Im Rahmen der Diskussion um die sogenannte »Causa Tellkamp« und die hastige Distanzierung von Tellkamps Verlag Suhrkamp von dessen Gesagtem in der Podiumsdiskussion gibt es einen interessanten Text des Deutschlandfunk-Redakteurs Jan Drees. Überschrieben ist er mit »Wer sich distanziert, drückt sich vor dem Dialog«. Im Text selber findet sich diese Aussage in leicht abgeschwächter Form: »Die Distanzierung ist eine Abwehrhaltung, die in den meisten Fällen keinen Respekt mehr kennt. Die Distanzierung will sich mit dem Anderen als Anderen nicht mehr auseinandersetzen, sondern lediglich markieren: ‘Ich bin anders, reden will ich aber nicht.’ «
Die These dieses Textes ist schlüssig. Wer in die medialen Erregungsströme hineinhorcht findet plötzlich die »Distanzierungen« zu Hauf. Drees selber verwässert die Differenz zum Widerspruch etwas. Wenn er etwa Olaf Scholz’ Gegenrede zu den Hartz-IV-Thesen von Jens Spahn als »Distanzierung« sieht statt als Widerspruch.
Tatsächlich ist sauber zu trennen zwischen Widerspruch und Distanzierung. Der Widerspruch ist ein diskursives Mittel. Mit ihm wird (im Idealfall, also wenn er argumentativ stattfindet) eine Debatte weitergeführt. Wichtig wäre, dass Journalisten, also die Gatekeeper eines solchen meist über Bande (vulgo: Medien) stattfindenden Diskurses ihre eigenen Meinung(en) nicht in die Beschreibung der Debatte einfließen lassen.
Distanzierung ist – da trifft Drees ins Schwarze – das Gegenteil des Diskurses. Wer sich distanziert, verstösst den/diejenige(n) aus dem Diskursraum als persona-non-grata. Eine kuschelige Gemeinschaft übt sich mit der Distanzierung in eine (virtuelle) Verbannung. Die Distanzierung gibt zu verstehen: Hier ist jemand nicht (mehr) satisfaktionsfähig. Die Diskurs-»Differenz«, von der Drees schreibt, ist unüberbrückbar geworden.
Derjenige, der die Distanzierung vornimmt, macht dies aus auch aus Furcht. Die Furcht besteht darin, dass man, sollte man sich nicht gebührend distanzieren, mit der Person, der These, dem Vorgang, gemein gemacht und identifiziert wird. Die Distanzierung ist eine Abgrenzung vor der Identifikation mit dem (vermeintlich) Falschen. Wer sich nicht rechtzeitig distanziert, muss damit rechnen, zu den Adepten des/derjenigen gezählt zu werden, von dem man sich eigentlich zu distanzieren hat. Letzteres spielt beispielsweise eine Rolle, wenn von den muslimischen Verbänden in Deutschland immer wieder Distanzierungen von islamistisch motivierten Terroranschlägen eingefordert werden.
Aber Distanzierung ist mehr als ein bloßes Sprachspiel im medialen Diskurs. Sie gehört auch zur Festigung einer Gruppe. Wer sich distanziert bekennt: Ich bzw. wir sind auf der richtigen Seite. Distanzierung ist ein gruppendynamischer Prozess. Das kann man immer wieder beobachten – beispielsweise im Sommer letzten Jahres, als ein rechtslastiges Buch von einem Juror auf die NDR-Sachbuchliste katapultiert wurde und sich binnen weniger Stunden alle Juroren davon fast pflichtschuldigst »distanzierten«. (Die NDR-Sachbuchliste wurde damals eingestellt und läuft inzwischen unter anderer Flagge mit etlichen der Juroren, die damals beteiligt waren, weiter.)
Im Kultur- bzw. Literaturbetrieb, in dem jeder mit jedem in irgendeiner Form verbandelt ist, in dem Preise, Stipendien und vor allem: die gebotene Aufmerksamkeit häufig auf ein gegenseitiges Geben und Nehmen beruhen, sind vom gängigen Strom abweichende politische Haltungen nicht unbedingt karrierefördernd. So distanziert man sich lieber einmal zu viel als zu wenig. Man fürchtet das Odium des Abtrünnigen. Inzwischen reicht es schon, dass man als Schriftsteller in einem Raum mit einem rechten Verleger gesessen haben soll.
Die Distanzierung hat in der Öffentlichkeit längst den Status einer Floskel angenommen. Sie ist stumpf, weil sie inflationär verwendet wird. Im Binnenverhältnis der Diskursteilnehmer (hier: Literaturbetrieb) funktioniert sie immerhin noch als »Freund-Feind«-Unterscheidung.
Diese kategoriale Abgrenzung zwischen »Distanzierung« und »Widerspruch« leuchtet mir noch nicht ein. Ein Widerspruch schliesst eine Distanzierung ein. Eine Distanzierung kann ihrerseits Auftakt zu einem Widerspruch sein. Selbst wenn er unterbleibt, schliesst sie ihn nicht aus. Inwiefern wird also jemand dabei »aus dem Diskursraum als persona-non-grata« ausgeschlossen? Inwiefern ist überhaupt jemand in dieser Angelegenheit aus dem Diskursraum ausgeschlossen worden? Tellkamp und Strauss sind das nicht, ich begegne beiden häufig im Diskursraum. Selbst Ihr eigener Link verweist ja auf einen SZ-Artikel, der in Ihrem Sinne für Strauss argumentiert. Gehört das nicht zum Diskursraum?
Es gibt in dieser Sache ja diejenigen, die keinen Unterschied machen zwischen »keine Mehrheit für seine Meinung finden« und »aus dem Diskursraum ausgeschlossen sein«. Das finde ich persönlich weinerlich und sachlich absurd; davon gehe ich bei Ihnen eigentlich nicht aus.
Widerspruch nimmt den »Gegner« ernst. Er setzt sich mit ihm und seiner Haltung auseinander. Die Distanzierung macht das nicht mehr. Die Würfel sind sozusagen gefallen.
Der Ausschluss aus dem Diskursraum bedeutet nicht, dass nicht über die jeweilige Person gesprochen wird. Oder dass sie nicht mehr zu Wort kommt. Aber ihre Argumente, ihre Stellungnahmen, ihre Einlassungen werden als kontaminiert wahrgenommen. Das beginnt bei dem Wörtchen »umstritten« und setzt sich dann immer weiter fort. Fast immer kann man den pawlowschen Reflex der Denunziation des Werkes bemerken, der dann einhergeht.
Es geht nicht darum, dass eine Mehrheit für eine Meinung gefunden werden soll. Tellkamp oder auch Strauss beanspruchen so etwas für sich nicht. Das wäre auch absurd. Das pädagogische obliegt ohnehin immer seit jeher eher den Linken, die die Welt beglücken und/oder überzeugen wollen.
Ich bin einverstanden, dass die denunziatorischen Effekte durch eine »Distanzierung« beachsichtigt sein können.
Aber unter den Bedingungen, die Sie nennen, wenn der »Ausschluss aus dem Diskursraum« also nicht bedeutet, dass die Person nicht mehr am Diskurs teilnimmt, und auch nicht, dass nicht mehr über sie gesprochen wird, und ebenfalls nicht, dass ihre Position nicht mehr verhandelt wird, sondern nur, dass Diskursteilnehmer (wer?) die Einlassungen der Personen »als kontaminiert wahrnehmen«, scheint mir der »Ausschluss aus dem Diskursraum« wenig Wirkung im Diskurs zu entfalten. Zumindest nicht mehr als jede andere Einlassung, z.B. die von Strauss und Tellkamp. Wenn der »Auschluss« nur bedeutet, dass gewisse Diskursteilnehmer gewisse Diskursteilnahmen auf gewisse Art wahrnehmen, halte ich den Begriff für verfehlt.
Ich habe den Verdacht, daß Keuschnig und Paul das Wort »Distanzierung« mit unterschiedlicher Bedeutung gebrauchen. Keuschnig scheint Sprechakte in der Art von Suhrkamp (oder eines beliebigen Verlags, aber es kann auch eine Einzelperson sein, oft sprechen Politiker so) zu meinen, der sagt: »Wir distanzieren uns von den Äußerungen des Autors XY.« Man will also mit diesen Äußerungen nichts zu tun haben, Debatte beendet.
In dem Sinn, wie Paul das Wort zu gebrauchen scheint, ist Distanznahme, Abstandhalten oder ‑nehmen, sehr wohl eine Voraussetzung für Widerspruch. Widersprechen impliziert natürlich, den anderen ernstzunehmen und sich weiter mit seinen Äußerungen auseinanderzusetzen. Insofern ist »Distanzierung« eine Notwendigkeit eines vernunftbedachten Diskurses.
Für mich besteht ein Unterschied zwischen der (inneren) Distanznahme, die sich dann womöglich im Widerspruch (oder im Ignorieren) äußert und dem öffentlichen Akt des Distanzierens. Letzterer ist nahezu das Gegenteil des Ersten.
Dabei gibt es noch einmal einen Unterschied zwischen dem Distanzierungsspiel von Politikern und anderen, in der Öffentlichkeit stehenden Personen wie z. B. Künstlern.
