Wel­ten und Zei­ten XX

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

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Wie­so sagt man im Deut­schen ei­gent­lich »Ro­man«, wenn man »Ro­man« meint? War­um nicht »No­vel­le«, no­vel, no­ve­la wie im Eng­li­schen oder Spa­ni­schen? Ei­gent­lich ist es egal, die Spra­che bzw. die Be­deu­tun­gen, mit de­nen in ihr jon­gliert wird, sind so­wie­so ge­prägt durch ih­ren Ge­brauch. Der Ro­man ist in der (ro­ma­ni­schen) Volks­spra­che ge­schrie­ben, und die No­vel­le stellt ei­ne Neu­ig­keit dar. Aber dann be­ginnt erst die Ge­schich­te, und der Ro­man wird das, was er eben ge­wor­den ist und heu­te noch ist. Im Ja­pa­ni­schen ur­sprüng­lich mo­no­ga­ta­ri, in den bei­den Schrift­zei­chen 物語 ver­bin­den sich die Din­ge und das Re­den, al­so ei­gent­lich ist es nur ein Ge­plau­der über dies und das. Die­se De­fi­ni­ti­on trifft recht gut auf das Gen­ji Mo­no­ga­ta­ri zu, das manch­mal als er­ster Ro­man der Li­te­ra­tur­ge­schich­te be­zeich­net wird (man hat schon so man­chen Ro­man zum »er­sten« er­ko­ren). Heu­te sagt man in Ja­pan eher shou­setsu, 小説, das heißt: klei­ne Er­klä­rung, oder auch klei­ne Er­zäh­lung, Er­klä­run­gen sind ja im­mer auch Er­zäh­lun­gen; je­den­falls steht vor­ne das Zei­chen für »klein« wie bei Kind, 小人, klei­ner Mensch. In al­len die­sen ur­sprüng­li­chen Be­zeich­nun­gen wird der Text­gat­tung Ernst­haf­tig­keit ab­ge­spro­chen, sie ist ge­wis­ser­ma­ßen nicht er­wach­sen, nicht La­tei­nisch, nicht son­der­lich ge­lehrt. Ei­ne locke­re Form, dient auf je­den Fall der Un­ter­hal­tung. Ich glau­be, das trifft im­mer noch zu. Ei­ne freie Form, man kann, wie ich hier schon mehr­mals sag­te, al­les mög­li­che in sie hin­ein­stop­fen (auch wenn viel­leicht hin­zu­zu­fü­gen ist, daß man da nicht über­trei­ben soll­te: Zu viel ist zu viel, wir brau­chen auch Lücken).

Als ich vor un­ge­fähr zehn Jah­ren Kenzabu­ro Oe be­such­te, nann­te er al­le sei­ne Wer­ke »shou­setsu«, egal ob sie groß oder klein, lang oder kurz, mehr oder we­ni­ger un­ter­halt­sam wa­ren. An­to­nio Ta­buc­chi, ein an­de­rer Mei­ster des Ro­mans, will zwi­schen Er­zäh­lung und Ro­man gar nicht un­ter­schei­den, ob­wohl er dann wie­der be­tont, die Er­zäh­lung be­fol­ge stren­ge Re­geln, für den Ro­man gel­te das nicht. Trotz­dem, er glaubt nicht an die »rei­nen Gen­res«, son­dern an die Ver­mi­schung der Gen­res: Cre­do nella mes­co­lan­za dei ge­ne­ri. Ei­nem um­fang­rei­chen, durch das qua­si ari­sto­te­li­sche 24-Stun­den-Kor­sett müh­sam im Zaum ge­hal­te­nen Ro­man wie dem Ulysses zieht er die Er­zähl­samm­lung Dub­li­ner vor.

