Chri­stoph Rans­mayr: Als ich noch un­sterb­lich war

Christoph Ransmayr: Als ich noch unsterblich war

Chri­stoph Rans­mayr: Als ich noch un­sterb­lich war

Ei­gent­lich sind es drei­zehn Er­zäh­lun­gen, die Chri­stoph Rans­mayr in sei­nem neu­en Buch ver­sam­melt hat. Al­le­samt sind sie zwi­schen 1997 und 2018 pu­bli­ziert wor­den und wer­den jetzt mit dem leicht-re­si­gna­ti­ven Ti­tel Als ich noch un­sterb­lich war end­lich an ei­nem Ort zu­sam­men­ge­fasst. Wo­bei der aber­gläu­bi­sche Au­tor in ei­nem klei­nen Vor­wort von »12a« spricht, um die­se un­ge­lieb­te Zahl zu ver­mei­den. Man kann al­ler­dings auch ein­fach die Ein­lei­tung als 14. Ge­schich­te le­sen, zu­mal dort das Co­ver vom bren­nen­den Schab­racken­ta­pir er­läu­tert wird.

Rans­mayr spricht in 12a von »Spiel­for­men der Er­zähl­kunst« und be­weist in die­sem Band sei­ne Viel­sei­tig­keit. Die Ti­tel­ge­schich­te, die den Band er­öff­net, han­delt von ihm als Kind, wel­ches beim Es­sen der Buch­sta­ben­sup­pe durch die Mut­ter an­ge­lernt wird »mit ei­nem Löf­fel voll Buchstaben…die Welt in der Hand« zu hal­ten und sich dem »Zau­ber der Ver­wand­lung von et­was in Spra­che et­was selt­sam Fried­li­ches« hin­zu­ge­ben. Die­ser pa­ra­die­sisch an­mu­ten­de Zu­stand kommt zu ei­nem jä­hen En­de, als die Mut­ter »kaum sech­zig­jäh­rig, an ei­nem hei­ßen Au­gust­tag starb«. Auf dem To­ten­bett aus Ver­zweif­lung nach Wor­ten rin­gend, mahn­te die Mut­ter ih­ren Sohn ge­sti­ku­lie­rend zur Stil­le. Ein be­we­gen­des Bild.

Auch die an vor­letz­ter Stel­le wie bei­läu­fig ein­ge­ar­bei­te­te Va­ter­ge­schich­te An der Bah­re ei­nes frei­en Man­nes er­greift den Le­ser. Karl-Fried­rich Rans­mayr wird hier als ein Wie­der­gän­ger von Mi­cha­el Kohl­haas er­zählt. Da­bei klingt es zu­nächst mehr nach Bart­le­by. Rans­mayrs Va­ter wi­der­stand als Schü­ler dem Druck, auf ei­ne Na­zi-Eli­te­schu­le zu ge­hen und lehn­te es spä­ter ab, die Of­fi­ziers­lauf­bahn in der Wehr­macht ein­zu­schla­gen. »Ich woll­te un­ter die­sen Leu­ten nichts wer­den«, er­klär­te er hin­ter­her. Nach dem Krieg wur­de er Leh­rer und en­ga­gier­te sich eh­ren­amt­lich, ver­fass­te Ein­ga­ben und Ge­su­che »für Bau­ern, Hand­wer­ker, Gast­wir­te, Faß­bin­der und Schicht­ar­bei­ter«, schließ­lich stell­ver­tre­ten­der Bür­ger­mei­ster und ver­gab hemds­är­me­lig und un­kon­ven­tio­nell Kre­di­te an Klein­ge­wer­be­trei­ben­de. Sei­ne Be­liebt­heit weck­te Nei­der, man de­nun­zier­te ihn, Gel­der ver­un­treut zu ha­ben. Es wur­de er­mit­telt, Karl-Fried­rich Rans­mayr »ver­lor sei­ne Stel­le als Ober­leh­rer, ver­lor al­le sei­ne Funk­tio­nen in den Ver­ei­nen des Or­tes und na­tür­lich auch sei­nen Rang als stell­ver­tre­ten­der Bür­ger­mei­ster«. Der Pro­zess er­gab, dass er sich zwar nicht be­rei­chert und der Ge­mein­de kei­nen Scha­den zu­ge­fügt hat­te, aber der ju­ri­sti­sche Tat­be­stand der Un­treue blieb be­stehen. »Aber Kohl­haas, mein Va­ter, woll­te zum er­sten Mal in sei­nem Le­ben kei­ne Nach­sicht, auch kei­ne Mil­de, son­dern Ge­rech­tig­keit« und »wei­ger­te sich, das Ur­teil an­zu­neh­men.« Im­mer­hin: »Nach fünf Jah­ren Nacht­ar­beit am Fließ­band der Pa­pier­fa­brik« er­folg­te die voll­stän­di­ge Re­ha­bi­li­ta­ti­on. Dann starb sei­ne Frau, Rans­mayrs Mut­ter. Der Va­ter »lehnte…die Wie­der­auf­nah­me in die dörf­li­che Ge­mein­schaft ab« und or­ga­ni­sier­te sein Le­ben neu. Ein zärt­lich-be­wun­dern­der Ton ist in die­ser Er­zäh­lung ein­ge­wo­ben.

