Di­stan­zie­rung

Im Rah­men der Dis­kus­si­on um die so­ge­nann­te »Cau­sa Tell­kamp« und die ha­sti­ge Di­stan­zie­rung von Tell­kamps Ver­lag Suhr­kamp von des­sen Ge­sag­tem in der Podiums­diskussion gibt es ei­nen in­ter­es­san­ten Text des Deutsch­land­funk-Re­dak­teurs Jan Drees. Über­schrie­ben ist er mit »Wer sich di­stan­ziert, drückt sich vor dem Dia­log«. Im Text sel­ber fin­det sich die­se Aus­sa­ge in leicht ab­ge­schwäch­ter Form: »Die Di­stan­zie­rung ist ei­ne Ab­wehr­hal­tung, die in den mei­sten Fäl­len kei­nen Re­spekt mehr kennt. Die Di­stan­zie­rung will sich mit dem An­de­ren als An­de­ren nicht mehr aus­ein­an­der­set­zen, son­dern le­dig­lich mar­kie­ren: ‘Ich bin an­ders, re­den will ich aber nicht.’ «

Die The­se die­ses Tex­tes ist schlüs­sig. Wer in die me­dia­len Er­re­gungs­strö­me hin­ein­horcht fin­det plötz­lich die »Di­stan­zie­run­gen« zu Hauf. Drees sel­ber ver­wäs­sert die Dif­fe­renz zum Wi­der­spruch et­was. Wenn er et­wa Olaf Scholz’ Ge­gen­re­de zu den Hartz-IV-The­sen von Jens Spahn als »Di­stan­zie­rung« sieht statt als Wi­der­spruch.

Tat­säch­lich ist sau­ber zu tren­nen zwi­schen Wi­der­spruch und Di­stan­zie­rung. Der Wi­der­spruch ist ein dis­kur­si­ves Mit­tel. Mit ihm wird (im Ide­al­fall, al­so wenn er ar­gu­men­ta­tiv statt­fin­det) ei­ne De­bat­te wei­ter­ge­führt. Wich­tig wä­re, dass Jour­na­li­sten, al­so die Gate­kee­per ei­nes sol­chen meist über Ban­de (vul­go: Me­di­en) statt­fin­den­den Dis­kur­ses ih­re ei­ge­nen Meinung(en) nicht in die Be­schrei­bung der De­bat­te ein­flie­ßen las­sen.

Di­stan­zie­rung ist – da trifft Drees ins Schwar­ze – das Ge­gen­teil des Dis­kur­ses. Wer sich di­stan­ziert, ver­stösst den/diejenige(n) aus dem Dis­kurs­raum als per­so­na-non-gra­ta. Ei­ne ku­sche­li­ge Ge­mein­schaft übt sich mit der Di­stan­zie­rung in ei­ne (vir­tu­el­le) Ver­ban­nung. Die Di­stan­zie­rung gibt zu ver­ste­hen: Hier ist je­mand nicht (mehr) sa­tis­fak­ti­ons­fä­hig. Die Diskurs-»Differenz«, von der Drees schreibt, ist un­über­brück­bar ge­wor­den.

Der­je­ni­ge, der die Di­stan­zie­rung vor­nimmt, macht dies aus auch aus Furcht. Die Furcht be­steht dar­in, dass man, soll­te man sich nicht ge­büh­rend di­stan­zie­ren, mit der Per­son, der The­se, dem Vor­gang, ge­mein ge­macht und iden­ti­fi­ziert wird. Die Di­stan­zie­rung ist ei­ne Ab­gren­zung vor der Iden­ti­fi­ka­ti­on mit dem (ver­meint­lich) Fal­schen. Wer sich nicht recht­zei­tig di­stan­ziert, muss da­mit rech­nen, zu den Adep­ten des/derjenigen ge­zählt zu wer­den, von dem man sich ei­gent­lich zu di­stan­zie­ren hat. Letz­te­res spielt bei­spiels­wei­se ei­ne Rol­le, wenn von den mus­li­mi­schen Ver­bän­den in Deutsch­land im­mer wie­der Di­stan­zie­run­gen von is­la­mi­stisch mo­ti­vier­ten Ter­ror­an­schlä­gen ein­ge­for­dert wer­den.

Aber Di­stan­zie­rung ist mehr als ein blo­ßes Sprach­spiel im me­dia­len Dis­kurs. Sie ge­hört auch zur Fe­sti­gung ei­ner Grup­pe. Wer sich di­stan­ziert be­kennt: Ich bzw. wir sind auf der rich­ti­gen Sei­te. Di­stan­zie­rung ist ein grup­pen­dy­na­mi­scher Pro­zess. Das kann man im­mer wie­der be­ob­ach­ten – bei­spiels­wei­se im Som­mer letz­ten Jah­res, als ein rechts­la­sti­ges Buch von ei­nem Ju­ror auf die NDR-Sach­buch­li­ste ka­ta­pul­tiert wur­de und sich bin­nen we­ni­ger Stun­den al­le Ju­ro­ren da­von fast pflicht­schul­digst »di­stan­zier­ten«. (Die NDR-Sach­buch­­li­ste wur­de da­mals ein­ge­stellt und läuft in­zwi­schen un­ter an­de­rer Flag­ge mit et­li­chen der Ju­ro­ren, die da­mals be­tei­ligt wa­ren, wei­ter.)

Im Kul­tur- bzw. Li­te­ra­tur­be­trieb, in dem je­der mit je­dem in ir­gend­ei­ner Form ver­ban­delt ist, in dem Prei­se, Sti­pen­di­en und vor al­lem: die ge­bo­te­ne Auf­merk­sam­keit häu­fig auf ein ge­gen­sei­ti­ges Ge­ben und Neh­men be­ru­hen, sind vom gän­gi­gen Strom ab­wei­chen­de po­li­ti­sche Hal­tun­gen nicht un­be­dingt kar­rie­re­för­dernd. So di­stan­ziert man sich lie­ber ein­mal zu viel als zu we­nig. Man fürch­tet das Odi­um des Ab­trün­ni­gen. In­zwi­schen reicht es schon, dass man als Schrift­stel­ler in ei­nem Raum mit ei­nem rech­ten Ver­le­ger ge­ses­sen ha­ben soll.

Die Di­stan­zie­rung hat in der Öf­fent­lich­keit längst den Sta­tus ei­ner Flos­kel an­ge­nom­men. Sie ist stumpf, weil sie in­fla­tio­när ver­wen­det wird. Im Bin­nen­ver­hält­nis der Diskurs­teilnehmer (hier: Li­te­ra­tur­be­trieb) funk­tio­niert sie im­mer­hin noch als »Freund-Feind«-Unterscheidung.

35 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Die­se ka­te­go­ria­le Ab­gren­zung zwi­schen »Di­stan­zie­rung« und »Wi­der­spruch« leuch­tet mir noch nicht ein. Ein Wi­der­spruch schliesst ei­ne Di­stan­zie­rung ein. Ei­ne Di­stan­zie­rung kann ih­rer­seits Auf­takt zu ei­nem Wi­der­spruch sein. Selbst wenn er un­ter­bleibt, schliesst sie ihn nicht aus. In­wie­fern wird al­so je­mand da­bei »aus dem Dis­kurs­raum als per­so­na-non-gra­ta« aus­ge­schlos­sen? In­wie­fern ist über­haupt je­mand in die­ser An­ge­le­gen­heit aus dem Dis­kurs­raum aus­ge­schlos­sen wor­den? Tell­kamp und Strauss sind das nicht, ich be­geg­ne bei­den häu­fig im Dis­kurs­raum. Selbst Ihr ei­ge­ner Link ver­weist ja auf ei­nen SZ-Ar­ti­kel, der in Ih­rem Sin­ne für Strauss ar­gu­men­tiert. Ge­hört das nicht zum Dis­kurs­raum?

    Es gibt in die­ser Sa­che ja die­je­ni­gen, die kei­nen Un­ter­schied ma­chen zwi­schen »kei­ne Mehr­heit für sei­ne Mei­nung fin­den« und »aus dem Dis­kurs­raum aus­ge­schlos­sen sein«. Das fin­de ich per­sön­lich wei­ner­lich und sach­lich ab­surd; da­von ge­he ich bei Ih­nen ei­gent­lich nicht aus.

  2. Wi­der­spruch nimmt den »Geg­ner« ernst. Er setzt sich mit ihm und sei­ner Hal­tung aus­ein­an­der. Die Di­stan­zie­rung macht das nicht mehr. Die Wür­fel sind so­zu­sa­gen ge­fal­len.

    Der Aus­schluss aus dem Dis­kurs­raum be­deu­tet nicht, dass nicht über die je­wei­li­ge Per­son ge­spro­chen wird. Oder dass sie nicht mehr zu Wort kommt. Aber ih­re Ar­gu­men­te, ih­re Stel­lung­nah­men, ih­re Ein­las­sun­gen wer­den als kon­ta­mi­niert wahr­ge­nom­men. Das be­ginnt bei dem Wört­chen »um­strit­ten« und setzt sich dann im­mer wei­ter fort. Fast im­mer kann man den paw­low­schen Re­flex der De­nun­zia­ti­on des Wer­kes be­mer­ken, der dann ein­her­geht.

    Es geht nicht dar­um, dass ei­ne Mehr­heit für ei­ne Mei­nung ge­fun­den wer­den soll. Tell­kamp oder auch Strauss be­an­spru­chen so et­was für sich nicht. Das wä­re auch ab­surd. Das päd­ago­gi­sche ob­liegt oh­ne­hin im­mer seit je­her eher den Lin­ken, die die Welt be­glücken und/oder über­zeu­gen wol­len.

  3. Ich bin ein­ver­stan­den, dass die de­nun­zia­to­ri­schen Ef­fek­te durch ei­ne »Di­stan­zie­rung« be­ach­sich­tigt sein kön­nen.

    Aber un­ter den Be­din­gun­gen, die Sie nen­nen, wenn der »Aus­schluss aus dem Dis­kurs­raum« al­so nicht be­deu­tet, dass die Per­son nicht mehr am Dis­kurs teil­nimmt, und auch nicht, dass nicht mehr über sie ge­spro­chen wird, und eben­falls nicht, dass ih­re Po­si­ti­on nicht mehr ver­han­delt wird, son­dern nur, dass Dis­kurs­teil­neh­mer (wer?) die Ein­las­sun­gen der Per­so­nen »als kon­ta­mi­niert wahr­neh­men«, scheint mir der »Aus­schluss aus dem Dis­kurs­raum« we­nig Wir­kung im Dis­kurs zu ent­fal­ten. Zu­min­dest nicht mehr als je­de an­de­re Ein­las­sung, z.B. die von Strauss und Tell­kamp. Wenn der »Aus­chluss« nur be­deu­tet, dass ge­wis­se Dis­kurs­teil­neh­mer ge­wis­se Dis­kurs­teil­nah­men auf ge­wis­se Art wahr­neh­men, hal­te ich den Be­griff für ver­fehlt.

  4. Ich ha­be den Ver­dacht, daß Keu­sch­nig und Paul das Wort »Di­stan­zie­rung« mit un­ter­schied­li­cher Be­deu­tung ge­brau­chen. Keu­sch­nig scheint Sprech­ak­te in der Art von Suhr­kamp (oder ei­nes be­lie­bi­gen Ver­lags, aber es kann auch ei­ne Ein­zel­per­son sein, oft spre­chen Po­li­ti­ker so) zu mei­nen, der sagt: »Wir di­stan­zie­ren uns von den Äu­ße­run­gen des Au­tors XY.« Man will al­so mit die­sen Äu­ße­run­gen nichts zu tun ha­ben, De­bat­te be­en­det.
    In dem Sinn, wie Paul das Wort zu ge­brau­chen scheint, ist Di­stanz­nah­me, Ab­stand­hal­ten oder ‑neh­men, sehr wohl ei­ne Vor­aus­set­zung für Wi­der­spruch. Wi­der­spre­chen im­pli­ziert na­tür­lich, den an­de­ren ernst­zu­neh­men und sich wei­ter mit sei­nen Äu­ße­run­gen aus­ein­an­der­zu­set­zen. In­so­fern ist »Di­stan­zie­rung« ei­ne Not­wen­dig­keit ei­nes ver­nunft­be­dach­ten Dis­kur­ses.

  5. Für mich be­steht ein Un­ter­schied zwi­schen der (in­ne­ren) Di­stanz­nah­me, die sich dann wo­mög­lich im Wi­der­spruch (oder im Igno­rie­ren) äu­ßert und dem öf­fent­li­chen Akt des Di­stan­zie­rens. Letz­te­rer ist na­he­zu das Ge­gen­teil des Er­sten.

    Da­bei gibt es noch ein­mal ei­nen Un­ter­schied zwi­schen dem Di­stan­zie­rungs­spiel von Po­li­ti­kern und an­de­ren, in der Öf­fent­lich­keit ste­hen­den Per­so­nen wie z. B. Künst­lern.