In der Diskussion um Tellkamp wurde angemerkt, dass die Distanzierung von Suhrkamp sinnlos sei, weil niemand ernsthaft annehmen könne, dass sich der Verlag die Meinungen und Ansichten seiner überaus zahlreichen Autoren zu eigen mache (zudem war die Diskussion mit Grünbein keine Verlagsveranstaltung). Rational betrachtet, gibt es keine Gründe für die Distanzierung, im Besonderen ist seit den Veröffentlichungen Tellkamps viel Zeit vergangen (er könnte seine Ansichten geändert haben, was dem Verlag niemand vorwerfen kann). Sehen wir uns das also noch einmal an:
Man kann prüfen, ob eine Distanzierung noch eine Verbindung (etwa in einem übergeordneten Sinn) zu dem »Objekt« (von dem sie sich abwendet), besitzt. Eine Selbstreflexion etwa, benötigt eine Distanzierung, das Subjekt macht sich selbst zum Thema (zum »Objekt«), dennoch bleibt eine übergeordnete Verbindung bestehen: Die Absicht ist sich selbst zu erkennen, nicht sich selbst zu spalten. Die Spiegelung, die die Betrachtung und Prüfung seiner selbst erst ermöglicht, benötigt Distanz, aber diese Distanz wird später wieder rückgängig gemacht, sie steht im Dienst des Subjekts, es gewinnt dadurch ein Moment an Freiheit zurück, es macht die Annahme seiner selbst erst möglich und ist eine Quelle gelungenen Lebens. Ähnlich verhält es sich mit dem Widerspruch: Er bedeutet nicht, dass ich nicht trotzdem der gemeinsamen Sache verbunden bleibe, die Differenz ist ihr sozusagen untergeordnet; ist sie allerdings fundamental, dann kann darüber ein Streit entstehen, der in der Sache keine Einigung mehr zulässt, in einem übergeordneten Sinn, aber immer noch das Gespräch, den Diskurs und die argumentgetragene Auseinandersetzung teilt. Man bedenke dabei, dass wir nicht nur in einer Demokratie leben, die auf letzterem basiert, wir müssen auch, so oder so, mit einander auskommen. Das Gespräch zu verweigern, vor allem in der Öffentlichkeit, ist daher ein deutliches Zeichen von Verachtung: Du bist es nicht wert, dass ich mit dir spreche, dass ich mich auf dich einlasse. Und dieses Nicht-einlassen, bedeutet einen anderen nicht zu akzeptieren wie er ist. Er bleibt aus dem Diskursraum ausgeschlossen oder wird nach draußen gestoßen (das ist zunächst immer eine Forderung, die einseitig erhoben wird und sie realisiert sich erst dann, wenn andere mitziehen). Klar ist: Ein Gespräch ist nur dann möglich, wenn man sein Gegenüber im Grundsatz akzeptiert und die eigene Position formal zu Disposition stellt. Und man möchte meinen, dass es einem Erwachsenen Menschen möglich sein sollte, Dissens und diametral abweichende, aber weitgehend sachlich vorgetragene Meinungen zu ertragen. Schafft man das nicht, dann darf man sich nicht an Diskussionen beteiligen, man zieht sich zurück, aber man distanziert sich nicht (von einem Teil der auftretenden Personen).
Man kann die zahlreichen Distanzierungsversuche psychoanalytisch als Abspaltung, also einen Mechanismus von Verdrängung, lesen: Das Böse, das genuin zu jedem Menschen gehört, wird abgespalten und in andere Diskursteilnehmer projiziert, man distanziert sich von seinen Schattenseiten dadurch, dass man sie anderen unbewusst unterstellt. Kommt es dann auch noch zu einer neurotischen Bindung an ebenjene Projektion, dann haben wir sicherlich einen Teil des bisweilen so seltsamen rhetorischen Gehabes, erklärt.
Metepsilonema sagt hier vieles von dem, was mir noch auf der Zunge lag. Vielleicht noch eine Anmerkung zum Themenbereich, der hier ursprünglich angeschnitten wurde. Mir selbst ist grundsätzlich und aus vielerlei Gründen die Haltung Grünbeins näher als die Tellkamps (soweit ich das aus der Ferne, ohne Fernsehen, überhaupt mitgekriegt habe). Mir sind aber in den letzten Montaten nach und nach die Bedenken der – sozusagen – Gegenseite verständlich geworden, und das wiederum bewegt mich dazu, meine Haltung zu überdenken. Das ist kein urplötzliches Überzeugt- oder gar Bekehrtwerden, sondern die Wirkung kontinuierlicher Auseinandersetzung und Reflexion. Die eigenen Positionen, Standpunkte, sind nicht vollkommen fest und sollen es auch nicht sein. Bei der widersprüchlichen Dynamik von Nähe und Distanz in einem Verstehens- und Kommunikationsvorgang spielt immer auch der Zeitfaktor eine Rolle, schlicht und einfach auch: die stetige Veränderung der Wirklichkeit und des Denkens der anderen. Zum Beispiel höre ich einer Deutschlehrerin zu, die mir erzählt, in ihrer derzeitigen Klasse, Oberstufe eines Wiener Gymnasiums, sei nur ein echter Muttersprachler, bei allen anderen merke man sprachliche Defizienzen (über deren Gründe und Stellenwert man natürlich lange diskutieren könnte). Es geht dabei nicht um die syrische Zuwanderung der letzten drei, vier Jahre, sondern um andere Migrantengruppen. Die Probleme, vor die eine solche Lehrerin gestellt ist, kann man sich ausmalen. Herkömmliche pädagogische Konzepte erfassen so eine Realität gar nicht.
Kommunikation bedeutet auch den Versuch des Verstehens, was wiederum Einfühlungsvermögen und Vorstellungskraft voraussetzt. So sehe ich jedenfalls »Diskursräume« in europäisch-aufklärerischer Tradition, auf der schließlich »unsere Demokratie«, von Metepsilonema beschworen, fußt (und nicht nur auf One-man-one-vote, Wahlarithemetik und Der-Kunde-ist-König). Neue politische Strömungen setzen an die Stelle dessen die Idee von Kommunikation als Kampf und Selbstbehauptung, was in meiner Sicht der Dinge einen sozialdarwinistischen Hintergrund hat. Ich muß meine Position verteidigen, muß mich durchsetzen. The winner is... Hier gibt es nur noch Distanzierung vom anderen und Bestätigung der eigenen, nicht mehr hinterfragten Identität.
Was mir in den Ausführungen von metepsilonema und Leopold Federmair etwas fehlt: Ein »Diskursraum«, wie immer man ihn definiert, wird ja nicht nur aus den Einlassungen oder gar nur den Intentionen eines einzelnen Akteurs bestehen. So wenig, wie eine »Distanzierung« im hier definierten Sinn also den wirksamen Ausschluss einer Meinung oder eines Akteurs (Tellkamp) durch einen anderen (Suhrkamp-Twitteraccount) zur Folge hat, so wenig bedeutet sie, dass die Auseinandersetzung im Diskursraum nicht stattfindet. Das kann z.B. an anderer Stelle sein (man kann sich ja kaum darüber beklagen, Tellkamps Thesen würden nicht diskutiert), oder es kann z.B. früher gewesen sein, worauf die »Distanzierung« dann nur noch verweist.
Ein alltägliches Beispiel: Muss man die Meinungen von »Klimaskeptikern« immer wieder neu diskutieren und sich auf sie »einlassen«, um sich nicht der Preisgabe »unserer Demokratie« verdächtig zu machen?
Ich habe das Gefühl, dass das alles auf das alte Problem der Toleranz von Intoleranz hinausläuft. Im konkreten Fall kann man z.B. sehen, dass Tellkamp zwar seinen eigenen Opferstatus behauptet, aber seinerseits die hier vertretenen Diskursregeln überhaupt nicht beachtet. Gegenargumente sind für ihn nur »Ohrfeigen« und Beleidigungen und nichts, womit er sich in der Sache auseinandersetzt. Da könnte man nun umgekehrt behaupten, er selbst schliesse die anderen aus dem Diskursraum aus.
@Paul
Ich schrieb oben: »Er bleibt aus dem Diskursraum ausgeschlossen oder wird nach draußen gestoßen (das ist zunächst immer eine Forderung, die einseitig erhoben wird und sie realisiert sich erst dann, wenn andere mitziehen).« Wir stimmen also darin überein, dass eine einzige Distanzierung zunächst folgenlos bleibt, wenn aber zahlreiche weitere (und prominente) folgen, wird derjenige immer mehr zu einem Ausgestoßenen, mit dem man besser nichts zu tun haben sollte. Warum? Weil unser medialer Diskursraum aus einem breiten Mainstream* besteht, der (vor allem im Qualitätssegment) weitgehend einheitlich ist (in diesem Mainstream existieren zwar Nischen in denen Abweichendes einen Platz finden kann, allerdings sind die Sendezeiten meist Randzeiten und die Beiträge im Vergleich zum Üblichen nicht häufig genug, sie entfalten also kaum Breitenwirkung). In anderen Worten: Viele Journalisten sind sich in vielen Angelegenheiten »überraschend« einig und werten entsprechend. Für viele Personen die in der Öffentlichkeit stehen, haben solche Distanzierungen häufig berufliche Folgen, es geht also nicht nur um die Teilnahme am Diskurs selbst (Preisvergaben wären ein Beispiel). Bei vielen Menschen bleibt dann nur noch eine Assoziation wie »umstritten«, »rechts«, »frauenfeindlich«, usw. hängen, was vielleicht nicht immer, aber sicherlich oft auch beabsichtigt war.
Zu den Klimaskeptikern und zur Intoleranz: Über letztere befinden unabhängige Gerichte, das Gesetz definiert was zulässig ist und was nicht. Zu ersteren: Wenn ich ihre Argumente für unzureichend halte, dann muss ich mich nicht mehr mit ihnen befassen, oder? Wenn man aber Menschen dahingehend nicht für mündig hält, möge man es sagen und die Sache mit der Demokratie lassen, die basiert doch darauf (und sie ist kein Garant, dass immer die richtigen Entscheidungen getroffen werden). Und man sollte sich klar machen, dass ein Diskurs kein Erziehungsmittel ist; erwachsene Menschen sind deshalb erwachsen, weil sie nicht mehr erzogen werden müssen. Man kann auch hier anderer Meinung sein, aber sollte das dann auch sagen.
