Wie­der­be­le­bungs­ver­such an ei­ner Lei­che

Wie führt man sich als neu­er Feuil­le­ton-Chef ei­gent­lich in ei­ne Re­dak­ti­on ein? Wel­che Ak­zen­te setzt man? Was ist pro­gram­ma­tisch zu er­war­ten? Schwie­rig. Ri­chard Käm­mer­lings, von der F.A.Z. kom­mend seit 1. Ok­to­ber Chef des Feuil­le­tons lei­ten­der Kul­tur­re­dak­teur bei der »Welt«, ver­sucht es erst gar nicht mit Ori­gi­na­li­tät. Er be­lebt ei­ne Lei­che, die man ei­gent­lich vor ei­ni­gen Jah­re recht ger­ne zu Gra­be ge­tra­gen glaub­te. Käm­mer­lings darf jetzt end­lich dar­über schrei­ben. Er will den »gro­ßen deut­schen Ro­man«. Wo­bei dies nicht ganz stimmt. Da­mit je­der so­fort weiß, wo die Vor­bil­der zu su­chen sind, wird das Ver­miss­te so­fort an­gli­fi­ziert: »Wo bleibt die Gre­at Ger­man No­vel?« Wow. Was für ein Mut!

Na­tür­lich ist Jo­na­than Fran­zen das ak­tu­el­les Vor­bild. Käm­mer­lings sucht nach ei­nem Äqui­va­lent, wel­ches ei­nem Ame­ri­ka­ner den Deut­schen er­klärt. Da­bei geht er still­schwei­gend von zwei Prä­mis­sen aus: Zu­nächst glaubt er, Fran­zens Buch »er­klä­re« dem tum­ben Deut­schen die ame­ri­ka­ni­sche See­le. Und zum an­de­ren glaubt er, Li­te­ra­tur als Re­fe­renz für ei­ne En­ti­tät oder Na­ti­on her­an­zie­hen zu kön­nen.


Die­se Prä­mis­sen sind von ei­ner fast kind­li­chen Ein­falt. Der gro­ße Ge­sell­schafts- oder Epo­che­ro­man als Ge­schichts- und Men­ta­li­täts­un­ter­richt in äs­the­ti­scher Form. Als gä­be es nicht schon ge­nug Rea­lis­mus in der deutsch(sprachig)en Li­te­ra­tur. Wei­ter: Käm­mer­lings hul­digt – ganz dem Zeit­geist ge­mäss – den ame­ri­ka­ni­schen Fern­seh­se­ri­en. Kei­ne sper­ri­gen so­zio­lo­gi­schen Ana­ly­sen mehr, son­dern der bel­le­tri­sti­sche Ro­man, die au­then­ti­sche Fern­seh­se­rie als In­stanz, als Bot­schaf­ter. Aus­drück­lich be­zieht sich Käm­mer­lings üb­ri­gens auf das »deut­sche«, nicht das »deutsch­spra­chi­ge«. Öster­reich und die Schweiz sind ihm po­li­tisch zu an­ders (wie ab­fäl­lig er dann die­ses Na­me­drop­ping be­treibt). Er strebt den ge­samt­deut­schen Ro­man an und ob­wohl er ihn er­wähnt, lässt er Tell­kamps »Turm« dann of­fen­sicht­lich nicht als sol­chen gel­ten, wo­bei er dem Au­tor den Ehr­geiz nicht ab­spricht.

Die deut­schen Schrift­stel­ler, die auf­ge­zählt wer­den, ge­nü­gen den An­for­de­run­gen nicht. In ei­nem Satz stellt er zwar die »Stär­ken« der deut­schen Li­te­ra­tur her­aus (»im Hi­sto­ri­schen, in der Be­schwö­rung des Ver­gan­ge­nen, im mi­kro­sko­pisch ge­nau­en Blick auf das Al­ler­klein­ste«), ver­wirft dies je­doch als »Re­cher­che-Li­te­ra­tur« mit dem »Hang zum Mu­sea­len, zum Ar­chiv, zur Vi­tri­ne.« Ein Dik­tum, dass auch Fünf­zehn­jäh­ri­ge hät­ten tref­fen kön­nen, die das al­les für »zu schwie­rig« hal­ten und ih­re Über­for­de­rung mit Ab­leh­nung spei­sen oder es schlicht­weg für ver­al­tet er­klä­ren.

»Das wie­der­ver­ei­nig­te Deutsch­land hat sei­nen Chro­ni­sten noch nicht ge­fun­den« stellt Käm­mer­lings im Brust­ton der Über­zeu­gung fest. Man braucht kei­ne gro­ßen hell­se­he­ri­schen Qua­li­tä­ten um pro­gno­sti­zie­ren zu kön­nen, dass es die­sen »Chro­ni­sten« ver­mut­lich auch in den näch­sten zwan­zig Jah­ren nicht ge­ben wird bzw. ihn in der ge­wünsch­ten Form viel­leicht gar nicht ge­ben kann.

In Käm­mer­lings’ Traum spie­gelt sich näm­lich ei­ne Sehn­sucht, die dis­pa­ra­te Ge­sell­schaft- und Kul­tur­ent­wür­fe, ein We­sens­merk­mal der Mo­der­ne, nicht zur Kennt­nis nimmt. Wenn er schon den deutsch­spra­chi­gen Kul­tur­raum ver­engt auf das »deut­sche« re­spek­ti­ve das »ost­deut­sche« – wie soll dann als Bei­spiel für ei­ne zwei­hun­der­te Jah­re ge­wach­se­ne Ein­wan­de­rungs­kul­tur wie die USA ein äqui­va­len­ter Ro­man ent­ste­hen kön­nen? Wor­aus speist sich die An­nah­me, dass Fran­zens Fa­mi­lie in ir­gend­ei­ner Form re­prä­sen­ta­tiv für die USA ist? Da macht man sich ernst­haft Sor­gen um Käm­mer­lings’ Ame­ri­ka-Bild.