  6. In der Dis­kus­si­on um Tell­kamp wur­de an­ge­merkt, dass die Di­stan­zie­rung von Suhr­kamp sinn­los sei, weil nie­mand ernst­haft an­neh­men kön­ne, dass sich der Ver­lag die Mei­nun­gen und An­sich­ten sei­ner über­aus zahl­rei­chen Au­toren zu ei­gen ma­che (zu­dem war die Dis­kus­si­on mit Grün­bein kei­ne Ver­lags­ver­an­stal­tung). Ra­tio­nal be­trach­tet, gibt es kei­ne Grün­de für die Di­stan­zie­rung, im Be­son­de­ren ist seit den Ver­öf­fent­li­chun­gen Tell­kamps viel Zeit ver­gan­gen (er könn­te sei­ne An­sich­ten ge­än­dert ha­ben, was dem Ver­lag nie­mand vor­wer­fen kann). Se­hen wir uns das al­so noch ein­mal an:

    Man kann prü­fen, ob ei­ne Di­stan­zie­rung noch ei­ne Ver­bin­dung (et­wa in ei­nem über­ge­ord­ne­ten Sinn) zu dem »Ob­jekt« (von dem sie sich ab­wen­det), be­sitzt. Ei­ne Selbst­re­fle­xi­on et­wa, be­nö­tigt ei­ne Di­stan­zie­rung, das Sub­jekt macht sich selbst zum The­ma (zum »Ob­jekt«), den­noch bleibt ei­ne über­ge­ord­ne­te Ver­bin­dung be­stehen: Die Ab­sicht ist sich selbst zu er­ken­nen, nicht sich selbst zu spal­ten. Die Spie­ge­lung, die die Be­trach­tung und Prü­fung sei­ner selbst erst er­mög­licht, be­nö­tigt Di­stanz, aber die­se Di­stanz wird spä­ter wie­der rück­gän­gig ge­macht, sie steht im Dienst des Sub­jekts, es ge­winnt da­durch ein Mo­ment an Frei­heit zu­rück, es macht die An­nah­me sei­ner selbst erst mög­lich und ist ei­ne Quel­le ge­lun­ge­nen Le­bens. Ähn­lich ver­hält es sich mit dem Wi­der­spruch: Er be­deu­tet nicht, dass ich nicht trotz­dem der ge­mein­sa­men Sa­che ver­bun­den blei­be, die Dif­fe­renz ist ihr so­zu­sa­gen un­ter­ge­ord­net; ist sie al­ler­dings fun­da­men­tal, dann kann dar­über ein Streit ent­ste­hen, der in der Sa­che kei­ne Ei­ni­gung mehr zu­lässt, in ei­nem über­ge­ord­ne­ten Sinn, aber im­mer noch das Ge­spräch, den Dis­kurs und die ar­gu­ment­ge­tra­ge­ne Aus­ein­an­der­set­zung teilt. Man be­den­ke da­bei, dass wir nicht nur in ei­ner De­mo­kra­tie le­ben, die auf letz­te­rem ba­siert, wir müs­sen auch, so oder so, mit ein­an­der aus­kom­men. Das Ge­spräch zu ver­wei­gern, vor al­lem in der Öf­fent­lich­keit, ist da­her ein deut­li­ches Zei­chen von Ver­ach­tung: Du bist es nicht wert, dass ich mit dir spre­che, dass ich mich auf dich ein­las­se. Und die­ses Nicht-ein­las­sen, be­deu­tet ei­nen an­de­ren nicht zu ak­zep­tie­ren wie er ist. Er bleibt aus dem Dis­kurs­raum aus­ge­schlos­sen oder wird nach drau­ßen ge­sto­ßen (das ist zu­nächst im­mer ei­ne For­de­rung, die ein­sei­tig er­ho­ben wird und sie rea­li­siert sich erst dann, wenn an­de­re mit­zie­hen). Klar ist: Ein Ge­spräch ist nur dann mög­lich, wenn man sein Ge­gen­über im Grund­satz ak­zep­tiert und die ei­ge­ne Po­si­ti­on for­mal zu Dis­po­si­ti­on stellt. Und man möch­te mei­nen, dass es ei­nem Er­wach­se­nen Men­schen mög­lich sein soll­te, Dis­sens und dia­me­tral ab­wei­chen­de, aber weit­ge­hend sach­lich vor­ge­tra­ge­ne Mei­nun­gen zu er­tra­gen. Schafft man das nicht, dann darf man sich nicht an Dis­kus­sio­nen be­tei­li­gen, man zieht sich zu­rück, aber man di­stan­ziert sich nicht (von ei­nem Teil der auf­tre­ten­den Per­so­nen).

    Man kann die zahl­rei­chen Di­stan­zie­rungs­ver­su­che psy­cho­ana­ly­tisch als Ab­spal­tung, al­so ei­nen Me­cha­nis­mus von Ver­drän­gung, le­sen: Das Bö­se, das ge­nu­in zu je­dem Men­schen ge­hört, wird ab­ge­spal­ten und in an­de­re Dis­kurs­teil­neh­mer pro­ji­ziert, man di­stan­ziert sich von sei­nen Schat­ten­sei­ten da­durch, dass man sie an­de­ren un­be­wusst un­ter­stellt. Kommt es dann auch noch zu ei­ner neu­ro­ti­schen Bin­dung an eben­je­ne Pro­jek­ti­on, dann ha­ben wir si­cher­lich ei­nen Teil des bis­wei­len so selt­sa­men rhe­to­ri­schen Ge­ha­bes, er­klärt.

  7. Me­tep­si­lo­n­e­ma sagt hier vie­les von dem, was mir noch auf der Zun­ge lag. Viel­leicht noch ei­ne An­mer­kung zum The­men­be­reich, der hier ur­sprüng­lich an­ge­schnit­ten wur­de. Mir selbst ist grund­sätz­lich und aus vie­ler­lei Grün­den die Hal­tung Grün­beins nä­her als die Tell­kamps (so­weit ich das aus der Fer­ne, oh­ne Fern­se­hen, über­haupt mit­ge­kriegt ha­be). Mir sind aber in den letz­ten Mon­ta­ten nach und nach die Be­den­ken der – so­zu­sa­gen – Ge­gen­sei­te ver­ständ­lich ge­wor­den, und das wie­der­um be­wegt mich da­zu, mei­ne Hal­tung zu über­den­ken. Das ist kein ur­plötz­li­ches Über­zeugt- oder gar Be­kehrt­wer­den, son­dern die Wir­kung kon­ti­nu­ier­li­cher Aus­ein­an­der­set­zung und Re­fle­xi­on. Die ei­ge­nen Po­si­tio­nen, Stand­punk­te, sind nicht voll­kom­men fest und sol­len es auch nicht sein. Bei der wi­der­sprüch­li­chen Dy­na­mik von Nä­he und Di­stanz in ei­nem Ver­ste­hens- und Kom­mu­ni­ka­ti­ons­vor­gang spielt im­mer auch der Zeit­fak­tor ei­ne Rol­le, schlicht und ein­fach auch: die ste­ti­ge Ver­än­de­rung der Wirk­lich­keit und des Den­kens der an­de­ren. Zum Bei­spiel hö­re ich ei­ner Deutsch­leh­re­rin zu, die mir er­zählt, in ih­rer der­zei­ti­gen Klas­se, Ober­stu­fe ei­nes Wie­ner Gym­na­si­ums, sei nur ein ech­ter Mut­ter­sprach­ler, bei al­len an­de­ren mer­ke man sprach­li­che De­fi­zi­en­zen (über de­ren Grün­de und Stel­len­wert man na­tür­lich lan­ge dis­ku­tie­ren könn­te). Es geht da­bei nicht um die sy­ri­sche Zu­wan­de­rung der letz­ten drei, vier Jah­re, son­dern um an­de­re Mi­gran­ten­grup­pen. Die Pro­ble­me, vor die ei­ne sol­che Leh­re­rin ge­stellt ist, kann man sich aus­ma­len. Her­kömm­li­che päd­ago­gi­sche Kon­zep­te er­fas­sen so ei­ne Rea­li­tät gar nicht.
    Kom­mu­ni­ka­ti­on be­deu­tet auch den Ver­such des Ver­ste­hens, was wie­der­um Ein­füh­lungs­ver­mö­gen und Vor­stel­lungs­kraft vor­aus­setzt. So se­he ich je­den­falls »Dis­kurs­räu­me« in eu­ro­pä­isch-auf­klä­re­ri­scher Tra­di­ti­on, auf der schließ­lich »un­se­re De­mo­kra­tie«, von Me­tep­si­lo­n­e­ma be­schwo­ren, fußt (und nicht nur auf One-man-one-vo­te, Wahl­ari­the­me­tik und Der-Kun­de-ist-Kö­nig). Neue po­li­ti­sche Strö­mun­gen set­zen an die Stel­le des­sen die Idee von Kom­mu­ni­ka­ti­on als Kampf und Selbst­be­haup­tung, was in mei­ner Sicht der Din­ge ei­nen so­zi­al­dar­wi­ni­sti­schen Hin­ter­grund hat. Ich muß mei­ne Po­si­ti­on ver­tei­di­gen, muß mich durch­set­zen. The win­ner is... Hier gibt es nur noch Di­stan­zie­rung vom an­de­ren und Be­stä­ti­gung der ei­ge­nen, nicht mehr hin­ter­frag­ten Iden­ti­tät.

  8. Was mir in den Aus­füh­run­gen von me­tep­si­lo­n­e­ma und Leo­pold Fe­der­mair et­was fehlt: Ein »Dis­kurs­raum«, wie im­mer man ihn de­fi­niert, wird ja nicht nur aus den Ein­las­sun­gen oder gar nur den In­ten­tio­nen ei­nes ein­zel­nen Ak­teurs be­stehen. So we­nig, wie ei­ne »Di­stan­zie­rung« im hier de­fi­nier­ten Sinn al­so den wirk­sa­men Aus­schluss ei­ner Mei­nung oder ei­nes Ak­teurs (Tell­kamp) durch ei­nen an­de­ren (Suhr­kamp-Twit­ter­ac­count) zur Fol­ge hat, so we­nig be­deu­tet sie, dass die Aus­ein­an­der­set­zung im Dis­kurs­raum nicht statt­fin­det. Das kann z.B. an an­de­rer Stel­le sein (man kann sich ja kaum dar­über be­kla­gen, Tell­kamps The­sen wür­den nicht dis­ku­tiert), oder es kann z.B. frü­her ge­we­sen sein, wor­auf die »Di­stan­zie­rung« dann nur noch ver­weist.

    Ein all­täg­li­ches Bei­spiel: Muss man die Mei­nun­gen von »Kli­ma­skep­ti­kern« im­mer wie­der neu dis­ku­tie­ren und sich auf sie »ein­las­sen«, um sich nicht der Preis­ga­be »un­se­rer De­mo­kra­tie« ver­däch­tig zu ma­chen?

    Ich ha­be das Ge­fühl, dass das al­les auf das al­te Pro­blem der To­le­ranz von In­to­le­ranz hin­aus­läuft. Im kon­kre­ten Fall kann man z.B. se­hen, dass Tell­kamp zwar sei­nen ei­ge­nen Op­fer­sta­tus be­haup­tet, aber sei­ner­seits die hier ver­tre­te­nen Dis­kurs­re­geln über­haupt nicht be­ach­tet. Ge­gen­ar­gu­men­te sind für ihn nur »Ohr­fei­gen« und Be­lei­di­gun­gen und nichts, wo­mit er sich in der Sa­che aus­ein­an­der­setzt. Da könn­te man nun um­ge­kehrt be­haup­ten, er selbst schlie­sse die an­de­ren aus dem Dis­kurs­raum aus.

  9. @Paul
    Ich schrieb oben: »Er bleibt aus dem Dis­kurs­raum aus­ge­schlos­sen oder wird nach drau­ßen ge­sto­ßen (das ist zu­nächst im­mer ei­ne For­de­rung, die ein­sei­tig er­ho­ben wird und sie rea­li­siert sich erst dann, wenn an­de­re mit­zie­hen).« Wir stim­men al­so dar­in über­ein, dass ei­ne ein­zi­ge Di­stan­zie­rung zu­nächst fol­gen­los bleibt, wenn aber zahl­rei­che wei­te­re (und pro­mi­nen­te) fol­gen, wird der­je­ni­ge im­mer mehr zu ei­nem Aus­ge­sto­ße­nen, mit dem man bes­ser nichts zu tun ha­ben soll­te. War­um? Weil un­ser me­dia­ler Dis­kurs­raum aus ei­nem brei­ten Main­stream* be­steht, der (vor al­lem im Qua­li­täts­seg­ment) weit­ge­hend ein­heit­lich ist (in die­sem Main­stream exi­stie­ren zwar Ni­schen in de­nen Ab­wei­chen­des ei­nen Platz fin­den kann, al­ler­dings sind die Sen­de­zei­ten meist Rand­zei­ten und die Bei­trä­ge im Ver­gleich zum Üb­li­chen nicht häu­fig ge­nug, sie ent­fal­ten al­so kaum Brei­ten­wir­kung). In an­de­ren Wor­ten: Vie­le Jour­na­li­sten sind sich in vie­len An­ge­le­gen­hei­ten »über­ra­schend« ei­nig und wer­ten ent­spre­chend. Für vie­le Per­so­nen die in der Öf­fent­lich­keit ste­hen, ha­ben sol­che Di­stan­zie­run­gen häu­fig be­ruf­li­che Fol­gen, es geht al­so nicht nur um die Teil­nah­me am Dis­kurs selbst (Preis­ver­ga­ben wä­ren ein Bei­spiel). Bei vie­len Men­schen bleibt dann nur noch ei­ne As­so­zia­ti­on wie »um­strit­ten«, »rechts«, »frau­en­feind­lich«, usw. hän­gen, was viel­leicht nicht im­mer, aber si­cher­lich oft auch be­ab­sich­tigt war.

    Zu den Kli­ma­skep­ti­kern und zur In­to­le­ranz: Über letz­te­re be­fin­den un­ab­hän­gi­ge Ge­rich­te, das Ge­setz de­fi­niert was zu­läs­sig ist und was nicht. Zu er­ste­ren: Wenn ich ih­re Ar­gu­men­te für un­zu­rei­chend hal­te, dann muss ich mich nicht mehr mit ih­nen be­fas­sen, oder? Wenn man aber Men­schen da­hin­ge­hend nicht für mün­dig hält, mö­ge man es sa­gen und die Sa­che mit der De­mo­kra­tie las­sen, die ba­siert doch dar­auf (und sie ist kein Ga­rant, dass im­mer die rich­ti­gen Ent­schei­dun­gen ge­trof­fen wer­den). Und man soll­te sich klar ma­chen, dass ein Dis­kurs kein Er­zie­hungs­mit­tel ist; er­wach­se­ne Men­schen sind des­halb er­wach­sen, weil sie nicht mehr er­zo­gen wer­den müs­sen. Man kann auch hier an­de­rer Mei­nung sein, aber soll­te das dann auch sa­gen.

