Jen­ny Er­pen­beck: Kai­ros

Jenny Erpenbeck: Kairos
Jen­ny Er­pen­beck: Kai­ros

An­fang des Jah­res konn­te man in ei­nem bri­ti­schen Ar­ti­kel ei­ni­ges über die Ur­sa­chen des Be­deu­tungs­ver­lusts der deut­schen Ge­gen­warts­li­te­ra­tur le­sen. Ein Ar­gu­ment war, dass es kaum noch zeit­ge­nös­si­sche deutsch(sprachig)e Au­toren ge­be, die über­setzt wür­den (ge­meint war na­tür­lich die Über­set­zung ins Eng­li­sche). Nach­träg­lich stellt sich her­aus, dass min­de­stens ei­ne deut­sche Au­torin über­se­hen wur­de, die seit Jah­ren flei­ßig über­setzt wird. Der eng­li­sche Wi­ki­pe­dia-Ar­ti­kel weist 22 Spra­chen aus, was höchst be­acht­lich ist. Na­he­zu al­le Pro­sa von und ih­re vier Thea­ter­stücke sind zeit­nah ins Eng­li­sche über­setzt wor­den.

Die Au­torin heißt Jen­ny Er­pen­beck, wur­de 1967 in Ost-Ber­lin ge­bo­ren und ge­wann vor ei­ni­gen Wo­chen für ih­ren 2021 er­schie­ne­nen Ro­man Kai­ros den In­ter­na­tio­nal Boo­ker-Pri­ze. Es ist nicht so, dass Er­pen­beck in Deutsch­land un­be­kannt wä­re – die Rei­he ih­rer Prei­se und Aus­zeich­nun­gen ist an­sehn­lich, dar­un­ter der Tho­mas-Mann- und der In­ter­na­tio­na­le Ste­fan-Heym-Preis. 2015 stand Er­pen­beck auf der Short­list des Deut­schen Buch­prei­ses. Ehr­li­cher­wei­se muss man aber zu­ge­ben, dass das Feuil­le­ton bis­her nicht un­be­dingt sehn­süch­tig ih­re neu­en Ro­ma­ne und Er­zäh­lun­gen er­war­tet hat. Die Aus­nah­me ist Vol­ker Wei­der­mann, der seit min­de­stens vier Jah­ren re­gel­mä­ßig er­klärt, dass Er­pen­beck bald den Li­te­ra­tur­no­bel­preis er­hal­ten wird. An­son­sten sind die Re­zen­sio­nen zu­meist wohl­wol­lend bis freund­lich; Ver­ris­se gab es sel­ten. Die auf­merk­sam­keits­för­dern­den und all­seits an­ge­se­he­nen deut­schen Li­te­ra­tur­prei­se hat Er­pen­beck al­ler­dings noch nicht be­kom­men.