Wie soll­te es bei Rans­mayr an­ders sein – es fin­den sich selbst­re­dend auch Rei­se­er­zäh­lun­gen im Band. Et­wa vom Auf­ent­halt am See von Phoks­un­do, Ti­bet, als der Er­zäh­ler am Neu­jahrs­tag aus der Zeit fiel (was pa­ra­dox klingt, weil er sich am Neu­jahrs­tag ori­en­tier­te). Merk­wür­dig, als er und sein Weg­be­glei­ter von ei­nem Ein­hei­mi­schen, bei dem sie vor­her zu Gast ge­we­sen und ei­ne Fla­sche »trü­ben Reis­schnaps« ge­schenkt be­kom­men hat­ten, in ei­ni­gem Ab­stand durch den Tief­schnee im Hoch­ge­bir­ge bis zu dem Ort, der dann doch un­be­wohnt war, ge­folgt war. Die Auf­lö­sung ist so über­ra­schend wie wun­der­bar.

Es geht nach Sri Lan­ka, »in Sicht­wei­te des Krie­ges zwi­schen ta­mi­li­schen Se­pa­ra­ti­sten, den Ta­mil Ti­gers, und der sin­gha­le­si­schen Ar­mee«, or­che­striert bis­wei­len von »triefende[n] Hor­den von Hul­man-Af­fen« (The Last Pic­tu­re Show) und ins »Pack­eis der Hoch­ark­tis« auf den Spu­ren der Payer-Wey­precht-Ex­pe­di­ti­on 1873 be­gin­nend im »Mit­tel­por­tal der Öster­rei­chi­schen Na­tio­nal­bi­blio­thek« (Floß­fahrt). Die öster­rei­chi­schen Ent­decker brauch­ten da­mals man­gels Be­völ­ke­rung kei­ne Ur­ein­woh­ner mas­sa­krie­ren, wie Rans­mayr süf­fi­sant an­merkt und nann­ten das Ar­chi­pel in Ver­eh­rungs­ab­sicht Franz-Jo­seph-Land. In den be­sten Au­gen­blicken die­ser Er­zäh­lung weiß man nicht, ob er noch in Wien über den At­lan­ten sitzt oder schon Pas­sa­gier ist auf ei­nem rus­si­schen Eis­bre­cher.

In Mäd­chen im gel­ben Kleid ent­deckt der rei­sen­de Er­zäh­ler in der Nä­he der ost­afri­ka­ni­schen Virunga-Vul­ka­ne ein was­ser­schlep­pen­des, jun­ges Mäd­chen, eher ein Kind, an dem er die Fol­gen »durch die Ab­ge­sand­ten aus den ver­meint­li­chen Zen­tren der Kul­tur – aus Spa­ni­en, Frank­reich, den Nie­der­lan­den, Eng­land, Por­tu­gal, Deutsch­land« zu er­ken­nen glaubt (bei der Auf­zäh­lung der Schuf­te hat er die Bel­gi­er und Ita­lie­ner ver­ges­sen). Der Ko­lo­nia­lis­mus ha­be ei­ne »zer­tram­pel­te Büh­ne der Grau­sam­keit« hin­ter­las­sen; die Län­der dien­ten als »Quell­ge­bie­te des eu­ro­päi­schen Reich­tums«. Das An­ge­bot der Crew, sie mit­zu­neh­men, lehn­te das Mäd­chen ab, was klar ist, denn »wer die Wei­ßen nicht fürch­tet, der kennt sie nicht«.

Selbst für die Ver­bre­chen des ugan­di­schen Dik­ta­tors Idi Amin Da­da, der im­mer­hin für den ge­walt­sa­men Tod von vier­hun­dert­tau­send »Un­ter­ta­nen« (!) ver­ant­wort­lich zeich­net, sind, so der Er­zäh­ler, die Bri­ten ver­ant­wort­lich, denn Idi Amin »hat­te sein Hand­werk als Of­fi­zier der bri­ti­schen Ko­lo­ni­al­ar­mee ge­lernt«. Da ist man froh, dass die Pa­ri­ser Uni­ver­si­tät, an der einst Sa­loth Sar stu­dier­te, nicht auch noch in den Fo­kus rückt. Schließ­lich er­fährt der Le­ser den eher lä­cher­li­chen Zweck der Rei­se­un­ter­neh­mung: Man möch­te im ru­an­di­schen Dschun­gel un­ter Füh­rung kun­di­ger Wild­hü­ter Fo­tos von Be­geg­nun­gen mit Berg­go­ril­las ma­chen (was auch ge­lingt).

Wuch­ti­ger als die­se bei­den et­was fa­den Tex­te sind zwei Er­zäh­lun­gen aus Ir­land. Ein­mal geht es nur um ei­nen Mann, der »am En­de ei­ner lau­ten Be­schimp­fung des Mee­res und al­ler Pla­gen der Fi­sche­rei auch noch sei­nen Kühl­schrank ver­fluch­te und plötz­lich be­gann, sei­ne Kla­gen und Flü­che zu sin­gen!« (Der Sän­ger) Und dann wird von Glai­sín Álainn er­zählt, ei­ner Frei­luft­büh­ne, »hoch über den Klip­pen der süd­iri­schen At­lan­tik­kü­ste, an ei­ner der un­zäh­li­gen, von Feld­stein­mau­ern, Stech­gin­ster und Fuch­si­en­hecken ge­säum­ten Stra­ßen, die sich zwi­schen den Leucht­tür­men von Gal­ley Head und Ir­lands süd­west­lich­stem Kap, dem Mi­zen Head, in tief ein­ge­schnit­te­nen Buch­ten und fel­si­gen Hü­gel­ket­ten ver­lie­ren«. Zu­sam­men mit sei­nem Freund Ea­m­on aus Skib­be­re­en wird nicht nur die Ge­schich­te die­ses ein­zig­ar­ti­gen Or­tes er­grün­det, son­dern da­mit zu­gleich auch die iri­sche Ge­schich­te von Hun­gers­nö­ten, Krie­gen, Schiffs­ka­ta­stro­phen und mil­lio­nen­fa­chen Aus­wan­de­run­gen groß­ar­tig evo­ziert (Die drit­te Luft oder Ei­ne Büh­ne am Meer).