    *bei Be­darf kann ich das ger­ne nä­her aus­füh­ren

  10. @Paul – aber auch die an­de­ren Dis­ku­tan­ten
    Es ist m. E. schon ei­ne Wer­tung, wenn man Tell­kamp ei­nen »Op­fer­sta­tus« un­ter­stellt. Und das ist ge­nau das, was ich als das Ge­gen­teil von Sa­tis­fak­ti­ons­fä­hig­keit in ei­nem »Dis­kurs­raum« ver­ste­he: Der An­ders­mei­nen­de wird eti­ket­tiert und de­nun­ziert. Da­mit be­treibt man das Ge­schäft der­je­ni­gen, die man vor­gibt (po­li­tisch) zu be­kämp­fen.

    Es ist ja auch nicht so, dass Tell­kamps The­sen jetzt dis­ku­tiert wer­den. Sie wer­den bei­sei­te ge­scho­ben. Das kann man üb­ri­gens leicht ma­chen, weil er in em­pi­ri­schen Be­haup­tun­gen irrt (bspw. die be­rühm­ten 95%) und ei­ne spe­zi­fisch ost­deut­sche Sicht ver­sucht zu ar­ti­ku­lie­ren, die ganz schnell als »Jam­me­rei« aus­ge­legt wird. Da­bei er­in­nert mich vie­les von dem was er sagt an den Duk­tus der so­ge­nann­ten »Jen­nin­ger-Re­de« 1988, die in sich harm­los war aber rhe­to­risch voll­kom­men ver­un­glückt. Den wah­ren In­halt woll­te man sich aber nicht an­se­hen.

    Ih­re Ein­las­sun­gen zu den so­ge­nann­ten »Kli­ma­skep­ti­kern« zeigt wo­mög­lich un­frei­wil­lig die Crux. Was ist denn ein »Kli­ma­skep­ti­ker«? Je­mand, der die Er­wär­mun­gen leug­net? Je­mand, der leug­net, dass sie men­schen­ge­macht sind? Je­mand, der glaubt, dass dem Pro­blem mit den an­vi­sier­ten Mög­lich­kei­ten nicht bei­zu­kom­men ist? Je­mand, der nicht glaubt, dass WInd- und Son­nen­en­er­gie die Pro­ble­me be­he­ben, oh­ne dass der so­ge­nann­te Wohl­stand da­bei eben­falls an­ge­gan­gen wer­den muß? Oder je­mand, der Elek­tro­mo­bi­li­tät für Un­fug hält, weil sie die glei­chen Res­sour­cen ver­wen­det wie »nor­ma­ler« Strom? Wo will man fest­le­gen, wel­che Mei­nung, wel­che Hal­tung nicht mehr dis­kus­si­ons­wür­dig ist? Und: Liegt in die­ser Ab­gren­zung (»mit dem re­de ich nicht mehr«) nicht ein to­ta­li­tä­res Ver­hal­ten?

    Ga­da­mer hat ein­mal sinn­ge­mäss ge­sagt, dass ein Ge­spräch im­mer be­inhal­ten muss, dass der An­de­re recht ha­ben könn­te. An­son­sten könn­te man tat­säch­lich auf den Aus­tausch von Ar­gu­men­ten ver­zich­ten und von oben her­ab die Wahr­hei­ten de­kre­tie­ren (Or­well lässt grü­ßen). Da­bei gibt es na­tür­lich Schwie­rig­kei­ten, denn se­riö­se Wis­sen­schaft­ler be­trach­ten das, was sie der­zeit als »Wahr­heit« for­mu­lie­ren und be­wei­sen kön­nen, im­mer nur als vor­läu­fig. Sie­he Pop­per.

    Ich ha­be kein In­ter­es­se auf Tell­kamps Äu­ße­run­gen im De­tail ein­zu­ge­hen. Per­sön­lich wi­der­stre­ben mir bei­de An­ti­po­den – so­wohl Tell­kamps Duk­tus (wo­bei ich sei­ne Äu­ße­run­gen ins­be­son­de­re zu den ost­deut­schen Be­find­lich­kei­ten – Stich­wort »Dun­kel­deutsch­land« sehr gut nach­voll­zie­hen kann – in die­ser Pau­scha­li­sie­rung wie der ehe­ma­li­ge Bun­des­prä­si­dent Gauck re­det man nicht über agan­ze Be­völ­ke­rungs­grup­pen) als auch das groß­mau­li­ge Ge­tue von Grün­bein, der auf bil­li­ge Art und Wei­se Punk­te sam­melt (in ei­nem In­ter­view rück­te er Tell­kamp in »Pegida«-Nähe und plä­dier­te an­de­rer­seits für ei­ne Re­ha­bi­li­ta­ti­on von Sar­ra­zin als Per­son).

    Un­mit­tel­bar nach der Di­stan­zie­rung von Suhr­kamp twit­ter­te ein FAZ-Jour­na­list sinn­ge­mäss, wie gut, dass sich nicht der Ro­wohlt-Ver­lag per­ma­nent von Sart­re di­stan­zie­ren müs­se.

  11. @beide: Ich ha­be den Ein­druck, wir sind gar nicht so weit von­ein­an­der ent­fernt. Wir sind uns dar­in ei­nig, dass es ei­nen ge­wis­sen Pres­se­main­stream in Deutsch­land gibt. Dass wis­sen­schaft­li­che Ver­fah­ren kei­ne »Wahr­heit de­kre­tie­ren«, ist eben­falls un­strit­tig (hier zu­min­dest). Ich bin im kon­kre­ten Fall auch gar nicht der Mei­nung, dass die Suhr­kamp-Ein­las­sung sinn­voll war.

    Ein­wän­de, oder eher Dif­fe­ren­zie­run­gen, ha­be ich le­dig­lich ge­gen ei­ni­ge der hier vor­ge­brach­ten Ge­ne­ra­li­sie­run­gen vor­zu­brin­gen, weil mir nicht klar wird, wie ein pro­duk­ti­ver Dis­kurs da­mit aus­se­hen kann.

    Die Of­fen­heit der Wis­sen­schaft ist z.B. of­fen­sicht­lich nicht un­be­grenzt. Ha­bi­tu­ell und in­sti­tu­tio­nell schon so­wie­so nicht, aber auch nicht theo­re­tisch: Wer hin­ter den ak­tu­el­len Wis­sens­stand zu­rück­ge­hen will, muss das sehr gut be­grün­den kön­nen, um aus dem Wis­sen­schaft­li­chen Dis­kurs nicht ir­gend­wann her­aus­zu­fal­len. An­ders kann die­ser Dis­kurs auch gar nicht er­hal­ten wer­den.

    Für den öf­fent­li­chen Dis­kurs gilt das doch ähn­lich. De­fi­nie­ren wir doch »Kli­ma­skep­ti­ker« ein­fach eng: Leug­nung men­schen­ge­mach­ten Kli­ma­wan­dels. Darf ich hier ir­gend­wann (die wis­sen­schaft­li­che Dis­kus­si­on ist seit Jahr­zehn­ten kon­so­li­diert) ei­nen Wis­sens­stand vor­aus­set­zen, oder muss ich die Leug­ner al­le als sa­tis­fak­ti­ons­fä­hig be­han­deln, um kein »to­ta­li­tä­res Ver­hal­ten« zu zei­gen? Das hät­te zur Fol­ge, dass sämt­li­che, wenn man so will, ‘Dis­kurs­res­sour­cen’ auf ein­fach­ste Wei­se ge­bun­den wer­den kön­nen. Nur dar­um ging es mir mit die­sem Bei­spiel.

    Die Fra­ge ist dann auch, was man als De­nun­zia­ti­on be­zeich­net. Sie, Gre­gor Keu­sch­nig, schei­nen mir aus­ge­spro­chen streng: Wenn ich Tell­kamp zu­schrei­be, ei­nen »Op­fer­sta­tus« zu be­haup­ten, be­zie­he ich mich da­mit ganz kon­kret auf sei­ne Aus­sa­gen über »Ohr­fei­gen« und »Furcht« und man­geln­de »Mei­nungs­frei­heit«. Ich hal­te das nicht für ei­ne De­nun­zia­ti­on, son­dern für ei­ne Aus­ein­an­der­set­zung mit sei­nen Aus­sa­gen. Frei­lich ge­lan­ge ich da­bei zu ei­ner Wer­tung. Sie las­sen das an­schei­nend nicht gel­ten Und wenn er auf der sach­li­chen Ebe­ne wi­der­legt wird (»95%«), nen­nen Sie das »bei­sei­te schie­ben«. Die Aus­ein­an­der­set­zung mit Tell­kamp in der FAZ (z.B. Strauß zum »Ost-Ge­fühl«) und die Relek­tü­ren sei­ner Li­te­ra­tur (Welt, Zeit), al­les in der Fol­ge die­ses Dis­kus­si­ons­abends, schei­nen Sie eben­falls nicht gel­ten zu las­sen.

    Da­mit wir uns nicht falsch ver­ste­hen: Ich hal­te es für kei­nes­wegs aus­ge­macht, wo hier die Gren­zen lie­gen. Aber ich fra­ge mich, wo Sie sie ei­gent­lich set­zen, wenn Sie in all dem nur »Bei­sei­te­schie­ben« er­ken­nen?

  12. @Paul
    Es gibt na­tür­lich ei­nen For­schungs­stand, et­was das als ge­si­chert gilt und da­her auch et­was wie Lehr­mei­nun­gen und Leh­re über­haupt. Es gibt, so­zu­sa­gen dar­über, aber sehr wohl ei­nen Raum, der im Fluss ist, al­so Phä­no­me­ne, die man erst zu ver­ste­hen be­ginnt und wi­der­spre­chen­de An­sich­ten und An­sät­ze (ein be­rühm­tes Bei­spiel ist das Tri­pl­ehe­lix Mo­dell der DNS von Li­nus Pau­ling). Zu­ge­spitzt: In Lehr­bü­chern ste­hen »ver­al­te­te« Din­ge, den ak­tu­el­len (und im Fluss be­find­li­chen) For­schungs­stand ei­nes Fach­ge­biets muss man sich aus den Ein­zel­pu­bli­ka­tio­nen der peer re­view Jour­na­le zu­sam­men­su­chen (in den Na­tur­wis­sen­schaf­ten je­den­falls). Und es kommt auch im­mer wie­der zu Pa­ra­dig­men­wech­seln, al­so mit­tel­gro­ßen oder gro­ßen Um­wäl­zun­gen, die dann auch den Kern­be­stand ei­nes Fachs be­tref­fen kön­nen (man den­ke an die klas­si­sche und die Quan­ten­phy­sik oder an den Stand ei­ner Dis­zi­plin so wie er vor meh­re­ren Jahr­zehn­ten aus­sah und wie er heu­te aus­sieht). Kurz­um: Bloß zu sa­gen et­was sei Stand des Wis­sens, ist ein Au­to­ri­täts­ar­gu­ment, das dar­auf ver­zich­ten möch­te, dass man ei­ne Po­si­ti­on be­grün­den muss. Ich be­haup­te, dass die mei­sten Men­schen aus dem Stand nicht ein­mal an­nä­hernd grö­ßen­ord­nungs­mä­ßig ab­schät­zen kön­nen, wie hoch der Koh­len­di­oxid­an­teil der Luft ist. Aber sie »wis­sen«, dass der Kli­ma­wan­del Rea­li­tät ist. In Wahr­heit glau­ben sie es, was wei­ter nicht schlimm wä­re, wenn ih­nen das klar wä­re. Ich ha­be mich z.B. nie ein­ge­hend ge­nug mit die­sem The­ma be­schäf­tigt, als dass ich mich ei­ner der bei­den Po­si­tio­nen zu­ord­nen möch­te (klar, ich ken­ne ein paar Ar­gu­men­te in bei­de Rich­tun­gen, aber nicht ge­nug). Al­ler­dings bin ich bei al­lem skep­tisch, das me­di­al ein­hel­lig aus­ge­brei­tet wird, weil da­hin­ter häu­fig un­aus­ge­spro­che­ne In­ter­es­sen ste­hen. Wenn ich an das Wald­ster­ben in den 80igern den­ke, dann hat man da­mals das Phä­no­men rich­tig er­kannt, wohl aber über­zeich­net (heu­te geht es un­se­ren Wäl­dern zu­min­dest da­hin­ge­hend gut, viel­leicht hat­te ja al­les sei­nen Sinn).

  13. @metepsilonema Das be­strei­te ich al­les nicht im min­de­sten. Mich in­ter­es­siert aber eben die kon­kre­te Dis­kurs­pra­xis, nicht das grund­sätz­li­che und ein biss­chen ba­na­le Po­stu­lat, dass es kei­ne end­gül­ti­ge Wahr­heit gibt. Wo soll man denn nun an­set­zen, um den Fort­schritt im Dis­kurs ei­ner­seits zu er­mög­li­chen, an­de­rer­seits nicht »to­ta­li­tä­res Ver­hal­ten«, wie es Keu­sch­nig nennt, zu prak­ti­zie­ren? Ich fin­de den Ver­weis auf die Exi­stenz von Pa­ra­dig­men­wech­seln ein biss­chen bil­lig, denn das be­strei­tet ja er­stens nie­mand, und zwei­tens sagt es nichts dar­über aus, wie man denn nun dis­ku­tie­ren soll, um sie von an­de­rem zu un­ter­schei­den.