Gilt al­so aber­mals, dass die Pro­phe­tin nichts im ei­ge­nen Land gilt? Und ist es ein deut­sches Spe­zi­fi­kum, dass ei­ne Au­torin, die in­ter­na­tio­nal Er­fol­ge vor­wei­sen kann, nicht ge­fei­ert, son­dern mit selbst­ge­fäl­li­ger Ar­ro­ganz, in der auch ei­ne ge­wis­se Por­ti­on Neid mit­schwin­gen dürf­te, be­dacht wird? So ver­fass­te Il­ko-Sa­scha Ko­wal­c­zuk ei­nen dif­fus an­kla­gen­den, fast zor­ni­gen Text, der ver­mut­lich ent­stand, weil sich Er­pen­beck in In­ter­views über ih­re man­geln­de li­te­ra­ri­sche An­er­ken­nung in Deutsch­land be­klagt hat­te (den Bun­des­ver­dienst­or­den der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land er­hielt sie im­mer­hin be­reits). Es wür­den, so soll sich Er­pen­beck ge­äu­ßert ha­ben, zu we­ni­ge ost­deut­sche Ju­ro­ren in den Ju­rys sit­zen. Ko­wal­c­zuk be­kennt mit gön­ner­haf­ter At­ti­tü­de, er le­se Er­pen­becks »Schrei­be« »nicht un­gern«, um dann sei­ne Vor­be­hal­te mit Er­pen­becks So­zia­li­sa­ti­on in der DDR zu be­grün­den. Et­li­che »ost­deut­sche« Preis­trä­ger wür­den zu­dem der The­se wi­der­spre­chen, dass es nicht an den Ju­ry-Be­set­zun­gen lie­gen wür­de und sug­ge­riert zwi­schen den Zei­len, dass die Zu­rück­hal­tung mit ei­ner ge­wis­sen »Ost­deutsch­tü­me­lei« in Er­pen­becks Li­te­ra­tur zu tun ha­ben könn­te, ei­ner »Sehn­sucht nach dem Ge­stern«. Dass auch an­de­re preis­ge­krön­te Au­toren aus der ehe­ma­li­gen DDR gibt, die ost­al­gisch schrei­ben, wird nicht the­ma­ti­siert.

Er­pen­beck sei in ei­ne kom­mu­ni­sti­sche Fa­mi­lie hin­ein­ge­bo­ren wor­den, El­tern und Groß­el­tern hät­ten für DDR-Ver­hält­nis­se in ei­ner »Par­al­lel­welt« Pri­vi­le­gi­en ge­habt, so Ko­wal­c­zuk, der auch noch gleich ei­ge­ne Er­leb­nis­se ein­bringt, die ei­nen gro­ßen Kon­trast zu de­nen der Er­pen­becks dar­stel­len. Weil Er­pen­becks DDR-Bild nicht dem (wohl be­gründ­ba­ren) Ver­dam­mungs­ur­teil ent­spricht und sich die Au­torin ent­ge­gen den Usan­cen des Li­te­ra­tur­be­triebs über man­geln­de Wert­schät­zung be­klagt hat, sieht sich ein se­riö­ser Au­tor ge­nö­tigt, ei­ne Schrift­stel­le­rin – ja, was?, zu maß­re­geln? Es geht al­so nicht um Li­te­ra­tur, son­dern um ei­ne ab­stru­se Form von Sip­pen­haft. Grund ge­nug für mich, der au­ßer Er­pen­becks Text vom Bach­mann­preis 2001 noch nie et­was von ihr ge­le­sen hat­te, jetzt Kai­ros, das aus­ge­zeich­ne­te Buch, zu le­sen.

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Wel­ten und Zei­ten VII

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

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Es gibt ein Er­zäh­len oh­ne Fik­ti­on. Selbst­ver­ständ­lich. Wahr­schein­lich ist Fik­ti­on die spä­te­re Er­fin­dung, er­zählt wur­de seit Men­schen­ge­den­ken. Man kann nicht le­ben oh­ne Er­zäh­lung, des­we­gen brauch­te Ro­bin­son sei­nen Frei­tag. Aber viel­leicht trifft die­se Aus­sa­ge über­haupt nicht zu und bei­des, Er­zäh­len und Fik­ti­on, ist gleich­ur­sprüng­lich. Wenn er­zählt wird, wird auch ge­lo­gen, selbst dann, wann der Er­zäh­ler nichts als die Wahr­heit im Sinn hat.

All die vie­len zeit­ge­nös­si­schen Er­zäh­ler, die nichts er­fin­den oder vor­ge­ben, nichts zu er­fin­den. Die Rei­se­be­richt­erstat­ter, Re­por­ter, Bio­gra­phen, Do­ku­men­tar­schrift­stel­ler. Hi­sto­ri­ker wie Ju­les Mi­che­let, die Ge­schich­te in Ge­schich­ten er­zäh­len. Die Den­kend-Er­zäh­len­den, Es­say­isten à la Mon­tai­gne. In un­se­ren Brei­ten, ich nen­ne nur zwei, aus der sel­ben Schul­klas­se (in Salz­burg) her­vor­ge­gan­gen, recht un­ter­schied­li­chen Na­tu­rells: Pe­ter Ste­phan Jungk und Karl-Mar­kus Gauß.