*bei Bedarf kann ich das gerne näher ausführen
@Paul – aber auch die anderen Diskutanten
Es ist m. E. schon eine Wertung, wenn man Tellkamp einen »Opferstatus« unterstellt. Und das ist genau das, was ich als das Gegenteil von Satisfaktionsfähigkeit in einem »Diskursraum« verstehe: Der Andersmeinende wird etikettiert und denunziert. Damit betreibt man das Geschäft derjenigen, die man vorgibt (politisch) zu bekämpfen.
Es ist ja auch nicht so, dass Tellkamps Thesen jetzt diskutiert werden. Sie werden beiseite geschoben. Das kann man übrigens leicht machen, weil er in empirischen Behauptungen irrt (bspw. die berühmten 95%) und eine spezifisch ostdeutsche Sicht versucht zu artikulieren, die ganz schnell als »Jammerei« ausgelegt wird. Dabei erinnert mich vieles von dem was er sagt an den Duktus der sogenannten »Jenninger-Rede« 1988, die in sich harmlos war aber rhetorisch vollkommen verunglückt. Den wahren Inhalt wollte man sich aber nicht ansehen.
Ihre Einlassungen zu den sogenannten »Klimaskeptikern« zeigt womöglich unfreiwillig die Crux. Was ist denn ein »Klimaskeptiker«? Jemand, der die Erwärmungen leugnet? Jemand, der leugnet, dass sie menschengemacht sind? Jemand, der glaubt, dass dem Problem mit den anvisierten Möglichkeiten nicht beizukommen ist? Jemand, der nicht glaubt, dass WInd- und Sonnenenergie die Probleme beheben, ohne dass der sogenannte Wohlstand dabei ebenfalls angegangen werden muß? Oder jemand, der Elektromobilität für Unfug hält, weil sie die gleichen Ressourcen verwendet wie »normaler« Strom? Wo will man festlegen, welche Meinung, welche Haltung nicht mehr diskussionswürdig ist? Und: Liegt in dieser Abgrenzung (»mit dem rede ich nicht mehr«) nicht ein totalitäres Verhalten?
Gadamer hat einmal sinngemäss gesagt, dass ein Gespräch immer beinhalten muss, dass der Andere recht haben könnte. Ansonsten könnte man tatsächlich auf den Austausch von Argumenten verzichten und von oben herab die Wahrheiten dekretieren (Orwell lässt grüßen). Dabei gibt es natürlich Schwierigkeiten, denn seriöse Wissenschaftler betrachten das, was sie derzeit als »Wahrheit« formulieren und beweisen können, immer nur als vorläufig. Siehe Popper.
Ich habe kein Interesse auf Tellkamps Äußerungen im Detail einzugehen. Persönlich widerstreben mir beide Antipoden – sowohl Tellkamps Duktus (wobei ich seine Äußerungen insbesondere zu den ostdeutschen Befindlichkeiten – Stichwort »Dunkeldeutschland« sehr gut nachvollziehen kann – in dieser Pauschalisierung wie der ehemalige Bundespräsident Gauck redet man nicht über aganze Bevölkerungsgruppen) als auch das großmaulige Getue von Grünbein, der auf billige Art und Weise Punkte sammelt (in einem Interview rückte er Tellkamp in »Pegida«-Nähe und plädierte andererseits für eine Rehabilitation von Sarrazin als Person).
Unmittelbar nach der Distanzierung von Suhrkamp twitterte ein FAZ-Journalist sinngemäss, wie gut, dass sich nicht der Rowohlt-Verlag permanent von Sartre distanzieren müsse.
@beide: Ich habe den Eindruck, wir sind gar nicht so weit voneinander entfernt. Wir sind uns darin einig, dass es einen gewissen Pressemainstream in Deutschland gibt. Dass wissenschaftliche Verfahren keine »Wahrheit dekretieren«, ist ebenfalls unstrittig (hier zumindest). Ich bin im konkreten Fall auch gar nicht der Meinung, dass die Suhrkamp-Einlassung sinnvoll war.
Einwände, oder eher Differenzierungen, habe ich lediglich gegen einige der hier vorgebrachten Generalisierungen vorzubringen, weil mir nicht klar wird, wie ein produktiver Diskurs damit aussehen kann.
Die Offenheit der Wissenschaft ist z.B. offensichtlich nicht unbegrenzt. Habituell und institutionell schon sowieso nicht, aber auch nicht theoretisch: Wer hinter den aktuellen Wissensstand zurückgehen will, muss das sehr gut begründen können, um aus dem Wissenschaftlichen Diskurs nicht irgendwann herauszufallen. Anders kann dieser Diskurs auch gar nicht erhalten werden.
Für den öffentlichen Diskurs gilt das doch ähnlich. Definieren wir doch »Klimaskeptiker« einfach eng: Leugnung menschengemachten Klimawandels. Darf ich hier irgendwann (die wissenschaftliche Diskussion ist seit Jahrzehnten konsolidiert) einen Wissensstand voraussetzen, oder muss ich die Leugner alle als satisfaktionsfähig behandeln, um kein »totalitäres Verhalten« zu zeigen? Das hätte zur Folge, dass sämtliche, wenn man so will, ‘Diskursressourcen’ auf einfachste Weise gebunden werden können. Nur darum ging es mir mit diesem Beispiel.
Die Frage ist dann auch, was man als Denunziation bezeichnet. Sie, Gregor Keuschnig, scheinen mir ausgesprochen streng: Wenn ich Tellkamp zuschreibe, einen »Opferstatus« zu behaupten, beziehe ich mich damit ganz konkret auf seine Aussagen über »Ohrfeigen« und »Furcht« und mangelnde »Meinungsfreiheit«. Ich halte das nicht für eine Denunziation, sondern für eine Auseinandersetzung mit seinen Aussagen. Freilich gelange ich dabei zu einer Wertung. Sie lassen das anscheinend nicht gelten Und wenn er auf der sachlichen Ebene widerlegt wird (»95%«), nennen Sie das »beiseite schieben«. Die Auseinandersetzung mit Tellkamp in der FAZ (z.B. Strauß zum »Ost-Gefühl«) und die Relektüren seiner Literatur (Welt, Zeit), alles in der Folge dieses Diskussionsabends, scheinen Sie ebenfalls nicht gelten zu lassen.
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich halte es für keineswegs ausgemacht, wo hier die Grenzen liegen. Aber ich frage mich, wo Sie sie eigentlich setzen, wenn Sie in all dem nur »Beiseiteschieben« erkennen?
@Paul
Es gibt natürlich einen Forschungsstand, etwas das als gesichert gilt und daher auch etwas wie Lehrmeinungen und Lehre überhaupt. Es gibt, sozusagen darüber, aber sehr wohl einen Raum, der im Fluss ist, also Phänomene, die man erst zu verstehen beginnt und widersprechende Ansichten und Ansätze (ein berühmtes Beispiel ist das Triplehelix Modell der DNS von Linus Pauling). Zugespitzt: In Lehrbüchern stehen »veraltete« Dinge, den aktuellen (und im Fluss befindlichen) Forschungsstand eines Fachgebiets muss man sich aus den Einzelpublikationen der peer review Journale zusammensuchen (in den Naturwissenschaften jedenfalls). Und es kommt auch immer wieder zu Paradigmenwechseln, also mittelgroßen oder großen Umwälzungen, die dann auch den Kernbestand eines Fachs betreffen können (man denke an die klassische und die Quantenphysik oder an den Stand einer Disziplin so wie er vor mehreren Jahrzehnten aussah und wie er heute aussieht). Kurzum: Bloß zu sagen etwas sei Stand des Wissens, ist ein Autoritätsargument, das darauf verzichten möchte, dass man eine Position begründen muss. Ich behaupte, dass die meisten Menschen aus dem Stand nicht einmal annähernd größenordnungsmäßig abschätzen können, wie hoch der Kohlendioxidanteil der Luft ist. Aber sie »wissen«, dass der Klimawandel Realität ist. In Wahrheit glauben sie es, was weiter nicht schlimm wäre, wenn ihnen das klar wäre. Ich habe mich z.B. nie eingehend genug mit diesem Thema beschäftigt, als dass ich mich einer der beiden Positionen zuordnen möchte (klar, ich kenne ein paar Argumente in beide Richtungen, aber nicht genug). Allerdings bin ich bei allem skeptisch, das medial einhellig ausgebreitet wird, weil dahinter häufig unausgesprochene Interessen stehen. Wenn ich an das Waldsterben in den 80igern denke, dann hat man damals das Phänomen richtig erkannt, wohl aber überzeichnet (heute geht es unseren Wäldern zumindest dahingehend gut, vielleicht hatte ja alles seinen Sinn).
@metepsilonema Das bestreite ich alles nicht im mindesten. Mich interessiert aber eben die konkrete Diskurspraxis, nicht das grundsätzliche und ein bisschen banale Postulat, dass es keine endgültige Wahrheit gibt. Wo soll man denn nun ansetzen, um den Fortschritt im Diskurs einerseits zu ermöglichen, andererseits nicht »totalitäres Verhalten«, wie es Keuschnig nennt, zu praktizieren? Ich finde den Verweis auf die Existenz von Paradigmenwechseln ein bisschen billig, denn das bestreitet ja erstens niemand, und zweitens sagt es nichts darüber aus, wie man denn nun diskutieren soll, um sie von anderem zu unterscheiden.
