Der Wil­le zum Nicht­wis­sen (2/9)

An­mer­kun­gen zu ei­ner Hand­voll le­gen­dä­rer Sät­ze

2 – Se­lig die Ar­men im Gei­ste...

»Se­lig die Ar­men im Gei­ste, denn ih­rer ist das Him­mel­reich«: ei­ner der zahl­rei­chen be­rühm­ten Sät­zen, die Chri­stus zu­ge­schrie­ben wer­den. Auch der Hei­land hat sich al­so für Dumm­heit, für gei­sti­ge Be­schränkt­heit aus­ge­spro­chen. Wer aufs Rä­so­nie­ren ver­zich­tet, kommt leich­ter ins Him­mel­reich als die Welt­klu­gen, die Ver­nünft­ler, wie Lu­ther sie spä­ter nen­nen soll­te. Frei­lich, wir ha­ben da ein klei­nes, aber fei­nes Über­set­zungs­pro­blem: Wel­che Art von Gei­stig­keit ist im Mat­thä­us-Evan­ge­li­um ei­gent­lich ge­meint? Eher die re­li­giö­se, der man im Deut­schen das Ad­jek­tiv »geist­lich« zu­ord­net, oder die verstandes­mäßige, mit der wir uns in er­ster Li­nie welt­li­chen Din­gen zu­wen­den? Im grie­chi­schen Text steht das No­men »Pneu­ma«. Da die alt­grie­chi­sche Spra­che ein vor­christ­lich ge­präg­tes Zei­chen­sy­stem ist, soll­te man doch an­neh­men, daß der Ver­fas­ser des grie­chi­schen Tex­tes die zwei­te Be­deu­tung im Sinn hat­te (Lu­ther ver­wen­det in sei­ner Über­set­zung das Wort »geist­lich«). Al­so Leu­te, die nicht zu den Klu­gen, den Stu­dier­ten, den Schrift­ge­lehr­ten ge­hö­ren. Sieht man sich den Kon­text an, fügt sich die­ser Ty­pus in die Rei­he der Se­lig­prei­sun­gen, die die Sanft­mü­ti­gen, Barm­her­zi­gen, Fried­lie­ben­den be­tref­fen.

An an­de­rer Stel­le er­klärt Chri­stus die Kin­der zu den be­vor­zug­ten Be­woh­nern des Him­mel­reichs. Ein kind­li­cher Geist, ein ein­fa­ches, nicht ver­bil­de­tes Ge­müt kann oh­ne Wenn und Aber er­löst wer­den. Liest man sich durch die Ge­schich­ten vom Men­schen­sohn, so fällt auf, daß er be­vor­zugt Au­ßen­sei­ter um sich schar­te, dar­un­ter so­gar Ver­bre­cher und Pro­sti­tu­ier­te, ne­ben Lei­den­den und Ge­brech­li­chen. Die Un­wis­sen­den und gei­stig Minder­bemittelten pas­sen da ins Bild. Der My­sti­ker Mei­ster Eck­hart fand für die von Chri­stus ge­mein­te Ar­mut fol­gen­de For­mel: »Ein ar­mer Mensch ist, wer nichts will, nichts weiß und nichts hat.« Arm im Gei­ste sind für Eck­hart je­ne, die ab­ge­löst sind vom Wis­sen, nach­dem sie sich in ih­rer geist­li­chen Exi­stenz da­von frei­ge­macht ha­ben. Er ge­steht zu, daß es im welt­li­chen Le­ben um Lie­ben und Er­ken­nen geht, doch der Schritt zur Er­leuch­tung set­ze den Ver­zicht auf die­se mensch­li­chen Fä­hig­kei­ten vor­aus. Man kann sich kaum ei­nen schär­fe­ren Ge­gen­satz zu Eck­harts Ide­al­fi­gur vor­stel­len als den smart­phone­ab­hän­gi­gen di­gi­tal na­ti­ve, der zu je­der Ta­ges- und Nacht­zeit Such­ma­schi­nen, En­zy­klo­pä­dien, In­for­ma­ti­ons­dien­ste, Über­set­zug­s­al­go­rith­men be­nutzt. Frei­lich, man kann das auch an­ders­rum se­hen: Der di­gi­ta­li­sier­te Mensch braucht gar nichts zu wis­sen, da die mei­sten in­tel­lek­tu­el­len Funk­tio­nen von Ma­schi­nen und Rech­nern über­nom­men wor­den sind. In ge­wis­ser Wei­se ist der Smart­phone-Ma­ni­ker ein Ar­mer im Geist, der Gei­stig­keit und Ge­dächt­nis von sich ab­ge­trennt hat und sich nun ei­gent­lich hö­he­ren Din­gen zu­wen­den könn­te – wenn er nur Lust da­zu hät­te. Tat­säch­lich wen­det er sich bil­li­gen Ver­gnü­gun­gen zu, al­so welt­li­chen For­men der Dumm­heit.