Da­ge­gen je­ne, die sich ver­krampft um Fik­ti­on be­mü­hen. Als wä­ren Er­fin­dun­gen bes­ser als die Wirk­lich­keit. Da­ge­gen das – auch nicht sehr tief­grün­di­ge – Bon­mot, die Wirk­lich­keit sei phan­ta­sti­scher als die Pro­duk­te der Phan­ta­sie. »Kannst ned er­fin­den.«

Jean Paul, noch ein­mal: zu prall sein Sack – der Sprach­sack näm­lich, wo die Rea­li­en eher spär­lich sind. Zu we­nig Lee­re in den Er­zäh­lun­gen; zu we­nig Luft, zu we­nig Schwei­gen. Zu ba­rock? Die wah­ren Er­zäh­ler sind – Bo­la­ño sprach von Luft­poe­ten, ich möch­te, im hie­si­gen Kon­text, sa­gen: – die wah­ren Er­zäh­ler sind Aereo­nar­ra­to­ren. Wie hei­ßen sie? Ei­ni­ge ha­be ich schon ge­nannt.

Hier noch ein Na­me: Die Er­zäh­lun­gen des Dich­ters Dy­lan Tho­mas sind Schnitz­wer­ke der Sprach­kunst, und zu­gleich las­sen sie, nein, schaf­fen sie Luft­räu­me gleich je­nen Leer­stel­len in ei­ner gu­ten fran­zö­si­schen Ba­guette. Das könn­te ein Ide­al des Er­zäh­lens sein.

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Zur gü­ti­gen Aus­lö­schung

Delfi 02
Del­fi 02

Es muss­te ja so kom­men. Nach der an­spre­chen­den Aus­ga­be 01 mit zwei her­aus­ra­gen­den Tex­ten wirkt die zwei­te Aus­ga­be von Del­fi eher ma­ger. Wo­bei man in­di­rekt beim The­ma die­ses Hef­tes ist: Fleisch. Fleisch sei, so klin­gelt es im Edi­to­ri­al der Her­aus­ge­ber Fat­ma Ay­d­emir, Hen­g­ameh Yag­hoo­bi­fa­rah, En­ri­co Ip­po­li­to und Miryam Schell­bach, »in Wort und Sub­stanz fos­si­les Be­geh­ren. Es ist Ver­füh­rung und Pro­jek­ti­ons­flä­che.« Fleisch ist dem­nach nicht nur »ein Stück Le­bens­kraft« (© CMA-Wer­bung 1967ff), son­dern »schafft Sinn­lich­keit«. Und wei­ter heißt es, leicht heid­eg­gernd: »Fleisch ist…die Leit­me­ta­pher für den wo­gen­den, tä­ti­gen, sor­gen­den Leib der Be­ru­hi­gung, wir drücken uns an Brü­ste und le­gen den Kopf auf Schö­ßen ab.« Wie pro­gres­siv Kitsch for­mu­liert sein kann.

