­mei­nen und sei­ner Par­tei im Be­son­de­ren ins Ge­richt (wo­mit die po­li­ti­sche Rich­tung und nicht de­zi­diert die Par­tei »Die Lin­ke« ge­meint ist). Nach rot-grün, so Ha­becks The­se, ha­be das Land in ei­ner Gro­ßen Ko­ali­ti­on, die ih­re Chan­cen lei­der (!) sträf­lich ver­passt ha­be, vier Jah­re ver­lo­ren. Wei­ter­le­sen

Al­ban Ni­ko­lai Herbst: Sel­zers Sin­gen

Alban Nikolai Herbst: Selzers Singen

Al­ban Ni­ko­lai Herbst: Sel­zers Sin­gen


»Phan­ta­sti­sche Ge­schich­ten« wer­den Al­ban Ni­ko­lai Herbsts Er­zäh­lun­gen, die un­ter dem Ti­tel »Sel­zers Sin­gen« so­eben er­schienen sind, un­ter­ti­telt (und er­gänzt wird das ein biss­chen ko­kett mit: »und sol­che von frem­der Mo­ral«). Das Ad­jek­tiv phan­ta­stisch ist ei­ne zu­tref­fen­de Cha­rak­te­ri­sie­rung die­ser zwölf Ge­schich­ten (die kür­ze­ste hat knapp vier Sei­ten, die läng­ste 24), wo­bei der Grad der »Phan­ta­stik« durch­aus un­ter­schied­lich ist. Mal sind es die sich plötz­lich zei­gen­den Flü­gel bei ei­ner Frau in ei­ner eher tri­sten Bar am Hei­li­gen Abend (»Kri­stal­le«) in­klu­si­ve Ver­hal­tens­re­geln (»Sie müs­sen sich an mei­nen Flü­geln fest­halten«) und ei­nem film­riss­ähn­li­chen Er­wa­chen am näch­sten Tag (wel­ches nur ei­ne Ah­nung des Ge­sche­he­nen auf­grund ei­nes frem­den Ge­gen­stan­des in der Woh­nung zu­lässt). Und in ei­ner an­de­ren Ge­schich­te droht apo­ka­lyp­tisch rau­nend »Die Un­heil«.

Oder, gleich zu Be­ginn, ei­ne gro­tesk-über­trei­ben­de Sa­ti­re auf den Li­te­ra­tur- und Kunst­betrieb, der sei­ne un­lieb­sa­men Prot­ago­ni­sten in ei­ner Art Spuk­schloss ka­ser­niert (»Die Wie­pers­dor­fer An­kunft«). Pla­stik­lek­to­ren hän­gen dort her­um und bei Fehl­ver­hal­ten ge­gen­über dem Klein­ge­druck­ten, wel­ches man bei Ein­lass un­ter­schrie­ben hat, dro­hen un­ter an­de­rem Stei­ni­gun­gen oder Schäch­tun­gen zum all­ge­mei­nen Ver­gnü­gen von Kri­ti­kern und Kul­tur­bü­ro­kra­ten ei­nes Deut­schen Li­te­ra­tur­fonds. Un­ter schein­bar fal­schen Vor­aus­set­zun­gen ist dort nun der Schrift­stel­ler Herbst ein­ge­trof­fen, der nicht schlecht über die­sen Ort zwi­schen Dür­ren­matt-Kli­nik und Haus Us­her staunt, in dem die Natur­gesetze schein­bar au­ßer Kraft ge­setzt sind und der auch ne­ben­bei so ziem­lich al­le Vorur­teile über Künst­ler be­stä­tigt. Am En­de sitzt man im Spei­se­saal und ei­ne Me­lan­ge aus zer­matschten Spa­ghet­ti und Kip­pen­dreck ist über die Ti­sche ver­schmiert. Wer möch­te, ent­deckt hier vie­le Per­si­flie­run­gen auf die Kul­tur­sze­ne und ei­ni­ge ih­rer Ak­teu­re (und man ahnt, war­um Herbst auf sei­nem Web­log »Die Dschun­gel« das Ka­pi­tel über Li­te­ra­tur­kri­tik mit »Die Kor­rum­pel« über­schrie­ben hat).