Wie ein Leh­rer, der das Ta­lent sei­nes Schü­lers da­durch mo­ti­vie­ren möch­te, in­dem er ihm ei­nen klei­nen Vor­schuss sei­ner Er­war­tun­gen gibt, wer­den die Na­men nur so her­aus­ge­schleu­dert: Hett­che, Goetz, Cle­mens Mey­er, der schein­bar un­ver­meind­li­che In­go Schul­ze. ‘Mensch Leu­te, Ihr könnt’s doch’ scheint sein Zu­ruf zu sein. Und all die­je­ni­gen, die den Ro­man oder An­sät­ze da­zu längst pu­bli­ziert ha­ben und gar nicht oder kaum in den »gro­ßen Feuil­le­tons« be­spro­chen wer­den, weil die dor­ti­gen Le­se­knech­te längst aus­schließ­lich auf die kom­mer­zi­el­len Kam­pa­gnen der Ver­la­ge ab­fah­ren, schüt­teln den Kopf, zer­rei­ßen ih­re Ma­nu­skrip­te oder bei­ßen in die Tisch­plat­te.

Den Ro­man, den Käm­mer­lings und all die an­de­ren Kla­ge­wei­ber und ‑ker­le wün­schen, wird kaum oder gar kei­nen Ver­le­ger fin­den oder er wird ver­schwin­den im Wust der Neu­erschei­nun­gen. Das deut­sche (!) Feuil­le­ton lei­stet sich lie­ber 25 Be­spre­chun­gen von Fran­zen oder Grass als da­für je­weils ei­nen neu­en, un­be­kann­ten, sper­ri­gen, ha­ne­bü­chen­den, schreck­li­chen, fürch­ter­li­chen, wun­der­ba­ren Ro­man ei­nes Un­be­kann­ten. Das ist ih­nen ver­mut­lich zu an­stren­gend, den sie müss­ten ihn ent­decken, le­sen und be­spre­chen. Und er wä­re viel­leicht gar nicht so rea­li­stisch, gar nicht so jour­na­li­stisch, son­dern – oh je – an­spruchs­voll! Und es könn­te dann sein, dass sie nicht mehr über die aus­blei­ben­de »Gre­at Ger­man No­vel« schwa­dro­nie­ren müss­ten…

22 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Viel­leicht seh­nen sich Käm­mer­lings & Co. nach die­sem Gro­ßen Deut­schen Ro­man nur, weil sie schon seit Jah­ren um­sonst die Text­bau­stei­ne für den un­ver­meid­li­chen Ver­riss in der Schub­la­de hin und her schie­ben. Denn na­tür­lich wer­den sie es an­ders er­lebt ha­ben, als sie es zu le­sen be­kom­men wer­den.

    Was hal­ten Sie denn von der drei­tei­li­gen »Be­stands­auf­nah­me« in der ZEIT?

  2. Den Ver­dacht, dass die Text­bau­stei­ne für den Ver­riss des an­geb­lich er­sehn­ten »gro­ßen deut­schen Ro­mans« schon vor­be­rei­tet sind, he­ge ich auch.
    Was die viel­leicht nicht »ganz gro­ßen«, aber ori­gi­nel­len, ni­veau­vol­len, gut ge­schrie­be­nen – und vom Feuil­le­ton weit­ge­hend igno­rier­ten – deutsch­spra­chi­gen Ro­ma­ne an­geht: ich fürch­te, sie fal­len der al­te Feuil­le­tons-Faust­re­gel für Bü­cher nicht-eta­blier­ter Au­toren zum Op­fer: »Gut ge­macht und gern ge­le­sen? Das wär’ nichts für uns ge­we­sen.« Denn dann ist we­der ein saf­ti­ger Ver­riss noch ein Hoch­ju­beln ei­nes an­geb­lich »un­ver­stan­den« Bu­ches mög­lich.

  3. Ich darf drauf auf­merk­sam ma­chen.
    Käm­mer­lings am­tiert nicht als neu­er Feuil­le­ton­chef der »Welt«.

    »Ein­mal Pro­sa mit al­les bit­te«. Im Jar­gon der Dö­ner­bu­de, ist das doch ei­gent­lich ein schö­nes Bild – ge­ra­de weil man weiß, wie uto­pisch der Wunsch nach zu­viel Ein­la­ge sein kann, wenn’s ans Auf­es­sen geht. Dass »al­les« auch für für ei­nen ge­gen­warts­s­at­ten Ro­man zu­viel sein kann, lässt Käm­mer­lings ja durch­blicken, wenn er sagt, dass das so­zio­lo­gi­sche Er­zäh­len wo­mög­lich längst in an­de­ren Me­di­en statt­fin­det, et­wa in Se­ri­en. Die­se The­se hat er na­tür­lich schon in di­ver­sen FAZ-Ar­ti­keln vor­ge­bracht, z.B: hier

    Die Sehn­sucht da­nach, Ge­sell­schaft im Ge­samt­ta­bleau auch wei­ter­hin als Ro­man an­zu­tref­fen, fin­de ich trotz­dem le­gi­tim, un­ab­hän­gig von den sub­jek­ti­ve Ein­schät­zun­gen dar­über, wie wahr­schein­lich das heu­te ge- oder miss­lin­gen mag. Was den po­li­ti­schen Ro­man be­trifft, sagt Rai­nald Goetz ja (neu­lich im ZEIT-Ma­ga­zin), Gün­ter Ban­nas ha­be ihm die­ses Gen­re un­mög­lich ge­macht.

    Und sind wir selbst in Deutsch­land über­haupt die Rich­ti­gen, um die Fra­ge nach der »Gre­at Ger­man No­vel« der ge­gen­wart zu be­ant­wor­ten? Span­nend wä­re es doch mal zu fra­gen, an wel­che Ro­ma­ne aus Deutsch­land sich das Aus­land hält: Dann war und bleibt der er­folg­rei­che deut­sche Ro­man­ex­port letzt­lich im­mer hi­sto­ri­scher Stoff, sie­he Süskind, sie­he Schlink, sie­he Kehl­mann. Und dann hat Käm­mer­lings schon recht, dass man ei­nem Ame­ri­ka­ner da­mit nicht das Deutsch­land von heu­te er­klä­ren kann.

