Der schüch­ter­ne Blick auf die Pen­si­ons­gren­ze

Ein Freund hat­te mir ei­nen Text ge­schickt, den ich über­se­hen hät­te, denn er steckt hin­ter ei­ner so­ge­nann­ten »Be­zahl­schran­ke«. Ich neh­me an, er woll­te mich an­sta­cheln, aber weil er mich ganz gut kennt, leg­te er mir nicht na­he, ei­ne Re­plik zu ver­fas­sen, denn er weiß, dass ich das dann ge­ra­de nicht ma­che. Ich er­in­ner­te mich dun­kel. Am Sonn­tag hat­te der schei­den­de Bach­mann­preis-Ju­ror Hu­bert Win­kels die­sen Text ganz kurz er­wähnt. Es han­delt sich um Ri­chard Käm­mer­lings’ »Zehn Grün­de, war­um Li­te­ra­tur im­mer be­deu­tungs­lo­ser wird«, pu­bli­ziert in der »Welt«.

Zu­nächst ein­mal ist in­ter­es­sant, dass in der Druck­ver­si­on und in der URL die Über­schrift ei­ne leicht an­de­re ist. Dort steht: »Zehn Grün­de, war­um un­se­re Li­te­ra­tur im­mer be­deu­tungs­lo­ser wird.« (Her­vor­he­bung von mir.) Der Un­ter­schied ist nur auf den er­sten Blick mar­gi­nal. Das Pro­no­men »un­se­re« er­hebt ei­nen Be­sitz­an­spruch auf das, was man dort be­han­delt. Gleich­zei­tig nimmt es den Le­ser mit in das ima­gi­nä­re Boot. Es wird ei­ne Ge­mein­schaft be­schwo­ren. Und dann er­hebt es sei­nen Ver­fas­ser (und die Boots­in­sas­sen) als ei­ne Art Rich­ter.

Die »zehn Grün­de« ent­pup­pen sich bei nä­he­rer Lek­tü­re als ei­ne Zu­sam­men­stel­lung hin­läng­lich be­kann­ter Krit­te­lei­en, leicht ge­würzt mit dys­to­pi­schem Un­ter­ton, ei­ner Pri­se Ver­gan­gen­heits­ver­klä­rung und ei­nem kräf­ti­gen Schuss Co­ro­na-Wür­ze.

Der er­ste der Grün­de, war­um »un­se­re« Li­te­ra­tur im­mer be­deu­tungs­lo­ser wird ist, laut Käm­mer­lings, die »Buch­mes­se oh­ne Ver­la­ge«. Die­se wür­den die Frank­fur­ter Buch­mes­se im Herbst »im Stich las­sen«. »Buch­hal­ter­köp­fe« hät­ten die Macht über­nom­men. Dass es im Be­trieb ei­ne gro­ße An­zahl Men­schen gibt, die sich auch ei­ni­ge Mo­na­te nach ei­ner viel­leicht halb­wegs über­stan­de­nen Pan­de­mie nicht zehn Stun­den täg­lich in schlecht­durch­lüf­te­ten Mes­se­hal­len auf­hal­ten wol­len, kommt dem Au­tor nicht in den Sinn.

Es wird noch läp­pi­scher, wenn er dann vom »Schwei­gen der Au­toren« spricht. Nein, er meint nicht die fast un­zähl­ba­ren »Co­ro­na-Ta­ge­bü­cher«, die das Netz in den letz­ten Mo­na­ten über­schwemmt ha­ben. Er meint »Of­fe­ne Brie­fe« von Au­toren, bei­spiels­wei­se ge­gen das Schlie­ßen von Buch­hand­lun­gen, ge­gen Ama­zons Ver­sand­prio­ri­tä­ten­li­nie und die Ab­sa­ge der Leip­zi­ger Buch­mes­se. Nun, wer je­mals in Leip­zig war und nicht nur an Ver­lags­stän­den für ein Stünd­chen sei­ne Schnitt­chen und Wein ge­nos­sen hat, kann nur froh sein, dass die­se Mes­se aus­ge­fal­len ist. Egal, Käm­mer­lings be­schwört Frisch, Pe­ter Weiss und den »jun­gen Wal­ser«, die in ähn­li­cher Si­tua­ti­on si­cher­lich da­mals ei­nen »Marsch auf den Bon­ner Kanz­ler­bun­ga­low an­ge­führt hät­ten.«

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Wie­der­be­le­bungs­ver­such an ei­ner Lei­che

Wie führt man sich als neu­er Feuil­le­ton-Chef ei­gent­lich in ei­ne Re­dak­ti­on ein? Wel­che Ak­zen­te setzt man? Was ist pro­gram­ma­tisch zu er­war­ten? Schwie­rig. Ri­chard Käm­mer­lings, von der F.A.Z. kom­mend seit 1. Ok­to­ber Chef des Feuil­le­tons lei­ten­der Kul­tur­re­dak­teur bei der »Welt«, ver­sucht es erst gar nicht mit Ori­gi­na­li­tät. Er be­lebt ei­ne Lei­che, die man ei­gent­lich vor ei­ni­gen Jah­re recht ger­ne zu Gra­be ge­tra­gen glaub­te. Käm­mer­lings darf jetzt end­lich dar­über schrei­ben. Er will den »gro­ßen deut­schen Ro­man«. Wo­bei dies nicht ganz stimmt. Da­mit je­der so­fort weiß, wo die Vor­bil­der zu su­chen sind, wird das Ver­miss­te so­fort an­gli­fi­ziert: »Wo bleibt die Gre­at Ger­man No­vel?« Wow. Was für ein Mut!

Na­tür­lich ist Jo­na­than Fran­zen das ak­tu­el­les Vor­bild. Käm­mer­lings sucht nach ei­nem Äqui­va­lent, wel­ches ei­nem Ame­ri­ka­ner den Deut­schen er­klärt. Da­bei geht er still­schwei­gend von zwei Prä­mis­sen aus: Zu­nächst glaubt er, Fran­zens Buch »er­klä­re« dem tum­ben Deut­schen die ame­ri­ka­ni­sche See­le. Und zum an­de­ren glaubt er, Li­te­ra­tur als Re­fe­renz für ei­ne En­ti­tät oder Na­ti­on her­an­zie­hen zu kön­nen.

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