Zwei Er­zäh­lun­gen von Tö­nen

Fi­li­gra­ner und weit­aus kunst­vol­ler geht es in »Cla­ra Grosz« zu, als ei­ne von ih­rem Part­ner an­kün­di­gungs­los ver­las­se­ne, hoch­schwan­ge­re Cel­li­stin Ker­stin, die den­noch ih­ren Ver­pflichtungen mit dem Or­che­ster nach­kommt und wei­ter­hin die gan­ze Welt be­reist, plötz­lich den Sehn­suchts­ton trifft, ei­ne ganz leich­te, we­ni­ger hör- als fühl­ba­re chro­ma­ti­sche Ver­schie­bung, aus der et­was Jen­sei­ti­ges her­über­schwang. Der Wunsch, die­ses Wun­der im­mer neu re­pro­du­zie­ren zu wol­len, führt so­gar da­zu, dass sie auf der Büh­ne ge­bärt und erst im letz­ten Mo­ment mit dem Mu­si­zie­ren ab­bricht. Un­ter Jo­han­nes, der ih­re Rol­le an die­sem Abend wei­ter­spiel­te, b l i e b an die­sem Abend der Klang; das Kind wur­de Cla­ra ge­nannt. Herbst ge­lingt es in die­ser bis­wei­len le­ver­kühn­ar­ti­gen Musik­erzählung groß­ar­tig, ei­ne ent­spre­chen­de Stim­mung zu er­zeu­gen und am En­de wird das Wun­der des Fin­dens »des Tons« (ei­nes na­tur­ge­mäss theo­re­ti­schen Ziels) mit der Ge­burt ei­nes Kin­des mit schö­ner Leich­tig­keit ver­knüpft und ein Zu­sam­men­hang der bei­den Er­eig­nis­se her­bei­be­schwo­ren.

Ins be­droh­lich-dä­mo­ni­sche chan­giert dann »Ein Ton«, in der ein Ich-Er­zäh­ler mo­no­lo­gisch die Ge­schich­te sei­nes Ton-Hö­rens er­zählt. Wer glau­be, hier wer­de ei­ne Entwicklungs­geschichte ei­ner sich an­bah­nen­den Tin­ni­tus-Er­kran­kung ge­schil­dert, irrt. Die Angelegen­heit ist kom­ple­xer, weil der im Er­zäh­ler we­sen­de, sich im­mer stär­ker aus­brei­ten­de Ton sei­ner­seits zum We­sen wird. Er wird durch die Er­zäh­lung des Prot­ago­ni­sten anthropo­morphisiert. Des­sen an­fäng­li­cher Ge­hör­schmerz stei­gert sich zum Schlupf­wespenton. Das Wun­der, wel­ches sich bei Ker­stin als voll­kom­me­ner Ton er­eig­ne­te, wird hier zum Fluch (es liegt na­he zu ver­mu­ten, dass er Er­zäh­ler eben­falls mu­sisch ge­bil­det ist): Die Welt setzt sich still, in dem ihr der Ton die Lau­te ab­zapft: Der Ton ma­te­ria­li­siert sich, wird Sub­jekt, be­kommt Ze­hen, Schen­kel und Kopf. Der ar­me Mensch wird schier wahn­sin­nig, unter­nimmt Selbst­tö­tungs­ver­su­che und fleht dar­um, ein­ge­mau­ert zu wer­den. Ei­ne Sua­da aus Hoff­nungs­lo­sig­keit und kur­zen, scharf­sich­ti­gen, bio­gra­fisch-re­fle­xi­ven Mo­men­ten setzt ein. Sät­ze wie Er­schwe­rend tritt hin­zu, dass ich mei­nen Va­ter nicht ken­ne wer­den ein­ge­streut; sie be­le­gen die­se selt­sam re­gres­si­ve Form ei­ner Ver­düsterung, die als Aus­flucht nur das Er­in­nern­de kennt, weil es kei­ne Zu­kunft mehr gibt.