Die Ver­beu­gung des Rie­sen ist ei­ne Zeit­rei­se in den April 1989. Rans­mayr ist in Hong­kong auf ei­nem Sym­po­si­um, es ist der Früh­ling der Hoff­nung, über­all gibt es De­mon­stra­tio­nen ge­gen den »Olig­ar­chen Deng Xiao­ping« und es bleibt al­les fried­lich. Er und Hans Ma­gnus En­zens­ber­ger be­ob­ach­ten die Fest­ta­ge von Tin Hau, »der Schutz­pa­tro­nin al­ler, die den Un­ter­gang zu fürch­ten hat­ten« und da kommt ihm na­tür­lich En­zens­ber­gers Ti­ta­nic-Ge­dicht in den Sinn. So streift die klei­ne Er­zäh­lung den (am En­de bru­tal ge­schei­ter­ten) po­li­ti­schen Auf­bruch in Chi­na und wird ne­ben­bei zu ei­ner Hom­mage an den Freund. In Sa­rah Rot­blatt, Schön­heits­kö­ni­gin zeigt Rans­mayr, dass er auch ihm un­sym­pa­thi­sche Prot­ago­ni­sten wie in die­sem Fall den Wie­ner Fo­to­gra­fen Lo­thar Rü­belt por­trai­tie­ren kann, oh­ne die Per­son zu de­nun­zie­ren.

Zwei Tex­te wei­chen sti­li­stisch von den an­de­ren Er­zäh­lun­gen ab, was die ein­lei­ten­de For­mu­lie­rung vom »breit­ge­fä­cher­ten For­men­reich­tum« un­ter­streicht. Zum ei­nen han­delt es um ein am­bi­tio­nier­tes, zi­vi­li­sa­ti­ons- und wis­sen­schafts­kri­ti­sche Pro­sa­ge­dicht in drei Tei­len mit dem Ti­tel Strah­len­der Un­ter­gang, ei­ner »Re­de vor ei­ner aka­de­mi­schen De­le­ga­ti­on in der Oa­se Bordj Mok­tar«. Na­tur­ge­mäss denkt man so­fort an ei­ne auf das 21. Jahr­hun­dert ge­wen­de­te Va­ria­ti­on des Be­richts für ei­ne Aka­de­mie. Es kommt je­doch poin­tier­ter, als Ab­rech­nung mit dem »Herrn der Welt« da­her, der »zu sieb­zig Pro­zent aus Was­ser« be­stehe. »Weiß oder schwach pig­men­tiert« ist sei­ne Haut. Die­ser Herr der Welt, Me­ta­pher für das, was man »We­sten« nennt, ha­be »zu viel ver­wech­selt: Kul­tur mit Zi­vi­li­sa­ti­on, die blin­de Ent­wick­lung sei­ner Tech­nik mit Fort­schritt, Ideo­lo­gie mit Be­wußt­sein, Herr­schaft schließ­lich mit Ord­nung«. Er »dehn­te sich auf dem Rücken ihm frem­der Kul­tu­ren und er­klär­te das Frem­de zum Roh­stoff und Bau­ma­te­ri­al der ei­ge­nen Zi­vi­li­sa­ti­on.« Fol­ge­rich­tig wird auch die (abend­län­di­sche) Phi­lo­so­phie ver­wor­fen, die ei­ne »Auf­blä­hung des Den­kens« zur Fol­ge und »zur Ver­wand­lung des Wis­sens in ein Ge­wirr frucht­lo­ser Da­ten ge­führt« ha­be. All dies ge­hört nun der Ver­gan­gen­heit an. Der Red­ner raunt von ei­ner »Neu­en Wis­sen­schaft«, die »dem Herrn der Welt die Be­din­gun­gen sei­ner ei­ge­nen Auf­lö­sung« in ei­ner »Form des Ver­schwin­dens« schafft. Der »ver­we­sen­de Leich­nam« des ein­sti­gen Wel­ten­herr­schers wird nur noch für die »Kei­mung ei­nes Dat­tel­kerns nütz­lich sein, und aus dem Dung wird sich all­mäh­lich ei­ne Pal­me auf­rich­ten.« Die Neue Wis­sen­schaft »ver­mei­det Dis­kus­sio­nen, wenn es ge­fe­stig­te Ein­sicht in Pra­xis um­zu­set­zen gilt.« Der Text lässt Raum für In­ter­pre­ta­tio­nen.

Zum an­de­ren die letz­te Er­zäh­lung im Band, Da­men & Her­ren un­ter Was­ser, ei­ner hei­te­ren Mi­schung aus Fa­bel und Gro­tes­ke, in der Ge­stor­be­ne in vol­lem Be­wusst­sein ih­res ehe­ma­li­gen Le­bens als Mee­res­we­sen wie­der­ge­bo­ren wer­den. Da er­zählt zu­nächst der »al­lein­ste­hen­de, kin­der­lo­se, von un­kon­trol­lier­ba­ren Schweiß­aus­brü­chen ge­plag­te, oft übel­lau­ni­ge Mu­se­ums­wär­ter« Blue­her sei­ne Er­leb­nis­se als Groß­flos­sen-Riff­kal­mar auf dem Grund des Mee­res. Glück­li­cher­wei­se gibt es spo­ra­disch noch an­de­re Ver­wan­del­te, mit de­nen man kom­mu­ni­zie­ren kann, wie Herrn Red­dish, einst Was­ser­bett­ver­käu­fer, jetzt ei­ne »Im­pe­ri­al­gar­ne­le«, die ehe­ma­li­ge Schwimm­leh­re­rin und jet­zi­ge Kro­nen­qual­le, Frau Ho­ran­ge oder Herr Blackt­horn, vor­mals In­stal­la­teur. Zu Höchst­form läuft Rans­mayr, par­don: Herr Blue­her, auf, als er Frau Whit­ney, »ein schön ge­mu­ster­tes Floh­krebschen«, im »Ober­welt­da­sein« ehe­ma­li­ge Mi­ni­ste­rin, ent­deckt, die »schon in ih­rem par­la­men­ta­ri­schen Luft­le­ben stets mehr auf die Wir­kung ih­rer Re­den ge­ach­tet als auf de­ren In­halt« und de­ren »leich­ter, we­der be­son­ders kar­rie­restö­ren­der noch au­ßer­ge­wöhn­li­cher Man­gel an Kom­pe­tenz« sei­ner­zeit von »Sach­be­ar­bei­tern, Um­welt­schüt­zern oder selbst ih­ren ei­ge­nen Re­den­schrei­bern zu er­schöp­fen­den, qual­vol­len Ver­pflich­tun­gen« führ­te.