Mir hin­ge­gen fiel zu­nächst nur der Film von Rai­ner Er­ler aus 1979 mit dem Ti­tel Fleisch ein, in­dem es um Or­gan­han­del ging, und mit ihm be­gann die sehr lan­ge kol­por­tier­te Fa­ma vom ge­kid­napp­ten Mann aus dem Au­to oder vor dem Su­per­markt, der Stun­den spä­ter mit ei­ner gro­ßen Nar­be und oh­ne ei­ne Nie­re in ir­gend­ei­ner Ka­schem­me auf­wacht. Und nun al­so Fleisch als Mot­to, was, wenn man es nicht wüss­te, wäh­rend der Lek­tü­re ei­ni­ger­ma­ßen über­rascht. Zwar gibt es hier und da ei­ni­ge fleisch­li­che, zu­meist ho­mo­ero­ti­sche Epi­so­den (sie sind meist ähn­lich lang­wei­lig wie die Schil­de­run­gen he­te­ro­se­xu­el­len Ak­tio­nen in der deut­schen Li­te­ra­tur; wer will, kann das bei Rai­ner Mo­ritz nach­schla­gen), aber die wir­ken zum Teil ein biss­chen pflicht­schul­dig, et­wa in der Ge­schich­te um den Tod ei­ner Groß­mutter (Bur­çin Te­tik mit Se­hers Gar­ten) und den Evo­ka­tio­nen der Er­zäh­le­rin von ih­ren di­ver­sen Som­mern in Groß­mutter-Gar­ten. War­um frau dort nicht nä­her drauf- oder bes­ser noch: auf­ge­schaut hat? Die­se Groß­mutter hat mich so­fort in­ter­es­siert; sie starb viel zu früh. Scha­de.

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Me­la­nie Möl­ler: Der ent­mün­dig­te Le­ser

Na­tür­lich ist das Co­ver ei­ne Pro­vo­ka­ti­on. Der* ent_mündigte Lese:r steht dort. Drei Sym­bo­le der »Gen­der­spra­che« – Stern, Un­ter­strich, Dop­pel­punkt. Ent­we­der oder. Hier al­les auf ein­mal. »Für die Frei­heit der Li­te­ra­tur« lau­tet der Un­ter­ti­tel. Dem Buch vor­an­ge­stellt ist ein Aus­zug aus Kaf­kas Brief an Os­kar Pol­l­ak, je­ne be­rühm­te Stel­le, in der er er­klärt, wie ein Buch ...

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The in­ward spi­ral II

[Ein nie statt­ge­fun­de­ner Pod­cast mit Till Rei­ners und Mo­ritz Neu­mei­er]

Du, Mo­ritz, ich muss mit dir über Fe­mi­nis­mus re­den.

- Och ne, da hab’ grad echt kei­nen Bock mehr drauf.

- Ja wie jetzt? Ha­ste dich nicht für ar­te als fe­mi­ni­sti­schen Mann ab­lich­ten las­sen?

- Da steh’ ich auch zu. Zieh’ wei­ter mei­ne Röcke an und sol­len die wei­ter ih­re Jau­che in die Kom­men­tar­spal­ten er­gie­ßen über den Prin­zen aus Wo­ki­stan.

- Das ist nur Be­stä­ti­gung. Ver­steh’ ich. Auch, dass man das The­ma dann zwi­schen­durch über hat. Aber bei mir ha­ben die 80er an­ge­klin­gelt.

- Wie in der heu­te Show noch in so ei­ne gel­be Te­le­fon­box?

- Ach noch alt­backe­ner als Poe­tik­vor­le­sung von Chri­sta Wolf. Und auch wenn die 1982 in mei­nem Ge­burts­jahr war, al­so noch viel zu früh als, dass ich das schon mit­be­kom­men ha­ben könn­te.

- Ja, was denn nu?

- Na, da lie­fen auf ein­mal so Strän­ge zu­sam­men, das ich dach­te, aha! Da kom­men ge­wis­se Prä­gun­gen her. Auch un­er­klär­li­che emo­tio­na­le Vor­ein­ge­nom­men­hei­ten. Ge­gen die Er­obe­rer von Troia zum Bei­spiel (»Achill, das Vieh«). Das ist aus die­sem Buch. Und ich hab dann spä­ter oder war das doch da­vor, so Dar­stel­lun­gen von der Sie­ger­sei­te mit ih­ren strah­len­den Hel­den ge­le­sen und sie in­stink­tiv für Ab­schaum ge­hal­ten.

