Esther Kin­sky: Hain

Esther Kinsky: Hain

Esther Kin­sky: Hain

»Ge­län­de­ro­man« nennt Esther Kin­sky ih­ren neu­en Ro­man »Hain«. Und na­tür­lich horcht der Kin­sky-Le­ser auf: Wird es so et­was wie »Am Fluß« vor drei Jah­ren, als ei­ne Ich-Er­zäh­le­rin ih­ren Auf­ent­halt in der Lon­do­ner Pe­ri­phe­rie nicht nur er­zähl­te, son­dern in die­se Land­schaft ein­tauch­te, ja ein­sank. Da­bei han­del­te es sich nicht um im land­läufigen Sinn schö­ne, son­dern eher das, was man »Un-Or­te« nen­nen könn­te. Or­te, die häss­lich und eben doch auf ei­ne be­son­de­re Wei­se fast idyl­lisch sind, weil das wahr­neh­men­de Er­zäh­len sie tran­szen­diert. Un­ter­legt wur­den die­se Evo­ka­tio­nen mit Er­in­ne­run­gen an die Kind­heit. Bei­des fin­det man auch in »Hain«. Aber­mals quar­tiert sich die Ich-Er­zäh­le­rin in ei­ne pe­ri­phe­re Land­schaft ein. Dies­mal ist es die klei­ne Ge­mein­de Ole­va­no Ro­ma­no in Ita­li­en, öst­lich von Rom, ein, wie es heißt, »leb­lo­ses Dorf«. Sie be­wohnt ein Haus »auf ei­ner An­hö­he«. »M.«, der Le­bens­part­ner der Er­zäh­le­rin, ist zwei Mo­na­te und ein Tag zu­vor be­er­digt wor­den. »M.« ist Mar­tin Cham­bers, der im Ok­to­ber 2014 starb. Kin­sky-Le­ser ken­nen das Krim-Ta­ge­buch der bei­den, wel­ches Kin­sky al­lei­ne be­en­den muss­te.

Es ist al­so An­fang 2015. Die Er­zäh­le­rin (die ich trotz der fast er­drücken­den Über­einstimmungen nicht Esther Kin­sky nen­nen möch­te) be­ginnt zu er­zäh­len, von ih­rer Um­ge­bung, dem Fried­hof, auf den sie freie Sicht hat, dem Markt­platz, den ein­sa­men afri­ka­ni­schen Händ­lern, der Metz­ge­rei. Ei­ne Gleich­för­mig­keit, ein Einswer­den mit der Land­schaft mag sich zu­nächst nicht ein­stel­len: »Je­den Mor­gen war mir, als müss­te ich al­les neu ler­nen.« Das be­ginnt mit dem Was­ser­ko­chen und setzt sich im Se­hen fort. Über die suk­zes­si­ve to­po­gra­phi­sche Ein­ver­nah­me wird das Le­ben neu kon­sti­tu­iert: »Ich schau­te auf das Dorf und auf die Ebe­ne, die sich bis hin zu der Ket­te schlum­mern­der Vul­kan­ber­ge er­streck­te, hin­ter de­nen ich mir die Kü­ste dach­te, ob­wohl ich wuss­te, dass sie wei­ter ent­fernt war. Die Aus­deh­nung der Ebe­ne war ei­ne op­ti­sche Täu­schung, denn ich hat­te selbst er­lebt, dass vor Val­mon­to­ne ein klei­ner Hü­gel­rücken la, doch sah ich die­ses fla­che Ge­län­der, in dem zwi­schen Ge­höl­zen und Hai­nen klei­ne Dör­fer und Ge­höf­te, Werk­stät­ten und Su­per­märk­te und ei­ne der Oli­ven­baum­krank­heit we­gen der­zeit ge­schlos­se­ne Öl­müh­le la­gen, ger­ne als ein zu­sam­men­hän­gen­des Becken an, ei­ne Art ehe­ma­li­gen See, des­sen Was­ser sich wer­weiß­wann und wer­weiß­wo­hin da­von­ge­macht hat­te…«

Es sind mä­an­dern­de Sät­ze, die schein­bar kein En­de ken­nen, de­ren Rhyth­mus man beim Le­sen tref­fen muss, um sich nicht zu ver­zet­teln. Sät­ze, die zu­wei­len zwi­schen ei­ner Ma­kro­welt der Land­schaft, und der Mi­kro­welt wie sie sich bei­spiels­wei­se auf dem Bo­den des Fried­hofs zeigt, chan­gie­ren. Wie die Er­zäh­le­rin so ge­rät auch der Le­ser im­mer mehr in den Sog die­ses Kos­mos, chan­gie­rend zwi­schen Kat­zen- und Hunde‑, Markt‑, Sturm- und Jagd­ta­gen in die­ser Land­schaft und de­ren Ver­än­de­run­gen vom Win­ter hin zum Früh­ling. Mit­un­ter ste­hen Wahr­neh­mun­gen und As­so­zia­tio­nen di­rekt ne­ben­ein­an­der, durch­drin­gen sich ge­gen­sei­tig und es sind die­se Mo­men­te des stil­len Ein­ver­ständ­nis­ses mit sich und der Welt, die die klei­nen Hö­he­punk­te des Bu­ches bil­den. Fast stö­rend sind da die gele­gentlichen Aus­flü­ge et­wa nach Tra­ste­ve­re oder, wei­ter ent­fernt von Rom, nach Pa­lia­no, die­se Su­chen nach der »Mög­lich­keit ei­ner Land­schaft« und man er­tappt sich da­bei die Rück­kehr zum an­ders­schö­nen Ole­va­no Ro­ma­no her­bei­zu­seh­nen.