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Der Wil­le zum Nicht­wis­sen (1/9)

An­mer­kun­gen zu ei­ner Hand­voll le­gen­dä­rer Sät­ze

1 – Ich weiß, daß ich nichts weiß.

»Ich weiß, daß ich nichts weiß«, ei­ner der be­rühm­te­sten Sät­ze der Gei­stes­ge­schich­te: im Grun­de ge­nom­men klingt die­se Aus­sa­ge nach ei­ner Dumm­heit. Was soll die­ses Ein­geständnis des Nicht­wis­sens, an­geb­lich ge­äu­ßert vom an­geb­lich klüg­sten Mann des grie­chi­schen Al­ter­tums (dem Ora­kel von Del­phi zu­fol­ge)? Ist ja in Ord­nung, wenn er nichts weiß, aber soll­te das Stre­ben ei­nes Klu­gen nicht da­hin ge­hen, et­was zu wis­sen, auch wenn er sich der ei­ge­nen Be­schränkt­hei­ten und der Re­la­ti­vi­tät al­les Fest­ge­stell­ten be­wußt sein mag? Der be­rühm­te Satz klingt wei­ter, und er klingt jetzt ein we­nig nach ei­nem trot­zi­gen Ich will-auch-gar-nichts-wis­sen! Ist die­ser Satz nicht, ge­nau­er be­trach­tet, ei­ne blo­ße Va­ria­ti­on des Pa­ra­do­xons des Lüg­ners, der die Wahr­heit sagt, wenn er be­haup­tet, er lü­ge, und lügt, wenn er be­haup­tet, er sa­ge die Wahr­heit? Wie kann denn der Nicht­wissende et­was wis­sen (näm­lich daß er nichts weiß)? Of­fen­sicht­lich han­delt es sich hier um ei­nen So­phis­mus, und tat­säch­lich wird die­ser Satz dem So­kra­tes le­dig­lich zugeschrieb­en, ge­rüch­te­wei­se, man fin­det ihn nir­gend­wo in schrift­li­chen Auf­zeich­nun­gen, we­der bei Pla­ton noch bei Xe­no­phon.

Für Mi­chel de Mon­tai­gne war So­kra­tes ein gro­ßes Vor­bild: nicht nur ein scharf­sin­ni­ger Den­ker, son­dern ei­ner, der stets den rich­ti­gen Blick, die an­ge­mes­se­ne Hal­tung zu den Din­gen und Wech­sel­fäl­len des Le­bens und zu­letzt auch zum Tod fand – fast so et­was wie der idea­le Mensch. Den­noch zi­tiert Mon­tai­gne in sei­nen weit­läu­fig mä­an­dern­den Es­sais den So­kra­tes zu­ge­schrie­be­nen Satz vom Nicht­wis­sen kein ein­zi­ges Mal. Er un­ter­läßt es nicht aus quel­len­kri­ti­scher Vor­sicht, son­dern, wie ich ver­mu­te, weil er in die­ser Form nicht zur Ge­stalt des Phi­lo­so­phen zu pas­sen scheint. Wohl aber fin­det sich an zen­tra­ler Stel­le im Werk Mon­tai­gnes wie auch in auch in sei­nem Le­bens­kon­text, an dem Ort näm­lich, an dem sein Werk ent­stand, im Bü­cher­zim­mer oben im Turm des Schlos­ses von Ey­quem, ein ähn­li­cher, wenn auch viel schlich­te­rer Satz: »Que scay-je?« Al­so ei­ne Fra­ge, kei­ne Be­haup­tung, ver­ewigt im Bla­son des Gei­stes­adels un­ter ei­ner Waa­ge; ich glau­be nicht, daß dies ein Zu­fall oder blo­ßes Or­na­ment ist.