  4. @Marcuccio
    Zu­nächst ein­mal: Okay, mein Feh­ler. Käm­mer­lings ist »nur« »lei­ten­der Re­dak­teur«. Und sei­ne Hom­mage an »The Wire« hat­te ich ge­le­sen, wo­bei ich mir dar­über na­tur­ge­mäss kein Ur­teil er­lau­ben kann, weil ich die Se­rie nicht ge­se­hen hat­te. Dass ei­ne Fern­seh­se­rie je­doch den um­fas­sen­den Ge­sell­schafts­ro­man so­zu­sa­gen »er­set­zen« kann, das zweif­le ich an. (Oder es ist der­art zeit­lich ge­spreizt wie die­se deut­schen »Tatort«-Folgen, die heu­te tat­säch­lich ein Pan­ora­ma Deutsch­lands zei­gen kön­nen.)

    Zur Sa­che: Ich glau­be nicht, dass ei­ne Mo­der­ne in ei­nem Ro­man­pro­jekt heu­te um­fas­send zu spie­geln ist. Das ist un­ge­fähr so wie mit dem letz­ten Uni­ver­sal­ge­lehr­ten (das soll ja Leib­niz ge­we­sen sein [den die Leu­te heut­zu­ta­ge fast nur mit Kek­sen as­so­zi­ie­ren]). Wer wird heu­te noch so be­zeich­net? Ste­phen Haw­king? Viel­leicht. Aber je­der weiss, dass der auch nicht al­les wis­sen kann.

    Ein biss­chen er­in­nert das auch an die Dis­kus­si­on die En­de des 19./zu Be­ginn des 20. Jahr­hun­derts um die »Nach­fol­ge« von Goe­the ge­führt wur­de. Da wa­ren Na­men im Ge­spräch, die heu­te kaum noch je­mand kennt (bspw. Wil­helm Raa­be, Ru­dolf Huch).

    Dies war mög­lich, weil – und da sprichst Du ei­nen sehr wich­ti­gen Punkt an, den ich un­er­wähnt ließ – der zeit­li­che Ab­stand erst die »rich­ti­ge« Ein­ord­nung mög­lich mach­te. Goe­the war ja zu sei­ner Zeit kei­nes­falls un­um­strit­ten (man spiel­te auf dem Thea­ter lie­ber Kot­ze­bue). Erst ein, zwei Ge­ne­ra­tio­nen spä­ter zeig­te sich das Ge­nia­li­sche. Es war dann im 20. Jahr­hun­dert Tho­mas Mann, der sich durch An­ver­wand­lun­gen in sei­nen Bü­chern zum Goe­the-Nach­fol­ger sti­li­sier­te. Et­was, was wir heu­te eher als un­ver­schämt emp­fin­den wür­den.

    Tat­säch­lich ob­liegt es viel­leicht wirk­lich nicht an uns, die Welt- bzw. »Deutsch­hal­tig­keit« des zeit­ge­nös­si­schen Ro­mans zu be­ur­tei­len. In­so­fern wä­re Käm­mer­lings Sehn­sucht auch fast über­flüs­sig, weil man die Schön­heit ei­nes Ge­mäl­des nicht aus zehn Zen­ti­me­ter Ent­fer­nung ge­nie­ssen kann.

    Tell­kamps »Turm« kommt dem Wunsch des Gro­ßen Ro­mans da­hin­ge­hend na­he, weil er ei­nen fast her­me­ti­schen Raum be­schreibt – eben die­ses Dresd­ner Bil­dungs­bür­ger­vier­tel und die »Par­al­lel­ge­sell­schaft«, die dort auf klein­stem Raum als »An­ti-DDR« exi­stiert. Et­was an­de­res ma­chen die Ame­ri­ka­ner aber in ih­ren Mit­tel­stands­ro­ma­nen auch nicht. Auch sie zei­gen mehr oder we­ni­ger ge­lun­ge­ne Mi­lieu­stu­di­en. So er­fah­re ich von Up­dike sehr viel vom ame­ri­ka­ni­schen Mit­tel­stand, dto. bei Ford. Fran­zens »Kor­rek­tu­ren« emp­fand ich als zu­wei­len sehr aus­la­dend; ins­ge­samt we­nig Er­kennt­nis­se (in die­ser Hin­sicht). Zu Roth sa­ge ich jetzt nichts.

    Aber un­ab­hän­gig da­von, ob man die­se Art des Er­zäh­lens schätzt oder nicht: Wer hier­aus sein Ame­ri­ka­bild kon­stru­iert, wird im­mer ent­schei­den­de Nu­an­cen nicht mit­be­kom­men. New York oder Ne­wark ist nicht Mon­ta­na oder ein Dorf in Co­lo­ra­do. Und das ist kein Vor­wurf an die­se Bü­cher, son­dern der Un­über­sicht­lich­keit ge­schul­det, die in ei­nem sol­chen An­spruch liegt. (Als Ge­gen­bei­spiel fal­len mir Sjöwall/Wahlöö der 1970er Jah­re ein, die tat­säch­lich ver­such­ten, das Schwe­den der da­ma­li­gen Zeit »ab­zu­bil­den«.)

    Und was pas­siert, wenn ein Buch – un­be­ab­sich­tigt oder nicht? – deut­sche Mit­tel­stands-Be­find­lich­kei­ten der Jetzt­zeit spie­gelt? Was ist mit Bü­chern wie Ste­phan Tho­mes »Grenz­gang« oder auch Hen­nigs »Die Ängst­li­chen«? Sie wer­den des Pro­vin­zia­lis­mus ge­schol­ten!

    Ei­nen An­sporn wür­de ich das ge­ra­de nicht nen­nen.