Wer weiß, am En­de ist die Ge­schich­te über das Schab­racken­ta­pir nur ei­ne wei­te­re, li­sti­ge Al­le­go­rie des Au­tors. Und in Wirk­lich­keit han­delt sich um ei­nen Ab­le­ger des Gol­de­nen Kalbs.

Wel­ten und Zei­ten V

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

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Liest man Huys­mans‘ rück­blicken­des Vor­wort (1903) zu A re­bours (1884), er­kennt man so­gleich die Front­stel­lun­gen, li­te­ra­ri­schen Schu­len und Kon­stel­la­tio­nen, die die Au­toren je­weils zu über­win­den trach­te­ten. Huys­mans hebt die­se Re­li­efs noch her­vor. »Ge­gen den Strich«, das heißt auch: ge­gen die Li­te­ra­tur­ge­schich­te, ge­gen be­stimm­te Strö­mun­gen. Aber da es heu­te kei­ne sol­chen epo­cha­len oder schul­mä­ßi­gen Front­stel­lun­gen mehr gibt, er­üb­ri­gen sich auch die Kämp­fe da­ge­gen. Von wem soll ich mich in mei­nem Werk denn ab­gren­zen? Von El­frie­de Je­li­nek? Von … Ich wüß­te wirk­lich nicht, von wem. In den sieb­zi­ger Jah­ren des vo­ri­gen Jahr­hun­derts, kei­ne hun­dert Jah­re nach A re­bours – wie na­he die­se Da­ten jetzt bei­ein­an­der­lie­gen, um 1980 kam mir Huys­mans tief hi­sto­risch vor – galt das noch: Ex­pe­ri­men­tel­le Li­te­ra­tur ge­gen (so­zia­li­sti­schen) Rea­lis­mus, Neue In­ner­lich­keit ge­gen bei­de Fron­ten, dann noch ein­mal Rück­kehr zur Sach­lich­keit und zu­letzt – Post­mo­der­ne, d. h. anything goes, To­le­ranz ge­gen al­le und al­les. Da ste­hen wir heu­te noch, in der Post-post­mo­der­ne. Das Prä­fix läßt sich be­lie­big oft wie­der­ho­len, wie ein Ge­stot­ter. Wenn al­les geht, gibt es nichts zu er­le­di­gen.

A re­bours, der Ti­tel wur­de – mit gu­ten Grün­den – auch mit »Wi­der die Na­tur« über­setzt (na­he­lie­gend: ge­gen den Na­tu­ra­lis­mus). Was mich an A re­bours dann wie­der ab­stößt – nein, zu scharf for­mu­liert: was mich da­von wie­der weg­zieht, ist das The­sen­haf­te. Denn A re­bours ist ein The­sen­ro­man. Der Au­tor il­lu­striert er­zäh­lend-be­schrei­bend sei­ne The­se, daß Li­te­ra­tur und Kunst ih­rer ei­ge­nen Künst­lich­keit zu fol­gen ha­ben und nicht – wie es Goe­the sei­ner­zeit for­der­te – der Na­tur. Kunst ist ei­ne Art An­ti-Na­tur, so Huys­mans. Selt­sam, aber ein ganz an­de­rer Ro­man, den ich kürz­lich ge­le­sen ha­be, So­u­mis­si­on von Mi­chel Hou­el­le­becq, ist eben­falls ein The­sen­ro­man. Gar nicht so selt­sam, wenn man be­denkt, daß die Haupt­fi­gur dar­in Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­ler ist und als sol­cher Huys­mans-Spe­zia­list. Sti­li­stisch hat Hou­el­le­becq mit Huys­mans we­nig ge­mein­sam, und sei­ne The­se ist kei­nes­wegs ge­gen die Li­te­ra­tur­ge­schich­te ge­rich­tet – in die­ser Hin­sicht ist Hou­el­le­becq mit sei­ner Bal­zac-Be­wun­de­rung ziem­lich kon­ser­va­tiv. Nein, die vom Ro­man zu il­lu­strie­ren­de The­se be­trifft die Ge­sell­schaft und hat po­li­ti­schen Cha­rak­ter: »Der Is­lam über­nimmt die kul­tu­rel­le He­ge­mo­nie«. Der ge­sam­te Text ist auf die­se The­se hin ge­trimmt. In mei­nem Ver­ständ­nis – aber da bin ich Kaf­kaianer, nicht Tho­mas Man­nia­ner, moi aus­si j’ai choi­si mon camp – in mei­nem Ver­ständ­nis soll­te man als Au­tor ge­nau die­ses Trim­men ver­mei­den, sich viel­mehr ins Un­be­kann­te trei­ben las­sen. Der Schrei­ben­de soll­te nicht zu­viel wis­sen. Am be­sten: Gar nichts wis­sen; sein Wis­sen über Bord wer­fen.