@Paul
Totalitäres Verhalten bedeutet dem Abweichenden kein Existenzrecht zuzusprechen: Wenn es sich nicht anschließt, wird es ausgeschlossen. Ich weiß jetzt nicht, was Sie genau mit Fortschritt meinen, ich kann für mich sagen, dass ich niemanden überzeugen muss. Ich versuche eine Position zu begründen, die Wertungen und die Quellen offenzulegen: Man möge mir folgen oder nicht, ich kann es ertragen, wenn andere anderer Ansichten sind (auch wenn mir manches durchaus nahe geht und ich streiten kann). Wenn der Fortschritt mit vernunftgeleiteter Einsicht zu tun hat, und diese jedem (in durchaus variierendem Ausmaß) zur Verfügung steht, dann ist er eine Frage individueller und dann kumulierender Einsicht(en). Die Alternative ist das paternalistische Programm, das, um Widerstände zu vermeiden, so tut, als nehme es den Einzelnen ernst, tatsächlich aber versucht man »die Massen« dorthin zu leiten, wo man sie haben will (warum auch immer). Das ist unsympathisch, heuchlerisch und macht am Ende wohl kaum jemand glücklich.
Das ehrt Sie, und es hätte zweifellos Suhrkamp geehrt, statt des lapidaren Tweets wenigstens das zu tun (oder zu schweigen).
Ich denke zwar weiter nicht, dass sich aus Ihren Kriterien etwas für die schon oben gestellten Fragen ergibt, z.B. ob es eine Verpflichtung gibt, dieselbe Methode für jeden individuellen Widerspruch zu wiederholen, und wie sich das zur »kumulierenden Erkenntnis« verhält. Oder ob man nicht Methode (»begründen« und »offenlegen«) und Motivation (»Massen leiten«) getrennt betrachten sollte. Aber ich denke, die Argumente sind im Wesentlichen ausgetauscht, wahrscheinlich interessieren uns an diesem Phänomen doch zu unterschiedliche Teile.
Ich habe mich in den letzten Jahren viel mit Moraltheorie beschäftigt, Importe aus den USA, Haidt, Sapolsky, Pinker. Dabei spielt die Kategorie der »Anderen« eine wesentliche Rolle. Deshalb würde ich ganz gerne auf den Unterschied zwischen Singular und Plural eingehen, der beim sprunghaften Themenwechsel von Pegida auf Tellkamp leicht zu kurz kommt, sodass die Distanzierung von einer Person immer mit der Distanzierung von unliebsamen Meinungen zusammen erfolgt. Es scheint mir die wesentliche Funktion der Distanzierung auf die Meinung zu zielen.
Der verflixte Plural manifestiert sich moraltheoretisch auf mehreren Ebenen: da ist einmal die Pegida, die nicht satisfaktionsfähig ist, weil sie sich im wesentlichen auf Stimmungen und manchmal sogar Gemeinheiten stützt. Pegida, das sind die Anderen, mit denen man nichts zu tun kriegen möchte. Eine angenehme Distanzierung!
Dann gibt es den Plural des mainstreams, der die verschiedenen Facetten der Regierungspolitik würdigt, angefangen vom hohen Schutzgut der Flüchtlingskonvention, über das Rückführungsabkommen mit der Türkei, bis hin zum Ziel einer erneuerten europäischen Asylpraxis. Diese Politik steckt voller Fragen, die bis zu Verfassungsproblemen reichen, etwa dem pauschalen Einlassbefehl des Innenministeriums, und der suspendierten Drittstaatenregel bei den Grenzkontrollen angesichts fast ausschließlich scheiternden Dublin-Verfahren... Das ist eine Baustelle. Und deshalb ist es auch schwierig, sich diesem mainstream vorbehaltlos anzuschließen. Eine Runde Mitleid für den mainstream, der hat es nämlich auch nicht leicht!
Der dritte verflixte Plural ergibt sich meines Erachtens aus sozioökonomischen Überlegungen: notinduzierte Wanderungen in größerem Umfang stellen immer die Ressourcenfrage. Davon will die Öffentlichkeit, besonders 2015 unter dem Eindruck sehr dramatischer Meldungen aus der Ägäis, bislang nichts wissen. Es sind diese Abwägungen nicht nur politisch heikel, sondern auch moralisch anspruchsvoll. Nida-Rümelin hat ein Buch darüber geschrieben. Allerdings lässt sich das Problem polemisch leicht vereinfachen, und das ist insofern beunruhigend als Pegida zwar hanebüchen im Diskurs daher kommt, aber die politische Absicht in der Form einer Migrationsbegrenzung sogar rational ist. Es ist rational trotz Pegida... Der verflixte Plural liegt in der Definition des Gemeinwesens, und der simplen Unterscheidung von Inländern und Ausländern einschließlich der sozialrechtlichen Implikationen. Das Wir sind die Deutschen, die Anderen sind die Ausländer, die etwas von uns wollen. Es liegt keine Kohärenz der Interessen vor, wie die professionellen NGOs gerne suggerieren. Ein Land ist kein Rettungsunternehmen. Die Frage, wieviele, ist auch keineswegs »rechtsfern«, wie der Verfassungsrechtler Papier ausführt, auch nicht pflichtvergessen unmoralisch, allerdings stapeln sich die (europa-)politischen und die moralischen Probleme bei dieser Erörterung sodass man einen gewissen Rigorismus, der sich gerne als Position der Stärke, Rechtstreue und entschlossenen Menschenfreundlichkeit präsentiert, auch irgendwo verstehen kann.
Die Vernunft hat es außerordentlich schwer in diesem Dschungel. Wie bereits erwähnt, kann man Pegida aus Kompetenz- und Geschmacksgründen ausschließen, nicht aber die Ressourcenfrage, die sich auf Rationalitätskriterien wie Vorausschau und Planung bezieht. Ja, und die Vernunft hat auch ein Verfassungsproblem: die politische Steuerung über die europäische Ebene bzw. gar die Abwehr der Zuwanderung an den Grenzen Europas über Drittstaaten-Regeln, –bei gleichzeitiger formaler Aufrechterhaltung eines »Grundrechts«, also weltbürgerlichen Rechts auf Asyl,– ist wenigstens inkonsistent. Welchen Sinn macht ein weltbürgerliches Grundrecht, das niemand in Anpruch nehmen kann, es sei denn er nimmt die Mühen einer illegalen Binnenwanderung auf sich?! Deutschland hat seit dem Asylkompromiss 1993 einen Sonderweg beschritten, der nicht wirklich zukunftsweisend ist. Artikel 16 GG gehört eigentlich abgeschafft, wenn man es mit Europa wirklich ernst meint in dieser Frage...
Ich entschuldige mich für so viel Meinung, aber das ist ungefähr mein Kenntnisstand. In der politischen Öffentlichkeit herrscht immer noch viel Gruppendynamik. Leider sind die politischen Fragen sehr schwer, und die einfachen Antworten haben (egal von welcher Seite) immer eine gewisse Erleichterung für sich.
Distanzierungen könnte man auch als den Versuch deuten, die Fronten von zwischen Freundschaften und Feindschaften »über die Sache « zu stellen, weil es einfacher ist...
@Paul
Ich sehe nicht, dass man sein Verhalten im Diskurs (Methode) von seinen Idealen (Motivation) trennen kann. Wenn ich ein Gegenüber grundsätzlich achte, dann werde ich redlich sein; wenn ich der Ansicht bin, dass ich mich irren kann und in meiner Sicht der Dinge auch immer beschränkt bin, dann werde ich mir anhören, was ein anderer zu sagen hat. Aber eine Verpflichtung, die über eine eigene Setzung hinausgeht, ich wüsste nicht wie die begründet sein sollte (ansonsten: soweit, so gut).
@Paul
Ich verstehe Ihr Anliegen dahingehend, dass Sie sagen, es gibt Tatsachen, hinter denen kein Diskurs mehr sinnvoll erscheint. Allenfalls müsste man – populär ausgedrückt – immer wieder bei Adam und Eva anfangen. Die Aussage, dass der Klimawandel nicht menschengemacht sei, gehört – wenn ich Sie richtig verstanden habe – in diese Kategorie (um nur bei diesem Beispiel zu bleiben).
Es ist jetzt sehr leicht, diese Behauptung – »der Klimawandel ist nicht menschengemacht« – aufzustellen. Sie ist auch sehr entlastend, weil es indirekt bedeutet, dass man so weitermachen kann wie bisher, weil man eh’ nichts ändern kann. Persönlich habe ich dieses Dogma nie verstanden: Ob der Klimawandel nun menschengemacht ist oder nicht spielt doch nur eine untergeordnete Rolle. Wichtiger ist doch ob er (der Klimawandel) durch Menschen reduziert oder mindestens aufgehalten werden kann. Insofern ist der Diskurs über die »Schuld« des Menschen an den Phänomenen dessen, was Klimawandel genannt wird, ein Ablenkungsmanöver. Jegliches Beharren darauf verlagert Diskursressourcen in den Bereich der Spekulation.
Der wirkliche Klimawandelleugner, d. h. derjenige, der die Phänomene als Ursache einer stattfindenden Klimaveränderung leugnet, dürfte in Reinform nur noch sehr schwierig anzutreffen sein. Interessanter ist doch die Frage, inwiefern wir ein auf Konsum und Ressourcenvernichtung ausgerichtetes System aufrecht erhalten können, indem wie Strom zukünftig aus Wind und Sonne gewinnen (obwohl wir den entscheidenden Durchbruch in den Speicherkapazitäten noch nicht erreicht haben – aber hier hoffen wir eben auf den Fortschritt) und voreilig das Elektroauto als Heilung von Benzinern verstehen. Hierüber müsste ein Diskurs geführt werden. Stattdessen ziehen sich beide Seiten auf Dogmen zurück.
