Jahr: 2012
Aléa Torik: Das Geräusch des Werdens

Allerlei Geheimnisvolles
Zunächst erinnert die von der alten Lehrerin erzählte Gründungslegende der Ortschaft ein bisschen an das berühmte Macondo. Es wird allerlei magisch-skurriles erzählt; der Tischler – der Außenseiter in der Dorfgemeinschaft (warum eigentlich? nur weil er schielte und/oder sein Haus etwas außerhalb stand?) – schnitzte sich seinen Sohn und plötzlich waren es Zwillinge. Andere Gerüchte spekulieren um eine gewisse Promiskuität der Frau. Die Söhne bekommen den gleichen Namen – nehmen aber dann doch überraschend vollkommen andere Entwicklungen. Einer bricht in die Stadt auf (welche auch immer gemeint sei), erscheint nur noch sporadisch im Dorf und wirkt wie eine Mischung aus Mafiosi und Hexenmeister.
Die Mär vom Solidarpakt
Die Wellen schlagen hoch. Eben noch »Kulturhauptstadt Europas« (mit entsprechenden Ausgaben und problematischen Unterhaltskosten, die jetzt scheinbar unrettbar zu Buche schlagen), und jetzt wieder einmal pleite: Die Oberbürgermeister des Ruhrgebiets fordern ein Ende des »perversen Systems« des sogenannten »Solidarpakts«. Schließlich seien ihre Straßen auch löchrig und das Geld schon lange nicht mehr vorhanden. So berichteten SZ, FTD, Spiegel-Online, Focus-Online, und noch viele andere. Bei einer Umfrage auf tagesschau.de an die geneigte Leserschaft heisst es:
Durch den Solidarpakt II erhalten die ostdeutschen Bundesländer bis 2019 insgesamt 156 Milliarden Euro. Damit sollen die Lebensverhältnisse zwischen Ost und West angeglichen werden. Das Geld dafür müssen der Bund, die Länder und die Kommunen aufbringen – und zwar unabhängig davon, wie deren eigene Finanzlage ist.
Hinrich von Haaren: Brandhagen

Um es gleich vorweg zu nehmen: »Brandhagen« ist ein im besten Sinne bemerkenswertes Buch. Erzählt werden 12, 13 Jahre einer Kindheit Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre. Die ersten Erinnerungen des Ich-Erzählers setzen vielleicht mit drei oder vier Jahren ein; am Ende ist er 15 oder 16. Alles spielt sich in dem norddeutschen (fiktiven) Dorf Brandhagen ab.
Ablehnung aus dem Jenseits?
Ja, man ist geblendet vom »Flirren der Vitrinen«, wenn man im Museum der Moderne beim Deutschen Literaturarchiv in Marbach den Raum der Dauerausstellung betritt. Ich hatte mich bis zum Schluß nicht an dieses Lichtgewitter gewöhnt und konnte mich auf die schier zahllosen Reliquien Ausstellungsstücke, die die deutschsprachigen Dichter der Neuzeit vor- oder hinterlassen haben, kaum konzentrieren. So hatte ich auch dieses Stück zunächst nicht beachtet:
Anna Katharina Hahn: Am Schwarzen Berg

Am Schwarzen Berg
Kein Störer, nirgends oder: Das Elend der Ereignislosigkeit
Christian Kracht hatte in Zürich aus seinem neuen Buch »Imperium« gelesen. Und alle gingen hin. Aber sie gingen nicht nur hin. Sie berichteten auch. Alle warteten auf den Skandal, den Eklat. Leider blieb er aus. Der Autor hatte sich schon vorher Fragen nach der Lesung verbeten. Schade für die angereiste Journalistik von Spiegel, FAZ, Süddeutsche Zeitung und dpa. Was nun, da doch nichts passiert war?
Egal sagt sich das Feuilleton. Wenn man schon mal da ist, muss man auch darüber schreiben. Wobei es eigentlich nichts Unergiebigeres gibt als über eine Lesung zu berichten. Der Spiegel macht aus der Not eine Tugend: »Jetzt sprach er«, heißt es ebenso großkotzig wie ungenau. Stefan Kuzmany erzählt zunächst von seinem Abendessen und gibt sich als nicht besonders gut informiert, was er durch ständiges »oder so ähnlich« unterstreichen möchte. Dabei hat er das inkriminierte Buch wenigstens angelesen, was man daran merkt, dass er den Duktus Krachts zu imitieren sucht, wenn auch unbeholfen. »Keine Klärung« vermeldet der Reporter dann am Ende. Der Trost für den Leser: Links daneben kann man »Imperium« direkt im Spiegel-Shop bestellen.
Phraseologische Betrachtungen über diverse Ängste
Es gibt Buchtitel, die im Laufe der Zeit immer wieder paraphrasiert, variiert, parodiert und karikiert werden und somit von der Sentenz zur Redensart geworden sind (oder umgekehrt) wie Johannes Mario Simmels »Es muß nicht immer Kaviar sein« oder Heinrich Bölls »Die verlorene Ehre der Katharina Blum« (hier gibt es noch mehr Beispiele). Zweifellos gehört »Die Angst des Tormanns beim Elfmeter« dazu. Dabei handelt es sich um eine Erzählung von Peter Handke aus dem Jahr 1970 (und zwei Jahre später von Wim Wenders verfilmt wurde). Die Tatsache, dass Nichtlesern dieses Büchleins die Bedeutung des Titels nicht deutlich werden kann (Titane wie Oliver Kahn finden es »komisch«, dass ein Torwart Angst vor [sic!] vor einem Elfmeter haben soll, ist doch längst Konsens, dass ein Torwart immer nur zum Helden werden kann – sofern er den Ball hält), hält sie nicht vor Inspirationen der Verballhornungen ab.
Beim genauen Hinsehen zeigt sich, dass die meisten Variationen nicht der Intention des Handke-Titels entsprechen. Kongenial und eng an der »Vorlage« sind Schöpfungen wie »Die Angst der Torfrau beim Elfmeter« und »Die Angst des Roboters beim Elfmeter«. Auch in »Die Angst der Schäfer bei der Lammung« wird die Gleichzeitigkeit von Angst und Ereignis deutlich.
Paraphrasiert wird der Titel jedoch fast immer falsch