  5. Man meint ei­nen ab­ge­spreiz­ten klei­nen Fin­ger bei der Er­wäh­nung von »The Wire« zu se­hen.

    Käm­mer­lings Hom­mage, die mir bis­her ent­gan­gen war, be­schreibt in idea­ler Wei­se mein Emp­fin­den. Ein­mal dar­in, dass ich mich zwin­gen muss­te, je­den Tag nur ei­ne Fol­ge zu se­hen, die all­ge­gen­wär­ti­gen Jun­kies der Se­rie spie­gelnd. An­de­rer­seits in der Be­wer­tung, dass »The Wire« nur an der Ober­flä­che ei­ne sehr span­nen­de und in al­len Be­lan­gen pro­fes­sio­nel­le Fern­seh­se­rie ist, son­dern vor al­lem ein So­zio­gramm der Stadt Bal­ti­more im 21.Jahrhundert und ei­ne mit fei­nem Pin­sel ge­zeich­ne­te Cha­rak­te­ri­sie­rung ame­ri­ka­ni­scher Le­bens­läu­fe ist.

    Es ist so­viel über die­se Se­rie ge­schrie­ben wor­den, dass ich hier nicht wei­te­re Su­per­la­ti­ve ver­brei­ten muss. Ich ha­be zu­min­dest in den letz­ten zehn bis fünf­zehn Jah­ren nichts ge­le­sen, was in sei­ner Kom­ple­xi­tät und Ge­nau­ig­keit »The Wire« das Was­ser rei­chen könn­te. Der Tat­ort ist da­ge­gen Ba­stei-Lüb­be und Roth der Er­zäh­ler ba­na­ler Wohl­stands­kin­der. Die gro­ße Form kann man den fünf »Sea­sons« si­cher­lich nicht ab­spre­chen.

    Wer sich auf die Se­rie ein­las­sen möch­te, tut ver­mut­lich gut dar­an, sich mit den ame­ri­ka­ni­schen Struk­tu­ren (z.B. bei USA er­klärt ) noch­mal ver­traut zu ma­chen.

  6. @Jimmy McNul­ty – Kein ge­spreiz­ter Fin­ger...
    ...wirk­lich nicht. Im Ge­gen­satz zu den pro­fes­sio­nel­len Kul­tur­men­schen steht mir nur lei­der nicht die Zeit zur Ve­fü­gung, auch noch ame­ri­ka­ni­sche Se­ri­en an­zu­schau­en.

    Wenn Ih­nen »The Wire« mehr ge­ge­ben hat als die Li­te­ra­tur der letz­ten fünf­zehn Jah­re müss­te man min­de­stens die­se an­satz­wei­se ken­nen. (Ihr Ur­teil zu Roth tei­le ich; mei­ne »Tatort«-metapher hie­ße die­se Se­rie über­frach­ten – auch hier ha­ben Sie recht.) Und dann stellt sich im­mer noch die Fra­ge, ob ich So­zio­gram­me in fik­tio­na­ler Form le­sen, se­hen möch­te bzw. ob mir dies ge­nügt. (War­um ich da­zu et­was im Vor­feld zu le­sen ha­be, ver­ste­he ich auch nicht.)

  7. Das Pro­blem mit der Zeit hat wohl je­der
    und er­for­dert im­mer ei­ne Ab­wä­gung. Man kann sich z.B. fra­gen, ob man den neu­en Grass wirk­lich ge­le­sen ha­ben muss, reicht die Short­list oder muss es gar die Longlist sein. Ich är­ge­re mich jetzt noch, mei­ne Zeit mit Tell­kamp ver­tan zu ha­ben.

    Das klei­ne Wort »noch« hat mich et­was ir­ri­tiert. War­um soll­te man dann noch ei­nen Bo­la­ño le­sen. Na, weil es in­ter­es­sant ist, den Ho­ri­zont er­wei­tert oder gar ein­fach Spaß macht. Und weil »The Wire« eben wirk­lich den Blick auf das gro­ße Gan­ze rich­tet, das Ge­fü­ge der mo­der­nen Zi­vi­li­sa­ti­on pla­stisch macht, oh­ne die gan­zen Tra­gö­di­en der Ein­zel­schick­sa­le aus dem Blick zu ver­lie­ren. Und das noch mit viel Wär­me.

    Die Ur­sprungs­fra­ge war ja, ob es heu­te noch die »Gre­at american/german no­vel« gibt, ob z.B. Fran­zen dies wie­der ge­schafft hat (ha­be ich mit Ver­gnü­gen ge­le­sen). Ich den­ke es gibt sie nicht, aber »The Wire« kommt dem für vie­le ame­ri­ka­ni­sche Städ­te schon sehr na­he.

    Die Vor­ab­in­for­ma­ti­on ist üb­ri­gens ein­fach nö­tig, da sonst vie­les un­ver­ständ­lich bleibt. Beim ame­ri­ka­ni­schen Zu­schau­er kann das Wis­sen über die Struk­tu­ren vor­aus­ge­setzt wer­den. Au­ßer­dem hilft es ge­gen die Mi­cha­el Moo­res ge­feit zu sein und be­grün­den zu kön­nen war­um Bush ein schlech­ter Prä­si­dent war.

  8. Jetzt bin ich ge­spannt, was Sie zu Ra­disch sa­gen!
    Es ge­hör­te näm­lich ei­gent­lich, was sie im Feuil­le­ton-Auf­ma­cher sagt, zu dem von Ih­nen glos­sier­ten The­ma da­zu... wenn es den Käm­mer­ling nicht ganz er­setz­te.

    Ich fin­de näm­lich, Sie spricht ei­nen der ent­schei­den­den Punk­te an: Die (als im Ver­schwin­den kon­sta­tier­te) »Li­te­r­a­ri­zi­tät« als ei­ne der zu ver­mis­sen­den Pri­mär­qua­li­tä­ten von Li­te­ra­tur – die sich eben nicht in die­sem Ge­läu­fig­keits­ton des an­geb­lich nor­ma­len Spre­chens, die sich nicht in Un­ter­hal­tung­for­ma­ten er­schöp­fen soll­te. (Je­de »be­herrsch­te« Spra­che ist eben auch ei­ne – im dop­pel­ten Sin­ne.)