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Vor­sich­ti­ge An­deu­tung

Letz­te Wo­che schick­te mir Leo­pold Fe­der­mair neun Tex­te. Es sind An­mer­kun­gen zu »le­gen­dä­ren Sät­zen« wie »Ich weiß, daß ich nichts weiß« oder aber das Mot­to die­ser Sei­te hier »Den­ken ist vor al­lem Mut«. Fe­der­mair trans­for­miert die­se Sät­ze in die heu­ti­ge Zeit und zeigt wie sie un­ter den Be­din­gun­gen des di­gi­ta­len Zeit­al­ters zu neu­er und auch – zu­wei­len – an­de­rer Be­deu­tung kom­men. Ich wür­de die­se Tex­te ger­ne in neun Tei­len über zwei, drei Mo­na­te ver­teilt pu­bli­zie­ren, zu­mal sie auch ge­nü­gend Stoff für Dis­kus­si­on bie­ten. Mit der Hand­voll re­gel­mä­ssi­ger Kom­men­ta­to­ren könn­ten sich zu­sätz­li­che in­ter­es­san­te Aspek­te er­ge­ben.

Fast zur glei­chen Zeit wur­de ich je­doch auf ei­ne an­de­re Sa­che auf­merk­sam, der ich bis­her kaum Be­deu­tung bei­gemes­sen hat­te. En­de Mai die­sen Jah­res tritt die so­ge­nann­te »Da­ten­schutz-Grund­ver­ord­nung« (DSGVO) der Eu­ro­päi­schen Uni­on in kraft. Bis­her hat­te ich die­ses Da­tum als für mich eher ir­rele­vant ein­ge­schätzt. Ein biss­chen goog­len hier und dort zeigt mir al­ler­dings, dass die Sa­chen nicht so ein­fach lie­gen. Es ist näm­lich keines­wegs so, dass die­ses Ver­ord­nungs­mon­strum nur die gro­ßen In­ter­net­an­bie­ter trifft. Auch Blogs wer­den da­von be­trof­fen sein. Et­wa, wenn es um die­sen neu­en Fe­tisch der Ent­äu­sse­rungs­kul­tur, das so­ge­nann­te »Recht auf Ver­ges­sen«, geht. Kom­men­ta­to­ren (meist Rechts­an­wäl­te) in­ter­pre­tie­ren dies so, dass am En­de auch der Blog­be­trei­ber es er­mög­li­chen muss, dass je­mand bei­spiels­wei­se sei­ne Kom­men­ta­re je­der­zeit lö­schen kön­nen muss – ob nach drei Mi­nu­ten oder eben auch in vier Jah­ren. IP- und E‑­Mail-Adres­sen müs­sen eben­falls ir­gend­wann ge­löscht wer­den. Oder es müs­sen eben Tools ein­ge­rich­tet wer­den, die dies er­mög­li­chen. Tools, die Word­Press nicht im An­ge­bot hat. Tools, die im­mer mehr Ar­beit ma­chen, weil sie nach Up­dates auch im­mer an­ge­passt wer­den müs­sen.