Ich er­in­ne­re mich, wie Hand­ke vor vie­len Jah­ren ein­mal zu mir sag­te: »Sie wis­sen zu­viel.« Ich er­schrak, fühl­te mich plötz­lich wie in ei­nem Kri­mi. Ei­nen Mo­ment lang lau­te­te die Bot­schaft an mich: Wir müs­sen Sie be­sei­ti­gen. Das wer­den sie doch ver­ste­hen.

Wei­ter­le­sen

Ma­thi­as Enard: Tanz des Ver­rats

Mathias Enard: Tanz des Verrats

Ma­thi­as Enard: Tanz des Ver­rats

Ei­gent­lich sind es zwei ganz un­ter­schied­li­che Ge­schich­ten, die der fran­zö­si­sche Schrift­stel­ler Ma­thi­as Enard in sei­nem neue­sten Ro­man er­zählt. Und das spie­gelt sich (ab­sicht­lich oder nicht?) be­reits in der deut­schen Über­set­zung des Ti­tels. Im Ori­gi­nal heißt der Ro­man Dé­ser­ter, in der deut­schen Über­set­zung von Hol­ger Fock und Sa­bi­ne Mül­ler Tanz des Ver­rats. Zum ei­nen han­delt es sich um ei­ne Er­zäh­lung in per­so­na­lem Stil um ei­nen na­men­los blei­ben­den De­ser­teur, der in ei­nem noch nicht be­en­de­ten Krieg oder Bür­ger­krieg als ei­ne Art Zwi­schen­sta­ti­on die Or­te sei­ner Kind­heit ein­kehrt, weil die­se auf dem Weg zu ei­ner Gren­ze lie­gen, wo er sich stel­len will. Und zum an­de­ren er­zählt Iri­na Heu­de­ber, 1951 ge­bo­ren, die Ge­schich­te ih­rer El­tern, dem be­rühm­ten Ma­the­ma­ti­ker Paul Heu­de­ber und der all­seits ge­schätz­ten so­zi­al­de­mo­kra­ti­schen Po­li­ti­ke­rin Ma­ja Scharn­horst und ih­ren Um­gang mit den lan­gen Schat­ten die­ser Per­sön­lich­kei­ten. Auf ei­nem Kon­gress zu Eh­ren ih­res 1995 ver­stor­be­nen Va­ters, der aus­ge­rech­net am 11. Sep­tem­ber 2001 statt­fin­det, sieht sie bei ei­nem Abend­essen im Re­stau­rant ein Paar, das, wie man ihr er­zählt, den »Tanz des Ver­rats« zei­gen, mit dem man durch die Art der Be­we­gun­gen ent­decken soll, »was der an­de­re ei­nem ver­schwie­gen hat«. Der Tanz schüt­ze die Prot­ago­ni­sten vor der »Schan­de des Ge­ständ­nis­ses« und da­nach sei al­les ver­zie­hen. So un­ter­schied­lich die Sze­na­ri­en auch sein mö­gen – nach der Lek­tü­re er­kennt man, dass der deut­sche wie auch der fran­zö­si­sche Ti­tel auf wun­der­sa­me Wei­se auf bei­de Er­zäh­lun­gen an­wend­bar ist.

Die Set­tings wech­seln sich, bis auf ei­ne Aus­nah­me, ste­tig in 28 Ka­pi­teln ab. Kurz über­legt man, ob es bes­ser wä­re, sie se­pa­rat und nicht ne­ben­ein­an­der zu le­sen, ent­schei­det sich je­doch für die Rei­hen­fol­ge des Bu­ches. Es be­ginnt mit dem schmut­zi­gen, nach Schei­ße und Blut stin­ken­den De­ser­teur, der seit vier Ta­ge al­lei­ne un­ter­wegs ist. Sei­ne Schu­he lö­sen sich auf, Waf­fe und Mu­ni­ti­on hat er noch, aber kei­ne Le­bens­mit­tel, er sieht aus wie der »letz­te Mensch«. Die Stim­mung ist un­heim­lich, »Ent­set­zen liegt über dem Land«. Die Nacht in der Na­tur ist ein »ge­hetz­tes Raub­tier vol­ler Angst« und die »Schreie der Ster­ne sind ei­sig.« Es gibt Rück­blicke auf den Krieg, auf die tau­sen­den To­ten, die er, der »Feig­ling«, als den er sich jetzt be­zeich­net, zu ver­ant­wor­ten hat. Das Mit­leid, dass der Le­ser zu­nächst mit dem De­ser­teur hat, wird im Lau­fe der Zeit durch die An­deu­tun­gen sei­ner Ta­ten ge­rin­ger. Über den »Cairn sei­ner Kind­heit« als Zwi­schen­sta­ti­on kommt er zu ei­ner Hüt­te, in der einst mit sei­nem Va­ter zu­sam­men war. Im­mer wie­der wird er auf Kind­heits­er­in­ne­run­gen zu­rück­ge­wor­fen wer­den oder, tref­fen­der, sich sel­ber zu­rück­wer­fen, will da­durch die Kriegs­bil­der für ei­ne kur­ze Zeit ge­bannt wer­den. Dann gibt es die Be­geg­nung mit ei­ner jun­gen Bäue­rin, die mit ei­nem ein­äu­gi­gen, strup­pi­gen Esel un­ter­wegs ist. Die Furcht der Frau, von ihm, dem Mann, ver­ge­wal­tigt oder gar er­schos­sen zu wer­den ist groß und der De­ser­teur denkt tat­säch­lich dar­über nach, sie, die Mit­wis­se­rin sei­ner Flucht, zu tö­ten. Rasch kommt die Kriegs- und Tö­tungs­lo­gik wie­der her­vor, die ein­zi­ge Mög­lich­keit, die das Über­le­ben zu si­chern ver­mag, wie es scheint. Schließ­lich tren­nen sich die bei­den; aber das ist nur für kur­ze Zeit.