(Ich erinnere mich noch an eine kurze Phase Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre. Damals galt Kernenergie als das neue Wundermittel. Es war DER Fortschritt. DIE Zukunft. Wer dagegen war, galt als rückständig. Die Entsorgungsfrage wurde einfach nicht gestellt. Sie stand der Euphorie entgegen.)
Ich schweife ab. Zurück zur Causa Tellkamp: Hier kann man – wie ich schrieb – monieren, dass er sich in Bezug auf die 95% geirrt habe. Dieser Irrtum, entstanden in einer Podiumsdiskussion und nicht in einem wissenschaftlichen Referat, wird als Grund genommen, die Aussage per se anzuzweifeln. Dabei dürfte längst unstrittig sein, dass Deutschland bei Asylsuchenden unter anderem aufgrund der verhältnismässig großzügigen Alimentierung in den Sozialsystemen so beliebt ist. Tellkamp spielt mit dieser Stammtischzahl 95% auch darauf an, dass man zu Anfang der sogenannten Flüchtlingskrise von Medien, Politik und Wirtschaft unisono eingetrichtert bekam, es würden jetzt lauter Fachkräfte kommen. Diese Einschätzung wurde ganz schnell zurückgenommen.
Kommen wir zu Tellkamps Ärgernis über das Dunkeldeutschland-Gerede. Ich fand es tatsächlich damals sehr schlecht, dass ein Bundespräsident in dieser Pauschalisierung eine ganze Region denunziert (ich finde dafür kein anderes Wort, sorry). Ist jetzt jeder, der sich darüber empört, ein Jammerlappen? Und: Ist dieses billige Gauck-Geschwafel nicht genau das, was man den Schmierlappen der AfD ständig vorhält – nur eben von der anderen Seite?
Sich stattdessen im Grünbein-Duktus sonnen ist mir schlichtweg zu billig. Ich sage nicht, dass Sie dies machen. Und dann noch etwas – bevor ich vielleicht in eine falsche Ecke gestellt werde: Ich hatte Interessantes erwartet von der »Gemeinsamen Erklärung 2018″. Und was gab es: Erbämliche zwei Sätze. Hierüber sollte man Tellkamp viel stärker kritisieren: Dass er nicht in der Lage – oder nicht willens – ist, seine Argumente in eine vernünftige, diskursfähige Form zu bringen.
Pingback: links for 2018-03-26 – urbandesire
@die_kalte_Sophie
Vielen Dank für den – wie immer – sehr interessanten Kommentar.
Ich habe nicht Nida-Rümelin gelesen, sondern Robin Alexanders »Die Getriebenen«. Das Buch zeigt einerseits die durch die jeweilige Situation hervorgerufenen spontan notwendigen Entscheidungsdilemmata, die dann nachträglich als was auch immer (humanitär oder einfach nur pragmatisch) erklärt werden. Es zeigt vor allem, dass Deutschland (vulgo: die diversen Merkel-Regierungen) jahrelang Dublin ausgenutzt haben um sich über die Drittstaatenregelung einen schlanken Fuß zu machen und dann, nachdem man die Grenzen aus welchen Gründen auch immer geöffnet hatte, plötzlich »europäische Solidarität« einforderte. In früheren Western hätten die Indianer so etwas als Reden mit gespaltener Zunge bezeichnet.
So, und jetzt wage ich mal diesen Artikel hier in die Diskussion zu werfen. – Ein ehemaliger Amnesty-Funktionär wird hier befragt und äußert sich kritisch über den rigorosen Idealismus solcher Organisationen. Entscheidend ist dabei für mich diese Passage: »Sollen Amnesty und ähnliche Verbände klein beigeben und auf ihre Anliegen verzichten, da die Mehrheit nun einmal geschlossene Grenzen will? ‘Natürlich nicht. Aber sie sollten sich besser überlegen, wer ihre Feinde und wer ihre potentiellen Verbündeten sind.’ Denn wer die politische Mitte, die Europas menschenrechtliche Selbstverpflichtungen noch anerkenne, ständig dafür verdamme, dass sie Mehrheitsverhältnisse berücksichtigt und Kompromisse eingeht, wer diese Mitte gar mit Demagogen von links oder rechts gleichsetze – wen habe der eigentlich dort, wo die Entscheidungen fallen, also in der Politik, noch als Partner?«
Der Artikel über Dalhuisen ist aufschlussreich. Er enthält mehrere Hinweise darauf, dass die Moral der Hilfsorganisationen nicht als Maßstab für das staatliche Handeln (=Politik der Mitte) in Betracht kommt. Ich glaube, dass der völlige Verzicht auf ökonomische Überlegungen tatsächlich die Ursache für diese Inkompatibilität ist, weshalb die Formulierung »Moralische Reinheit als Geschäftsmodell« nur ironisch gedeutet richtig sein kann. Aus ökonomischer Sicht handelt es sich um kein Unternehmen, sondern um eine verbrauchende Wirtschaftseinheit, die staatlichen Einrichtungen wie dem Rettungsdienst DRK vergleichbar ist.
Die unerschütterliche Gesinnung von NGOs hat mich immer beschäftigt. Nach dem System von Haidt ist es ein Modell, das die moralischen Werte der Reinheit und der Fürsorge ins Zentrum rückt, und dessen Gemeinschaftskonzept gleich die ganze Menschheit ist. Der Begriff »Reinheit« ist genau richtig, da wie vor Urzeiten der Besitz einer absoluten unbefragbaren Moral sehr attraktiv ist, und eine unmittelbare Motivation für das tägliche Handeln damit erzeugt wird. Wir finden Analogien sowohl zum utopischen Sozialismus als auch zum religiösen Altruismus, wo die Beispiele für die Hingabe an den Nächsten besonders eindrucksvoll sind. Nur als politischer Leitfaden für Marktwirtschaften mit angeschlossenen Sozialstaaten funktioniert es nicht. Dabei ist der Sozialstaat noch nicht einmal der zentrale Stolperstein, siehe USA, wo ebenfalls Migration abgewehrt wird. Bereits die Konkurrenz um Wohnraum und Arbeit reicht, um die Inkompatibilität festzustellen. Auch die öffentlichen Club-Güter wie Schwimmbäder und Bibliotheken gehören nicht der ganzen Menschheit.
Was Dalhuisen beobachtet, würde ich ganz genauso vermuten: es gibt offensichtlich einen weiteren Pferdefuss dieser ursprünglich reinen Ethiken, einen Dorn im Fleisch des Heiligen, eine professionelle »Charakterschwäche«. Die Mitarbeiter werden sehr schnell ungeduldig oder empört, wenn man sich nicht der Einfachheit (Konsistenz) dieser Überzeugungen anschließt. Sie denken, dass wir etwas bigott und schwach sind, da wir zögern, unsere Sozialstaaten und Arbeitsmärkte den bürgerkriegs-induzierten Wanderungen zur Verfügung zu stellen. Eine gängige Hypothese für diese unsere Schwäche lautet, wir würden den Rechten irgendwie doch nachgeben. Nur keine falschen Kompromisse! Diese Hypothese ist psychologisch besonders wichtig, weil sie etwas über den »Sender« aussagt. Faktisch ist sie falsch. Aber der Anhänger einer reinen Moral der Menschenrechte kann sich die Widerstände nicht anders erklären. Gleichwohl benötigt er eine Erklärung! Er sucht und findet eine »irrationale« Erklärung, er glaubt nicht an die Argumente, die wir vorbringen, er glaubt, dass beträchtliche Widerstände nur aus unlauteren Motiven erwachsen können. Die Argumente seien nur »Rationalisierungen« für eine inakzeptable Absicht oder unbewusste Motive! Die »theory of mind« der Anhänger lässt uns immer in einem schlechten Licht erscheinen. Wir sind alle Orbans, wenn wir Barrieren aufrichten, ganz egal wie sachkundig unsere Argumentation ausfallen mag. Das Ergebnis (vgl. Haidts Bemerkungen zur deontologischen Moral) stand ja VON VORNE HEREIN fest!! Der Verstand wurde einzig und allein dazu benutzt, die »Begründung« für die moralische Intuition zu liefern. Glaubt der NGO-Aktivist. Dabei nimmt er an sich selbst Maß, und täuscht sich zugleich über die Anderen.
Das Wesentliche hebe ich noch einmal hervor: wir haben es mit einem moralischen Modell zu tun, das bestimmte Schwerpunkte setzt (Reinheit, Fürsorge), aber auch einer beschränkten Matrix für Rationalität, die sich fiskalischen und marktwirtschaftlichen Überlegungen verschließt, und allenfalls prinzipien-geleitete Schlussfolgerungen im Felde der Moral/Politik zulässt...
Ich glaube nicht, dass die NGOs lernfähig sind, oder sich taktisch verhalten sollten, um die politische Mitte nicht zu vergrätzen. Sie sind, wie sie sind! Ich betrachte die NGOs als eine »maschinelle soziale Einheit« zur Rettung von Menschen, die auf Spenden basiert, mit diesseits-religiösen Akteuren, die auf uns alle ein wenig ungeduldig und ungnädig herabschauen.
@die_kalte_Sophie
Insofern hat der Dalhuisen-Artikel dann doch mit Tellkamp / Grünbein zu tun.
Das Ross der moralischen Überlegenheit ist ein sehr bequemer Platz, sofern man von ihm aus keine verantwortliche Politik betreiben muss. Dazu passt, dass das Wort von der »Realpolitik« insbesondere in Deutschland schon in der Weimarer Republik einen schlechten Ruf hatte. Damals wurde die Demokratie nicht nur von Linken und Rechten attackiert, sondern auch von den Moralisten, die in jeglicher realpolitischen Handlung, in jedem Kompromiss, immer die Abkehr von der »reinen« (moralischen) Lehre erkannten. Noch heute ist das erste Attribut, dass einem zu »Kompromiss« in den Sinn kommt, »faul«.