    Und das geht über die (von ei­nem Vor­red­ner so ge­nann­ten) »Stil­fra­gen« doch ziem­lich hin­aus. Ich fürch­te nur, sol­cher­art Li­te­r­a­ri­zi­tät – die be­wusst-sprach­li­che Ver­fas­sung al­so als Teil des Kunst­werks ver­stan­den, als Wil­len da­zu – ist wie­der mal et­was Alt­mo­di­sches, wo­mög­lich tat­säch­lich im­mer­hin ehe­mals »Deut­sches« (oder Eu­ro­päi­sches – die Fran­zo­sen et­wa da aus­zu­neh­men wä­re igno­rant).

    Die Fern­seh­se­ri­en soll­te man dann wirk­lich den Ame­ri­ka­nern über­las­sen, das kön­nen sie nun mal bes­ser. Ob­wohl ich per­sön­lich die­se Se­ri­en be­langslos fin­de, schei­nen sie doch vie­len et­was über das »mo­der­ne« Er­zäh­len an sich zu sa­gen – das »plot-dri­ven« Er­zäh­len­de al­so, ja auch ei­ne wei­te­re Qua­li­tät von Li­te­ra­tur. (Das wor­an sich – und von Ra­disch be­klagt: sich eben da­mit be­gnü­gend – auch die Deut­schen ver­su­chen.)

    Aber »al­les« reicht eben noch lan­ge nicht. Viel­leicht für den Buch­markt, aber nicht für Li­te­ra­tur.

     
    [EDIT: 2010-10-02 14:15]

  9. So, jetzt I. R. ge­le­sen...
    Es er­setzt den Käm­mer­lings nicht; die Bei­trä­ge er­gän­zen sich m. E. so­gar ein we­nig.

    Wo­bei sie durch­aus dis­pa­rat schreibt – im­mer dann, wenn sie auch die ei­ge­ne Zunft an­greift (»kin­der­ge­burts­tags­fröh­li­che Li­te­ra­tur­kri­tik«; »Packungs­bei­la­ge zu den be­stehen­den Harm­lo­sig­kei­ten«) ver­liert sie für mich den Fa­den. Die­se selbst­kri­ti­schen Ele­men­te wir­ken et­was zu pflicht­schul­digst, als das sie ehr­lich ge­meint sind. Der Vor­wurf der Kri­tik als blo­ße In­halts­an­ga­be ist nicht neu – kein ge­rin­ge­rer als Reich-Ra­nicki hat­te sie im­mer wie­der vor­ge­bracht. Aber: Wer hat­te denn jah­re­lang bei der »Zeit« mit­zu­be­stim­men, wel­che Re­zen­sen­ten dort schrei­ben durf­ten? Und: Da spricht ei­ne Kri­ti­ke­rin von »Packungs­bei­la­gen«, die in 3:30 Vi­deo­tips rund zwei Drit­tel In­halts­an­ga­be ab­gibt und »Harm­lo­sig­kei­ten« für das Le­se­volk emp­fiehlt, die ich schon 25 x an­ders­wo ge­le­sen, ge­hört und be­wor­ben sah.

    Ein biss­chen er­in­nern mich sol­che »Je­re­mia­den« (!) an Fuss­ball­ma­na­ger, die den feh­len­den Nach­wuchs be­kla­gen, aber mit Mil­lio­nen­ein­käu­fen sel­ber da­für sor­gen, dass Spie­ler aus den Ju­gend­mann­schaf­ten erst gar nicht zum Zu­ge kom­men. Da heisst es dann mit ver­blüf­fen­der Nai­vi­tät: »Die Li­te­ra­tur­kri­tik ist mei­stens nicht ehr­lich«. Ra­disch ver­misst das äs­the­ti­sche Ur­teil, die Wür­di­gung von Spra­che und Stil. Aus­ge­rech­net sie, die He­ge­mann im Fe­bru­ar wenn nicht ve­he­ment, so doch äu­ßerst wohl­wol­lend be­trach­tet hat­te. Aus­ge­rech­net sie, die – ich blei­be da­bei – den »Li­te­ra­tur­club« zum blo­ßen Mei­nungs­fo­rum prak­tisch ab­ge­schafft hat (frei­lich mit Aus­nah­men in den letz­ten 2–3 Sen­dun­gen).

    Für mich ist die­se Ent­rü­stung zu sehr ge­heu­chelt, dass ich sie glau­ben könn­te.

    Oh Gott, die näch­ste Fol­ge wird von Ur­su­la März, Ra­dischs Bu­sen­freun­din, ver­fasst. DAS ist auch ei­ne Zu­stands­be­schrei­bung der ak­tu­el­len Mi­se­re der Li­te­ra­tur­kri­tik...

    [EDIT: 2010-10-02 18:03]

  10. An­schwel­len­der Bocks­ge­sang
    Das ver­ei­nig­te Deutsch­land braucht al­so sei­ne Na­tio­nal­e­po­pöe, na­tür­lich »mit al­les bit­te«: Ein biss­chen Ho­lo­caust, aber nicht zu viel, da­für reich­lich Wen­de und DDR so­wie als Sät­ti­gungs­bei­la­ge die Atom­kraft­wer­kel­auf­zeit­ver­län­ge­rung und die Patch­work-Fa­mi­lie. Und fer­tig ist die Ma­ster The­sis, mit der sich ei­ner un­se­rer Erb­in­tel­lek­tu­el­len aus der Kul­tur­ka­ste in die Her­zen der Feuil­le­ton-Pro­fes­so­ren schrei­ben kann.

    Dass gu­te Li­te­ra­tur oft nur aus­schnitt- und bruch­stück­haft ist und man für ei­ne um­fas­sen­de In­for­ma­ti­on über ei­ne Epo­che bes­ser zu ei­ner ge­schichts­wis­sen­schaft­li­chen Mo­no­gra­phie greift: Ge­schenkt. Aber dass Käm­mer­lings in ei­nem Land, in dem das Ver­lags­we­sen und das Feuil­le­ton ori­gi­nel­le Fe­dern gar nicht auf­kom­men lässt, es sei denn, sie sind dy­na­stisch als Kul­tur­schaf­fen­de le­gi­ti­miert; dass er in ei­nem sol­chen Land zu ei­nem gro­ßen Wurf auf­for­dert, spot­tet jeg­li­cher ernst­haf­ten Wür­di­gung.