Na­tür­lich hat je­der das Recht sei­ne Mei­nung zu än­dern. Aber war­um muss dann ein Kom­men­tar­strang, in dem se­ri­ös dis­ku­tiert wur­de und der Re­kurs nimmt auf Kom­men­ta­re an­de­rer, aus­ein­an­der­ge­ris­sen wer­den? Kann man nicht ein­fach in ei­nem an­de­ren Kom­men­tar schrei­ben, dass man heu­te ei­ne an­de­re Mei­nung ver­tritt? Und war­um soll es plötz­lich ge­setz­lich ge­re­gelt wer­den, ob ich ei­ne Mail-Adres­se ei­nes meist mir un­be­kann­ten Kom­men­ta­tors wün­sche oder nicht?

Aber wenn ich den An­for­de­run­gen die­ser Ver­ord­nung nicht ge­nü­ge dro­hen Ab­mah­nun­gen – und es wird si­cher­lich ei­ne Men­ge »An­wäl­te« ge­ben, die im Ju­ni mit ih­ren dement­sprechenden »Ge­winn­ma­xi­mie­rungs­pro­gram­men« be­gin­nen wer­den. Set­ze ich mich dem aus? Schon die Im­pres­sumpflicht, die ei­ne Adres­se ver­lang­te statt ei­ner E‑Mail, stört mich. (Dass es im­mer noch Ak­teu­re gibt, die sich hier schein­bar fol­gen­los ent­zie­hen kön­nen, ist be­mer­kens­wert.) Und auch dass ich be­stimm­te Ana­ly­se­pro­gram­me auf An­ra­ten mei­nes »Ma­schi­ni­sten« ent­fernt ha­be (Ab­mahn­ge­fahr: man konn­te im Quell­text er­ken­nen, wer sie – halb il­le­gal schein­bar – ver­wen­det), stör­te mich schon sehr. War­um soll ich, der mit Müh und Not 30, 40 Le­ser pro Bei­trag er­reicht, in vor­aus­ei­len­dem Ge­hor­sam päpst­li­cher als der Papst sein? Den­noch ha­be ich es ge­macht. Wer mich jetzt liest – ich ha­be kei­ne Ah­nung, es sei denn, es kom­men­tiert je­mand. Die neue Ver­ord­nung macht aus je­den Blog­ger je­doch erst ein­mal ei­nen wü­ten­den Da­ten­samm­ler. Ein blo­ßer Hin­weis auf das, was man tut (und nicht tut) ge­nügt nicht mehr. Pa­ter­na­lis­mus halt, an­ge­ord­net von Idio­ten, die kei­ne Ah­nung ha­ben, was sie da­mit an­rich­ten.

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Jo­sef Wink­ler: Laß dich heim­gei­gen, Va­ter, oder Den Tod ins Herz mir schrei­be

Josef Winkler: Laß dich heimgeigen, Vater, oder Den Tod ins Herz mir schreibe
Jo­sef Wink­ler: Laß dich heim­gei­gen, Va­ter, oder Den Tod ins Herz mir schrei­be

Man glaubt es kaum, aber vor fast 40 Jah­ren be­trat der Kärnt­ner Schrift­stel­ler Jo­sef Wink­ler mit sei­nem wuch­tig-ex­pres­si­ven »Menschenkind«-Roman erst­ma­lig die li­te­ra­ri­sche Büh­ne. In ra­scher Fol­ge er­schie­nen »Der Acker­mann aus Kärn­ten« und »Mut­ter­spra­che« – die »Ackermann«-Trilogie war ge­schaf­fen. Der »Acker­mann« ist des Ich-Er­zäh­lers Va­ter, aber es war na­tür­lich im­mer auch ein Syn­onym für ei­ne bäu­er­li­che Welt, ka­tho­lisch ge­prägt, für ei­ne ge­wis­se Form von Rück­stän­dig­keit ste­hend. Der Er­zäh­ler in die­sen Ro­ma­nen schuf Satz­mäander um Satz­mä­an­der, be­herrsch­te die Kunst der Re­pe­ti­ti­on, über­ließ (li­te­ra­risch) rein gar nichts dem Zu­fall und ver­stand es den Le­ser gleich­zei­tig in Mit­leid, Wut, Ekel und Fas­zi­na­ti­on zu ver­set­zen.