Generell – und das zeigt auch der FAZ-Artikel – stelle ich eine Verhärtung der Gesellschaft fest. Zum einen gibt es die autoritätsheischenden Orbans und zum anderen die nicht minder autoritätserwartenden NGOs und deren Anhänger. Beiden widerstrebt eine demokratische Partizipation; beide bevorzugen den »guten König« (die Volten der Orbans in Richtung Bürgerentscheide sind Ablenkungsmanöver). Demokratische Entscheidungen sind ihnen suspekt, ja unerwünscht. Sie verachten die Masse.
Zustimmung, um die diskursive Moral, den guten Willen zur Debatte, ist es schlecht bestellt. Es herrscht wieder mal »Lagerkoller« in Deutschland. Man sortiert sich lautstark bzw. still und heimlich nach links oder rechts. »Distanzierung« wie Falle Suhrkamp ist doch ziemlich eindeutig das stille Bekenntnis für die universalistische Sache der Linken. Kritik: das links-liberale Spießertum, eben in kultivierten Kreisen, ist nicht in der Lage, klipp und klar Farbe zu bekennen. Das ist ja typisch für den Spießer, dass er verschweigt, was er denkt. Dafür reicht Twitter. Warum sagen sie nicht einfach, dass die Gewährung von Internationalem Schutz kein Limit hat, warum bekennen sie sich nicht öffentlich zum Verantwortungs-Größenwahn, der sie durch und durch beseelt?! Ja, und die Rechten mit ihrer kargen Erklärung2018 sind auch kein Beispiel für politisch-moralische Komplexität... Das Schweigen als der vorauseilende Verzicht auf die Darlegung der eigenen Meinung ist eine Kapitulation vor der eigentlichen Auseinandersetzung und ein Misstrauensvotum gegenüber den »Anderen«, das einem Beziehungsende wie bei Partnerschaften gleicht. Das ist praktizierte Spaltung, meine Damen und Herren!
In dieser Zeit bedauere ich es zutiefst, dass Deutschland kein belastbares liberales Erbe hat. Das geht schon seit Jahrhunderten so. Es gibt ja schließlich das ausgeschlossene Dritte, nur sind diese Positionen nicht ebenso auffallend und verbreitet (in ihrem öffentlichen Auftritt, mit einem Fremdwort, »virulent«) wie die beiden äußeren Lager. Ich fürchte sogar, es gibt in Deutschland ein besonders fest sitzendes Missverständnis darüber, dass die »universalistische Moral« schon die edle goldene Mitte wäre, nachdem die Menschheit so umständlich und doch so sehnsüchtig gesucht hat.
Ich bestreite das schon mein ganzes Leben lang: der Universalismus ist eine Ideologie, die das politische Denken »von der Wirklichkeit« wegführt, meiner Meinung nach ist der Liberalismus die goldene mittige Antwort.
Darauf weist Dalhuisen deutlich hin: der Universalismus führt uns auf Umwegen (Abstraktion und Prinzipien) nur zum rücksichtlos polemischen Häuserkampf. Links und Rechts bekämpfen einander, ohne noch große Rücksicht auf die Sache selbst zu nehmen. Während sich Deutschland völlig übernimmt an seinen »internationalen Verpflichtungen«, verteidigen die Linken ihre Kodices wie ein stein-gemeißeltes Evangelium, während den Rechten mit ihrem nationalem Gemeinschaftskonzept die Lippe schäumt. Deutschland ist noch immer gespalten, verkündet die Kanzlerin in der Regierungserklärung lakonisch, als sei das weder ihre Schuld noch irgendwie ganz so schlimm, wie es sich anfühlt. Die politische Mitte behauptet eine europäische Lösung herbeiführen zu können, ohne die Probleme klar und explizit einzukreisen. Gut, dafür reicht eine »Regierungserklärung« im Umfang nicht aus, aber man könnte, wenn man wollte,– korrigiere: man könnte, wenn man KÖNNTE!
Wenn man sich für Politik interessiert: in Deutschland kann man es sich gerade abgewöhnen!
@die_kalte_sophie
indertat !
mehr gibt es zu alldem WIRKLICH nicht zu sagen.
@die_kalte_Sophie
Ich glaube auch, dass der allmächtige Universalismus bereits als »Liberalität« abgefeiert wird. Das liegt natürlich auch daran, dass die Ausformulierung dessen, was Liberalismus bedeutet sehr schwierig war und mindestens was Deutschland nach 1945 angeht, nur einmal (Ende der 1960er Jahre durch Karl-Hermann Flach) kurz aufflackerte (der andere deutsche Liberalismusvertreter, Ralf Dahrendorf, wanderte sozusagen nach Großbritannien ins »Exil« – mit, wie ich finde, übrigens zweifelhaftem Erfolg).
Liberalismus galt (und gilt) immer noch ein »Laissez-faire«. Die sich nach 1945 selbst als liberale Kraft setzende FDP war fast immer nur mit ihrer Zünglein-Funktion beschäftigt. Als sie in den 1960er Jahren den nationalen Einfluss immer weiter verdrängte (Mitte der 1970er Jahre waren alle national»liberalen« Kräfte nicht mehr in der Partei bzw, unwichtig geworden) leitete sie die Wende von der CDU/CSU zur SPD ein. Liberal bedeutete damals eine Neuorientierung bestimmter Werte (von der Außenpolitik angefangen). Das stockte recht schnell als der wirtschafts»liberale« Flügel Ende der 1970er Jahre die Oberhand gewann. Die sozialen Reformen waren mehr oder weniger durchgesetzt – das letzte große Handeln war die Ermöglichung des Familiennachzugs 1973 für in D lebende Türken (der allerdings mit einem Anwerbestopp verbunden war).
Mit der Wende 1982 zu Kohl profilierte sich die FDP nur noch als marktliberale Partei. Sie bildete ein Korrektiv zur eigentlich etatistischen Kohl-/Blüm-Sozialpolitik. Gänzlich abgekoppelt vom politischen Liberalismus geriet die Partei dann in der Schröder- und Merkel-Ära.
Das Problem des Liberalismus liegt schlichtweg darin, dass er als ein diffuses Sich-Treibenlassen empfunden wird. »Liberal« im Sinne von tolerant ist inzwischen fast jeder (oder glaubt es zu sein).
Noch eine Bemerkung zur Diskussion weiter oben: Die Ausweisung der russischen Diplomaten im Fall der Vergiftung von Sergej Skripal und dessen Tochter, zeigt sehr schön die Notwendigkeit einer Diskussion von »offenkundigen Tatsachen«, wenn Differenzen, das könnte man noch hinzufügen, feststellbar sind (gerade weil hier der Schuldige ohne Beweise klar benannt wird, sollte man wachsam sein).
Je älter ich werde, desto dünner und zweifelhafter wird mir das, was man Liberalismus nennt, ganz egal ob er nun gesellschaftlich oder ökonomisch ausbuchstabiert wird: Nicht mitmachen zu müssen, also Eigenheiten haben und Unverhandelbarkeiten benennen zu können und sich für sie entschieden zu haben, scheint mir weit wichtiger zu sein, als irgendein »Freiheitsgerede« für das was man Zufriedenheit (Sinn oder Glück) nennt, die entscheidend auch für den zwischenmenschlichen Umgang, den wir immer weitgehender technokratisch regulieren, sind. Freiheit ist Zurückhaltung, überlegtes Entscheiden und Bindung im Resultat; Voraussetzung dafür ist ein kultureller Kontext und keine politische Ideologie.
Und genau dort, in der Kultur, tut sich für mich die große Diskrepanz auf: Eine Gesellschaft ist nicht ohne etwas Gemeinsames und ein zufriedenes Leben nicht ohne »Sinn«: In beiden kann sich das Individuum über sich selbst und seine Schwächen erheben, es wird in einem gewissen Sinn »ewig« oder »heil«. Dazu hat der Liberalismus nichts zu sagen, er täuscht sogar darüber hinweg, er liefert, indem er alle Bindungen negiert und eine nötigende Freiheit ins Werk setzt, die Menschen dem technokratischen Zugriff, der Bürokratie, dem Funktionalismus und dem Nützlichkeitsdenken, aus. Oder anders: Mit dem Verlust aller kulturellen Bezüge, geht auch das verallgemeinerungsfähige Unverhandelbare verloren, das noch ein Gegen bilden könnte: Die Lebendigkeit schwindet und der Mensch ist nur noch nützlich, im Konsum und in der Arbeit, mehr ist dann nicht mehr. — Ein Selbstzweck wäre er nur dort, wo er nutzlos sein kann.
Eine Verfassung schafft noch nichts Gemeinsames, das kann nur die Kultur, das hat die Linke nie verstanden: Und das Gemeinsame braucht Einlassen und Einübung auf einander, also Zeit. Wer weiß woher er kommt, wer er ist und was er will, wird Stabilität und damit Offenheit für andere und anderes besitzen (und er wird auch wissen, was er keinesfalls will). Was Goethe über die Sprache schrieb, gilt auch für die Gesellschaft: Die Gewalt einer Sprache ist nicht, dass sie das Fremde abweist, sondern dass sie es verschlingt. Offenheit und Toleranz muss man über den Zugang zu sich selbst entwickeln, sie ergeben sich nicht aus Dekreten oder Forderungen. Dafür, dass das Eigene und die Kultur, eine grundlegende Bedeutung haben, scheint innerhalb der Rechten, neben vielen Obszönitäten und Verwirrungen, ein gewisses Verständnis vorhanden zu sein.