    Ganz ab­ge­se­hen da­von: War­um muss es der gro­ße deut­sche Ro­man sein? War­um nicht der gro­ße Ro­man tout court? Die wirk­lich gro­ßen Schrift­stel­ler ha­ben ih­re Stof­fe im­mer der Zeit und dem Raum ent­rückt und sind des­halb über­all und al­le­weil les­bar ge­blie­ben. Oder traut Käm­mer­lings den zeit­ge­nös­si­schen Au­toren der­ar­ti­ges (rea­li­sti­scher­wei­se) von vorn­her­ein nicht zu?

  11. Ich hal­te die deutsch­spra­chi­ge, zeit­ge­nös­si­sche Li­te­ra­tur für bes­ser als ihr Ruf (spe­zi­ell im ei­ge­nen »Land«). Man mag dar­an den­ken, dass ein Kaf­ka zu sei­ner Zeit auch na­he­zu un­be­kannt war. Die Mas­sen­pro­duk­ti­on ver­schafft ja nur die Il­lu­si­on, al­les be­kannt zu ma­chen. Na­tür­lich wür­de ein Kaf­ka (um bei die­sem Bei­spiel zu blei­ben; es gä­be ‑zig an­de­re) heu­te ver­legt, aber ob er auch ent­deckt wür­de, ist frag­lich. Das ist das, was Sie mit den Ver­kru­stun­gen des Be­triebs an­spre­chen.

  12. Pop­pi­ger, pep­pi­ger Pa­ter­na­lis­mus
    Lie­ber Herr Keu­sch­nig, für Ih­ren Satz:
    Das deut­sche (!) Feuil­le­ton lei­stet sich lie­ber 25 Be­spre­chun­gen von Fran­zen oder Grass als da­für je­weils ei­nen neu­en, un­be­kann­ten, sper­ri­gen, ha­ne­bü­chen­den, schreck­li­chen, fürch­ter­li­chen, wun­der­ba­ren Ro­man ei­nes Un­be­kann­ten.
    wür­de ich ger­ne zum Cla­queur wer­den. Der saß.
    Da­bei, und nun könn­ten wir die Kla­ge­ker­le be­kla­gen, gäb es doch Po­ten­ti­al. Wenn es von Herrn Käm­mer­lings heißt: »zog er wie­der in sei­ne Wahl­hei­mat Köln und be­gann ei­ne li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­li­che Dis­ser­ta­ti­on, die wie ihr Ge­gen­stand, die Au­to­bio­gra­phie in der Mo­der­ne, not­wen­di­ger­wei­se Frag­ment blei­ben muss­te.« dann steckt da zwar auch schon je­ner locker­flocki­ge Ton drin, dem auch der in­kri­mi­nier­te Ar­ti­kel eig­net, und die ge­flü­stert-wis­per­te Dis­ser­ta­ti­on riecht so FAZ-hoch­feuil­le­ton, aber trotz­dem könn­te man noch ei­ne ge­wis­se Lei­dens­fä­hig­keit für mög­lich hal­ten, die auch den gro­ßen Ro­man nicht über­sieht, der eben­falls Frag­ment bleibt, weil er an sei­nen heh­ren Zie­len gran­di­os schei­tern muss. Aber nein, statt­des­sen kippt er auch ins Seich­te. War­um denn nur? Er sieht es doch aus: Jo­na­than Fran­zen na­tür­lich wie­der. Aber statt dass er ihn in der Luft zer­reißt, dass ei­ner mal sagt, die­se tol­len, über­mäch­ti­gen Na­men, die er da auf­fährt.. wär’n ja »nett« und die schrie­ben be­stimmt auch »net­te« Bü­cher, aber die »Lein­wand« tä­te es auch. – »John Up­dike, Ri­chard Ford, Don De Lil­lo, Da­vid Fo­ster Wal­lace.« Al­so sor­ry, dass ich da nicht crum­ble to dust vor Ehr­furcht. Selbst Schuld, wenn man Ro­che und He­ge­mann hoch­jazzt, dann sollt man auch da­zu ste­hen. Da­bei gibt’s so­viel Zeugs mit Sub­stanz, dass man gar nicht da­zu kom­men wür­de, das al­les zu le­sen, aber so’n shit kriegt man vom Feuil­le­ton ja net, die ham im­mer nur das ver­schnit­te­ne, bil­li­ger Re­import.

  13. Dem­naechst soll­te ich es nicht un­ter­las­sen, mich aus lau­ter Faul­heit nicht ein­zu­log­gen, da­mit ich sol­che naecht­li­chen Ein­las­sun­gen noch kor­ri­gie­ren koenn­te.

    Nach dem Ein­tip­pen er­schien mir dann noch kla­rer, was mir und viel­leicht auch Ih­nen so auf­ge­sto­ssen ist an dem Ar­ti­kel: Es geht nur noch um Mar­ken. Dass er Kehl­mann, Ro­che und He­ge­mann als »Kan­di­da­ten« nennt, zeigt doch nur zu deut­lich, dass man sich erst ueber Auf­la­ge, Prei­se, Skan­da­le die Zu­las­sung er­wirbt. Nur der Markt­wert, das La­bel zaehlt. Selbst die schon sorg­fael­ti­ge Auf­zaeh­lung (auch vie­ler fuer mich un­be­kann­ter) Au­toren ge­raet dann zu ei­nem Schau­lau­fen der preis­ge­kroen­ten Pfer­de. ‘Mensch Leute[Gaeule], Ihr könnt’s doch’ scheint sein Zu­ruf zu sein.(wie Sie schrie­ben) Springt doch bit­te ein biss­chen hoe­her noch, fo­to­ge­ner, fuer Deutsch­land, hei­lig Kul­tur­land.