Aber­mals wä­re ei­ne na­he­lie­gen­de Deu­tung, der Au­tor wol­le hier ge­gen den all­ge­mein uns um­ge­ben­den Aku­stik­schrott bei­spiels­wei­se in öf­fent­li­chen Räu­men pro­te­stie­ren, zu pro­fan. Herbst treibt es im zwei­ten Teil die­ser au­ßer­ge­wöhn­lich sug­ge­sti­ven und mit­rei­ßen­den Er­zäh­lung noch wei­ter: In ei­ner Art Kli­nik­pro­to­koll wird nicht nur der Krank­heits- und Lei­dens­weg des Pa­ti­en­ten (bei­spiels­wei­se an­hand sei­ner ra­pi­den Ge­wichts­ab­nah­me) do­ku­men­tiert, son­dern es wird ge­zeigt, dass des Er­zäh­lers Ein­schät­zung ei­ner Mater­ialisierung des Tons kei­nes­wegs ein Wahn­sinns­ge­bil­de war, son­dern der Rea­li­tät ent­sprach und die Sta­ti­on so­zu­sa­gen usur­piert wird von die­sem Ton. Ge­gen En­de die­ses von ei­nem nicht nä­her Be­zeich­ne­ten ver­fass­ten Pro­to­kolls heißt es: Der Ton über­all und gleich dar­auf ist es wie­der [v]öllig un­klar, ob ich ihn nur hal­lu­zi­nie­re, wo­bei dies wie­der­um vor­her durch die Er­zäh­lung des Ver­hal­tens des an­de­ren Per­so­nals der Sta­ti­on schön längst auf­ge­ho­ben wird, wenn es et­wa heißt Die to­ben­de Schwe­ster B. fi­xiert.

Ge­gen die Qua­li­tät die­ser ex­pres­si­ven Er­zäh­lun­gen kann »Le­na Pon­ce« nicht be­stehen. Hier be­geg­net ein Mann wäh­rend ei­nes Auf­ent­halts in Bue­nos Ai­res ei­ner Frau und ver­fällt ihr auf­grund ih­res muskulöse[n] Rücken[s] prak­tisch so­fort. Es ge­lingt ihm, mit ihr in Kon­takt zu kom­men, wo­bei ihr di­stan­zier­tes Ver­hal­ten auf ihn eher sti­mu­lie­rend als ab­sto­ßend wirkt. So schaut sie ihn nie­mals an, son­dern stets an ihm vor­bei oder blickt zum Bo­den. Statt ei­nes er­wünsch­ten Lie­bes­aben­teu­ers of­fen­bart die Frau na­mens Le­na, dass sie als Be­din­gung er­war­tet, dass ihr Mann um­ge­bracht wird. Die gän­gi­gen Mo­ti­ve (Hass, Ei­fer­sucht, Geld­gier) ne­giert sie (was ver­mut­lich be­wusst ge­setzt ist, um die My­sti­fi­ka­ti­on von Per­son und Ge­schich­te vor­an­zu­trei­ben und das Gen­re des Kri­mi­nal­stücks zu ver­meiden). Die Tat ge­schieht (im zwei­ten Teil der Er­zäh­lung wird per­so­nal er­zählt) und Le­na gibt sich ihm in sei­nem sehr häss­li­chen Pen­si­ons­zim­mer hin. Aus dem Bett her­aus wer­den sie von der Po­li­zei ver­haf­tet und bei­de eher ge­lei­tet als ab­ge­führt und Le­na wur­de in das ei­ne Au­to, er in ein an­de­res ge­be­ten..

»Enor­me Küh­le«

In »Ge­lieb­te Män­ner« be­gibt sich ein Ich-Er­zäh­ler zu ei­nem Au­tor (der De­ters heißt, wie Herbsts »Kom­pa­gnon«, mit dem er zu­sam­men u. a. ei­ne Web­sei­te be­treibt), der für ihn als ein Art Ghost­wri­ter fun­giert. Als ein neu­er Auf­trag in Aus­sicht steht, trifft er De­ters in ei­nem Lo­kal. Die­ser be­ginnt nun in fast bern­hard­scher Ma­nier über den männ­li­chen Ge­lieb­ten, sei­ne weib­li­che Rol­le und die Un­bil­len der Frau­en-Eman­zi­pa­ti­on zu do­zie­ren. Hier ist eher der zwei­te Teil des Un­ter­ti­tels be­stim­mend und ein biss­chen arg holzhamm­erartig soll hier ei­ne po­li­ti­sche bzw. ge­sell­schaft­li­che In­kor­rekt­heit li­te­r­a­ri­siert wer­den. Wen dies noch auf­regt, ist sel­ber schuld, und Al­ban Ni­ko­lai Herbst par­fü­miert sich hier ein biss­chen zu sehr als raub­ei­nig-lü­ster­ner Agent Pro­vo­ca­teur.