Insofern kann man den (Links)liberalismus als Herrschaftsideologie auffassen, weil er die Menschen mitsamt ihren kulturellen Bindungen immer vollständiger den ökonomischen Verhältnissen preisgibt.
Ich kam zum Liberalismus nur durch Ausschlussverfahren, ich war sogar selbst die meiste Zeit davon überzeugt, dass es sich um ein besonders schwach konturiertes politisches Denken handelt, dem eine gewisse Beliebigkeit anhaftet.
Dazu kommt, dass Themen wie Umwelt, Soziales, Arbeit, Banken, etc. Regulierung und Kontrolle nötig machen... Aber ich widerstehe der Versuchung, den Liberalismus anzupreisen. Alle drei Grundrichtungen des Politischen (Konservatismus, Liberalismus, Sozialdemokratismus) haben an Profil verloren, dem Klimawandel stehen beispielsweise alle ziemlich ratlos gegenüber.
Der Linksliberalismus ist keine eigene Denkart, es ist eine Gesellschaftsinterpretation, die auf den grundrechtlichen Errungenschaften des letzten Jahrhunderts aufbaut, und eine posthistorische Aufgabe formuliert: die Formation des Westens muss nur noch über den Erdball verbreitet werden. Hase und Igel: WIR sind schon da, und die anderen müssen sich sputen... Der Definitionsschwerpunkt (links & liberal) liegt im Moralischen und Kulturellen, sozusagen auf der Ebene des menschlichen Verhaltens. Eine Einsicht in ökonomische Zusammenhänge fehlt gänzlich. Die Protagonisten sind Presseleute und Schullehrer. In Deutschland schließt sich daran noch eine »europäische Utopie« an, die möglichst viele Kompetenzen nach Brüssel verlagern möchte. Warum, braucht man nicht zu fragen: es ist ein »Ähnlichkeits-Argument«. Wenn alle westeuropäischen Staaten ähnliche Probleme haben, löst man das doch am besten gleich im großen Ganzen, oder?!
Der Linksliberalismus lehrt uns, dass es ein leichtes, immer nur anstoßendes politisches Denken gibt, das keine Ziele mehr formulieren und durchsetzen muss. Ein Repetitorium des Guten und Anständigen wird als langfristig wirksam angesehen. Dennoch kommt man gelegentlich zu erstaunlichen Ergebnissen, wie die wiederkehrende Meinung, dass der Wunsch nach offenen und toleranten Gesellschaften ein schrankenloses Migrationsrecht impliziert. Das sind Resultate, die einem schwachen politischen Denken wie ein Verkehrsunfall zustoßen, es wäre schwer, sie eingehend zu begründen. Jede vertiefte Überlegung würde die Folgen sofort erkennen.
Im Moment hat nicht der Liberalismus, sondern der Konservatismus ein Problem. Denn ich stimme @mete absolut zu: das Thema der kulturellen Identität (Sprache, Religion, Sitten) gehört ins Handgepäck der Konservativen. Aber was ist das für ein Konservatismus, der unter dem Einfluss kirchlicher und ideologischer Kreise kein Grenzregime mehr errichten darf?! Eine Zuwanderung aus fernen Weltgegenden, die man nicht abzuwehren weiß, führt zwangsläufige das Eigene ins Museum. Ein Kalauer von Horst Seehofer, das Heimatmuseum, der ungewollt ins Schwarze trifft.
Der Liberalismus hat den Vorteil, dass er diese Maginot-Linie nicht halten muss. Auf der anderen Seite ist der Liberalismus aber auch nicht gesetzes-abergläubisch, d.h. er verwechselt die normative Absicht nicht mit einem irgendwie ewigen erhabenen Guten (Oh, Grundgesetz, oh heiliger Artikel 16), sondern liest schon mal gerne Kommentare bzw. schreibt im Bedarfsfall sogar die Normen neu.
Eine Anekdote dazu von diFabio. »Immer abends, wenn ich unsere Politiker von den Konsequenzen des Artikel 16 im Fernsehen sprechen höre, sage ich zu meiner Frau: Es ist kaum zu glauben, aber offensichtlich habe ich das Verfassungsrecht überhaupt nicht verstanden... Die kommen alle zu gänzlich anderen Schlussfolgerungen!«.
»Linksliberal« bedeutete in Deutschland immer: Sozialpolitik mit grundsätzlich tolerantem Gesellschaftsentwurf. Das war so lange erfolgreich, so lange es ein Nachholbedarf des Toleranten gab. Inzwischen wird dies fast maßlos überdehnt, weil alle relevanten Ziele erreicht sind. Die etatistische Sozialpolitik hat unter Merkel längst wieder an Boden gewonnen. Dadurch ist der Konsevatismus sozusagen »bedroht«, weil er als »Intolerant«, »diskriminierend« gilt. Das entscheidene ist, dass so etwas wie ein Argument in der Diskussion um linksliberale Politikentwürfe keine Rolle mehr spielt. Entscheidend ist die Gesinnung. Rationalität wird per se als feindselig aufgefasst.
So ganz neu ist diese Entwicklung nicht. Die Progressiven bestimmten immer schon, wer als reaktionär zu gelten hatte. Und gelegentlich wurde die Entscheidung auf dem Schafott dokumentiert. Interessanter wäre es, die Protagonisten der Irrtumsgläubigen zu befragen. Neulich schaute ich eine Dokumentation über Mao, in der von 40 bis 70 Millionen Toten die Rede war, die in seiner Verantwortung liegen (Bürgerkrieg, Kultur- und sonstige »Revolutionen« und vor allem: selbstverschuldete Hungersnöte. Jetzt habe ich aber eine gewisse Erinnerung an Personen, die sich heute als Moralinstanzen verstehen, die diesem Regime damals positiv gegenüberstanden und es als vorbildhaft sahen. Von und über diese: kein Wort darüber. »Jugendsünde«?
Man ist ja qua Geburt immer in eine Kultur geworfen, die man sich, wenn es gut geht, mit dem Erwachsenwerden ein »zweites Mal« aneignet*: Dieser Aneignungsprozess ist bewusster, selektiver und, so würde ich sagen, eng mit dem der Bildung verbunden. Auf diesem Weg entsteht das, das (vielleicht) ein Leben lang stand hält, das Bedeutung hat, das Sinn verleiht. Es ist das, das allem Ökonomischen (Nützlichen, Funktionellen,...) den Rang abläuft und ablaufen muss, wenn man, ich denke sehr an unsere Zeit, lebendig bleiben möchte. Und umgekehrt: Eine Gesellschaft, die immer stärker im Ökonomischen (Nützlichen, Funktionellen,...) aufgeht, muss das Leben des Einzelnen immer weniger achten, da es eben nur Bedeutung findet, wo er funktioniert. Eigenwert hat aber nur das, das nicht immer funktioniert, bzw. funktionieren muss. Nur dort wo ich sein kann, wie ich will, und eben das tute, das ich selbst bestimme, werde ich zufrieden sein können. Dazu muss man allerdings wissen wer man ist und man wird sein Tun an etwas ansetzten oder ausrichten müssen, das schon da ist. Man wird sich also fragen müssen, was das sein kann. Ich halte das für eine Grundproblematik unserer Zeit und sie ist wohl gar nicht so gut bestellt, dafür eine Lösung anbieten zu können, als es zunächst einmal scheinen mag.
Der klassische Konservatismus mit seiner (mir immer unverständlichen) Vermählung mit wirtschaftsliberalen Elementen (Leistungs‑, Traditions- und Wertebetonung), erscheint mir zu sehr als Korsett, als das ich ihn mögen möchte oder könnte; beim Liberalismus wiederum frage ich mich, was er besser macht oder machen könnte: Klar, ohne etwas wie Liberalität gibt es keinen Diskurs und selbstredend hat das Individuum Rechte gegen die Tradition, aber: Noch größer kann die Befreiung von ihr kaum mehr sein, aber weder die versprochenen Wahlmöglichkeiten, noch der Wohlstand, ändern an der Grundproblematik irgendetwas. Es ist doch eigenartig: Lebenspraktisch gesehen, scheinen mir (nahezu?) alle politischen Kräfte gegen das zu arbeiten, das vernünftig wäre. — Vernünftig wäre es doch, als Gesellschaft sozusagen, stehen zu bleiben und sich anzusehen, was man eigentlich tut, sich zu fragen wie man lebt und ob man sich damit nicht eigentlich längst selbst widerspricht. Ich denke mir das beim Thema Kinderbetreuung immer wieder: Es gibt keine Möglichkeit den Widerspruch Kind und Gesellschaft oder Kind und Ökonomie (Nützlichkeit, Funktionalität,...) zu lösen, man kann sich eigentlich nur auf die Seite des Kindes stellen. Konservativ, wenn man es so nennen will, in ebendiesem Sinn (und das ist sicher Adorno näher, als dem klassischen Konservatismus).
*Andere Möglichkeiten, wie eine Ablehnung, seien hier einmal außen vor gelassen.
metepsilonema
Das Grundproblem scheint mir – verkürzt gesagt – darin zu bestehen, dass man weniger Bürger ist denn Kunde. Selbst die Arbeitssuchenden werden von der für sie zuständigen Behörde als »Kunden« angesprochen (man könnte »Klienten« sagen, was weniger auf die kommerzielle Ausrichtung hin orientiert wäre). Nichts zeigt die Ökonomisierung des Alltags mehr als diese Kleinigkeit. Die Auswüchse lassen sich dann schnell finden, etwa wenn Eltern die »Kosten« für ihr Kind/ihre Kinder ermitteln. Hätten meine Eltern diese Rechnung aufgemacht, wäre ich nicht geboren worden.