    Als ob das auch nur ei­nen Dich­ter mo­ti­vie­ren koenn­te, der es ernst meint mit sei­nem Werk. Ge­ra­de auch ein Bo­tho Strauss haet­te ver­mut­lich fuer je­man­den, der so kurz springt, nur Ver­ach­tung ueb­rig. Und Kaem­mer­lings ‘auf­ge­klaer­ter’ Rea­lis­mus wae­re wohl schon zu Zo­las Zei­ten an­ti­quiert ge­we­sen. Aber bit­te, viel­leicht kauf­te ja trotz­dem je­mand die­ses 1000seitige Rei­se­pro­spekt, das dem Aus­land »den« Deut­schen er­klaert – aber schrei­ben, schrei­ben wuer­de das wohl kei­ner wol­len.

    PS. Ge­ra­de fest­ge­stellt, dass Chri­sti­an Kracht Schwei­zer ist. Das ist doch sehr schoen, wo auch noch ein Oester­rei­cher die Hym­ne ge­schrie­ben hat.. ob er die dann auch zur heu­ti­gen »Na­ti­on« rech­net?

    PPS. Die Zeit wird ja ein­fach dar­ueber be­fin­den: In ein paar Jah­ren oder Jahr­zehn­ten wird man dann se­hen, was von den Fran­zens, Roths und Up­dikes bleibt... da ma­che ich mir doch jetzt nicht ins Hemd!

    PPPS. Be­schweigt das Feuil­le­ton ei­gent­lich das neue Buch von Hand­ke ein biss­chen? Bis­her ha­be ich nur ei­ne Re­zen­si­on in der Zeit ge­se­hen und eben die Ih­ri­ge ge­le­sen,.. und wie­der Lust be­kom­men die Hand­ke-Lek­tue­re end­lich wie­der auf­zu­neh­men – vie­len Dank!

  14. @Phorkyas
    Um mit dem letz­ten zu be­gin­nen: Hand­kes »Im­mer noch Sturm« ist schon sehr spe­zi­ell. Und na­tür­lich nicht grif­fig. Und nicht »hip«. Zu­dem ist es fast kein Ro­man, son­dern ein er­zähl­tes Stück. Die Öster­rei­cher be­spre­chen das mehr, weil es sie na­tür­lich mehr an­geht.

    Ich weiß nicht, wann Sie Ih­re Hand­ke-Lek­tü­re ab­ge­bro­chen ha­ben, aber wenn Sie ein­stei­gen wol­len, dann bes­ser mit der »Mo­ra­wi­schen Nacht«.


    Zu Käm­mer­lings:
    Na­ja, Bo­tho Strauß er­wähnt er nicht na­ment­lich, weil der na­tür­lich nie­mals auf die Idee kä­me ei­ne »GGN« zu schrei­ben, wo­bei ge­ra­de die Sum­me von Strauß’ Stücken und Er­zäh­lun­gen durch­aus ein Bild er­ge­ben könn­te.

    Das ver­rä­te­risch­ste At­tri­but ha­be ich im­mer bei El­ke Hei­den­reich ge­hört: Ein Buch soll­te »süf­fig« sein. Käm­mer­lings ist da nicht weit weg. Er kommt mir ein biss­chen vor wie ein Trai­ner, der Schach­spie­lern sagt, die könn­ten doch auch mal ganz gut Da­me spie­len.

  15. Die Hand­ke-Lek­tü­re fällt bei mir lei­der sehr schmal aus. Au­ßer »Kas­par«, noch zu Schul­zei­ten, und »Wunsch­lo­ses Un­glück«, glau­be ich mich nur noch an ei­ne Lek­tü­re zu er­in­nern, die ich für »Be­grü­ßung des Auf­sichts­ra­tes« hielt, was al­ler­dings mit den In­halts­an­ga­ben, die ich bis­her ge­se­hen hat­te nicht zu­sam­men­passt. – Bei der Dis­kus­si­on um die »Idyl­le« oder ei­ner ähn­li­chen hat­ten Sie mir glau­be ich, auch schon die Mo­ra­wi­sche Nacht emp­foh­len und der Buch­händ­ler hat un­ter­stütz­te dies auch, trotz­dem bin ich doch nur mit Noote­booms »Ri­tua­le« her­aus­ge­kom­men, wel­ches ich lei­der im­mer noch nicht wie­der­ge­le­sen ha­be. (In­so­fern das Stecken­blei­ben.. Aber viel­leicht er­folgt dem­nächst ein ähn­li­cher Spon­tan­kauf wie bei Steins »Lein­wand« mit an­schlie­ßen­der So­fort­lek­tü­re.)

    - Bo­tho Strauß er­wähn­te ich nur in Hin­blick auf Zeh­ners Ti­tel -

    »Süf­fig« ist gut. In der Tat er­scheint mir ein Groß­teil der er­folg­rei­chen Bü­cher oder gar Best­sel­ler die­ser Be­zeich­nung zu eig­nen. – Wo­bei ich ge­ra­de doch et­was zö­ge­re: Ver­stan­den als apet­ti­t­an­re­gend, so­zu­sa­gen den ei­ge­nen In­tel­lekt be­feu­ernd, müss­te man doch ge­ste­hen, dass je­der Le­ser be­müht sein soll­te, die für ihn »süf­fi­gen« Bü­cher aus­zu­wäh­len. (Be­frem­dend wä­re dann höch­stens, dass so ein gro­ßer Teil auf den glei­chen Ge­dan­ken­stoff ver­fällt, sich ei­ne sol­che Über­ein­kunft bil­det, jetzt doch wie­der un­be­dingt über Ve­ge­ta­ris­mus oder Um­welt­ka­ta­stro­phe zu de­bat­tie­ren – als hätt’ man das vor 20 Jah­ren nicht schon ge­tan – und die FAZ ist sich auch nicht zu schad’ an­dau­ernd Eis­bä­ren da­zu ab­zu­drucken... hach.) – Auch wenn dann die tat­säch­li­chen Ho­ri­zont­er­wei­te­run­gen, die ei­nen auf neue Ge­dan­ken­bah­nen len­ken, mehr die Zu­falls­pro­duk­te sein dürf­ten?