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Fuß­ball­spra­che – einst und jetzt

Ei­ne ernst­ge­mein­te Re­por­ter­po­le­mik – Ger­ne auch als Bin­­go-Vor­­la­­ge Re­por­ter EINST Re­por­ter HEUTE Das hat es noch nie ge­ge­ben… …schreibt Ge­schich­te! Heim­vor­teil! Wie kommt man mit dem Druck des Heim­spiels zu­recht? Wie sieht die Tak­tik des Geg­ners aus? Was schrei­ben wir auf die Ka­pi­täns­bin­de? Was bringt der neue Spie­ler für das Team? Wel­che Wer­te ver­tritt er? ...

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Alex­an­der Pech­mann: Die Bi­blio­thek der ver­lo­re­nen Bü­cher

Alexander Pechmann: Die Bibliothek der verlorenen Bücher
Alex­an­der Pech­mann: Die Bi­blio­thek der ver­lo­re­nen Bü­cher

Das Co­ver ist in exi­sten­tia­li­sti­schem Schwarz, zeigt zwei Hän­de, die ein auf­ge­schla­ge­nes Buch hal­ten. An­son­sten ist nichts mensch­li­ches zu se­hen. Dar­über steht der Ti­tel Die Bi­blio­thek der ver­lo­re­nen Bü­cher und man fragt sich zu­nächst, ob es nicht eher die Su­che nach dem ver­lo­re­nen Le­ser ist, aber das täuscht.

Alex­an­der Pech­mann ist der Au­tor, er ist Über­set­zer, Schrift­stel­ler und Her­aus­ge­ber und die­se Viel­sei­tig­keit merkt man die­sem Buch an. Es be­ginnt mit ei­ner Vor­re­de ei­nes fik­ti­ven, na­men­los blei­ben­den »Un­ter-Un­ter-Bi­blio­the­kars«, ei­nem ein­sa­men Re­gal­hü­ter der Bi­blio­thek der nicht ge­schrie­be­nen, ver­brann­ten oder ver­lo­re­nen Bü­cher. Man ist zu­nächst auf­ge­schreckt ob des plü­schi­gen Con­fé­ren­cier­tons, aber im Lau­fe der fol­gen­den drei­ßig Auf­sät­ze mel­det sich der Bi­blio­the­kar glück­li­cher­wei­se nur noch sel­ten und wenn, dann eher als Bot­schaf­ter der Mög­lich­kei­ten, denn er hat sie na­tür­lich al­le, die­se ge­heim­nis­vol­len, dem nor­ma­len Sterb­li­chen ver­bor­ge­nen Wer­ke der Welt­li­te­ra­tur.

Bis­wei­len gibt es ei­nen klei­nen Ein­blick in die ver­schol­le­nen Ma­nu­skrip­te, so bei In Bal­last to the White Sea von Mal­colm Lo­wry oder dem Stück ei­nes an­ti­ken Thea­ter­dich­ters aus Ab­de­ra. Und manch­mal greift der »Un­ter-Un­ter-Bi­blio­the­kar« auch in die Li­te­ra­tur­sze­ne ein, holt das ein oder an­de­re Ma­nu­skript aus sei­nem Be­stand und ver­steckt es der­art, dass es ir­gend­je­mand dann über­ra­schend »wie­der­fin­det«, wie et­wa Ma­ry Shel­leys Er­zäh­lung Mau­rice oder die Fi­scher­hüt­te, ei­ne Ent­deckung von 1997, recht­zei­tig zum 200. Ge­burts­tag der Au­torin.