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Car­lo Ma­sa­la: Wenn Russ­land ge­winnt

Carlo Masala: Wenn Russland gewinnt

Car­lo Ma­sa­la:
Wenn Russ­land ge­winnt

Wenn Russ­land ge­winnt geht in­zwi­schen in die 5. Auf­la­ge und ist, als die­ser Text ent­steht, Platz 1 der Spie­gel-Best­stel­ler­li­ste »Ta­schen­bü­cher Sach­buch« und vom Ver­lag nicht lue­fer­bar. Das liegt na­tür­lich vor al­lem an der Pro­mi­nenz sei­nes Au­tors, Car­lo Ma­sa­la. Der Pro­fes­sor für In­ter­na­tio­na­le Po­li­tik an der Uni­ver­si­tät der Bun­des­wehr ist seit dem rus­si­schen Über­fall auf die Ukrai­ne in den Me­di­en om­ni­prä­sent. Es ist un­be­streit­bar Ma­sa­las Ver­dienst, dass er die Not­wen­dig­keit geo­po­li­ti­schen Den­kens als exi­sten­ti­ell wich­ti­gen Teil ei­ner Au­ßen­po­li­tik in den Fo­kus der Öf­fent­lich­keit ge­rückt hat. Sein 2022 über­ar­bei­te­tes Buch Welt­un­ord­nung zeig­te die Ver­wer­fun­gen und Irr­tü­mer des »We­stens« der letz­ten drei­ßig Jah­re auf. Deutsch­land wur­de dar­an er­in­nert, sich sei­ner ei­ge­nen In­ter­es­sen be­wusst zu wer­den.

Ma­sa­la be­für­wor­te­te von Be­ginn an fi­nan­zi­el­le Un­ter­stüt­zung, po­li­ti­sche West­bin­dung und um­fas­sen­de Waf­fen­lie­fe­run­gen für die Ukrai­ne. Das Land soll­te der­art un­ter­stützt wer­den, das für Russ­land die Ko­sten für ei­ne Wei­ter­füh­rung des Krie­ges zu hoch und da­durch Ver­hand­lun­gen auf Au­gen­hö­he mög­lich wä­ren. Den Ein­satz von Atom­waf­fen durch Russ­land schätz­te er eher ge­ring ein. Im Ge­gen­satz zu vie­len Au­gu­ren und Ex­per­ten sprach er al­ler­dings mei­nes Wis­sens nie von ei­nem »Sieg« der Ukrai­ne über Russ­land – wohl wis­send, dass dies il­lu­so­risch wä­re.

Par­al­lel plä­diert Ma­sa­la für ei­ne bes­se­re Aus­stat­tung der Bun­des­wehr und sah im »Zeitenwende«-Sondervermögen erst ei­nen An­fang. Hier kam ei­nem der Ver­gleich mit dem spä­ter recht kon­tro­vers dis­ku­tier­ten Chri­sti­an Dro­sten wäh­rend der Co­ro­na-Pan­de­mie in den Sinn (Ma­sa­la lehn­te den Ver­gleich ab). In den so­zia­len Netz­wer­ken zeig­te sich Ma­sa­la bis­wei­len als Hitz­kopf (was auch der Au­tor die­ser Zei­len mit­er­le­ben durf­te).

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Mit Ernst Jün­ger aus der Kom­fort­zo­ne

Die vor­nehm­li­che Hal­tung des ak­tu­el­len Le­sers der Bü­cher von Ernst Jün­ger in der mo­ral­ge­tränk­ten (li­te­ra­ri­schen) Öf­fent­lich­keit ist ge­beugt, die Lek­tü­re er­folgt vor­zugs­wei­se ver­steckt, das Re­den dar­über flü­sternd, in ste­ti­ger Ab­gren­zung so­wohl ge­gen Be­schimp­fun­gen wie auch un­will­kom­me­nen Um­ar­mun­gen be­grif­fen. In der Ni­sche zwi­schen ei­ner im Brust­ton der Un­kennt­nis vor­ge­brach­ten Ab­leh­nungs­ka­ma­ril­la und leid­li­chen, po­li­tisch mo­ti­vier­ten Ver­ein­nah­mun­gen be­fin­det sich der Jün­ger-Re­zi­pi­ent in stän­di­ger Acht­sam­keit. Wer si­cher ge­hen will, liest lie­ber Re­mar­que, Im We­sten nichts Neu­es. Da­bei er­scheint es wie ein Witz, dass Re­mar­que einst die Stahl­ge­wit­ter, je­ne li­te­r­a­ri­sier­te Form der Kriegs­ta­ge­bü­cher des Leut­nants Jün­ger aus dem Er­sten Welt­krieg, als »prä­zi­se, ernst, stark und ge­wal­tig« lob­te und ei­ne »wohl­tu­en­de Sach­lich­keit« her­aus­stell­te. Aber wer weiß das schon? Be­zie­hungs­wei­se: Wer will das wis­sen?