Den voll­stän­di­gen Text »Spiel mit Ge­gen­sät­zen« bei Glanz und Elend wei­ter­le­sen.

The in­ward spi­ral I

Kas­san­dra – muss­te die Lek­tü­re ab­bre­chen. Die­se Sät­ze fuh­ren mir durch Mark und Bein: »Wer wird, und wann die Spra­che wie­der­fin­den. Ei­ner, dem ein Schmerz den Schä­del spal­tet, wird es sein [..]«. Die­se Sät­ze sind tief in mir, nur ver­schütt’ ge­gan­gen: ich hat­te ganz ver­ges­sen, dass sie von dort stamm­ten. Fah­rig blät­ter­te ich noch et­was im Text, aber konn­te nicht wei­ter, so blieb mir nichts au­ßer ihn von au­ßen zu um­krei­sen und ich nahm mir die Frank­fur­ter Vor­le­sun­gen vor; »Vor­aus­set­zun­gen ei­ner Er­zäh­lung«, ob ich denn be­stä­tigt fän­de, wie ich mei­ne Le­se­er­fah­rung von vor knapp 18 Jah­ren er­in­ne­re.

Und im »Se­kun­där­text« fin­det sich dann auch der Dis­kurs zum Fe­mi­nis­mus, die Sehn­sucht nach ei­ner herr­schafts­frei­en Ge­sell­schaft fern un­se­rer zer­stö­re­ri­schen Aus­beu­tung. Und vie­les mehr, das ich spür­te oder viel­leicht sche­men­haft er­ahn­te. Die Ver­bin­dun­gen zu Bach­mann, die mir auch sehr herz­nah, oder zu Ador­nos Kri­ti­scher Theo­rie, an der ich im­mer noch knab­be­re.

Ei­ni­gem möch­te ich nun Nach­spü­ren: vor al­lem auch dem frei­en, un­ge­bremst of­fe­nen Spre­chen der Er­zäh­lung, von den letz­ten Din­gen, die­ses un­be­ding­te, exi­sten­zi­el­le Mo­men­tum, das ich so schmerz­haft ver­mis­se, weil ich im­mer noch der Il­lu­si­on an­hän­ge, wenn ich mich nur tie­fer in die Sprach- und Sinn­lo­sig­keit un­se­rer tech­ni­fi­zier­ten Welt ein­grü­be, dass ich dann aus die­sem Nichts ei­nen tie­fe­ren Schrei ber­gen könn­te, der wie­der et­was Mensch­lich­keit auf­schim­mern lie­ße. Statt­des­sen frucht­lo­ses Ver­stum­men.

An­ge­regt hat mich, wie bei mei­nem er­sten Es­say, Leo­pold Fe­der­mairs Es­say­rei­he, dies­mal sei­ne »trans­ver­sa­len Rei­sen«. Wahr­schein­lich wird sich wie­der kein in­halt­li­cher Be­zug fin­den, aber da ich mei­ne Halb­werts­zeit schon über­schrit­ten, möch­te auch ich wich­ti­gen Lek­tü­re­er­leb­nis­sen oder kul­tu­rel­len Prä­gun­gen nach­ge­hen. Mir schwebt da­bei das Bild ei­ner Spi­ral­be­we­gung vor. Ei­ne Rei­se ins In­ne­re. Ich den­ke da­bei an das un­welt­li­che Bild der Dia­mant­mi­ne in Si­bi­ri­en oder das Ni­ne Inch Nails Al­bum, auf den der Ti­tel die­ser Es­say­rei­he an­spielt. Auch wenn der End­punkt der Spi­ra­le als Asym­pto­te nicht er­reich­bar, hof­fe ich, dass die Mo­ti­ve und Be­zü­ge sich der­art ver­dich­ten, dass et­was über den rei­nen Text Hin­aus­ge­hen­des durch­scheint. Die­ser äs­the­ti­sche Über­schuss ist das Ziel.

Quel­le: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Mirny_in_Yakutia.jpg

...wird fort­ge­setzt...