  14. @Paul
    To­ta­li­tä­res Ver­hal­ten be­deu­tet dem Ab­wei­chen­den kein Exi­stenz­recht zu­zu­spre­chen: Wenn es sich nicht an­schließt, wird es aus­ge­schlos­sen. Ich weiß jetzt nicht, was Sie ge­nau mit Fort­schritt mei­nen, ich kann für mich sa­gen, dass ich nie­man­den über­zeu­gen muss. Ich ver­su­che ei­ne Po­si­ti­on zu be­grün­den, die Wer­tun­gen und die Quel­len of­fen­zu­le­gen: Man mö­ge mir fol­gen oder nicht, ich kann es er­tra­gen, wenn an­de­re an­de­rer An­sich­ten sind (auch wenn mir man­ches durch­aus na­he geht und ich strei­ten kann). Wenn der Fort­schritt mit ver­nunft­ge­lei­te­ter Ein­sicht zu tun hat, und die­se je­dem (in durch­aus va­ri­ie­ren­dem Aus­maß) zur Ver­fü­gung steht, dann ist er ei­ne Fra­ge in­di­vi­du­el­ler und dann ku­mu­lie­ren­der Einsicht(en). Die Al­ter­na­ti­ve ist das pa­ter­na­li­sti­sche Pro­gramm, das, um Wi­der­stän­de zu ver­mei­den, so tut, als neh­me es den Ein­zel­nen ernst, tat­säch­lich aber ver­sucht man »die Mas­sen« dort­hin zu lei­ten, wo man sie ha­ben will (war­um auch im­mer). Das ist un­sym­pa­thisch, heuch­le­risch und macht am En­de wohl kaum je­mand glück­lich.

  15. Ich ver­su­che ei­ne Po­si­ti­on zu be­grün­den, die Wer­tun­gen und die Quel­len of­fen­zu­le­gen: Man mö­ge mir fol­gen oder nicht, ich kann es er­tra­gen, wenn an­de­re an­de­rer An­sich­ten sind

    Das ehrt Sie, und es hät­te zwei­fel­los Suhr­kamp ge­ehrt, statt des la­pi­da­ren Tweets we­nig­stens das zu tun (oder zu schwei­gen).

    Ich den­ke zwar wei­ter nicht, dass sich aus Ih­ren Kri­te­ri­en et­was für die schon oben ge­stell­ten Fra­gen er­gibt, z.B. ob es ei­ne Ver­pflich­tung gibt, die­sel­be Me­tho­de für je­den in­di­vi­du­el­len Wi­der­spruch zu wie­der­ho­len, und wie sich das zur »ku­mu­lie­ren­den Er­kennt­nis« ver­hält. Oder ob man nicht Me­tho­de (»be­grün­den« und »of­fen­le­gen«) und Mo­ti­va­ti­on (»Mas­sen lei­ten«) ge­trennt be­trach­ten soll­te. Aber ich den­ke, die Ar­gu­men­te sind im We­sent­li­chen aus­ge­tauscht, wahr­schein­lich in­ter­es­sie­ren uns an die­sem Phä­no­men doch zu un­ter­schied­li­che Tei­le.

  16. Ich ha­be mich in den letz­ten Jah­ren viel mit Mo­ral­theo­rie be­schäf­tigt, Im­por­te aus den USA, Haidt, Sa­pol­sky, Pin­ker. Da­bei spielt die Ka­te­go­rie der »An­de­ren« ei­ne we­sent­li­che Rol­le. Des­halb wür­de ich ganz ger­ne auf den Un­ter­schied zwi­schen Sin­gu­lar und Plu­ral ein­ge­hen, der beim sprung­haf­ten The­men­wech­sel von Pe­gi­da auf Tell­kamp leicht zu kurz kommt, so­dass die Di­stan­zie­rung von ei­ner Per­son im­mer mit der Di­stan­zie­rung von un­lieb­sa­men Mei­nun­gen zu­sam­men er­folgt. Es scheint mir die we­sent­li­che Funk­ti­on der Di­stan­zie­rung auf die Mei­nung zu zie­len.
    Der ver­flix­te Plu­ral ma­ni­fe­stiert sich mo­ral­theo­re­tisch auf meh­re­ren Ebe­nen: da ist ein­mal die Pe­gi­da, die nicht sa­tis­fak­ti­ons­fä­hig ist, weil sie sich im we­sent­li­chen auf Stim­mun­gen und manch­mal so­gar Ge­mein­hei­ten stützt. Pe­gi­da, das sind die An­de­ren, mit de­nen man nichts zu tun krie­gen möch­te. Ei­ne an­ge­neh­me Di­stan­zie­rung!
    Dann gibt es den Plu­ral des main­streams, der die ver­schie­de­nen Fa­cet­ten der Re­gie­rungs­po­li­tik wür­digt, an­ge­fan­gen vom ho­hen Schutz­gut der Flücht­lings­kon­ven­ti­on, über das Rück­füh­rungs­ab­kom­men mit der Tür­kei, bis hin zum Ziel ei­ner er­neu­er­ten eu­ro­päi­schen Asyl­pra­xis. Die­se Po­li­tik steckt vol­ler Fra­gen, die bis zu Ver­fas­sungs­pro­ble­men rei­chen, et­wa dem pau­scha­len Ein­lass­be­fehl des In­nen­mi­ni­ste­ri­ums, und der sus­pen­dier­ten Dritt­staa­ten­re­gel bei den Grenz­kon­trol­len an­ge­sichts fast aus­schließ­lich schei­tern­den Dub­lin-Ver­fah­ren... Das ist ei­ne Bau­stel­le. Und des­halb ist es auch schwie­rig, sich die­sem main­stream vor­be­halt­los an­zu­schlie­ßen. Ei­ne Run­de Mit­leid für den main­stream, der hat es näm­lich auch nicht leicht!
    Der drit­te ver­flix­te Plu­ral er­gibt sich mei­nes Er­ach­tens aus so­zio­öko­no­mi­schen Über­le­gun­gen: not­in­du­zier­te Wan­de­run­gen in grö­ße­rem Um­fang stel­len im­mer die Res­sour­cen­fra­ge. Da­von will die Öf­fent­lich­keit, be­son­ders 2015 un­ter dem Ein­druck sehr dra­ma­ti­scher Mel­dun­gen aus der Ägä­is, bis­lang nichts wis­sen. Es sind die­se Ab­wä­gun­gen nicht nur po­li­tisch hei­kel, son­dern auch mo­ra­lisch an­spruchs­voll. Ni­da-Rü­me­lin hat ein Buch dar­über ge­schrie­ben. Al­ler­dings lässt sich das Pro­blem po­le­misch leicht ver­ein­fa­chen, und das ist in­so­fern be­un­ru­hi­gend als Pe­gi­da zwar ha­ne­bü­chen im Dis­kurs da­her kommt, aber die po­li­ti­sche Ab­sicht in der Form ei­ner Mi­gra­ti­ons­be­gren­zung so­gar ra­tio­nal ist. Es ist ra­tio­nal trotz Pe­gi­da... Der ver­flix­te Plu­ral liegt in der De­fi­ni­ti­on des Ge­mein­we­sens, und der simp­len Un­ter­schei­dung von In­län­dern und Aus­län­dern ein­schließ­lich der so­zi­al­recht­li­chen Im­pli­ka­tio­nen. Das Wir sind die Deut­schen, die An­de­ren sind die Aus­län­der, die et­was von uns wol­len. Es liegt kei­ne Ko­hä­renz der In­ter­es­sen vor, wie die pro­fes­sio­nel­len NGOs ger­ne sug­ge­rie­ren. Ein Land ist kein Ret­tungs­un­ter­neh­men. Die Fra­ge, wie­vie­le, ist auch kei­nes­wegs »rechts­fern«, wie der Ver­fas­sungs­recht­ler Pa­pier aus­führt, auch nicht pflicht­ver­ges­sen un­mo­ra­lisch, al­ler­dings sta­peln sich die (europa-)politischen und die mo­ra­li­schen Pro­ble­me bei die­ser Er­ör­te­rung so­dass man ei­nen ge­wis­sen Ri­go­ris­mus, der sich ger­ne als Po­si­ti­on der Stär­ke, Rechts­treue und ent­schlos­se­nen Men­schen­freund­lich­keit prä­sen­tiert, auch ir­gend­wo ver­ste­hen kann.
    Die Ver­nunft hat es au­ßer­or­dent­lich schwer in die­sem Dschun­gel. Wie be­reits er­wähnt, kann man Pe­gi­da aus Kom­pe­tenz- und Ge­schmacks­grün­den aus­schlie­ßen, nicht aber die Res­sour­cen­fra­ge, die sich auf Ra­tio­na­li­täts­kri­te­ri­en wie Vor­aus­schau und Pla­nung be­zieht. Ja, und die Ver­nunft hat auch ein Ver­fas­sungs­pro­blem: die po­li­ti­sche Steue­rung über die eu­ro­päi­sche Ebe­ne bzw. gar die Ab­wehr der Zu­wan­de­rung an den Gren­zen Eu­ro­pas über Dritt­staa­ten-Re­geln, –bei gleich­zei­ti­ger for­ma­ler Auf­recht­erhal­tung ei­nes »Grund­rechts«, al­so welt­bür­ger­li­chen Rechts auf Asyl,– ist we­nig­stens in­kon­si­stent. Wel­chen Sinn macht ein welt­bür­ger­li­ches Grund­recht, das nie­mand in An­pruch neh­men kann, es sei denn er nimmt die Mü­hen ei­ner il­le­ga­len Bin­nen­wan­de­rung auf sich?! Deutsch­land hat seit dem Asyl­kom­pro­miss 1993 ei­nen Son­der­weg be­schrit­ten, der nicht wirk­lich zu­kunfts­wei­send ist. Ar­ti­kel 16 GG ge­hört ei­gent­lich ab­ge­schafft, wenn man es mit Eu­ro­pa wirk­lich ernst meint in die­ser Fra­ge...
    Ich ent­schul­di­ge mich für so viel Mei­nung, aber das ist un­ge­fähr mein Kennt­nis­stand. In der po­li­ti­schen Öf­fent­lich­keit herrscht im­mer noch viel Grup­pen­dy­na­mik. Lei­der sind die po­li­ti­schen Fra­gen sehr schwer, und die ein­fa­chen Ant­wor­ten ha­ben (egal von wel­cher Sei­te) im­mer ei­ne ge­wis­se Er­leich­te­rung für sich.
    Di­stan­zie­run­gen könn­te man auch als den Ver­such deu­ten, die Fron­ten von zwi­schen Freund­schaf­ten und Feind­schaf­ten »über die Sa­che « zu stel­len, weil es ein­fa­cher ist...

  17. @Paul
    Ich se­he nicht, dass man sein Ver­hal­ten im Dis­kurs (Me­tho­de) von sei­nen Idea­len (Mo­ti­va­ti­on) tren­nen kann. Wenn ich ein Ge­gen­über grund­sätz­lich ach­te, dann wer­de ich red­lich sein; wenn ich der An­sicht bin, dass ich mich ir­ren kann und in mei­ner Sicht der Din­ge auch im­mer be­schränkt bin, dann wer­de ich mir an­hö­ren, was ein an­de­rer zu sa­gen hat. Aber ei­ne Ver­pflich­tung, die über ei­ne ei­ge­ne Set­zung hin­aus­geht, ich wüss­te nicht wie die be­grün­det sein soll­te (an­son­sten: so­weit, so gut).

  18. @Paul
    Ich ver­ste­he Ihr An­lie­gen da­hin­ge­hend, dass Sie sa­gen, es gibt Tat­sa­chen, hin­ter de­nen kein Dis­kurs mehr sinn­voll er­scheint. Al­len­falls müss­te man – po­pu­lär aus­ge­drückt – im­mer wie­der bei Adam und Eva an­fan­gen. Die Aus­sa­ge, dass der Kli­ma­wan­del nicht men­schen­ge­macht sei, ge­hört – wenn ich Sie rich­tig ver­stan­den ha­be – in die­se Ka­te­go­rie (um nur bei die­sem Bei­spiel zu blei­ben).

    Es ist jetzt sehr leicht, die­se Be­haup­tung – »der Kli­ma­wan­del ist nicht men­schen­ge­macht« – auf­zu­stel­len. Sie ist auch sehr ent­la­stend, weil es in­di­rekt be­deu­tet, dass man so wei­ter­ma­chen kann wie bis­her, weil man eh’ nichts än­dern kann. Per­sön­lich ha­be ich die­ses Dog­ma nie ver­stan­den: Ob der Kli­ma­wan­del nun men­schen­ge­macht ist oder nicht spielt doch nur ei­ne un­ter­ge­ord­ne­te Rol­le. Wich­ti­ger ist doch ob er (der Kli­ma­wan­del) durch Men­schen re­du­ziert oder min­de­stens auf­ge­hal­ten wer­den kann. In­so­fern ist der Dis­kurs über die »Schuld« des Men­schen an den Phä­no­me­nen des­sen, was Kli­ma­wan­del ge­nannt wird, ein Ab­len­kungs­ma­nö­ver. Jeg­li­ches Be­har­ren dar­auf ver­la­gert Dis­kurs­res­sour­cen in den Be­reich der Spe­ku­la­ti­on.

    Der wirk­li­che Kli­ma­wan­del­leug­ner, d. h. der­je­ni­ge, der die Phä­no­me­ne als Ur­sa­che ei­ner statt­fin­den­den Kli­ma­ver­än­de­rung leug­net, dürf­te in Rein­form nur noch sehr schwie­rig an­zu­tref­fen sein. In­ter­es­san­ter ist doch die Fra­ge, in­wie­fern wir ein auf Kon­sum und Res­sour­cen­ver­nich­tung aus­ge­rich­te­tes Sy­stem auf­recht er­hal­ten kön­nen, in­dem wie Strom zu­künf­tig aus Wind und Son­ne ge­win­nen (ob­wohl wir den ent­schei­den­den Durch­bruch in den Spei­cher­ka­pa­zi­tä­ten noch nicht er­reicht ha­ben – aber hier hof­fen wir eben auf den Fort­schritt) und vor­ei­lig das Elek­tro­au­to als Hei­lung von Ben­zi­nern ver­ste­hen. Hier­über müss­te ein Dis­kurs ge­führt wer­den. Statt­des­sen zie­hen sich bei­de Sei­ten auf Dog­men zu­rück.