Und dann liest man plötz­lich so et­was:

  • »Ernst Jün­gers Kriegs­ta­ge­bü­cher lie­fern viel­leicht den be­sten und ehr­lich­sten Be­weis für die Schwie­rig­kei­ten, de­nen das In­di­vi­du­um aus­ge­setzt ist, wenn es sei­ne mo­ra­li­schen Wert­vor­stel­lun­gen und sei­nen Wahr­heits­be­griff un­ge­bro­chen in ei­ner Welt er­hal­ten möch­te, in der Wahr­heit und Mo­ral jeg­li­chen er­kenn­ba­ren Aus­druck ver­lo­ren ha­ben. Trotz des un­leug­ba­ren Ein­flus­ses, den Jün­gers frü­he Ar­bei­ten auf be­stimm­te Mit­glie­der der na­zi­sti­schen In­tel­li­genz aus­üb­ten, war er vom er­sten bis zum letz­ten Tag des Re­gimes ein ak­ti­ver Na­zi-Geg­ner und be­wies da­mit, daß der et­was alt­mo­di­sche Ehr­be­griff, der einst im preu­ßi­schen Of­fi­ziers­korps ge­läu­fig war, für in­di­vi­du­el­len Wi­der­stand völ­lig aus­reich­te.«

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Wel­ten und Zei­ten XIX

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

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Lang­sa­me Heim­kehr wie­der­ge­le­sen, den Ro­man, der sich Er­zäh­lung nennt. Na­tür­lich er­zählt da ei­ner et­was, das ist un­be­strit­ten, und ob es dann zum Ro­man wird . . . ist letzt­lich egal. En fin du comp­te. Am En­de des Ta­ges, wie die der­zeit mo­di­sche Flos­kel lau­tet: Die Me­di­en­spra­che und da­mit die Ge­mein­spra­che, denn al­le sind me­dia­ti­siert, wer­den im­mer flos­kel­haf­ter, rhe­to­ri­scher, Freund­schafts- und Fol­lo­wing-Al­go­rith­men tra­gen viel da­zu bei, auch Emo­jis, im ver­gan­ge­nen Jahr­hun­dert hät­te ich mir nicht träu­men las­sen, daß die Rhe­to­rik so mas­siv wie­der­kehrt (und ich mei­ne nicht NLP, neu­ro­lin­gu­istics for po­li­ti­ci­ans, das ist wie­der ein an­de­res Ka­pi­tel).

Egal. En­fin. Lang­sa­me Heim­kehr, egal wel­chem der vier Tei­le, kann ich mich nicht nä­hern, oh­ne an die 1982 ge­se­he­ne Auf­füh­rung von Über die Dör­fer, dem ich glau­be, drit­ten Teil der Te­tra­lo­gie (oder war es der zwei­te?) in der Salz­bur­ger Fel­sen­reit­schu­le zu den­ken, die in mein li­te­ra­ri­sches wie auch bild­li­ches Ge­dächt­nis ein­ge­gan­gen ist. Re­gie Wim Wen­ders, auf der Büh­ne Mar­tin Schwab, Libgart Schwarz, Hand­kes Ex, in der Rol­le der No­va, der Heils­ver­kün­de­rin, be­ein­druckend ernst­haft. Ich war da­mals für so­was emp­fäng­lich. Das all­ge­mei­ne Pu­bli­kum ver­schmäh­te Hand­ke, den ehe­ma­li­gen Pop-Star, der Zeit­geist fand das al­les zu pa­the­tisch. Das gab mir die Mög­lich­keit, für we­nig Geld die Auf­füh­rung gleich noch ein­mal zu se­hen.