In der Ti­tel­ge­schich­te »Sel­zers Sin­gen« be­geg­net ei­ne weib­li­che Er­zäh­le­rin dem soi­gnier­ten, schüch­ter­nen, äl­te­ren Herrn Sel­zer. Aber­mals spielt die un­ter­schwel­lig ero­ti­sche An­zie­hung ei­ne gro­ße Rol­le (die im deut­li­chen Ge­gen­satz zur der­ben Wol­lust steht), et­wa wenn sie be­kennt Er zog mich an wie Nacht. Die­se Ver­lockung wird durch Sel­zers enor­me Küh­le und sei­nem seelenlose[n] und berechnende[n] Blick noch ver­stärkt. Er sprach im Lei­den­s­ton ei­nes Men­schen, der nicht ster­ben darf. Lei­der ist hier das En­de all­zu vor­her­seh­bar und Sel­zers Sin­gen ist ein (pro­fan) or­gia­sti­sches, das im Stür­zen un­ter­ging. Das Mo­tiv des Aus­bruchs des Men­schen aus der Zeit wird in der kur­zen Er­zäh­lung »Born­hol­mer Hüt­te« da­hin­ge­hend va­ri­iert, dass ein Mann als ein­zi­ge Mög­lich­keit, sei­nem grei­sen Va­ter zu ent­ge­hen (was ver­mut­lich be­deu­tet: sich von der ge­ne­ti­schen und so­zia­len Prä­gung zu eman­zi­pie­ren), wäh­rend ei­nes Abends im­mer jün­ger wird und schließ­lich in der Pu­ber­tät an­zu­kom­men scheint (wo­bei die Deu­tung, es wür­de ei­ne Art phy­si­scher De­menz­aus­bruch be­schrie­ben, voll­kom­men ab­we­gig wä­re).

Die läng­ste Er­zäh­lung (»Char­lot­te von Lu­signan«) ist vor­der­grün­dig ei­ne Ehe- und Wahn­sinns­ge­schich­te, in der ein Mann von sei­ner Frau Char­lot­te er­zählt, die schein­bar ver­schwun­den und Mo­na­te spä­ter als Schlan­ge wie­der­ge­kehrt ist. Nur ih­ren Kin­dern, die selt­sam vor­ge­al­tert wir­ken, er­scheint sie da­nach noch als Mensch. Der Mann be­rich­tet der Po­li­zei, die ihn wohl als Mord­ver­däch­ti­gen auf­ge­sucht hat, aber nur ei­nen ver­wirr­ten Mann mit ei­ner Ana­kon­da an­trifft. Herbst ge­nügt hier die blo­ße My­stik ei­ner Verwand­lungsgeschichte nicht und fügt noch – durch­aus an­spie­lungs­reich or­na­men­tiert – das Mo­tiv der weib­li­chen Men­strua­ti­on hin­zu, denn Char­lot­te be­ding­te sich al­le vier Wo­chen sams­tags ei­nen Tag für sich aus, an dem sie sich in ei­ner Klau­sur se­pa­rier­te und ei­ne Art Blick­ver­bot aus­sprach. Fast ma­gisch scheint sich denn auch die Ver­wand­lung der Frau (re­spek­ti­ve das vor­aus­ge­hen­de Ver­schwin­den) in der Ba­de­wan­ne zu er­eig­nen, als der Mann die­ses Ver­bot or­pheus­haft bricht. Im Sym­bol der wie­der­keh­ren­den Schlan­ge schwingt nun ne­ben den be­reits an­ge­spro­che­nen Mo­ti­ven auch ei­ne ge­wis­se Por­ti­on ok­kul­ter Kun­da­li­ni-Be­schwö­rung mit, die aber­mals als Quell man­nig­fal­ti­ger In­ter­pre­ta­tio­nen die­nen kann.