Szc­ze­pan Twar­doch: Käl­te

Szczepan Twardoch: Kälte

Szc­ze­pan Twar­doch: Käl­te

Es ist 2019, ein Jahr vor ei­ner Pan­de­mie und drei Jah­re vor ei­nem neu­en Krieg in Eu­ro­pa. Ein Schrift­stel­ler, der sich Szc­ze­pan nennt, flüch­tet vor »der Welt und dem Le­ben«, reist nach Spitz­ber­gen, nimmt die Fäh­re nach Py­ra­mi­den, ei­ner ehe­ma­li­gen Berg­ar­bei­ter­stadt, in der nur noch ein paar Rus­sen le­ben, und ver­bringt ei­ne Wo­che im Eis, in der Nä­he des Glet­schers Jo­t­un­fon­na. Dann kehrt er zu­rück, trinkt in ei­nem schä­bi­gen Ho­tel in Barents­burg ei­nen Whis­ky, will im­mer noch nichts von Men­schen se­hen und hö­ren, was fast ge­lingt. Bis ihn ei­ne äl­te­re Frau an­spricht, ei­ne ge­wis­se Bor­g­hild Moen, die rasch sei­ne Neu­gier weckt. »Der Oze­an ist mei­ne ein­zi­ge Hei­mat«, sagt die­se rü­sti­ge Da­me, zeigt ihm ih­re mo­der­ne, 50 Fuß lan­ge Yacht »Isbjørn« und lädt ein, auf ei­ne Tour zu ge­hen, wo­bei sie nicht das Ziel nennt, was den Schrift­stel­ler nur noch neu­gie­ri­ger macht, denn da ist ein »ver­bor­ge­nes Ge­heim­nis« in die­ser 82jährigen Frau. Er sagt al­le Ter­mi­ne ab, nimmt die mür­ri­schen Kom­men­ta­re ent­ge­gen, und kommt sich in Be­zug auf sei­ne bei­den Kin­der ein we­nig schä­big vor. Die »Isbjørn« ist tech­nisch sehr gut aus­ge­stat­tet, der Pro­vi­ant üp­pig (er be­tei­ligt sich mit 2000 Kro­nen dar­an). Sei­ne nau­ti­schen Kennt­nis­se hel­fen ihm; bald ent­steht ein stil­les ge­gen­sei­ti­ges Ver­trau­en und Bor­g­hild Moen legt ihm ein al­tes Heft vor, das No­tiz­buch ei­nes Kon­rad Wi­duch, be­gin­nend am 16. Ju­ni 1946. Er soll es »mit Ver­stand le­sen«. Dann ist das Vor­wort von Szc­ze­pan Twar­dochs neu­em Ro­man Käl­te (wie im­mer ist Olaf Kühl der Über­set­zer) vor­bei und es be­ginnt.

Wi­duch, da­mals 51, »ge­bo­re­ner Preu­ße«, aus Pilch­o­witz, Schle­si­en stam­mend, zum Zeit­punkt der Nie­der­schrift ge­fan­gen im ark­ti­schen Eis auf ei­nem Schiff mit dem hoch­tra­ben­den Ti­tel »In­vin­ci­b­le«, schreibt, ja kotzt sei­ne Le­bens­ge­schich­te in die­ses Heft, in mä­an­dern­dem, bur­les­kem Ton, ge­rich­tet an ei­ne an­ony­me Le­se­rin, an die er zwar nicht glaubt, aber dann doch ir­gend­wie er­hofft, denn an­son­sten wür­de das Auf­schrei­ben sinn­los sein. Die Kind­heit ist schwer, der Va­ter ist früh ver­schwun­den, die Mut­ter gibt sich mit im­mer neu­en Män­nern ab und mit 14 ver­lässt Wi­duch das El­tern­haus, nach­dem er dem neue­sten Lieb­ha­ber der Mut­ter aus Ra­che für ei­nen ge­bro­che­nen Arm mit dem an­de­ren Arm und ei­nem Schür­ha­ken zu­sam­men­ge­schla­gen hat­te. Er geht 1912 »an die Ruhr«, dann zur See, wird auf der kai­ser­li­chen »Hel­go­land« Ma­tro­se, spä­ter Maat. Als man ihm und den an­de­ren be­fiehlt, Ka­no­nen­fut­ter für die Eng­län­der zu wer­den, re­bel­liert die Be­sat­zung. Wi­duch nimmt 1918 am Ma­tro­sen­auf­stand teil und wird zum Kom­mu­ni­sten, er, des­sen »of­fi­zi­el­le zi­vi­le Aus­bil­dung mit der Grund­schu­le zu En­de war.«

Der Le­ser ist ge­for­dert, den Le­bens­lauf aus den ab­schwei­fen­den und zeit­lich im­mer wie­der durch­ein­an­der wir­beln­dem Er­zähl­strom des Schrei­ben­den zu ord­nen, denn es be­ginnt mit grau­si­gen Fol­ter­me­tho­den, die der in ei­nem Gu­lag sah und bis­wei­len am ei­ge­nen Leib er­leb­te (dut­zen­de Ma­le er­klärt er, die­sen Ort nicht na­ment­lich zu nen­nen, als wür­de da­mit ein Fluch ge­bannt). Die Schil­de­run­gen sind nichts für zar­te Ge­mü­ter. Im­mer­hin: Sei­ner Frau So­fie und den bei­den Töch­tern dürf­ten die Flucht ge­lun­gen sein, denn sonst wür­de man ihn in Ver­hö­ren nicht nach ih­nen fra­gen. Das war um 1937, nach­dem Wi­duch in den 1920er Jah­ren den gro­ßen Marsch vom Kau­ka­sus in die Ukrai­ne, al­so den rus­si­schen Bür­ger­krieg ge­gen »die Wei­ßen« mit­ge­macht hat­te, und der Le­ser er­fährt wie ne­ben­bei, dass er auch kein En­gel war, et­wa als er die­sen jun­gen pol­ni­schen Leut­nant ge­fan­gen nahm, der um sein Le­ben jam­mer­te. Wi­duch wog ihn in Si­cher­heit und dann schoss er ihn von hin­ten in den Kopf, sich im­mer noch rüh­mend, den Of­fi­zier vor den Mal­trä­tie­run­gen der Ko­sa­ken (Spe­zia­li­tät: Pe­nis ab­schnei­den) be­wahrt zu ha­ben.