No­va spricht da von der Mau­er her­ab ei­nen heid­eg­ge­ria­nisch-nietz­schea­ni­schen Apho­ris­men­cock­tail, der schießt ge­nau­so ins Hirn wie die Ka­ra­wa­nen­mu­sik, die Wen­ders aus­ge­wählt hat. Ach­tung, Kitsch­ver­dacht! Schon für den Ro­man (oder ein­fach: vor dem Ro­man), das er­ste Stück der Lang­sa­me-Heim­kehr-Te­tra­lo­gie, hat­te Hand­ke Heid­eg­ger ge­le­sen. Ist man ein­mal von der Spra­che des Phi­lo­so­phen af­fi­ziert, geht das nicht so schnell ab, und wie soll man ein Buch wie Sein und Zeit le­sen, oh­ne für die Emo­ti­on emp­fäng­lich zu sein, das heißt, oh­ne sich zu öff­nen? Lang­sa­me Heim­kehr, der Ro­man, ist schon ein biß­chen heid­eg­ge­ria­nisch. Und nicht nur des­halb schwer zu le­sen. Be­son­ders am An­fang, aber ei­gent­lich über mehr als die Hälf­te des Buchs hin­weg, bis es end­lich Schwung auf­nimmt, ist die Syn­tax kom­plex, ih­re bild­haft-be­deu­tungs­schwe­re Be­la­stung groß, so daß der Le­ser ge­zwun­gen ist, vie­le Sät­ze zwei­mal und öf­ter zu le­sen.

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Lu­zia Schmid: Ich will al­les

Luzia Schmid: Ich will alles

Lu­zia Schmid: Ich will al­les

Es be­ginnt, wie ein Film über die Schau­spie­le­rin, Sän­ge­rin und Buch­au­to­rin Hil­de­gard Knef be­gin­nen muss: 1968, Or­che­ster Kurt Edel­ha­gen, »Für mich soll’s ro­te Ro­sen reg­nen«. Der Text ist, wie fast im­mer, von ihr, die Mu­sik ar­ran­gier­te Hans Ham­mer­schmid. Da ist die­se Au­ra, die­ses Tim­bre, das man so­fort, auch oh­ne Bild, wie­der­erkennt. Ei­ne spe­zi­el­le Ver­bin­dung aus Stolz, Maß­lo­sig­keit und Selbst­iro­nie, la­ko­nisch und wuch­tig zu­gleich, »hem­mungs­los au­to­bio­gra­phisch«, wie sie ih­re Tex­te sel­ber nann­te, ei­ne kom­pri­mier­te Le­bens­bi­lanz mit 43 Jah­ren, da­von mehr als 20 Jah­re in­ter­na­tio­na­le Film- und Büh­nen­er­fah­rung. Ein Blick dann auf die quan­ti­ta­tiv im­po­nie­ren­de Li­ste mit »Co­ver­ver­sio­nen« und man weiß, dass ei­nem kei­ne da­von auch nur ei­ne Se­kun­de in­ter­es­siert, und das gilt auch für die­ses dün­ne Süpp­chen, das Ex­tra­breit 1992 mit der Knef auf­ge­nom­men hat­ten.

Lu­zia Schmid hat gut dar­an ge­tan, die­se Ne­ben­schau­plät­ze für ih­ren Film Ich will al­les aus­zu­blen­den. Über die ge­sam­ten 98 Mi­nu­ten bleibt die Schwei­zer Do­ku­men­tar­fil­me­rin bei Hil­de­gard Knef und lässt sie in den vie­len In­ter­views und Ge­sprä­chen, die sie in vier Jahr­zehn­ten ge­führt hat­te, zu Wort kom­men. Be­kann­te In­ter­view­er sind dar­un­ter, al­les Män­ner, Fried­rich Luft et­wa, Wer­ner Baecker, Hans­jür­gen Ro­sen­bau­er, Rein­hart Hoff­mei­ster und Joa­chim Fuchs­ber­ger und man ist er­staunt, wie di­rekt, ja in­tim da­mals die Fra­gen wa­ren. Nichts wur­de aus­ge­spart, man frug nach Selbst­mord, nach Krank­heit, nach Be­zie­hun­gen und Hil­de­gard Knef gab be­reit­wil­lig und of­fen Aus­kunft. Fast hat man das Ge­fühl, sie ver­lang­te nach die­sen Ge­sprä­chen, um sich selbst ih­rer zu ver­ge­wis­sern; da spiel­te es auch kei­ne Rol­le, wenn die Ge­sprächs­part­ner zu­wei­len über­for­dert wa­ren.