Selbst in ge­hö­ri­ger Ent­fer­nung von Ka­me­ring, je­nem omi­nö­sen Kind­heits­dorf, das mehr ist als nur ein Ort, son­dern für ei­ne Men­ta­li­tät steht, fand der Ich-Er­zäh­ler nir­gend­wo Ru­he oder viel­leicht so­gar Welt­ver­trau­en – we­der in Ita­li­en (hier ent­stan­den zwei Mei­ster­wer­ke) oder Me­xi­ko noch in In­di­en bei der fast my­stisch-kon­tem­pla­ti­ven Be­ob­ach­tung der Be­stat­tungs­ri­ten. Über­all wird er von sei­nem »Ver­fol­gungs­wahn« ein­ge­holt.

Bei al­lem Fu­ror und der spür­ba­ren exi­sten­ti­el­len Not­wen­dig­keit des Prot­ago­ni­sten, sich sei­nen Kind­heits­de­for­ma­tio­nen schrei­bend zu ex­or­zie­ren kann ein ge­nau­es Stu­di­um vor al­lem der im Kärnt­ner Mi­lieu an­ge­sie­del­ten Bü­cher nicht ver­heh­len, dass hier bis­wei­len ei­ne lust­vol­le Selbst­vik­ti­mi­sie­rung in­sze­niert wird.

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Esther Kin­sky: Hain

Esther Kinsky: Hain
Esther Kin­sky: Hain

»Ge­län­de­ro­man« nennt Esther Kin­sky ih­ren neu­en Ro­man »Hain«. Und na­tür­lich horcht der Kin­sky-Le­ser auf: Wird es so et­was wie »Am Fluß« vor drei Jah­ren, als ei­ne Ich-Er­zäh­le­rin ih­ren Auf­ent­halt in der Lon­do­ner Pe­ri­phe­rie nicht nur er­zähl­te, son­dern in die­se Land­schaft ein­tauch­te, ja ein­sank. Da­bei han­del­te es sich nicht um im land­läufigen Sinn schö­ne, son­dern eher das, was man »Un-Or­te« nen­nen könn­te. Or­te, die häss­lich und eben doch auf ei­ne be­son­de­re Wei­se fast idyl­lisch sind, weil das wahr­neh­men­de Er­zäh­len sie tran­szen­diert. Un­ter­legt wur­den die­se Evo­ka­tio­nen mit Er­in­ne­run­gen an die Kind­heit. Bei­des fin­det man auch in »Hain«. Aber­mals quar­tiert sich die Ich-Er­zäh­le­rin in ei­ne pe­ri­phe­re Land­schaft ein. Dies­mal ist es die klei­ne Ge­mein­de Ole­va­no Ro­ma­no in Ita­li­en, öst­lich von Rom, ein, wie es heißt, »leb­lo­ses Dorf«. Sie be­wohnt ein Haus »auf ei­ner An­hö­he«. »M.«, der Le­bens­part­ner der Er­zäh­le­rin, ist zwei Mo­na­te und ein Tag zu­vor be­er­digt wor­den. »M.« ist Mar­tin Cham­bers, der im Ok­to­ber 2014 starb. Kin­sky-Le­ser ken­nen das Krim-Ta­ge­buch der bei­den, wel­ches Kin­sky al­lei­ne be­en­den muss­te.