    (Ich er­in­ne­re mich noch an ei­ne kur­ze Pha­se En­de der 1960er/Anfang der 1970er Jah­re. Da­mals galt Kern­ener­gie als das neue Wun­der­mit­tel. Es war DER Fort­schritt. DIE Zu­kunft. Wer da­ge­gen war, galt als rück­stän­dig. Die Ent­sor­gungs­fra­ge wur­de ein­fach nicht ge­stellt. Sie stand der Eu­pho­rie ent­ge­gen.)

    Ich schwei­fe ab. Zu­rück zur Cau­sa Tell­kamp: Hier kann man – wie ich schrieb – mo­nie­ren, dass er sich in Be­zug auf die 95% ge­irrt ha­be. Die­ser Irr­tum, ent­stan­den in ei­ner Po­di­ums­dis­kus­si­on und nicht in ei­nem wis­sen­schaft­li­chen Re­fe­rat, wird als Grund ge­nom­men, die Aus­sa­ge per se an­zu­zwei­feln. Da­bei dürf­te längst un­strit­tig sein, dass Deutsch­land bei Asyl­su­chen­den un­ter an­de­rem auf­grund der ver­hält­nis­mä­ssig groß­zü­gi­gen Ali­men­tie­rung in den So­zi­al­sy­ste­men so be­liebt ist. Tell­kamp spielt mit die­ser Stamm­tisch­zahl 95% auch dar­auf an, dass man zu An­fang der so­ge­nann­ten Flücht­lings­kri­se von Me­di­en, Po­li­tik und Wirt­schaft uni­so­no ein­ge­trich­tert be­kam, es wür­den jetzt lau­ter Fach­kräf­te kom­men. Die­se Ein­schät­zung wur­de ganz schnell zu­rück­ge­nom­men.

    Kom­men wir zu Tell­kamps Är­ger­nis über das Dun­kel­deutsch­land-Ge­re­de. Ich fand es tat­säch­lich da­mals sehr schlecht, dass ein Bun­des­prä­si­dent in die­ser Pau­scha­li­sie­rung ei­ne gan­ze Re­gi­on de­nun­ziert (ich fin­de da­für kein an­de­res Wort, sor­ry). Ist jetzt je­der, der sich dar­über em­pört, ein Jam­mer­lap­pen? Und: Ist die­ses bil­li­ge Gauck-Ge­schwa­fel nicht ge­nau das, was man den Schmier­lap­pen der AfD stän­dig vor­hält – nur eben von der an­de­ren Sei­te?

    Sich statt­des­sen im Grün­bein-Duk­tus son­nen ist mir schlicht­weg zu bil­lig. Ich sa­ge nicht, dass Sie dies ma­chen. Und dann noch et­was – be­vor ich viel­leicht in ei­ne fal­sche Ecke ge­stellt wer­de: Ich hat­te In­ter­es­san­tes er­war­tet von der »Ge­mein­sa­men Er­klä­rung 2018″. Und was gab es: Er­bäm­li­che zwei Sät­ze. Hier­über soll­te man Tell­kamp viel stär­ker kri­ti­sie­ren: Dass er nicht in der La­ge – oder nicht wil­lens – ist, sei­ne Ar­gu­men­te in ei­ne ver­nünf­ti­ge, dis­kurs­fä­hi­ge Form zu brin­gen.

  19. Pingback: links for 2018-03-26 – urbandesire

  20. @die_kalte_Sophie
    Vie­len Dank für den – wie im­mer – sehr in­ter­es­san­ten Kom­men­tar.

    Ich ha­be nicht Ni­da-Rü­me­lin ge­le­sen, son­dern Ro­bin Alex­an­ders »Die Ge­trie­be­nen«. Das Buch zeigt ei­ner­seits die durch die je­wei­li­ge Si­tua­ti­on her­vor­ge­ru­fe­nen spon­tan not­wen­di­gen Ent­schei­dungs­di­lem­ma­ta, die dann nach­träg­lich als was auch im­mer (hu­ma­ni­tär oder ein­fach nur prag­ma­tisch) er­klärt wer­den. Es zeigt vor al­lem, dass Deutsch­land (vul­go: die di­ver­sen Mer­kel-Re­gie­run­gen) jah­re­lang Dub­lin aus­ge­nutzt ha­ben um sich über die Dritt­staa­ten­re­ge­lung ei­nen schlan­ken Fuß zu ma­chen und dann, nach­dem man die Gren­zen aus wel­chen Grün­den auch im­mer ge­öff­net hat­te, plötz­lich »eu­ro­päi­sche So­li­da­ri­tät« ein­for­der­te. In frü­he­ren We­stern hät­ten die In­dia­ner so et­was als Re­den mit ge­spal­te­ner Zun­ge be­zeich­net.

    So, und jetzt wa­ge ich mal die­sen Ar­ti­kel hier in die Dis­kus­si­on zu wer­fen. – Ein ehe­ma­li­ger Am­ne­sty-Funk­tio­när wird hier be­fragt und äu­ßert sich kri­tisch über den ri­go­ro­sen Idea­lis­mus sol­cher Or­ga­ni­sa­tio­nen. Ent­schei­dend ist da­bei für mich die­se Pas­sa­ge: »Sol­len Am­ne­sty und ähn­li­che Ver­bän­de klein bei­geben und auf ih­re An­lie­gen ver­zich­ten, da die Mehr­heit nun ein­mal ge­schlos­se­ne Gren­zen will? ‘Na­tür­lich nicht. Aber sie soll­ten sich bes­ser über­le­gen, wer ih­re Fein­de und wer ih­re po­ten­ti­el­len Ver­bün­de­ten sind.’ Denn wer die po­li­ti­sche Mit­te, die Eu­ro­pas men­schen­recht­li­che Selbst­ver­pflich­tun­gen noch an­er­ken­ne, stän­dig da­für ver­dam­me, dass sie Mehr­heits­ver­hält­nis­se be­rück­sich­tigt und Kom­pro­mis­se ein­geht, wer die­se Mit­te gar mit Dem­ago­gen von links oder rechts gleich­set­ze – wen ha­be der ei­gent­lich dort, wo die Ent­schei­dun­gen fal­len, al­so in der Po­li­tik, noch als Part­ner?«

  21. Der Ar­ti­kel über Dal­hui­sen ist auf­schluss­reich. Er ent­hält meh­re­re Hin­wei­se dar­auf, dass die Mo­ral der Hilfs­or­ga­ni­sa­tio­nen nicht als Maß­stab für das staat­li­che Han­deln (=Po­li­tik der Mit­te) in Be­tracht kommt. Ich glau­be, dass der völ­li­ge Ver­zicht auf öko­no­mi­sche Über­le­gun­gen tat­säch­lich die Ur­sa­che für die­se In­kom­pa­ti­bi­li­tät ist, wes­halb die For­mu­lie­rung »Mo­ra­li­sche Rein­heit als Ge­schäfts­mo­dell« nur iro­nisch ge­deu­tet rich­tig sein kann. Aus öko­no­mi­scher Sicht han­delt es sich um kein Un­ter­neh­men, son­dern um ei­ne ver­brau­chen­de Wirt­schafts­ein­heit, die staat­li­chen Ein­rich­tun­gen wie dem Ret­tungs­dienst DRK ver­gleich­bar ist.
    Die un­er­schüt­ter­li­che Ge­sin­nung von NGOs hat mich im­mer be­schäf­tigt. Nach dem Sy­stem von Haidt ist es ein Mo­dell, das die mo­ra­li­schen Wer­te der Rein­heit und der Für­sor­ge ins Zen­trum rückt, und des­sen Ge­mein­schafts­kon­zept gleich die gan­ze Mensch­heit ist. Der Be­griff »Rein­heit« ist ge­nau rich­tig, da wie vor Ur­zei­ten der Be­sitz ei­ner ab­so­lu­ten un­be­frag­ba­ren Mo­ral sehr at­trak­tiv ist, und ei­ne un­mit­tel­ba­re Mo­ti­va­ti­on für das täg­li­che Han­deln da­mit er­zeugt wird. Wir fin­den Ana­lo­gien so­wohl zum uto­pi­schen So­zia­lis­mus als auch zum re­li­giö­sen Al­tru­is­mus, wo die Bei­spie­le für die Hin­ga­be an den Näch­sten be­son­ders ein­drucks­voll sind. Nur als po­li­ti­scher Leit­fa­den für Markt­wirt­schaf­ten mit an­ge­schlos­se­nen So­zi­al­staa­ten funk­tio­niert es nicht. Da­bei ist der So­zi­al­staat noch nicht ein­mal der zen­tra­le Stol­per­stein, sie­he USA, wo eben­falls Mi­gra­ti­on ab­ge­wehrt wird. Be­reits die Kon­kur­renz um Wohn­raum und Ar­beit reicht, um die In­kom­pa­ti­bi­li­tät fest­zu­stel­len. Auch die öf­fent­li­chen Club-Gü­ter wie Schwimm­bä­der und Bi­blio­the­ken ge­hö­ren nicht der gan­zen Mensch­heit.
    Was Dal­hui­sen be­ob­ach­tet, wür­de ich ganz ge­nau­so ver­mu­ten: es gibt of­fen­sicht­lich ei­nen wei­te­ren Pfer­de­fuss die­ser ur­sprüng­lich rei­nen Ethi­ken, ei­nen Dorn im Fleisch des Hei­li­gen, ei­ne pro­fes­sio­nel­le »Cha­rak­ter­schwä­che«. Die Mit­ar­bei­ter wer­den sehr schnell un­ge­dul­dig oder em­pört, wenn man sich nicht der Ein­fach­heit (Kon­si­stenz) die­ser Über­zeu­gun­gen an­schließt. Sie den­ken, dass wir et­was bi­gott und schwach sind, da wir zö­gern, un­se­re So­zi­al­staa­ten und Ar­beits­märk­te den bür­ger­kriegs-in­du­zier­ten Wan­de­run­gen zur Ver­fü­gung zu stel­len. Ei­ne gän­gi­ge Hy­po­the­se für die­se un­se­re Schwä­che lau­tet, wir wür­den den Rech­ten ir­gend­wie doch nach­ge­ben. Nur kei­ne fal­schen Kom­pro­mis­se! Die­se Hy­po­the­se ist psy­cho­lo­gisch be­son­ders wich­tig, weil sie et­was über den »Sen­der« aus­sagt. Fak­tisch ist sie falsch. Aber der An­hän­ger ei­ner rei­nen Mo­ral der Men­schen­rech­te kann sich die Wi­der­stän­de nicht an­ders er­klä­ren. Gleich­wohl be­nö­tigt er ei­ne Er­klä­rung! Er sucht und fin­det ei­ne »ir­ra­tio­na­le« Er­klä­rung, er glaubt nicht an die Ar­gu­men­te, die wir vor­brin­gen, er glaubt, dass be­trächt­li­che Wi­der­stän­de nur aus un­lau­te­ren Mo­ti­ven er­wach­sen kön­nen. Die Ar­gu­men­te sei­en nur »Ra­tio­na­li­sie­run­gen« für ei­ne in­ak­zep­ta­ble Ab­sicht oder un­be­wuss­te Mo­ti­ve! Die »theo­ry of mind« der An­hän­ger lässt uns im­mer in ei­nem schlech­ten Licht er­schei­nen. Wir sind al­le Orb­ans, wenn wir Bar­rie­ren auf­rich­ten, ganz egal wie sach­kun­dig un­se­re Ar­gu­men­ta­ti­on aus­fal­len mag. Das Er­geb­nis (vgl. Haidts Be­mer­kun­gen zur de­on­to­lo­gi­schen Mo­ral) stand ja VON VORNE HEREIN fest!! Der Ver­stand wur­de ein­zig und al­lein da­zu be­nutzt, die »Be­grün­dung« für die mo­ra­li­sche In­tui­ti­on zu lie­fern. Glaubt der NGO-Ak­ti­vist. Da­bei nimmt er an sich selbst Maß, und täuscht sich zu­gleich über die An­de­ren.
    Das We­sent­li­che he­be ich noch ein­mal her­vor: wir ha­ben es mit ei­nem mo­ra­li­schen Mo­dell zu tun, das be­stimm­te Schwer­punk­te setzt (Rein­heit, Für­sor­ge), aber auch ei­ner be­schränk­ten Ma­trix für Ra­tio­na­li­tät, die sich fis­ka­li­schen und markt­wirt­schaft­li­chen Über­le­gun­gen ver­schließt, und al­len­falls prin­zi­pi­en-ge­lei­te­te Schluss­fol­ge­run­gen im Fel­de der Moral/Politik zu­lässt...
    Ich glau­be nicht, dass die NGOs lern­fä­hig sind, oder sich tak­tisch ver­hal­ten soll­ten, um die po­li­ti­sche Mit­te nicht zu ver­grät­zen. Sie sind, wie sie sind! Ich be­trach­te die NGOs als ei­ne »ma­schi­nel­le so­zia­le Ein­heit« zur Ret­tung von Men­schen, die auf Spen­den ba­siert, mit dies­seits-re­li­giö­sen Ak­teu­ren, die auf uns al­le ein we­nig un­ge­dul­dig und un­gnä­dig her­ab­schau­en.

  22. @die_kalte_Sophie
    In­so­fern hat der Dal­hui­sen-Ar­ti­kel dann doch mit Tell­kamp / Grün­bein zu tun.

    Das Ross der mo­ra­li­schen Über­le­gen­heit ist ein sehr be­que­mer Platz, so­fern man von ihm aus kei­ne ver­ant­wort­li­che Po­li­tik be­trei­ben muss. Da­zu passt, dass das Wort von der »Re­al­po­li­tik« ins­be­son­de­re in Deutsch­land schon in der Wei­ma­rer Re­pu­blik ei­nen schlech­ten Ruf hat­te. Da­mals wur­de die De­mo­kra­tie nicht nur von Lin­ken und Rech­ten at­tackiert, son­dern auch von den Mo­ra­li­sten, die in jeg­li­cher re­al­po­li­ti­schen Hand­lung, in je­dem Kom­pro­miss, im­mer die Ab­kehr von der »rei­nen« (mo­ra­li­schen) Leh­re er­kann­ten. Noch heu­te ist das er­ste At­tri­but, dass ei­nem zu »Kom­pro­miss« in den Sinn kommt, »faul«.