Sie hat(te) et­was zu sa­gen. Et­wa wenn sie über Ver­sa­gens­äng­ste und dann, in ei­nem an­de­ren Ge­spräch, pa­the­tisch vom Göt­ter­ge­schenk der Mög­lich­kei­ten spricht, die sie in ih­ren Be­ru­fen hat. Da ist das Ge­ständ­nis, wäh­rend ih­rer er­sten Hol­ly­wood-Zeit (1948–51) ge­schei­tert zu sein, weil sie in ih­rer »Däm­lich­keit« auf Zu­sa­gen ge­war­tet ha­be. Nach­denk­lich re­sü­miert sie bei Fried­rich Luft, nie ei­ne Mit­tel­la­ge ge­habt zu ha­ben. Ent­we­der ha­be es sehr gro­ßen Er­folg oder »ganz be­deu­ten­den Miss­erfolg« ge­ge­ben. Ih­ren Tri­umph im Broad­way-Mu­si­cal Silk Stockings 1955 schrieb sie Co­le Por­ter zu, der sie zum Sin­gen er­mun­tert ha­be. Dass »Mar­le­ne« kam, um ihr da­nach zu gra­tu­lie­ren, be­deu­te­te ihr viel. Spä­ter ha­be sie mit ex­zel­len­ten Film­re­gis­seu­ren zu­sam­men­ge­ar­bei­tet, die aber lei­der ih­re schlech­te­sten Fil­me ge­dreht hät­ten.

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Chri­stoph Nar­holz: Wi­de Bo­di­ed Jets

Christoph Narholz: Wide Bodied Jets

Chri­stoph Nar­holz:
Wi­de Bo­di­ed Jets

Aber­mals ein Buch mit No­ta­ten, al­len­falls klei­nen Er­zäh­lun­gen, Ca­pric­ci­os, ei­ne im­mer stär­ker sich ver­brei­ten­de, sanf­te Form des Wi­der­stands ge­gen den Ro­man­fe­ti­schis­mus des Li­te­ra­tur­be­triebs. Wi­de Bo­di­ed Jets lau­tet der Ti­tel; nicht der ein­zi­ge An­gli­zis­mus. Man er­fährt, dass da­mit Trans­kon­ti­nen­tal­flug­zeu­ge be­zeich­net wer­den. Es gibt/gab da­von 76 bei der Luft­han­sa und al­le blie­ben wäh­rend der Co­ro­na-Pan­de­mie am Bo­den. Und 76 Ge­schich­ten sol­len es sein, so vie­le wie Jets. Am En­de sind es mehr als 80.

Es be­ginnt, wie der Au­tor es kurz dar­auf sel­ber nennt, »alt­mo­disch le­gen­den­haft« mit ei­ner Er­zäh­lung aus ei­nem klei­nen por­tu­gie­si­schen Ort vor zwei­hun­dert Jah­ren, drei hüb­schen Wirts­töch­tern, ei­nem Dau­er­ver­lieb­ten und dem Ver­such, die­se Zeit in der Ge­gen­wart des Dor­fes wie­der­zu­fin­den. Die­ser Ein­stieg er­weist sich als Glücks­fall, denn da­nach gibt es den er­sten von drei (oder sind es vier?) Selbst­dia­log-Ein­schü­ben. Zu­nächst wird hier dem Le­ser das Kon­zept er­klärt, dass all die­se Tex­te in der Co­ro­na-Zeit ent­stan­den sind (am En­de heißt es von »Spät­win­ter 2020 bis Som­mer 2022«), dass es wi­der die »kleb­ri­ge Trau­rig­keit von Chri­sti­an Kracht« (an­geb­lich ein Di­ede­rich­sen-Wort) geht und dass es vie­le un­ter­schied­li­che Er­zäh­ler gibt. So weit, so gut. Im wei­te­ren Ver­lauf der Selbst­ge­sprä­che wer­den al­ler­dings na­he­zu al­le po­li­ti­schen und ge­sell­schaft­li­chen The­men der Zeit be­spro­chen wie bei­spiels­wei­se die Schwä­chen des Li­be­ra­lis­mus, die Not­wen­dig­keit ei­ner neu­en Rechts­ord­nung im An­thro­po­zän oder die Re­ak­tio­nen des Staa­tes in der Pan­de­mie. Aus­führ­lich kne­tet man die (da­mals ak­tu­el­len) Phi­lo­so­phen, Bru­no La­tour, Pe­ter Slo­ter­di­jk, Bo­ris Groys, Jür­gen Ha­ber­mas und Sla­voj Žižek, was bei je­man­den, der u. a. über Slo­ter­di­jk pro­mo­viert hat, nicht un­ge­wöhn­lich ist. Na­tür­lich gibt es dann auch Ein­ord­nun­gen zum Über­fall Russ­lands auf die Ukrai­ne (die­ser Krieg wird schließ­lich als »Fe­mi­zid« klas­si­fi­ziert).