Es gibt vie­le Grün­de, war­um Ma­nu­skrip­te und bis­wei­len Bü­cher auch be­kann­ter Schrift­stel­ler nicht (mehr) ver­füg­bar sind. He­ming­ways frü­he Auf­zeich­nun­gen gin­gen et­wa auf ei­nem Trans­port quer durch die Welt ver­lo­ren; er hat­te sich in­zwi­schen wei­ter­ent­wickelt und gräm­te sich kaum. Ähn­lich wie bei T. E. Law­rence, der sei­ne ver­schlamp­ten Ma­nu­skrip­te zu Die sie­ben Säu­len der Weis­heit aus dem Ge­dächt­nis re­kon­stru­ier­te. Häu­fig fie­len sie al­ler­dings der Ver­nich­tung durch den Au­tor sel­ber zum Op­fer, sei es aus po­li­ti­schen Grün­den (von Prot­agoras zu Ab­de­ra über Dr. John Dee [Shake­speares »Prospero«-Vorbild], Do­sto­jew­ski, Pusch­kin, ei­ni­ge von Tho­mas Manns Ta­ge­bü­chern bis Blai­se Cen­dars) oder weil der Ver­fas­ser nicht zu­frie­den war mit dem Ge­schrie­be­nen und aus Wut, Selbst­hass oder ein­fach nur zu viel Al­ko­hol zum »Au­to­da­fé« schritt, wie bei­spiels­wei­se Bal­zac bei sei­ner Er­zäh­lung Der Land­arzt oder Ja­mes Joy­ces Mo­nu­men­tal­ma­nu­skript Ste­phen Hero.

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Kaf­kas Dop­pel­bot­schaf­ten

In Wil­helm Mei­sters Lehr­jah­re gibt es ei­ne Sze­ne, wo der jun­ge Mann, al­so der Ti­tel­held, sei­ne Ma­nu­skrip­te ver­brennt. Die­se »dich­te­ri­schen Ver­su­che« wa­ren wäh­rend der er­sten Lie­bes­lei­den­schaft sei­nes Le­bens zu­stan­de ge­kom­men; jetzt aber, nach der Tren­nung von sei­ner Ge­lieb­ten, be­fin­det er sie für wert­los. Sein durch und durch ra­tio­nal den­ken­der Freund Wer­ner, ein Kauf­mann, kommt da­zu, er will ihn an dem Ver­nich­tungs­werk hin­dern. Wil­helm in­si­stiert, ein Ge­dicht müs­se ent­we­der vor­treff­lich sein, oder es sol­le gar nicht exi­stie­ren. Wer­ner wi­der­spricht: Wenn je­mand zu ei­ner Tä­tig­keit Ta­lent und Nei­gung ha­be, soll er sie doch aus­üben, auch wenn kei­ne voll­kom­me­nen Er­geb­nis­se zu er­war­ten sind. Der jun­ge Wil­helm ist nicht nur in die­ser Si­tua­ti­on ra­di­kal, er geht stets aufs Gan­ze. Wer­ner rät zur Mä­ßi­gung, man sol­le sich auch mit Teil­erfol­gen zu­frie­den­ge­ben.