    Ge­ne­rell – und das zeigt auch der FAZ-Ar­ti­kel – stel­le ich ei­ne Ver­här­tung der Ge­sell­schaft fest. Zum ei­nen gibt es die au­to­ri­täts­hei­schen­den Orb­ans und zum an­de­ren die nicht min­der au­to­ri­täts­er­war­ten­den NGOs und de­ren An­hän­ger. Bei­den wi­der­strebt ei­ne de­mo­kra­ti­sche Par­ti­zi­pa­ti­on; bei­de be­vor­zu­gen den »gu­ten Kö­nig« (die Vol­ten der Orb­ans in Rich­tung Bür­ger­ent­schei­de sind Ab­len­kungs­ma­nö­ver). De­mo­kra­ti­sche Ent­schei­dun­gen sind ih­nen su­spekt, ja un­er­wünscht. Sie ver­ach­ten die Mas­se.

  23. Zu­stim­mung, um die dis­kur­si­ve Mo­ral, den gu­ten Wil­len zur De­bat­te, ist es schlecht be­stellt. Es herrscht wie­der mal »La­ger­kol­ler« in Deutsch­land. Man sor­tiert sich laut­stark bzw. still und heim­lich nach links oder rechts. »Di­stan­zie­rung« wie Fal­le Suhr­kamp ist doch ziem­lich ein­deu­tig das stil­le Be­kennt­nis für die uni­ver­sa­li­sti­sche Sa­che der Lin­ken. Kri­tik: das links-li­be­ra­le Spie­ßer­tum, eben in kul­ti­vier­ten Krei­sen, ist nicht in der La­ge, klipp und klar Far­be zu be­ken­nen. Das ist ja ty­pisch für den Spie­ßer, dass er ver­schweigt, was er denkt. Da­für reicht Twit­ter. War­um sa­gen sie nicht ein­fach, dass die Ge­wäh­rung von In­ter­na­tio­na­lem Schutz kein Li­mit hat, war­um be­ken­nen sie sich nicht öf­fent­lich zum Ver­ant­wor­tungs-Grö­ßen­wahn, der sie durch und durch be­seelt?! Ja, und die Rech­ten mit ih­rer kar­gen Erklärung2018 sind auch kein Bei­spiel für po­li­tisch-mo­ra­li­sche Kom­ple­xi­tät... Das Schwei­gen als der vor­aus­ei­len­de Ver­zicht auf die Dar­le­gung der ei­ge­nen Mei­nung ist ei­ne Ka­pi­tu­la­ti­on vor der ei­gent­li­chen Aus­ein­an­der­set­zung und ein Miss­trau­ens­vo­tum ge­gen­über den »An­de­ren«, das ei­nem Be­zie­hungs­en­de wie bei Part­ner­schaf­ten gleicht. Das ist prak­ti­zier­te Spal­tung, mei­ne Da­men und Her­ren!
    In die­ser Zeit be­daue­re ich es zu­tiefst, dass Deutsch­land kein be­last­ba­res li­be­ra­les Er­be hat. Das geht schon seit Jahr­hun­der­ten so. Es gibt ja schließ­lich das aus­ge­schlos­se­ne Drit­te, nur sind die­se Po­si­tio­nen nicht eben­so auf­fal­lend und ver­brei­tet (in ih­rem öf­fent­li­chen Auf­tritt, mit ei­nem Fremd­wort, »vi­ru­lent«) wie die bei­den äu­ße­ren La­ger. Ich fürch­te so­gar, es gibt in Deutsch­land ein be­son­ders fest sit­zen­des Miss­ver­ständ­nis dar­über, dass die »uni­ver­sa­li­sti­sche Mo­ral« schon die ed­le gol­de­ne Mit­te wä­re, nach­dem die Mensch­heit so um­ständ­lich und doch so sehn­süch­tig ge­sucht hat.
    Ich be­strei­te das schon mein gan­zes Le­ben lang: der Uni­ver­sa­lis­mus ist ei­ne Ideo­lo­gie, die das po­li­ti­sche Den­ken »von der Wirk­lich­keit« weg­führt, mei­ner Mei­nung nach ist der Li­be­ra­lis­mus die gol­de­ne mit­ti­ge Ant­wort.
    Dar­auf weist Dal­hui­sen deut­lich hin: der Uni­ver­sa­lis­mus führt uns auf Um­we­gen (Ab­strak­ti­on und Prin­zi­pi­en) nur zum rück­sicht­los po­le­mi­schen Häu­ser­kampf. Links und Rechts be­kämp­fen ein­an­der, oh­ne noch gro­ße Rück­sicht auf die Sa­che selbst zu neh­men. Wäh­rend sich Deutsch­land völ­lig über­nimmt an sei­nen »in­ter­na­tio­na­len Ver­pflich­tun­gen«, ver­tei­di­gen die Lin­ken ih­re Ko­di­ces wie ein stein-ge­mei­ßel­tes Evan­ge­li­um, wäh­rend den Rech­ten mit ih­rem na­tio­na­lem Ge­mein­schafts­kon­zept die Lip­pe schäumt. Deutsch­land ist noch im­mer ge­spal­ten, ver­kün­det die Kanz­le­rin in der Re­gie­rungs­er­klä­rung la­ko­nisch, als sei das we­der ih­re Schuld noch ir­gend­wie ganz so schlimm, wie es sich an­fühlt. Die po­li­ti­sche Mit­te be­haup­tet ei­ne eu­ro­päi­sche Lö­sung her­bei­füh­ren zu kön­nen, oh­ne die Pro­ble­me klar und ex­pli­zit ein­zu­krei­sen. Gut, da­für reicht ei­ne »Re­gie­rungs­er­klä­rung« im Um­fang nicht aus, aber man könn­te, wenn man woll­te,– kor­ri­gie­re: man könn­te, wenn man KÖNNTE!
    Wenn man sich für Po­li­tik in­ter­es­siert: in Deutsch­land kann man es sich ge­ra­de ab­ge­wöh­nen!

  24. @die_kalte_Sophie
    Ich glau­be auch, dass der all­mäch­ti­ge Uni­ver­sa­lis­mus be­reits als »Li­be­ra­li­tät« ab­ge­fei­ert wird. Das liegt na­tür­lich auch dar­an, dass die Aus­for­mu­lie­rung des­sen, was Li­be­ra­lis­mus be­deu­tet sehr schwie­rig war und min­de­stens was Deutsch­land nach 1945 an­geht, nur ein­mal (En­de der 1960er Jah­re durch Karl-Her­mann Flach) kurz auf­flacker­te (der an­de­re deut­sche Li­be­ra­lis­mus­ver­tre­ter, Ralf Dah­ren­dorf, wan­der­te so­zu­sa­gen nach Groß­bri­tan­ni­en ins »Exil« – mit, wie ich fin­de, üb­ri­gens zwei­fel­haf­tem Er­folg).

    Li­be­ra­lis­mus galt (und gilt) im­mer noch ein »Lais­sez-fai­re«. Die sich nach 1945 selbst als li­be­ra­le Kraft set­zen­de FDP war fast im­mer nur mit ih­rer Züng­lein-Funk­ti­on be­schäf­tigt. Als sie in den 1960er Jah­ren den na­tio­na­len Ein­fluss im­mer wei­ter ver­dräng­te (Mit­te der 1970er Jah­re wa­ren al­le national»liberalen« Kräf­te nicht mehr in der Par­tei bzw, un­wich­tig ge­wor­den) lei­te­te sie die Wen­de von der CDU/CSU zur SPD ein. Li­be­ral be­deu­te­te da­mals ei­ne Neu­ori­en­tie­rung be­stimm­ter Wer­te (von der Au­ßen­po­li­tik an­ge­fan­gen). Das stock­te recht schnell als der wirtschafts»liberale« Flü­gel En­de der 1970er Jah­re die Ober­hand ge­wann. Die so­zia­len Re­for­men wa­ren mehr oder we­ni­ger durch­ge­setzt – das letz­te gro­ße Han­deln war die Er­mög­li­chung des Fa­mi­li­en­nach­zugs 1973 für in D le­ben­de Tür­ken (der al­ler­dings mit ei­nem An­wer­be­stopp ver­bun­den war).

    Mit der Wen­de 1982 zu Kohl pro­fi­lier­te sich die FDP nur noch als markt­li­be­ra­le Par­tei. Sie bil­de­te ein Kor­rek­tiv zur ei­gent­lich eta­ti­sti­schen Kohl-/Blüm-So­zi­al­po­li­tik. Gänz­lich ab­ge­kop­pelt vom po­li­ti­schen Li­be­ra­lis­mus ge­riet die Par­tei dann in der Schrö­der- und Mer­kel-Ära.

    Das Pro­blem des Li­be­ra­lis­mus liegt schlicht­weg dar­in, dass er als ein dif­fu­ses Sich-Trei­ben­las­sen emp­fun­den wird. »Li­be­ral« im Sin­ne von to­le­rant ist in­zwi­schen fast je­der (oder glaubt es zu sein).

  25. Noch ei­ne Be­mer­kung zur Dis­kus­si­on wei­ter oben: Die Aus­wei­sung der rus­si­schen Di­plo­ma­ten im Fall der Ver­gif­tung von Ser­gej Skri­pal und des­sen Toch­ter, zeigt sehr schön die Not­wen­dig­keit ei­ner Dis­kus­si­on von »of­fen­kun­di­gen Tat­sa­chen«, wenn Dif­fe­ren­zen, das könn­te man noch hin­zu­fü­gen, fest­stell­bar sind (ge­ra­de weil hier der Schul­di­ge oh­ne Be­wei­se klar be­nannt wird, soll­te man wach­sam sein).

  26. Je äl­ter ich wer­de, de­sto dün­ner und zwei­fel­haf­ter wird mir das, was man Li­be­ra­lis­mus nennt, ganz egal ob er nun ge­sell­schaft­lich oder öko­no­misch aus­buch­sta­biert wird: Nicht mit­ma­chen zu müs­sen, al­so Ei­gen­hei­ten ha­ben und Un­ver­han­del­bar­kei­ten be­nen­nen zu kön­nen und sich für sie ent­schie­den zu ha­ben, scheint mir weit wich­ti­ger zu sein, als ir­gend­ein »Frei­heits­ge­re­de« für das was man Zu­frie­den­heit (Sinn oder Glück) nennt, die ent­schei­dend auch für den zwi­schen­mensch­li­chen Um­gang, den wir im­mer weit­ge­hen­der tech­no­kra­tisch re­gu­lie­ren, sind. Frei­heit ist Zu­rück­hal­tung, über­leg­tes Ent­schei­den und Bin­dung im Re­sul­tat; Vor­aus­set­zung da­für ist ein kul­tu­rel­ler Kon­text und kei­ne po­li­ti­sche Ideo­lo­gie.

    Und ge­nau dort, in der Kul­tur, tut sich für mich die gro­ße Dis­kre­panz auf: Ei­ne Ge­sell­schaft ist nicht oh­ne et­was Ge­mein­sa­mes und ein zu­frie­de­nes Le­ben nicht oh­ne »Sinn«: In bei­den kann sich das In­di­vi­du­um über sich selbst und sei­ne Schwä­chen er­he­ben, es wird in ei­nem ge­wis­sen Sinn »ewig« oder »heil«. Da­zu hat der Li­be­ra­lis­mus nichts zu sa­gen, er täuscht so­gar dar­über hin­weg, er lie­fert, in­dem er al­le Bin­dun­gen ne­giert und ei­ne nö­ti­gen­de Frei­heit ins Werk setzt, die Men­schen dem tech­no­kra­ti­schen Zu­griff, der Bü­ro­kra­tie, dem Funk­tio­na­lis­mus und dem Nütz­lich­keits­den­ken, aus. Oder an­ders: Mit dem Ver­lust al­ler kul­tu­rel­len Be­zü­ge, geht auch das ver­all­ge­mei­ne­rungs­fä­hi­ge Un­ver­han­del­ba­re ver­lo­ren, das noch ein Ge­gen bil­den könn­te: Die Le­ben­dig­keit schwin­det und der Mensch ist nur noch nütz­lich, im Kon­sum und in der Ar­beit, mehr ist dann nicht mehr. — Ein Selbst­zweck wä­re er nur dort, wo er nutz­los sein kann.

    Ei­ne Ver­fas­sung schafft noch nichts Ge­mein­sa­mes, das kann nur die Kul­tur, das hat die Lin­ke nie ver­stan­den: Und das Ge­mein­sa­me braucht Ein­las­sen und Ein­übung auf ein­an­der, al­so Zeit. Wer weiß wo­her er kommt, wer er ist und was er will, wird Sta­bi­li­tät und da­mit Of­fen­heit für an­de­re und an­de­res be­sit­zen (und er wird auch wis­sen, was er kei­nes­falls will). Was Goe­the über die Spra­che schrieb, gilt auch für die Ge­sell­schaft: Die Ge­walt ei­ner Spra­che ist nicht, dass sie das Frem­de ab­weist, son­dern dass sie es ver­schlingt. Of­fen­heit und To­le­ranz muss man über den Zu­gang zu sich selbst ent­wickeln, sie er­ge­ben sich nicht aus De­kre­ten oder For­de­run­gen. Da­für, dass das Ei­ge­ne und die Kul­tur, ei­ne grund­le­gen­de Be­deu­tung ha­ben, scheint in­ner­halb der Rech­ten, ne­ben vie­len Ob­szö­ni­tä­ten und Ver­wir­run­gen, ein ge­wis­ses Ver­ständ­nis vor­han­den zu sein.