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Wel­ten und Zei­ten XVIII

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

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Mut zur Lücke: ei­ne be­lieb­te Wort­fü­gung, oft als Mot­to ver­wen­det. Wie­so man zum Lücken­ma­chen oder ‑las­sen Mut braucht, ist mir zwar nicht ein­sich­tig. Mei­stens wer­den Lücken ein­fach hin­ge­nom­men, un­be­küm­mert oder zäh­ne­knir­schend. Trans­ver­sa­li­tät lebt ge­wis­ser­ma­ßen von Lücken. Man kann sie sich auch als Po­ren vor­stel­len, durch die der Geist at­met. Zu­viel Dich­te be­hin­dert das Vor­stel­lungs­ver­mö­gen. Text, Tex­tur, Ge­we­be: das mehr von Phi­lo­lo­gen als von Schrift­stel­lern ge­brauch­te Bild ver­weist auf lücken­lo­se Struk­tu­ren. Tex­te, in de­nen / mit de­nen sich at­men läßt, ha­ben Po­ren, oder eben Lücken. Sie sind eher mit ei­ner Hä­kel­ar­beit ver­gleich­bar als mit ei­nem Ge­we­be.

Trotz­dem stre­ben Dich­ter, sol­che von Ge­dich­ten wie auch von Pro­sa, nach Ver­dich­tung, und oft ist ih­nen be­wußt, daß ihr Text bei­des braucht, Lücken und Dich­te: Un­ter- und Über­de­ter­mi­nie­rung. Es gilt, der Bil­der­phan­ta­sie im Kopf des Le­sers Raum zu ih­rer Ent­fal­tung las­sen. Und aus der Spra­che, noch aus der schlich­te­sten For­mu­lie­rung, mehr her­aus­zu­ho­len, als man – und wo­mög­lich der Dich­ter selbst – sich hat träu­men las­sen, daß drin­steckt. Das Ver­brauch­te er­neu­ern, neu be­le­ben. Durch die Po­ren at­men, Luft her­ein­las­sen durch grö­ße­re Öff­nun­gen. Luf­ti­ge Tex­te, so die Hoff­nung, ent­wickeln ei­nen ei­ge­nen Schwung, der den Le­ser mit­nimmt.

Auf das Epos folgt li­te­ra­tur­ge­schicht­lich der Ro­man. Al­te Hy­po­the­se. Der »mo­der­ne Ro­man« ist ein Pleo­nas­mus, in­so­fern der Ro­man mit der Mo­der­ne – der er­sten eu­ro­päi­schen Mo­der­ne, die das Mit­tel­al­ter ab­löst – ent­steht. Ob die hier und da in der x‑ten Mo­der­ne avi­sier­te Wie­der­kehr des Epos nicht bloß ei­ne Bank­rott­erklä­rung des Ro­man­ciers ist, dem die Zü­gel ent­glei­ten? Als Wahl­ja­pa­ner be­zie­he ich un­se­re Iden­ti­tät, so­weit wir halt ei­ne brau­chen, lie­ber aus dem fried­fer­ti­gen Gen­ji Mo­no­ga­ta­ri – manch­mal als »er­ster Ro­man« ti­tu­liert – als aus Sa­mu­rai-Ge­schich­ten und Bu­shi­do-Bü­chern, die ge­wis­se Zeit­strö­mun­gen und ein­zel­ne Au­toren vor­ge­zo­gen ha­ben, et­wa Yu­ko Mishi­ma in sei­nem mar­tia­li­schen Es­say Son­ne und Stahl. Das Wort »mo­no­ga­ta­ri« wür­de ich am ehe­sten mit »Ge­schich­ten­samm­lung« über­set­zen, in der Art von Boc­c­ac­ci­os De­ca­me­ro­ne oder, viel spä­ter, Goe­thes Un­ter­hal­tun­gen deut­scher Aus­ge­wan­der­ten oder, noch ein­mal spä­ter, Se­balds Die Aus­ge­wan­der­ten. Ver­sucht der Er­zäh­ler, ei­ni­ge oder min­de­stens ei­ne Fi­gur oder ei­nen in der Er­zähl­welt prä­sen­ten Er­zäh­ler über die gan­ze Samm­lung hin­weg bei der Stan­ge zu hal­ten oder, noch bes­ser, des­sen Ent­wick­lung zu zei­gen, er­hält man das, was wir im­mer noch »Ro­man« nen­nen. Doch der Be­griff ist nach hin­ten und nach vor­ne of­fen. Viel­leicht ist der Ro­man noch heu­te nichts an­de­res als ei­ne Ge­schich­ten­samm­lung. Zum Bei­spiel Hand­kes Jahr in der Nie­mands­bucht, als Mär­chen aus­ge­ge­ben und dem Epos zu­nei­gend, ist ganz klar ei­ne sol­che Samm­lung, in wel­cher sie­ben Freun­de ih­re Ge­schich­ten er­zäh­len und die Er­zäh­lun­gen von ei­nem recht prä­sen­ten Er­zäh­ler re-prä­sen­tiert wer­den. Ein Sy­stem von Ge­schich­ten, wür­de ich sa­gen. Ein Sy­stem von nar­ra­ti­ven Pla­ne­ten, die um ein Haupt­ge­stirn krei­sen, das nicht un­be­dingt oder nicht im­mer oder nur in­di­rekt strahlt.