Im Mit­tel­teil schie­ben sich die Er­in­ne­run­gen an den kos­mo­po­li­ti­schen Va­ter, ei­nem Kul­tur­wis­sen­schaft­ler, in den Fo­kus. Hier, in die­ser Pha­se, ist es das Ge­län­de der Kind­heit, wel­ches aus­ge­brei­tet, evo­ziert, wird. Und die Trau­er­me­lan­cho­lie, die das Buch sub­ku­tan durch das Ge­den­ken an den ver­stor­be­nen Ge­lieb­ten durch­zog, wird nun um die Va­ter­er­zäh­lun­gen er­gänzt. Kin­sky hat­te be­ob­ach­tet, dass es in ru­mä­ni­schen Kir­chen zwei se­pa­ra­te Ge­häu­se für Ker­zen­op­fer gibt: auf der lin­ken Sei­te für die Le­ben­den (viǐ), auf der rech­ten für die To­ten (morțǐ). Sie ver­sucht, die­se Tren­nung auf­zu­he­ben, die To­ten durch die Er­zäh­lung für ei­ne kur­ze Zeit ins Reich der Le­ben­den zu über­füh­ren.

Da­bei chan­giert die Sicht auf den Va­ter von zärt­lich-di­stan­zier­tem Un­ver­ständ­nis bis zu ei­ner Art von stil­lem Stolz. Ein­dring­lich und den­noch nicht sen­ti­men­tal das Er­in­nern der letz­ten Be­geg­nung mit dem Va­ter in Tri­est. Das Sich-An­schwei­gen, des Va­ters Beflissen­heit als Rei­se­füh­rer (ein neu­er Be­ruf für ihn; eher Be­ru­fung). Schließ­lich die Be­er­di­gung ein Jahr spä­ter.

Im drit­ten Teil des Bu­ches be­gibt sich die Er­zäh­le­rin er­neut auf ei­ne Rei­se, sucht wei­ter die Or­te der Kind­heits­rei­sen auf und auch je­ne, an de­nen man da­mals vor­bei­ge­fah­ren ist oder die man dann doch lie­gen ließ. Vor al­lem geht es durch die Bassa Pa­da­na, ei­ner Land­schaft, die ihr zu­wei­len wie aus Satz­zei­chen ge­formt er­scheint. Sie be­sucht Fer­ra­ra, die To­ten­stadt Spi­na, schließ­lich ein Mo­sa­ik in Ra­ven­na, von dem ihr der Va­ter er­zählt hat­te. Sie sieht Fla­min­gos, ver­irrt sich zu­wei­len, ent­deckt »ei­ne al­te Ord­nung der Welt«, sucht das Blau Fra An­ge­li­cos, je­nes Blau, das der Va­ter so ge­liebt hat­te, be­sucht die Sa­li­nen von Co­m­ac­chio und kom­plet­tiert ih­re Kind­heits­er­in­ne­run­gen, der­art »als soll­te ich ei­ne Auf­ga­be er­fül­len«. Die Auf­zeich­nun­gen zei­gen sich als exi­sten­ti­el­le Notwendig­keit: »Et­was Auf­ge­tra­ge­nes er­le­di­gen. Or­te auf­su­chen, Ge­län­de be­ge­hen, mich an den dün­nen Fa­den­spu­ren ent­lang­ta­sten, die sich zwi­schen mei­nen Er­in­ne­run­gen und Bil­dern, Or­ten, Na­men spann­ten.«

Der Le­ser kann der Prot­ago­ni­stin bei ih­ren Aus­flü­gen im In­ter­net fol­gen, so prä­zi­se zu­wei­len die Er­läu­te­run­gen. Aber es ist bes­ser, er lässt es und über­lässt sich statt­des­sen dem Strom des Er­zäh­lens, ent­flieht dem locken­den Na­tu­ra­lis­mus zu Gun­sten der kunst­voll ge­setz­ten Spra­che, die we­der la­ko­nisch noch pa­the­tisch da­her­kommt, son­dern den Din­gen, den Ge­füh­len, dem Le­ben ih­ren Platz ein­räumt und kunst­voll To­po­gra­phien mit den ei­ge­nen Be­find­lich­kei­ten zu­sam­men­führt. Dass es sich da­bei nicht bloß um Li­te­ra­tur-Li­te­ra­tur han­delt, son­dern um ein epi­sches und gleich­zei­tig ele­gi­sches Kunst­werk, ist die gro­ße Kön­ner­schaft Esther Kin­skys.