    In­so­fern kann man den (Links)liberalismus als Herr­schafts­ideo­lo­gie auf­fas­sen, weil er die Men­schen mit­samt ih­ren kul­tu­rel­len Bin­dun­gen im­mer voll­stän­di­ger den öko­no­mi­schen Ver­hält­nis­sen preis­gibt.

  27. Ich kam zum Li­be­ra­lis­mus nur durch Aus­schluss­ver­fah­ren, ich war so­gar selbst die mei­ste Zeit da­von über­zeugt, dass es sich um ein be­son­ders schwach kon­tu­rier­tes po­li­ti­sches Den­ken han­delt, dem ei­ne ge­wis­se Be­lie­big­keit an­haf­tet.
    Da­zu kommt, dass The­men wie Um­welt, So­zia­les, Ar­beit, Ban­ken, etc. Re­gu­lie­rung und Kon­trol­le nö­tig ma­chen... Aber ich wi­der­ste­he der Ver­su­chung, den Li­be­ra­lis­mus an­zu­prei­sen. Al­le drei Grund­rich­tun­gen des Po­li­ti­schen (Kon­ser­va­tis­mus, Li­be­ra­lis­mus, So­zi­al­de­mo­kra­tis­mus) ha­ben an Pro­fil ver­lo­ren, dem Kli­ma­wan­del ste­hen bei­spiels­wei­se al­le ziem­lich rat­los ge­gen­über.
    Der Links­li­be­ra­lis­mus ist kei­ne ei­ge­ne Denk­art, es ist ei­ne Ge­sell­schafts­in­ter­pre­ta­ti­on, die auf den grund­recht­li­chen Er­run­gen­schaf­ten des letz­ten Jahr­hun­derts auf­baut, und ei­ne post­hi­sto­ri­sche Auf­ga­be for­mu­liert: die For­ma­ti­on des We­stens muss nur noch über den Erd­ball ver­brei­tet wer­den. Ha­se und Igel: WIR sind schon da, und die an­de­ren müs­sen sich spu­ten... Der De­fi­ni­ti­ons­schwer­punkt (links & li­be­ral) liegt im Mo­ra­li­schen und Kul­tu­rel­len, so­zu­sa­gen auf der Ebe­ne des mensch­li­chen Ver­hal­tens. Ei­ne Ein­sicht in öko­no­mi­sche Zu­sam­men­hän­ge fehlt gänz­lich. Die Prot­ago­ni­sten sind Pres­se­leu­te und Schul­leh­rer. In Deutsch­land schließt sich dar­an noch ei­ne »eu­ro­päi­sche Uto­pie« an, die mög­lichst vie­le Kom­pe­ten­zen nach Brüs­sel ver­la­gern möch­te. War­um, braucht man nicht zu fra­gen: es ist ein »Ähn­lich­keits-Ar­gu­ment«. Wenn al­le west­eu­ro­päi­schen Staa­ten ähn­li­che Pro­ble­me ha­ben, löst man das doch am be­sten gleich im gro­ßen Gan­zen, oder?!
    Der Links­li­be­ra­lis­mus lehrt uns, dass es ein leich­tes, im­mer nur an­sto­ßen­des po­li­ti­sches Den­ken gibt, das kei­ne Zie­le mehr for­mu­lie­ren und durch­set­zen muss. Ein Re­pe­ti­to­ri­um des Gu­ten und An­stän­di­gen wird als lang­fri­stig wirk­sam an­ge­se­hen. Den­noch kommt man ge­le­gent­lich zu er­staun­li­chen Er­geb­nis­sen, wie die wie­der­keh­ren­de Mei­nung, dass der Wunsch nach of­fe­nen und to­le­ran­ten Ge­sell­schaf­ten ein schran­ken­lo­ses Mi­gra­ti­ons­recht im­pli­ziert. Das sind Re­sul­ta­te, die ei­nem schwa­chen po­li­ti­schen Den­ken wie ein Ver­kehrs­un­fall zu­sto­ßen, es wä­re schwer, sie ein­ge­hend zu be­grün­den. Je­de ver­tief­te Über­le­gung wür­de die Fol­gen so­fort er­ken­nen.
    Im Mo­ment hat nicht der Li­be­ra­lis­mus, son­dern der Kon­ser­va­tis­mus ein Pro­blem. Denn ich stim­me @mete ab­so­lut zu: das The­ma der kul­tu­rel­len Iden­ti­tät (Spra­che, Re­li­gi­on, Sit­ten) ge­hört ins Hand­ge­päck der Kon­ser­va­ti­ven. Aber was ist das für ein Kon­ser­va­tis­mus, der un­ter dem Ein­fluss kirch­li­cher und ideo­lo­gi­scher Krei­se kein Grenz­re­gime mehr er­rich­ten darf?! Ei­ne Zu­wan­de­rung aus fer­nen Welt­ge­gen­den, die man nicht ab­zu­weh­ren weiß, führt zwangs­läu­fi­ge das Ei­ge­ne ins Mu­se­um. Ein Ka­lau­er von Horst See­ho­fer, das Hei­mat­mu­se­um, der un­ge­wollt ins Schwar­ze trifft.
    Der Li­be­ra­lis­mus hat den Vor­teil, dass er die­se Ma­gi­not-Li­nie nicht hal­ten muss. Auf der an­de­ren Sei­te ist der Li­be­ra­lis­mus aber auch nicht ge­set­zes-aber­gläu­bisch, d.h. er ver­wech­selt die nor­ma­ti­ve Ab­sicht nicht mit ei­nem ir­gend­wie ewi­gen er­ha­be­nen Gu­ten (Oh, Grund­ge­setz, oh hei­li­ger Ar­ti­kel 16), son­dern liest schon mal ger­ne Kom­men­ta­re bzw. schreibt im Be­darfs­fall so­gar die Nor­men neu.
    Ei­ne An­ek­do­te da­zu von di­Fa­bio. »Im­mer abends, wenn ich un­se­re Po­li­ti­ker von den Kon­se­quen­zen des Ar­ti­kel 16 im Fern­se­hen spre­chen hö­re, sa­ge ich zu mei­ner Frau: Es ist kaum zu glau­ben, aber of­fen­sicht­lich ha­be ich das Ver­fas­sungs­recht über­haupt nicht ver­stan­den... Die kom­men al­le zu gänz­lich an­de­ren Schluss­fol­ge­run­gen!«.

  28. »Links­li­be­ral« be­deu­te­te in Deutsch­land im­mer: So­zi­al­po­li­tik mit grund­sätz­lich to­le­ran­tem Ge­sell­schafts­ent­wurf. Das war so lan­ge er­folg­reich, so lan­ge es ein Nach­hol­be­darf des To­le­ran­ten gab. In­zwi­schen wird dies fast maß­los über­dehnt, weil al­le re­le­van­ten Zie­le er­reicht sind. Die eta­ti­sti­sche So­zi­al­po­li­tik hat un­ter Mer­kel längst wie­der an Bo­den ge­won­nen. Da­durch ist der Kon­se­va­tis­mus so­zu­sa­gen »be­droht«, weil er als »In­to­le­rant«, »dis­kri­mi­nie­rend« gilt. Das ent­schei­de­ne ist, dass so et­was wie ein Ar­gu­ment in der Dis­kus­si­on um links­li­be­ra­le Po­li­tik­ent­wür­fe kei­ne Rol­le mehr spielt. Ent­schei­dend ist die Ge­sin­nung. Ra­tio­na­li­tät wird per se als feind­se­lig auf­ge­fasst.

    So ganz neu ist die­se Ent­wick­lung nicht. Die Pro­gres­si­ven be­stimm­ten im­mer schon, wer als re­ak­tio­när zu gel­ten hat­te. Und ge­le­gent­lich wur­de die Ent­schei­dung auf dem Scha­fott do­ku­men­tiert. In­ter­es­san­ter wä­re es, die Prot­ago­ni­sten der Irr­tums­gläu­bi­gen zu be­fra­gen. Neu­lich schau­te ich ei­ne Do­ku­men­ta­ti­on über Mao, in der von 40 bis 70 Mil­lio­nen To­ten die Re­de war, die in sei­ner Ver­ant­wor­tung lie­gen (Bür­ger­krieg, Kul­tur- und son­sti­ge »Re­vo­lu­tio­nen« und vor al­lem: selbst­ver­schul­de­te Hun­gers­nö­te. Jetzt ha­be ich aber ei­ne ge­wis­se Er­in­ne­rung an Per­so­nen, die sich heu­te als Mo­ral­in­stan­zen ver­ste­hen, die die­sem Re­gime da­mals po­si­tiv ge­gen­über­stan­den und es als vor­bild­haft sa­hen. Von und über die­se: kein Wort dar­über. »Ju­gend­sün­de«?

  29. Man ist ja qua Ge­burt im­mer in ei­ne Kul­tur ge­wor­fen, die man sich, wenn es gut geht, mit dem Er­wach­sen­wer­den ein »zwei­tes Mal« an­eig­net*: Die­ser An­eig­nungs­pro­zess ist be­wuss­ter, se­lek­ti­ver und, so wür­de ich sa­gen, eng mit dem der Bil­dung ver­bun­den. Auf die­sem Weg ent­steht das, das (viel­leicht) ein Le­ben lang stand hält, das Be­deu­tung hat, das Sinn ver­leiht. Es ist das, das al­lem Öko­no­mi­schen (Nütz­li­chen, Funk­tio­nel­len,...) den Rang ab­läuft und ab­lau­fen muss, wenn man, ich den­ke sehr an un­se­re Zeit, le­ben­dig blei­ben möch­te. Und um­ge­kehrt: Ei­ne Ge­sell­schaft, die im­mer stär­ker im Öko­no­mi­schen (Nütz­li­chen, Funk­tio­nel­len,...) auf­geht, muss das Le­ben des Ein­zel­nen im­mer we­ni­ger ach­ten, da es eben nur Be­deu­tung fin­det, wo er funk­tio­niert. Ei­gen­wert hat aber nur das, das nicht im­mer funk­tio­niert, bzw. funk­tio­nie­ren muss. Nur dort wo ich sein kann, wie ich will, und eben das tu­te, das ich selbst be­stim­me, wer­de ich zu­frie­den sein kön­nen. Da­zu muss man al­ler­dings wis­sen wer man ist und man wird sein Tun an et­was an­setz­ten oder aus­rich­ten müs­sen, das schon da ist. Man wird sich al­so fra­gen müs­sen, was das sein kann. Ich hal­te das für ei­ne Grund­pro­ble­ma­tik un­se­rer Zeit und sie ist wohl gar nicht so gut be­stellt, da­für ei­ne Lö­sung an­bie­ten zu kön­nen, als es zu­nächst ein­mal schei­nen mag.

    Der klas­si­sche Kon­ser­va­tis­mus mit sei­ner (mir im­mer un­ver­ständ­li­chen) Ver­mäh­lung mit wirt­schafts­li­be­ra­len Ele­men­ten (Leistungs‑, Tra­di­ti­ons- und Wer­te­be­to­nung), er­scheint mir zu sehr als Kor­sett, als das ich ihn mö­gen möch­te oder könn­te; beim Li­be­ra­lis­mus wie­der­um fra­ge ich mich, was er bes­ser macht oder ma­chen könn­te: Klar, oh­ne et­was wie Li­be­ra­li­tät gibt es kei­nen Dis­kurs und selbst­re­dend hat das In­di­vi­du­um Rech­te ge­gen die Tra­di­ti­on, aber: Noch grö­ßer kann die Be­frei­ung von ihr kaum mehr sein, aber we­der die ver­spro­che­nen Wahl­mög­lich­kei­ten, noch der Wohl­stand, än­dern an der Grund­pro­ble­ma­tik ir­gend­et­was. Es ist doch ei­gen­ar­tig: Le­bens­prak­tisch ge­se­hen, schei­nen mir (na­he­zu?) al­le po­li­ti­schen Kräf­te ge­gen das zu ar­bei­ten, das ver­nünf­tig wä­re. — Ver­nünf­tig wä­re es doch, als Ge­sell­schaft so­zu­sa­gen, ste­hen zu blei­ben und sich an­zu­se­hen, was man ei­gent­lich tut, sich zu fra­gen wie man lebt und ob man sich da­mit nicht ei­gent­lich längst selbst wi­der­spricht. Ich den­ke mir das beim The­ma Kin­der­be­treu­ung im­mer wie­der: Es gibt kei­ne Mög­lich­keit den Wi­der­spruch Kind und Ge­sell­schaft oder Kind und Öko­no­mie (Nütz­lich­keit, Funk­tio­na­li­tät,...) zu lö­sen, man kann sich ei­gent­lich nur auf die Sei­te des Kin­des stel­len. Kon­ser­va­tiv, wenn man es so nen­nen will, in eben­die­sem Sinn (und das ist si­cher Ador­no nä­her, als dem klas­si­schen Kon­ser­va­tis­mus).

    *An­de­re Mög­lich­kei­ten, wie ei­ne Ab­leh­nung, sei­en hier ein­mal au­ßen vor ge­las­sen.

  30. me­tep­si­lo­n­e­ma
    Das Grund­pro­blem scheint mir – ver­kürzt ge­sagt – dar­in zu be­stehen, dass man we­ni­ger Bür­ger ist denn Kun­de. Selbst die Ar­beits­su­chen­den wer­den von der für sie zu­stän­di­gen Be­hör­de als »Kun­den« an­ge­spro­chen (man könn­te »Kli­en­ten« sa­gen, was we­ni­ger auf die kom­mer­zi­el­le Aus­rich­tung hin ori­en­tiert wä­re). Nichts zeigt die Öko­no­mi­sie­rung des All­tags mehr als die­se Klei­nig­keit. Die Aus­wüch­se las­sen sich dann schnell fin­den, et­wa wenn El­tern die »Ko­sten« für ihr Kind/ihre Kin­der er­mit­teln. Hät­ten mei­ne El­tern die­se Rech­nung auf­ge­macht, wä­re ich nicht ge­bo­ren wor­den.

    .-.-.-.-.-.