Es ist al­so An­fang 2015. Die Er­zäh­le­rin (die ich trotz der fast er­drücken­den Über­einstimmungen nicht Esther Kin­sky nen­nen möch­te) be­ginnt zu er­zäh­len, von ih­rer Um­ge­bung, dem Fried­hof, auf den sie freie Sicht hat, dem Markt­platz, den ein­sa­men afri­ka­ni­schen Händ­lern, der Metz­ge­rei. Ei­ne Gleich­för­mig­keit, ein Einswer­den mit der Land­schaft mag sich zu­nächst nicht ein­stel­len: »Je­den Mor­gen war mir, als müss­te ich al­les neu ler­nen.« Das be­ginnt mit dem Was­ser­ko­chen und setzt sich im Se­hen fort. Über die suk­zes­si­ve to­po­gra­phi­sche Ein­ver­nah­me wird das Le­ben neu kon­sti­tu­iert: »Ich schau­te auf das Dorf und auf die Ebe­ne, die sich bis hin zu der Ket­te schlum­mern­der Vul­kan­ber­ge er­streck­te, hin­ter de­nen ich mir die Kü­ste dach­te, ob­wohl ich wuss­te, dass sie wei­ter ent­fernt war. Die Aus­deh­nung der Ebe­ne war ei­ne op­ti­sche Täu­schung, denn ich hat­te selbst er­lebt, dass vor Val­mon­to­ne ein klei­ner Hü­gel­rücken la, doch sah ich die­ses fla­che Ge­län­der, in dem zwi­schen Ge­höl­zen und Hai­nen klei­ne Dör­fer und Ge­höf­te, Werk­stät­ten und Su­per­märk­te und ei­ne der Oli­ven­baum­krank­heit we­gen der­zeit ge­schlos­se­ne Öl­müh­le la­gen, ger­ne als ein zu­sam­men­hän­gen­des Becken an, ei­ne Art ehe­ma­li­gen See, des­sen Was­ser sich wer­weiß­wann und wer­weiß­wo­hin da­von­ge­macht hat­te…«

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Di­stan­zie­rung

Im Rah­men der Dis­kus­si­on um die so­ge­nann­te »Cau­sa Tell­kamp« und die ha­sti­ge Di­stan­zie­rung von Tell­kamps Ver­lag Suhr­kamp von des­sen Ge­sag­tem in der Podiums­diskussion gibt es ei­nen in­ter­es­san­ten Text des Deutsch­land­funk-Re­dak­teurs Jan Drees. Über­schrie­ben ist er mit »Wer sich di­stan­ziert, drückt sich vor dem Dia­log«. Im Text sel­ber fin­det sich die­se Aus­sa­ge in leicht ab­ge­schwäch­ter Form: »Die Di­stan­zie­rung ist ei­ne Ab­wehr­hal­tung, die in den mei­sten Fäl­len kei­nen Re­spekt mehr kennt. Die Di­stan­zie­rung will sich mit dem An­de­ren als An­de­ren nicht mehr aus­ein­an­der­set­zen, son­dern le­dig­lich mar­kie­ren: ‘Ich bin an­ders, re­den will ich aber nicht.’ «

Die The­se die­ses Tex­tes ist schlüs­sig. Wer in die me­dia­len Er­re­gungs­strö­me hin­ein­horcht fin­det plötz­lich die »Di­stan­zie­run­gen« zu Hauf. Drees sel­ber ver­wäs­sert die Dif­fe­renz zum Wi­der­spruch et­was. Wenn er et­wa Olaf Scholz’ Ge­gen­re­de zu den Hartz-IV-The­sen von Jens Spahn als »Di­stan­zie­rung« sieht statt als Wi­der­spruch.

Tat­säch­lich ist sau­ber zu tren­nen zwi­schen Wi­der­spruch und Di­stan­zie­rung. Der Wi­der­spruch ist ein dis­kur­si­ves Mit­tel. Mit ihm wird (im Ide­al­fall, al­so wenn er ar­gu­men­ta­tiv statt­fin­det) ei­ne De­bat­te wei­ter­ge­führt. Wich­tig wä­re, dass Jour­na­li­sten, al­so die Gate­kee­per ei­nes sol­chen meist über Ban­de (vul­go: Me­di­en) statt­fin­den­den Dis­kur­ses ih­re ei­ge­nen Meinung(en) nicht in die Be­schrei­bung der De­bat­te ein­flie­ßen las­sen.