.-.-.-.-.-.
Der Konservatismus vor allem hat damit zu kämpfen, dass er nicht zu sehr mit den Interessen und Freiheiten des Individualismus kollidiert bzw. darin aufgerieben wird. Er hat es eigentlich nicht verkraftet, dass nach 1945 Werte wie »Gemeinschaft« oder »Gemeinwohl« diskreditiert waren und versäumt, diese offensiv neu zu formulieren (gegen die Pervertierung dieser Werte durch Nazis und Kommunisten), sondern sich auf die ökonomische Wohlfahrt konzentriert – in der Hoffnung, hierüber entstünde so etwas wie Zusammenhalt.
Am Ende trat das Gegenteil ein: Die 68er – Kinder des »Wirtschaftswunders« – akzeptierten den (Adenauer-)Konservatismus der Weimarer Republik nicht mehr, sondern pochten auf gesellschaftliche Veränderungen. Ihr »Marsch durch die Institutionen« ist inzwischen längst erfolgreich. Das Ergebnis ist, dass Rekurse auf »Heimat« oder »Gemeinschaft« als reaktionär bzw. wenn nicht gar schlimmer gelten.
Von Jonathan Haidt stammt die schöne Idee, dass der Konservatismus eine breite moralische Grundlage aufweist, wohingegen die sozialdemokratische Linke (beinahe) eine monothematische Spezialisierung kennzeichnet. Wie oben schon ausgeführt, ist die Fürsorge um das Wohlergehen von »Opfern« die zentrale Motivation. Das führte die Linke im Laufe der Zeit von den Bürgerrechten über die Frauen zu den Schwulen und Migranten, und als alle Schlachten gewonnen waren, wurde man kleinlich, theorie-fetischistisch und spaltungs-aktivistisch. Schließlich gewann die neue Rechte an Boden, und das Universum war an beiden Polen wieder komplett.
In der moralischen Matrix der Konservativen finden sich alle Kultur-übergreifenden Empfindungen: Heiligkeit, Autorität, Loyalität, Fairness, Freiheit, Fürsorge. Allerdings rettet der Konservative lieber die Mitglieder seiner eigenen Gemeinde, während der Linke für die ganze Welt zuständig ist... Ein zentrales Problem aller Moral und Politik steckt in dem harmlosen Begriff »Loyalität«, der praktisch all unsere Verhaltensweisen in Bezug auf Gruppen und große soziale Einheiten wie die Nation abdeckt. Darüber werden auch subtile politische Entscheidungen abgewickelt, wie der von @Gregor genannte Verzicht auf Begriffe wie »Heimat« und »Gemeinschaft«. Aber dass die Kategorie weiterhin hoch aktiv ist, sieht man an dem heftig umstrittenen Integrationskonzept, das den Gemeinschaftsbegriff suspendiert, aber nur um die Frage der Zusammengehörigkeit in einem multikulturellen Rahmen erneut zu bejahen.
Spielt die Moderne den Linken in die Hände bzw. läuft die Moderne den Konservativen aus dem Ruder?!
Ich würde sagen, das trifft jeweils mit Einschränkung zu. Auf der Gewinner-Seite finden sich alle Arten von internationaler Zusammenarbeit, die UN, die WHO, die WTO, die EU, die NATO, etc. Das widerspricht der Intuition, dass politische Probleme hauptsächlich auf der nationalen Ebene gelöst werden, und stellt die Kooperation vor den Eigensinn. Die Internationalisierung ist links-kompatibel, wenn auch keine originale Erfindung. Auf der Verlierer-Seite finden sich die Kalamitäten des Konservatismus: die Ökonomie und die Besitzstandswahrung werden zur Vollzeitbeschäftigung, die Religion wird zur Seite gedrängt, die Umwelt wird aufs Spiel gesetzt, die Dialekte weichen der Verkehrssprache, der Lobbyismus ersetzt das Gemeinwohl, die Bildung wird zur Ressource, etc.
Außerdem gibt es noch eine subjekttheoretische Entwicklung, welche die Gruppenzugehörigkeit dem Individualismus unterordnet. Das ist eine Erfindung von Theoretikern aber allmählich auch galoppierender Aberglaube! Die frohe Botschaft: Herkunft ist kein Verdikt für die Zukunft, Du entscheidest selbst im Sinne der »zweiten Aneignung« von @mete. Für mich ist das der sonderbarste Punkt an der gesamten Moderne, und wohl nicht von ungefähr der »virtuelle Übergang« in die Postmoderne. Den Fußballverein kann ich mir aussuchen, die Partei kann ich mir aussuchen, beim Geschlecht oder der Nation wirds schwierig. Trotzdem behauptet sich die Theorie vom Zufälligen der Gruppenzugehörigkeit, als ob diese Entscheidungen regelmäßig auf den Prüfstand gehörten. Und am Horizont erscheint ein total funktionales aber zugleich ent-sozialisiertes Subjekt, das ein reines Ich ohne Wir-Kontaminationen aufweist. Der Knackpunkt in dieser Konstruktion ist der Freiheitsgrad, d.h. die Frage, ob uns diese Zugehörigkeiten wirklich zur Manipulation zur Verfügung stehen, zweitens auch die implizite politische Botschaft, dass die Nation ein rein willkürliches Konstrukt wäre, an das man »glauben kann«, oder nicht. Ich war beispielsweise sehr überrascht, dass sogar ausgesprochen liberale Geister wie Yascha Mounk die Nation als »Plattform« immer noch für unverzichtbar halten, und das nicht nur aus einem technischen Blickwinkel: tatsächlich steht und fällt das Politische schlechthin doch mit der Frage, ob man an der Erörterung und Lösung der Probleme des Gemeinwesen (res publica) teilnimmt, oder nicht. Steht am perspektivischen Fluchtpunkt der Moderne die völlige Ent-Politisierung aufgrund einer Exstase des Individualimus?! Wenn man die Nation für verzichtbar hält, dann sicherlich. Multikulti wird uns vom Spuk des allgemeinen »Desinteresses« jedenfalls nicht retten, weil ja all diese Zugehörigkeiten nur hübsche Kleider zum Ausprobieren und wieder Ablegen sind... Verrückt!
es ist nicht verrückt.
es ist einfach nur total : langweilig.
( vor allem dieser smartphone-app.-individualismus in kombi mit sms-sprechblasen-style – sic )
@ die_kalte_Sophie
Ich glaube nicht, dass abschliessend geklärt ist, ob die multinationalen »Lösungen« (UN, EU, NATO) dauerhaft besser funktionieren als die »Nation«. Letztere wird von den sich den progressiv gebenden etwas zu voreilig in den Orkus befördert. Die Sogwirkung, eine Gemein- und Gesellschaft über das Nationale zu »finden«, ist recht stark ausgeprägt, wie man an den zahlreichen sich mehr oder weniger separatistisch gebenden Strömungen in Europa erkennt. Katalanien ist nur das aktuelle Beispiel (weitere sind: Schottland, Korsika, Südtirol, Baskenland; von den zahlreichen Sezessionistischen Strömungen in Osteuropa gar nicht zu reden). Bei Katalanien und Schottland zeigt sich, dass die sich internationalistisch gebende Linke plötzlich diese Abspaltungen befürwortet – weil sie in einem ungeliebten konservativ geführten Staatsgebilde stattfinden.
Die EU zeigt, dass in einem Staatenbund, der mehr sein möchte als nur der Zusammenschluss von Märkten, die Mitglieder Souveränitäten aufgeben müssen. Sind sie dazu nicht bereit, funktioniert es nicht. Das Zauberwort lautet hier tatsächlich auch »Loyalität«: Wer den EU-Behörden diese – aus welchen Gründen auch immer verweigert – behindert den Zusammenschluss.
Die Nation ist derzeit das grösstmögliche Bündnis von Regionen, das den meisten noch halbwegs akzeptabel erscheint. Für Katalanen und Schotten ist sie schon zu gross. Ihr Separatismus ist vor allem ökonomisch konnotiert: Sie befinden sich in der Situation, dass sie innerhalb ihres nationalen Bündnisses Zahler sind, außerhalb dessen jedoch eher Zahlungsempfänger. Bei Slowenien und Kroatien war dies Anfang der 1990er Jahre ein wichtiger Punkt.
Im übrigen liegt ja gerade in der Moderne (bzw. der Postmoderne) das Versprechen verankert, dass nichts mehr so sein muss, wie es ist. Es ist schon richtig: Den Fussballverein kann ich mir aussuchen. Aber eben irgendwann auch die Nationalität (Staatsbürgerschaft; wenn gewünscht mehrere) und sogar – auf Krankenkasse – das Geschlecht. Aber gerade in dieser am Ende fast grenzenlosen (!) Auswahl liegt auch die Crux: Es ist wie im Supermarkt. Ich wünsche mir eine gewisse Auswahl an Ketchup-Sorten beispielsweise. Aber wenn ich dann 20 oder 25 Sorten habe, werde ich garstig.
@die_kalte_Sophie
Ich meinte mit der zweiten Aneignung, dass es davor sehr wohl eine Prägung gab, die aber weitgehend unbewusst bleibt, nicht dass man sie wie Gewand wechseln kann, wiewohl es natürlich Menschen gibt, die in andere Kulturen gewechselt sind oder in mehreren leben. Richtig bleibt die Feststellung, dass theoretisch »suggeriert wird«, dass Herkunft egal wäre (eine Entscheidung, die aber, behaupte ich, kaum tatsächlich als eine solche getroffen wird). Wenn alles egal ist, bleibt der Funktionalismus, also das Glück aus 25 Ketchupsorten wählen zu können, dann und nur dann, muss man wählen, weil nichts Verbindliches mehr da ist.