    Der Kon­ser­va­tis­mus vor al­lem hat da­mit zu kämp­fen, dass er nicht zu sehr mit den In­ter­es­sen und Frei­hei­ten des In­di­vi­dua­lis­mus kol­li­diert bzw. dar­in auf­ge­rie­ben wird. Er hat es ei­gent­lich nicht ver­kraf­tet, dass nach 1945 Wer­te wie »Ge­mein­schaft« oder »Ge­mein­wohl« dis­kre­di­tiert wa­ren und ver­säumt, die­se of­fen­siv neu zu for­mu­lie­ren (ge­gen die Per­ver­tie­rung die­ser Wer­te durch Na­zis und Kom­mu­ni­sten), son­dern sich auf die öko­no­mi­sche Wohl­fahrt kon­zen­triert – in der Hoff­nung, hier­über ent­stün­de so et­was wie Zu­sam­men­halt.

    Am En­de trat das Ge­gen­teil ein: Die 68er – Kin­der des »Wirt­schafts­wun­ders« – ak­zep­tier­ten den (Adenauer-)Konservatismus der Wei­ma­rer Re­pu­blik nicht mehr, son­dern poch­ten auf ge­sell­schaft­li­che Ver­än­de­run­gen. Ihr »Marsch durch die In­sti­tu­tio­nen« ist in­zwi­schen längst er­folg­reich. Das Er­geb­nis ist, dass Re­kur­se auf »Hei­mat« oder »Ge­mein­schaft« als re­ak­tio­när bzw. wenn nicht gar schlim­mer gel­ten.

  31. Von Jo­na­than Haidt stammt die schö­ne Idee, dass der Kon­ser­va­tis­mus ei­ne brei­te mo­ra­li­sche Grund­la­ge auf­weist, wo­hin­ge­gen die so­zi­al­de­mo­kra­ti­sche Lin­ke (bei­na­he) ei­ne mo­no­the­ma­ti­sche Spe­zia­li­sie­rung kenn­zeich­net. Wie oben schon aus­ge­führt, ist die Für­sor­ge um das Wohl­erge­hen von »Op­fern« die zen­tra­le Mo­ti­va­ti­on. Das führ­te die Lin­ke im Lau­fe der Zeit von den Bür­ger­rech­ten über die Frau­en zu den Schwu­len und Mi­gran­ten, und als al­le Schlach­ten ge­won­nen wa­ren, wur­de man klein­lich, theo­rie-fe­ti­schi­stisch und spal­tungs-ak­ti­vi­stisch. Schließ­lich ge­wann die neue Rech­te an Bo­den, und das Uni­ver­sum war an bei­den Po­len wie­der kom­plett.
    In der mo­ra­li­schen Ma­trix der Kon­ser­va­ti­ven fin­den sich al­le Kul­tur-über­grei­fen­den Emp­fin­dun­gen: Hei­lig­keit, Au­to­ri­tät, Loya­li­tät, Fair­ness, Frei­heit, Für­sor­ge. Al­ler­dings ret­tet der Kon­ser­va­ti­ve lie­ber die Mit­glie­der sei­ner ei­ge­nen Ge­mein­de, wäh­rend der Lin­ke für die gan­ze Welt zu­stän­dig ist... Ein zen­tra­les Pro­blem al­ler Mo­ral und Po­li­tik steckt in dem harm­lo­sen Be­griff »Loya­li­tät«, der prak­tisch all un­se­re Ver­hal­tens­wei­sen in Be­zug auf Grup­pen und gro­ße so­zia­le Ein­hei­ten wie die Na­ti­on ab­deckt. Dar­über wer­den auch sub­ti­le po­li­ti­sche Ent­schei­dun­gen ab­ge­wickelt, wie der von @Gregor ge­nann­te Ver­zicht auf Be­grif­fe wie »Hei­mat« und »Ge­mein­schaft«. Aber dass die Ka­te­go­rie wei­ter­hin hoch ak­tiv ist, sieht man an dem hef­tig um­strit­te­nen In­te­gra­ti­ons­kon­zept, das den Ge­mein­schafts­be­griff sus­pen­diert, aber nur um die Fra­ge der Zu­sam­men­ge­hö­rig­keit in ei­nem mul­ti­kul­tu­rel­len Rah­men er­neut zu be­ja­hen.
    Spielt die Mo­der­ne den Lin­ken in die Hän­de bzw. läuft die Mo­der­ne den Kon­ser­va­ti­ven aus dem Ru­der?!
    Ich wür­de sa­gen, das trifft je­weils mit Ein­schrän­kung zu. Auf der Ge­win­ner-Sei­te fin­den sich al­le Ar­ten von in­ter­na­tio­na­ler Zu­sam­men­ar­beit, die UN, die WHO, die WTO, die EU, die NATO, etc. Das wi­der­spricht der In­tui­ti­on, dass po­li­ti­sche Pro­ble­me haupt­säch­lich auf der na­tio­na­len Ebe­ne ge­löst wer­den, und stellt die Ko­ope­ra­ti­on vor den Ei­gen­sinn. Die In­ter­na­tio­na­li­sie­rung ist links-kom­pa­ti­bel, wenn auch kei­ne ori­gi­na­le Er­fin­dung. Auf der Ver­lie­rer-Sei­te fin­den sich die Ka­la­mi­tä­ten des Kon­ser­va­tis­mus: die Öko­no­mie und die Be­sitz­stands­wah­rung wer­den zur Voll­zeit­be­schäf­ti­gung, die Re­li­gi­on wird zur Sei­te ge­drängt, die Um­welt wird aufs Spiel ge­setzt, die Dia­lek­te wei­chen der Ver­kehrs­spra­che, der Lob­by­is­mus er­setzt das Ge­mein­wohl, die Bil­dung wird zur Res­sour­ce, etc.
    Au­ßer­dem gibt es noch ei­ne sub­jekt­theo­re­ti­sche Ent­wick­lung, wel­che die Grup­pen­zu­ge­hö­rig­keit dem In­di­vi­dua­lis­mus un­ter­ord­net. Das ist ei­ne Er­fin­dung von Theo­re­ti­kern aber all­mäh­lich auch ga­lop­pie­ren­der Aber­glau­be! Die fro­he Bot­schaft: Her­kunft ist kein Ver­dikt für die Zu­kunft, Du ent­schei­dest selbst im Sin­ne der »zwei­ten An­eig­nung« von @mete. Für mich ist das der son­der­bar­ste Punkt an der ge­sam­ten Mo­der­ne, und wohl nicht von un­ge­fähr der »vir­tu­el­le Über­gang« in die Post­mo­der­ne. Den Fuß­ball­ver­ein kann ich mir aus­su­chen, die Par­tei kann ich mir aus­su­chen, beim Ge­schlecht oder der Na­ti­on wirds schwie­rig. Trotz­dem be­haup­tet sich die Theo­rie vom Zu­fäl­li­gen der Grup­pen­zu­ge­hö­rig­keit, als ob die­se Ent­schei­dun­gen re­gel­mä­ßig auf den Prüf­stand ge­hör­ten. Und am Ho­ri­zont er­scheint ein to­tal funk­tio­na­les aber zu­gleich ent-so­zia­li­sier­tes Sub­jekt, das ein rei­nes Ich oh­ne Wir-Kon­ta­mi­na­tio­nen auf­weist. Der Knack­punkt in die­ser Kon­struk­ti­on ist der Frei­heits­grad, d.h. die Fra­ge, ob uns die­se Zu­ge­hö­rig­kei­ten wirk­lich zur Ma­ni­pu­la­ti­on zur Ver­fü­gung ste­hen, zwei­tens auch die im­pli­zi­te po­li­ti­sche Bot­schaft, dass die Na­ti­on ein rein will­kür­li­ches Kon­strukt wä­re, an das man »glau­ben kann«, oder nicht. Ich war bei­spiels­wei­se sehr über­rascht, dass so­gar aus­ge­spro­chen li­be­ra­le Gei­ster wie Ya­scha Mounk die Na­ti­on als »Platt­form« im­mer noch für un­ver­zicht­bar hal­ten, und das nicht nur aus ei­nem tech­ni­schen Blick­win­kel: tat­säch­lich steht und fällt das Po­li­ti­sche schlecht­hin doch mit der Fra­ge, ob man an der Er­ör­te­rung und Lö­sung der Pro­ble­me des Ge­mein­we­sen (res pu­bli­ca) teil­nimmt, oder nicht. Steht am per­spek­ti­vi­schen Flucht­punkt der Mo­der­ne die völ­li­ge Ent-Po­li­ti­sie­rung auf­grund ei­ner Ex­sta­se des In­di­vi­dua­li­mus?! Wenn man die Na­ti­on für ver­zicht­bar hält, dann si­cher­lich. Mul­ti­kul­ti wird uns vom Spuk des all­ge­mei­nen »Des­in­ter­es­ses« je­den­falls nicht ret­ten, weil ja all die­se Zu­ge­hö­rig­kei­ten nur hüb­sche Klei­der zum Aus­pro­bie­ren und wie­der Ab­le­gen sind... Ver­rückt!

  32. es ist nicht ver­rückt.
    es ist ein­fach nur to­tal : lang­wei­lig.

    ( vor al­lem die­ser smartphone-app.-individualismus in kom­bi mit sms-sprech­bla­sen-style – sic )

  33. @ die_kalte_Sophie
    Ich glau­be nicht, dass ab­schlie­ssend ge­klärt ist, ob die mul­ti­na­tio­na­len »Lö­sun­gen« (UN, EU, NATO) dau­er­haft bes­ser funk­tio­nie­ren als die »Na­ti­on«. Letz­te­re wird von den sich den pro­gres­siv ge­ben­den et­was zu vor­ei­lig in den Or­kus be­för­dert. Die Sog­wir­kung, ei­ne Ge­mein- und Ge­sell­schaft über das Na­tio­na­le zu »fin­den«, ist recht stark aus­ge­prägt, wie man an den zahl­rei­chen sich mehr oder we­ni­ger se­pa­ra­ti­stisch ge­ben­den Strö­mun­gen in Eu­ro­pa er­kennt. Ka­ta­la­ni­en ist nur das ak­tu­el­le Bei­spiel (wei­te­re sind: Schott­land, Kor­si­ka, Süd­ti­rol, Bas­ken­land; von den zahl­rei­chen Se­zes­sio­ni­sti­schen Strö­mun­gen in Ost­eu­ro­pa gar nicht zu re­den). Bei Ka­ta­la­ni­en und Schott­land zeigt sich, dass die sich in­ter­na­tio­na­li­stisch ge­ben­de Lin­ke plötz­lich die­se Ab­spal­tun­gen be­für­wor­tet – weil sie in ei­nem un­ge­lieb­ten kon­ser­va­tiv ge­führ­ten Staats­ge­bil­de statt­fin­den.

    Die EU zeigt, dass in ei­nem Staa­ten­bund, der mehr sein möch­te als nur der Zu­sam­men­schluss von Märk­ten, die Mit­glie­der Sou­ve­rä­ni­tä­ten auf­ge­ben müs­sen. Sind sie da­zu nicht be­reit, funk­tio­niert es nicht. Das Zau­ber­wort lau­tet hier tat­säch­lich auch »Loya­li­tät«: Wer den EU-Be­hör­den die­se – aus wel­chen Grün­den auch im­mer ver­wei­gert – be­hin­dert den Zu­sam­men­schluss.

    Die Na­ti­on ist der­zeit das grösst­mög­li­che Bünd­nis von Re­gio­nen, das den mei­sten noch halb­wegs ak­zep­ta­bel er­scheint. Für Ka­ta­la­nen und Schot­ten ist sie schon zu gross. Ihr Se­pa­ra­tis­mus ist vor al­lem öko­no­misch kon­no­tiert: Sie be­fin­den sich in der Si­tua­ti­on, dass sie in­ner­halb ih­res na­tio­na­len Bünd­nis­ses Zah­ler sind, au­ßer­halb des­sen je­doch eher Zah­lungs­emp­fän­ger. Bei Slo­we­ni­en und Kroa­ti­en war dies An­fang der 1990er Jah­re ein wich­ti­ger Punkt.

    Im üb­ri­gen liegt ja ge­ra­de in der Mo­der­ne (bzw. der Post­mo­der­ne) das Ver­spre­chen ver­an­kert, dass nichts mehr so sein muss, wie es ist. Es ist schon rich­tig: Den Fuss­ball­ver­ein kann ich mir aus­su­chen. Aber eben ir­gend­wann auch die Na­tio­na­li­tät (Staats­bür­ger­schaft; wenn ge­wünscht meh­re­re) und so­gar – auf Kran­ken­kas­se – das Ge­schlecht. Aber ge­ra­de in die­ser am En­de fast gren­zen­lo­sen (!) Aus­wahl liegt auch die Crux: Es ist wie im Su­per­markt. Ich wün­sche mir ei­ne ge­wis­se Aus­wahl an Ketch­up-Sor­ten bei­spiels­wei­se. Aber wenn ich dann 20 oder 25 Sor­ten ha­be, wer­de ich gar­stig.

  34. @die_kalte_Sophie
    Ich mein­te mit der zwei­ten An­eig­nung, dass es da­vor sehr wohl ei­ne Prä­gung gab, die aber weit­ge­hend un­be­wusst bleibt, nicht dass man sie wie Ge­wand wech­seln kann, wie­wohl es na­tür­lich Men­schen gibt, die in an­de­re Kul­tu­ren ge­wech­selt sind oder in meh­re­ren le­ben. Rich­tig bleibt die Fest­stel­lung, dass theo­re­tisch »sug­ge­riert wird«, dass Her­kunft egal wä­re (ei­ne Ent­schei­dung, die aber, be­haup­te ich, kaum tat­säch­lich als ei­ne sol­che ge­trof­fen wird). Wenn al­les egal ist, bleibt der Funk­tio­na­lis­mus, al­so das Glück aus 25 Ketch­up­sor­ten wäh­len zu kön­nen, dann und nur dann, muss man wäh­len, weil nichts Ver­bind­li­ches mehr da ist.