FAZ-Rhetorik* halt: Die »neue« Handke-Biographie »enthüllt« (gibt es auch eine alte, die es verschwiegen hat?), dass Handke »heimlich« bei R. K. war, als dieser bereits per Haftbefehl gesucht war. Kein Wort davon, dass die IFOR R. K. nicht verfolgte und sich dieser noch im Februar 1997 zu Wort meldetete und drohen konnte.
Es fehlt natürlich auch nicht der Hinweis auf die »proserbischen« Äusserungen Handkes und die »umstrittene« Grabrede (es waren, wie in der Biographie auch erwähnt wird, übrigens zwei). Dem Online-Artikel der FAZ ist ein Bild von Handkes Anwesenheit bei der Beerdigung Miloševićs beigefügt. Es trägt den Untertitel »In engem Kontakt.« Mit wem? Mit einem Toten? Oder gar mit dem damals schon über neun Jahre untergetauchten Karadžić?
Bernhard Judex: Thomas Bernhard. Epoche – Werk – Wirkung 2011 ist Thomas-Bernhard-Jubiläumsjahr. Eine Flut von Aufsätzen und Büchern dürfte zum 80. Geburtstag ins Haus stehen. Da ist es gut, im Vorfeld Bernhard Judex’ Buch über Werk und Wirkung des österreichischen Schriftstellers gelesen zu haben. Das Buch ist in fünf Kapitel unterteilt, die Schwerpunkte setzen und exemplarisch für Bernhards Leben (Kapitel 1) und Werk (Kapitel 2–5) stehen sollen. In der Werkbetrachtung bleibt Judex chronologisch, was sich bei Bernhard, der gewissen Entwicklungen unterworfen ist, durchaus anbietet. Zunächst wird die (sehr frühe) Lyrik , dann die Romane »Frost« und »Korrektur« sowie die Erzählungen »Die Mütze« und »Der Kulterer« repräsentativ für die Schaffensperiode bis 1975 behandelt. Von den Theaterstücken widmet sich Judex dem Erstling »Der Ignorant und der Wahnsinnige« und dem nach »Heldenplatz« wohl bekanntesten Stück »Der Theatermacher« eingehend. Vollkommen zu recht räumt er dann im vierten Kapitel den autobiografischen Erzählungen »Die Ursache«, »Der Keller«, »Der Atem«, »Die Kälte« und »Das Kind« (erschienen von 1975–82) den entsprechenden Raum ein. Für das Spätwerk werden dann »Die Auslöschung« und das Skandalon »Heldenplatz« untersucht.
Die Politiker, die ich bis jetzt erlebt habe (in Fleisch und Blut) erschienen mir fleischlos und blutleer, im Brustton gespielter Überzeugung quäkende Puppen; in immerwährender, gestikulierender, lippenbewegender Kommunikation befangen wie Debile, der Mund und die Augen vom permanenten Vortäuschen von Aufmerksamkeit für immer zu schiefen Parallelogrammen verkrüppelt, von Leibwächtern grundiert, deren stumpflauernde Teilnahmslosigkeit eher an ...
Andreas Maier: Das ZimmerSpätestens in den Kolumnen, die Andreas Maier für »Volltext« geschrieben hatte und die im Frühjahr gesammelt unter dem Titel »Onkel J.« erschienen waren, konnte man den »Heimatdichter« Maier in der Tradition eines Hermann Lenz, Peter Kurzeck oder Arnold Stadler entdecken. Maier als der Dichter der Wetterau, die inzwischen nur noch aus Ortsumgehungsstraßen zu bestehen scheint (dagegen hatte offensichtlich nie jemand demonstriert und auch das Fällen der Bäume erregte keine Gemüter). Dabei war der elegische Abgesang auf die Wetterau (und den Wichsbusch!), pointiert und fast ein bisschen polemisch vorgebracht, auch ein Ausdruck der Trauer um die Unmöglichkeit, wie jener Onkel J. zu altern. Das waren Protokolle der verpassten Gelegenheiten, Artikulationen eines vorenthaltenen Weiter-Lebens. Aber es blitzte auch ein virulentes Gefühl der Ausweglosigkeit auf, das sich dann zuweilen in eine Thomas-Bernhard-ähnliche Ironie stürzte, um die drohende Melancholie zu bannen. Natürlich konnte Maier in der kleinen Kolumnenform keinen großen epischen Entwurf vornehmen. In »Das Zimmer« holt er das nun auf verblüffende Weise nach. Den in einem solchen Projekt lauernden Bedrohungen (sentimentale Hingabe oder beißender Zynismus) erliegt Maier glücklicherweise nicht.