Ei­ne ähn­li­che Kon­stel­la­ti­on be­stand zwi­schen Franz Kaf­ka und sei­nem Freund Max Brod, der als Dich­ter und di­let­tie­ren­der Mu­si­ker im­mer auch ein we­nig kauf­män­nisch dach­te. In ei­nem Ta­ge­buch­ein­trag vom Au­gust 1914, we­ni­ge Ta­ge nach Aus­bruch des er­sten Welt­kriegs, sieht Kaf­ka sich selbst zur Spit­ze ei­nes Bergs flie­gen, wäh­rend an­de­re Au­toren sich in tie­fe­ren Re­gio­nen mü­hen, frei­lich mit viel grö­ße­ren Kräf­ten als er selbst. Es fehlt ihm an Aus­dau­er, Ge­sund­heit, Kom­pro­miß­be­reit­schaft, Sinn fürs So­zia­le, um sich dau­er­haft an der Spit­ze des Olymps zu eta­blie­ren. Was er be­sitzt, ist ein »traum­haf­tes in­ne­res Le­ben« und die Fä­hig­keit, sich der In­spi­ra­ti­on zu öff­nen, die ei­ner un­sicht­ba­ren Tür zu je­nem Traum­le­ben gleicht. Die Tür ist oft, manch­mal mo­na­te­lang, ver­schlos­sen, Kaf­ka müht sich ver­ge­bens um Ein­laß. Sein Le­ben ver­läuft zwi­schen zwei Re­gio­nen, die ihm ver­wehrt sind: auf der ei­nen Sei­te die Ehe, die Fa­mi­lie, die bür­ger­li­che Exi­stenz; auf der an­de­ren Sei­te der Olymp mit sei­nen Hier­ar­chien. In bei­den Re­gio­nen ist er be­sten­falls Gast. An­de­re sind in der La­ge, bei­de zu ver­ein­ba­ren, zum Bei­spiel der ho­mo­se­xu­el­le Tho­mas Mann, der ei­ne Fa­mi­lie um sich er­rich­te­te, die ihn da­vor be­wahr­te, ein Au­ßen­sei­ter zu wer­den. Kaf­ka blieb es zeit­le­bens, über­all. Die Vi­ru­lenz sei­ner Träu­me ließ ihn nicht schla­fen, er muß­te sie zu Pa­pier brin­gen und dort wei­ter ent­fal­ten, aber oft war ihm auch dies ver­wehrt, so ver­harr­te er dann wie ge­lähmt zwi­schen dem Hier und dem Dort.

Was er­war­te­te er sich von der Ehe? Be­ru­hi­gung, gu­ten Schlaf, ei­ne Ni­sche im Bür­ger­li­chen. Manch­mal so­gar: in Ru­he schrei­ben kön­nen, ir­gend­wo in der mitt­le­ren Zo­ne ar­bei­ten, nicht oben auf dem Olymp, son­dern im Wein­berg der Li­te­ra­tur. Aber der­lei Be­ru­hi­gun­gen lehn­te er zu­gleich ab, er hin­ter­trieb sie un­er­müd­lich. Kaf­ka konn­te nicht an­ders schrei­ben als in Wel­len, in klei­ne­ren, manch­mal nacht­lan­gen Erup­tio­nen oder – die Ro­ma­ne – in Rie­sen­wel­len, Tsu­na­mis gleich­sam, wo­bei er an­fangs dach­te, daß er kei­nen lan­gen Atem be­sit­ze und Kurz­for­men das ihm ent­spre­chen­de Gen­re sei­en. Doch der Lun­gen­kran­ke schaff­te wi­der die ei­ge­nen Wahr­schein­lich­kei­ten auch das, den gro­ßen Ro­man, ob­gleich er nie ei­nen »voll­ende­te«. Kaf­kas Ro­ma­ne sind ten­den­zi­ell un­end­lich, als sprach­li­che Ge­bil­de aber na­tur­ge­mäß end­lich: ein Wi­der­spruch, der sich nie­mals auf­he­ben läßt. Hier die kur­zen, viel­deu­ti­gen Pa­ra­beln, dort die rie­si­gen Frag­men­te. Und nichts in der Mit­te, kein ein­zi­ges wohl­kon­stru­ier­tes Werk, nur die Gip­fel­flü­ge und das Zer­schel­len am Bo­den, die an­hal­ten­de De­pres­si­on. Und da­zu die dau­ern­de Selbst­re­fle­xi­on, die Re­chen­schaft über die­se Pro­zes­se des Schrei­bens wie des Nicht­schrei­bens, und den an­de­ren Pro­zeß der ver­geb­li­chen, viel­leicht auch nur ein­ge­bil­de­ten, her­bei­ge­schrie­be­nen Lie­be zum Le­ben, zu ei­ni­gen Frau­en, von de­nen die am mei­sten um­wor­be­ne, Fe­li­ce Bau­er, über­haupt nicht zu ihm paß­te.

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