Ovid, Tom­ma­so Lan­dol­fi und ei­ne klei­ne Screw­ball-Ko­mö­die

Der Band en­det wie er be­gann: selbst­re­fe­ren­ti­ell in Be­zug auf den Li­te­ra­tur­be­trieb und den Dich­ter sel­ber, der in fünf der zwölf Er­zäh­lun­gen durch­aus sein ei­ge­ner Prot­ago­nist sein könn­te (was zwei­fels­oh­ne be­ab­sich­tigt ist, um durch ei­ne ge­wis­se Rea­li­täts­nä­he das Phan­ta­sti­sche als stär­ke­ren Kon­trast her­aus­zu­stel­len). In ei­nem »Be­richt an ei­ne Lese­stiftung« (die An­spie­lung auf Kaf­ka ist durch­aus ge­wollt) wird der Er­zäh­ler Al­ban Ni­ko­lai Herbst in ein Pro­jekt ei­nes Ra­dio- und Fern­seh­sen­ders ein­ge­bun­den, wel­ches das schnell­ste Buch her­vor­brin­gen will. Die Bil­der des schrei­ben­den Dich­ters in sei­ner Woh­nung wer­den von Ali­ens, Et­was­se von 1 Me­ter 30, ge­macht, die spä­ter ein gan­zes In­fo­ra­dio ver­spei­sen. Herbst geht hier durch­aus selbst­iro­nisch zu Werk und per­si­fliert sei­nen Ma­chis­mo. Die screw­ball­haf­te Sze­ne im Fern­seh­stu­dio und nach­her auf dem Bahn­hof ist ein biss­chen un­über­sicht­lich und über­ra­schend an­stren­gend zu le­sen. Ge­le­gent­lich hat man den Ein­druck ei­nes leicht auf­ge­setz­ten Hu­mors (ein Ge­dan­ke, der in der Wie­pers­dor­fer Schlos­s­erzäh­lung nicht auf­kam). Dass am En­de Herbst ei­ne Fi­gur aus dem Tross noch er­schos­sen ha­ben soll, lässt ei­nen dann ir­gend­wie kalt.

Die be­sten Er­zäh­lun­gen die­ses Bu­ches er­öff­nen tat­säch­lich in ih­rem phan­ta­sti­schen Ver­lauf neue, sinn­li­che Räu­me und schwin­gen im (!) Le­ser lan­ge nach. Ei­ni­ge könn­te man durch­aus als No­vel­len be­zeich­nen. Herbst be­dient sich so­wohl bei den gro­ßen, fer­nen my­tho­lo­gi­schen Er­zäh­lun­gen (der Bi­bel; der grie­chi­schen Göt­ter­welt; Ovid) wie auch bei der li­te­ra­ri­schen Ro­man­tik bis in die Mo­der­ne hin­ein. So ent­deckt man un­will­kür­lich star­ke mo­ti­vi­sche Par­al­le­len mit dem re­nom­mier­ten, aber lei­der viel zu we­nig be­kann­ten Tom­ma­so Lan­dol­fi und sei­nen phan­ta­stisch-gro­tes­ken Er­zäh­lun­gen. Aus jüng­ster Zeit wird man mit­un­ter an Bo­tho Strauß’ pa­ra­do­xe Mi­nia­tu­ren »Mi­ka­do« oder Xa­ver Bay­ers »Die durch­sich­ti­gen Hän­de« er­in­nert. In in­di­vi­du­el­ler Sti­li­stik und ei­ge­ner Spra­che ent­wickelt Herbst Er­zäh­lun­gen, die ih­ren ei­gen­stän­di­gen Rang ha­ben und kei­nes­wegs ek­lek­ti­zi­stisch sind.

Aber im­mer dann, wenn er sei­nem Er­zäh­len nicht so recht traut und ein biss­chen ta­bu­bre­che­risch und/oder ori­gi­nell sein möch­te (sei es durch die über­trie­ben em­pha­ti­sche My­sti­fi­zie­rung der Re­gel­blu­tung ei­ner Frau [vom Mond ge­schick­tem Blut], ei­ne eher bei­läu­fig hin­ge­rotz­te Be­mer­kung zur Ver­bin­dung zwi­schen Mut­ter und Kinds­mord, ein Mo­bil­te­le­fon und des­sen Vi­bra­ti­ons­alarm im Schritt oder ein­fach nur durch das be­wusst ge­zielt-pro­vo­ka­ti­ve Ein­streu­en ne­ga­tiv kon­no­tier­ter Be­grif­fe) be­gin­nen die Er­zäh­lun­gen zu tor­keln und mit die­ser Form des recht­ha­be­ri­schen Äs­the­ti­sie­rens wird dann zu­ver­läs­sig die sich ge­ra­de auf­bau­en­de Au­ra zer­stört. An­de­rer­seits ent­hal­ten die Er­zäh­lun­gen durch­aus ei­ne Fül­le fein­ster For­mu­lie­run­gen, die man sich ger­ne merkt und so noch nie ge­le­sen hat­te. Da­her ist »Sel­zers Sin­gen« ei­ne Lek­tü­re, die nicht nur auf­grund der »star­ken« Ge­schich­ten zu emp­feh­len ist.


Die kur­siv ge­setz­ten Pas­sa­gen sind Zi­ta­te aus dem be­spro­che­nen Buch.