Roberto Bolaño: LumpenromanEine Ich-Erzählerin namens Bianca, inzwischen verheiratet und Mutter, erzählt von ihrer Vergangenheit als »Kriminelle«. Sie erzählt, wie sie nach dem tödlichen Unfall ihrer Eltern zusammen mit ihrem Bruder in Rom als Minderjährige weiterlebt. Sie erzählt, wie sie sich mit ihren kleinen Einkommen (sie ist in einem Friseurladen beschäftigt und wäscht dort vorzugsweise den Kunden den Kopf, er macht in einem Fitnessstudio sauber) überleben. Sie schaut Quiz-Shows im Fernsehen, ihr Bruder leiht Pornofilme aus der Videothek aus und verehrt eine Darstellerin. Sie erzählt, wie der Bruder eines Tages zwei Freunde mitbringt (die sie, mangels Namen, als Bologneser und Libyer bezeichnet). Sie erzählt, wie es nie mehr dunkel wird um sie herum, was sie nachts kaum schlafen lässt. Sie erzählt, wie sie, die Jungfrau, sich von den Freunden des Bruders beschlafen lässt und darauf achtet, nicht zu wissen, mit wem sie es gerade treibt. Sie erzählt, wie die drei Jungs mit ihren (vermutlich dubiosen) »Geschäften« scheitern und sie schließlich an den ehemaligen Filmstar und Bodybuilder Maciste verkuppeln. Von nun an besucht Bianca diesen Mann zweimal die Woche. Sie schlafen miteinander und er bezahlt dafür. Er ist blind. Und er soll einen Tresor haben. Diesen Tresor gilt es zu finden. Die vier wollen ihn, den blinden Mann, ausrauben. Aber der Tresor bleibt unauffindbar, Bianca gesteht dem dicken Maciste ihre Liebe, pflegt ihn mit Kamillentee, als er krank wird und verabschiedet sich kurz darauf von ihm. Gleichzeitig setzt sie die beiden Freunde des Bruders vor die Tür. Und Bianca kann wieder die Dunkelheit wahrnehmen.
Wie führt man sich als neuer Feuilleton-Chef eigentlich in eine Redaktion ein? Welche Akzente setzt man? Was ist programmatisch zu erwarten? Schwierig. Richard Kämmerlings, von der F.A.Z. kommend seit 1. Oktober Chef des Feuilletons leitender Kulturredakteur bei der »Welt«, versucht es erst gar nicht mit Originalität. Er belebt eine Leiche, die man eigentlich vor einigen Jahre recht gerne zu Grabe getragen glaubte. Kämmerlings darf jetzt endlich darüber schreiben. Er will den »großen deutschen Roman«. Wobei dies nicht ganz stimmt. Damit jeder sofort weiß, wo die Vorbilder zu suchen sind, wird das Vermisste sofort anglifiziert: »Wo bleibt die Great German Novel?« Wow. Was für ein Mut!
Natürlich ist Jonathan Franzen das aktuelles Vorbild. Kämmerlings sucht nach einem Äquivalent, welches einem Amerikaner den Deutschen erklärt. Dabei geht er stillschweigend von zwei Prämissen aus: Zunächst glaubt er, Franzens Buch »erkläre« dem tumben Deutschen die amerikanische Seele. Und zum anderen glaubt er, Literatur als Referenz für eine Entität oder Nation heranziehen zu können.
Olivier Sillig: Schule der GauklerSo ziehen der Gaukler und Apuleïde recht und schlecht über Land, von Kirchweihen zu kleinen Märkten, von Städten zu Dörfern, einen Monat nach dem anderen, durch eine Landschaft nach der anderen, die Tage werden kürzer, dann im Ameisenschritt wieder länger, und die Temperatur nimmt ab, Raureif, Platzregen, Dauerregen, Graupelschauer und Schnee. Sie fahren kreuz und quer, ohne Ziel, durch Kastilien, Aragon und dann durch das Königsreich Frankreich. Unruhen kriegerischer Banden, die ständig bewaffnet und wieder entwaffnet werden… […] Punktuelle, unerwartete, unvorhersehbare, unumgängliche Raubzüge, Plünderungen, Schrecken. Es ist Februar 1493. Der Gaukler Hardouin wurde von seinem langjährigen Assistenten Juan verlassen. Apuleïde ist ein in Alkohol konservierter Albino-Hermaphrodit, mit dem Hardouin herumreist und den er für Geld auf Jahrmärkten und Dorffesten präsentiert. Entschlossen, nie mehr einen Assistenten zu nehmen, kommt Hardouin in einer Februarnacht, einer eisigen Mondnacht, in eine zerstörte Scheune, die er verlassen wähnt. Dort liegen vierundzwanzig Kinder im Sterben.
Da ist es also wieder: Dieses Entsetzen der literarischen Welt, dass sich ihnen etwas anderes zeigt, als sie es in ihrer Villa Kunterbunt für möglich gehalten hätte. Der Schriftsteller Oskar Pastior war von 1961 bis 1968 Mitarbeiter des rumänischen Geheimdienstes Securitate. Noch weiss niemand genau, was er dort getan hat. Es steht aber zu befürchten, dass diese sogenannte Aufarbeitung noch hunderten von Bäumen das Leben kosten wird. Keine Nuance wird nicht ausgebreitet werden. Schon jetzt bekunden alle ihre »Betroffenheit«. Wer das nicht bei Drei pflichtschuldigst abgeliefert hat, droht Amelie-Fried-mässig boykottiert zu werden (wobei das ja eher Ehre als Pein ist). Besonders »betroffen« ist natürlich Herta Nobelpreisträgerin Müller, die mit Pastior an ihrem Buch »Atemschaukel« bis zu dessen Tod gearbeitet hatte. Da war der Securitate-Dienst schon mehr als 40 Jahre vorbei.
Pastior war 1968 im Westen geblieben. Als reiche dies nicht. Als genüge dieses selbstgewählte Exil nicht als Beleg für die Verzweiflung. Als würde diese von Pastior vermutlich aus Scham verschwiegene Mitarbeit irgendetwas fundamental ändern.