  16. »Süf­fig« ist ein Wort, dass ich nicht mag. Mei­ne Mut­ter nann­te sü­sse Wei­ne »süf­fig« und als ich ei­nen sol­chen dann mal pro­bier­te, war ich ab­ge­sto­ssen. Li­te­ra­tur, die nur »süf­fig« ist, ist lang­wei­lig. Et­was kann »ein­gän­gig« er­zählt sein, oder »zü­gig« oder »tem­po­reich« oder sonst­was. Aber »süf­fig« ist für mich der In­be­griff des tri­via­len Main­stream, der kei­ne Wi­der­ha­ken mehr zu­las­sen will, weil sie den Le­se­fluss stö­ren. »Le­se­fut­ter« (ein Wort, dass Hand­ke ge­le­gent­lich be­nutzt) ist oft, ja fast im­mer »süf­fig«. Aber dann meist nur Ge­brauchs­li­te­ra­tur.

    Hm, »Ri­tua­le« statt »Mo­ra­wi­sche Nacht«. Ich stau­ne.

  17. Ich ken­ne das Wort nur in Zu­sam­men­hang mit Bier: Ein süf­fi­ges Bier trinkt sich leicht und da­her schnell; es stellt kei­ne »An­sprü­che«, ist aber auch nicht schlecht, so dass man ein an­de­res woll­te – gut ge­eig­net um sich zu be­trin­ken (auf die Li­te­ra­tur ge­münzt: Ver­mut­lich nichts wor­an man wächst oder das blei­ben­den Ein­druck hin­ter­lässt, au­ßer den Rausch, der viel­leicht im Ge­dächt­nis bleibt...).

    Ein wo­mög­lich nicht ganz ge­rech­ter Ver­gleich: »Die Stra­ße« (The road) von Cor­mac Mc­Car­thy geht in die­se Rich­tung, ein un­ge­mein span­nen­des, at­mo­sphä­ri­sches Buch, das es aber (bei mir) nicht ge­schafft hat sich fest­zu­set­zen (man muss sich nicht ab­ar­bei­ten; aber das ge­lingt auch nicht je­dem Buch).

  18. @Metepsilonema
    Cor­mac Mc­Car­thy schießt ge­ra­de in den Lad­bro­kes-Quo­ten für den heu­ti­gen Li­te­ra­tur­no­bel­preis in die Hö­he. Er ist jetzt Fa­vo­rit.

  19. Viel­leicht war der er­ste Im­puls doch der rich­ti­ge­re. Vom Wein aus­ge­hend ist süf­fig für mich auch ne­ga­tiv be­setzt; das fie­se sue­sse Zeugs (hoech­stens als Fe­der­wei­sser noch er­trag­bar, aber dann ist es ja mehr so ein sue­sses Ge­traenk wie Ap­fel­schor­le oder Trau­ben­saft).

    Nur bin ich dann auf der As­so­zia­ti­ons­ket­te von der Ne­ga­ti­vi­taet ab­ge­rutscht. Das mit den Wi­der­ha­ken hat­te ich auch ueber­legt und es ist schon so, dass ich Bue­cher mehr Wert schaet­ze, die ich erst er­obern, er­rin­gen muss­te. Nur er­in­ner­te ich mich ge­ra­de wie­der an die Lein­wand und dann tauch­te ei­ne et­was ket­ze­ri­sche Fra­ge auf – Es pass­te ein­fach zu gut. Es wur­den Ro­ma­ne her­vor­ge­ho­ben (Mei­ster und Mar­ga­ri­ta), die ich auch wert­schät­ze, ueber die ye­von­ni­sche Welt zer­brech’ ich mir auch gern den Kopf und die Vor­grif­fe ent­fal­te­ten ei­nen Sog und gleich­zei­tig ließ der kla­re Stil ein ho­hes Le­se­tem­po zu.. be­reit ver­schlun­gen zu wer­den. Für an­de­re sind die Zi­chro­ni­schen Re­fle­xio­nen viel­leicht et­was er­mue­dend, aber für mich war es ge­nau mei­ne Ge­dan­ken­welt. Wä­re der Ro­man für mich viel­leicht schon ’süf­fig’? (Ich glau­be eher nein, aber das zu be­grün­den, fin­de ich schon nicht so ganz leicht.)

    Um wie­der (m)einen Lieb­lings­feind zu be­mü­hen dach­te ich auch an Kehl­mann. Der sei­ne Pro­sa wohl auch ge­ra­de an der an­gel­säch­si­schen ge­schult hat und für mich auch ge­ra­de wie die­se Best­sel­ler schreibt: leicht weg­les­bar, mit gu­ten Ein­fäl­len, geist­voll.. aber letzt­lich fol­gen­los. – Viel­leicht war es die­se Zwick­müh­le: Dass es eben auch gu­te, hand­werk­lich sau­be­re Pro­sa ist, und es nur mei­nem sub­jek­ti­ven Emp­fin­den ent­springt zu sa­gen, sie ha­be mir et­was wirk­lich Neu­es ge­bracht oder nicht? Aber man darf eben auch nicht in ei­nen völ­li­gen Re­la­ti­vis­mus ver­fal­len, auch wenn man die ei­ge­nen Wert­ur­tei­le ja nicht Ra­nicki-mä­ßig als päpst­li­che Bul­le ver­schicken muss,.. da be­ginnt dann eben der (in­ter­sub­jek­ti­ve) Dis­kurs(;

    PS. Da bin ich ja froh nur die Ver­fil­mung von »The Road« ge­se­hen zu ha­ben (ich glau­be, was die­se Art Dys­to­pie an­be­langt wür­de ich Au­sters »In the Coun­try of Last Things« doch be­vor­zu­gen – auch wenn ich mir über das Buch na­tür­lich ei­gent­lich kein Ur­teil an­ma­ßen kann)...

    PPS. Auch wenn die Dis­kus­si­on schon er­kal­tet ist und ich’s nicht über­stra­pa­zie­ren möch­te, hab’ ich mal was Ly­rik da­ge­gen­ge­setzt