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Chri­sti­an Kracht: Air

Christian Kracht: Air

Chri­sti­an Kracht: Air

Chri­sti­an Krachts neu­er Ro­man Air be­ginnt in Strom­ness auf den Ork­ney-In­seln. Dort lebt Paul. Er ist In­nen­aus­stat­ter (»Home Stager«), küm­mert sich, war­um auch im­mer, um ei­ne ein­äu­gi­ge Kat­ze, liest ger­ne ein Zeit­geist-Ma­ga­zin und hat ein Bild von Ja­mes Ar­cher mit Mer­lin und Rit­ter Lan­ce­lot an der Wand hän­gen, das ihm der Her­zog von Cum­ber­land ge­schenkt hat­te, weil er für des­sen Sa­lon im Jagd­schloss ein ganz spe­zi­el­les Rot ge­fun­den hat­te. Da­nach ka­men dann Auf­trä­ge aus al­len Re­gio­nen. Paul wirkt ein biss­chen ge­lang­weilt, selbst das Po­lar­licht hat sei­nen Zau­ber ver­lo­ren. Er ha­dert mit Strom­ness, schwärmt für ein Haus auf der In­sel Ju­ra, »Barnhill« ge­nannt, weit weg von jeg­li­cher Zi­vi­li­sa­ti­on, das er nur von Bil­dern kennt«. Im­mer­hin lernt der Le­ser die ein­zi­ge Bäcke­rei von Strom­ness ken­nen. Er er­hält ei­ne Ein­la­dung nach Sta­van­ger. Dort möch­te man, das er das per­fek­te Weiß er­fin­det. Er fährt hin. Die Ka­pi­tel mit Paul sind mit un­ge­ra­den, rö­mi­schen Zah­len über­schrie­ben.

Il­dr ist neun Jah­re alt, lebt mit ei­ner ein­äu­gi­gen Eu­le in ei­nem nicht nä­her de­fi­nier­ten Land in ei­ner vor­mo­der­nen Zeit. Die Mut­ter ist am »Gel­ben Tod« ge­stor­ben, der Va­ter un­ter­wegs, das Le­ben ist hart. Manch­mal muss sie ja­gen, mit Pfeil und Bo­gen, so auch heu­te. Statt ei­nes Rehs hat sie al­ler­dings ei­nen Mann ge­trof­fen. Sie ist ent­setzt, nimmt den Frem­den mit. Man ent­fernt den Pfeil, Il­dr näht die Wun­den zu und gibt dem Mann von sei­nem wei­ßen Pul­ver. Als Sol­da­ten des Her­zogs von Tvi­ot an ih­re Tür klop­fen und nach ei­nem frem­den Mann fra­gen, lügt sie die­se an. Der Mann wird ge­sucht; er soll ein Er­fin­der sein, ein Ma­gi­er. Die Ka­pi­tel mit Il­dr und dem Frem­den sind mit ge­ra­den, rö­mi­schen Zah­len über­schrie­ben.

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