Di­stan­zie­rung ist – da trifft Drees ins Schwar­ze – das Ge­gen­teil des Dis­kur­ses. Wer sich di­stan­ziert, ver­stösst den/diejenige(n) aus dem Dis­kurs­raum als per­so­na-non-gra­ta. Ei­ne ku­sche­li­ge Ge­mein­schaft übt sich mit der Di­stan­zie­rung in ei­ne (vir­tu­el­le) Ver­ban­nung. Die Di­stan­zie­rung gibt zu ver­ste­hen: Hier ist je­mand nicht (mehr) sa­tis­fak­ti­ons­fä­hig. Die Diskurs-»Differenz«, von der Drees schreibt, ist un­über­brück­bar ge­wor­den.

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Sprich, Be­ton!

Sprich, Be­ton! Von San­der Ort Ei­nen Gruß an den mu­ti­gen Tell, so­zu­sa­gen von Turm zu Turm — mei­ner hier in der Ban­lieue aus El­fen­bein­asche, sprich Be­ton. Ei­nen Wink, ei­nen rat­lo­sen Wink zum schil­lern­den Grün­bein, an dem ich das Knie-Beu­­gen sah, um das es im Dra­ma ging. (Was sa­ge ich?— g e h t).

Go­ya und die Zeit­fä­den

Ein Künst­ler, der durch Be­harr­lich­keit, Un­be­irr­bar­keit und na­tür­lich durch Fleiß im Lauf der Jah­re im­mer bes­ser, tie­fer, dü­ste­rer wur­de. Bes­ser ist dü­ste­rer?

Ja. Viel­leicht nur durch Nach­denk­lich­keit, viel­leicht ist das die wich­tig­ste Ei­gen­schaft. Durch­drin­gung, das braucht Zeit, oft Jahr­zehn­te. Be­son­ders, wenn man aus ei­nem ab­ge­le­ge­nen Dorf stammt, wo es nichts zu se­hen gibt. Das muß man erst ein­mal ver­ste­hen: nichts zu se­hen.

Aber Die Er­schie­ßung der Auf­stän­di­schen ist doch ei­ne Art Ge­le­gen­heits­ma­le­rei, fast wie Jour­na­lis­mus, Il­lu­stra­ti­on der jüng­sten Er­eig­nis­se...

Francisco de Goya: "Die Erschießung der Aufständischen" - Francisco De Goya de España [Public domain], via Wikimedia Commons (Quelle)
Fran­cis­co de Go­ya: »Die Er­schie­ßung der Auf­stän­di­schen« –
Fran­cis­co De Go­ya de Es­pa­ña [Pu­blic do­main], via Wi­ki­me­dia Com­mons (Quel­le)

Ja, aber ver­tieft, und da­zu ge­hört Vor­be­rei­tung. Viel­leicht brin­gen glück­li­che Um­stän­de die Zeit­fä­den zu­sam­men, time li­nes, sagt man heu­te, so daß ein Werk ent­ste­hen kann. Man­che Künst­ler brau­chen kei­ne Ent­wick­lung, sie sind von An­fang an die, die sie sind. Für die an­de­ren bleibt nur Ent­wick­lung, und die geht lang­sam, sie braucht Zeit. Die Er­schie­ßung über­schrei­tet als Kunst­werk die Zeit, sie zeigt die Sol­da­ten als be­lang­lo­se Mör­der, als un­ter­ge­ord­ne­te Graue Her­ren, als Funk­tio­nä­re, die das Le­ben be­herr­schen (und letzt­lich aus­rot­ten) wol­len, wo es sich nicht be­herr­schen läßt. Sie sind ge­fühl­los, ge­sichts­los, zei­chen­los. Für sie gibt es nur ein ein­zi­ges Zei­chen: Feu­er!

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