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Wel­ten und Zei­ten IV

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

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»I play bo­th si­des against the midd­le«, ein Satz, der mir von Bob Dy­lan her im Ohr klingt. Im Eng­li­schen al­ler­dings nur – »nur« – ei­ne ge­bräuch­li­che Re­de­wen­dung, die of­fen­bar ei­ne Hal­tung wie Op­por­tu­nis­mus be­zeich­net. Bei mir weckt der Satz ganz an­de­re As­so­zia­tio­nen, er lie­fert ei­ne gu­te Be­schrei­bung des­sen, was ich seit vie­len Jah­ren als Span­nung wert­schät­ze. Das Wort »Span­nung« hat ver­schie­de­ne Be­deu­tungs­nu­an­cen und wird recht un­ter­schied­lich ge­braucht. In letz­ter In­stanz ver­weist das Wort für mich auf den Le­bens­bo­gen, den ein je­der zu be­schrei­ben hat und zu be­schrei­ben sucht, und die­ser wie­der­um ver­bin­det sich mit dem, was Heid­eg­ger »Ent­wurf« nennt: Ent­wurf und Ge­schick, per­sön­li­che Ent­schei­dun­gen und äu­ße­re Be­din­gun­gen er­ge­ben im Zu­sam­men- und Wi­der­spiel den Le­bens­bo­gen. Ro­ma­ne und grö­ße­re Er­zäh­lun­gen ha­ben die­sen Bo­gen im Blick oder als Ho­ri­zont, auch dann, wenn über­haupt nicht von An­fang und En­de die Re­de ist. Im ge­wöhn­li­chen Le­ben ver­lie­ren wir den Ho­ri­zont oft aus den Au­gen; es be­steht auch gar nicht die Not­wen­dig­keit, ihn dau­ernd zu be­den­ken, aber hin und wie­der tut es doch gut.

Bei­de Sei­ten ge­gen die Mit­te spie­len. Die Ex­tre­me in Be­zie­hung set­zen, in Be­zie­hung hal­ten. Das ist doch das Ge­gen­teil vom gol­de­nen Mit­tel­weg, auf dem ei­ner sich durchs Le­ben schwin­delt. So ei­nen Satz zu äu­ßern, be­deu­tet, die Span­nung zu su­chen und In­ten­si­tä­ten zu le­ben. Hat Dy­lan es so ge­meint? Kei­ne Ah­nung. Die Songs des al­ten, nun­mehr über Acht­zig­jäh­ri­gen zeh­ren im­mer häu­fi­ger von Rück­blicken (üb­ri­gens auch die Bü­cher von Pe­ter Hand­ke). Das ist nur na­tür­lich, wir sind, vor al­lem, wenn wir nicht nur äl­ter, son­dern alt wer­den, was wir er­in­nern, und wie wir es er­in­nern (und ob). In Key West (Phi­lo­so­pher Pi­ra­te) nennt Dy­lan drei Dich­ter der Beat­nik-Ge­ne­ra­ti­on, die ihn be­ein­flußt oder zu­min­dest, als er jung war, be­ein­druckt ha­ben: Al­len Gins­berg, Gre­go­ry Cor­so, Jack Ke­rouac (okay, Ke­rouac war ein Er­zäh­ler).

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Hel­mut Böt­ti­ger: Die Ge­gen­wart durch­lö­chern

Helmut Böttiger: Die Gegenwart durchlöchern

Hel­mut Böt­ti­ger: Die Ge­gen­wart durch­lö­chern

Nach dem ge­wis­sen­haft-hi­sto­ri­schen Auf­riss über die Grup­pe 47, ei­ner eher lau­ni­gen Re­vue über die Li­te­ra­tur der 1970er Jah­re und ei­nem rei­se­re­por­ta­ge­haf­ten Band über Czer­no­witz legt der Li­te­ra­tur­kri­ti­ker Hel­mut Böt­ti­ger mit Die Ge­gen­wart durch­lö­chern Werk­por­traits über fünf­zehn Dich­ter vor, gar­niert mit sei­ner Re­de zur Li­te­ra­tur­kri­tik, die zwar auch schon mehr als zehn Jah­re zu­rück­liegt, aber nichts von ih­rer Bri­sanz ver­lo­ren hat und auf Samt­pfo­ten, aber den­noch deut­lich, den Un­ter­schied zwi­schen Li­te­ra­tur­jour­na­lis­mus und Li­te­ra­tur­kri­tik auf­zeigt.

Zwar sind zehn der fünf­zehn Au­toren Büch­nerpreis­trä­ger, den­noch fri­sten ei­ni­ge im­mer noch (bzw. wie­der) ihr Los im Ge­heim­tipp-Sta­tus. Ob­wohl auch Jo­han­nes Bobrow­ski (ge­bo­ren in Til­sit) und Paul Ce­lan (Czer­no­witz) vor­ge­stellt wer­den, kann man gu­ten Ge­wis­sens er­klä­ren, dass hier deut­sche Au­toren por­trai­tiert wer­den (Öster­rei­cher und Schwei­zer kom­men nicht vor). Böt­ti­ger weist in ei­nem kur­zen Hin­weis, ver­steckt bei den Nach­wei­sen, dar­auf hin, dass es sich nicht um den Ver­such ei­nes Ka­nons han­deln soll.

Man ent­deckt, dass sich der Kri­ti­ker teil­wei­se mehr­fach mit den ent­spre­chen­den Au­toren be­schäf­tigt hat. Die nun vor­lie­gen­den Auf­sät­ze sei­en aus be­stehen­den Tex­ten (ent­stan­den zwi­schen 1995 und 2023) »al­le­samt er­heb­lich aus­ge­wei­tet« und zu »Au­toren­por­träts aus­ge­stal­tet« wor­den, so Böt­ti­ger. Er­staun­lich, dass acht von die­sen fünf­zehn Au­toren be­reits 2004 in der bei Zsol­nay er­schie­ne­nen Text­samm­lung Nach den Uto­pien vor­ge­stellt wur­den. Auf ei­nen Ver­gleich der Tex­te wur­de ver­zich­tet.

Die Län­ge der ak­tu­el­len Bei­trä­ge va­ri­iert zwi­schen 11 und 23 Sei­ten, aber selbst in den län­ge­ren Tex­ten kämpft Böt­ti­ger zu­wei­len mit dem Ma­te­ri­al. Zum ei­nen ver­zich­tet er weit­ge­hend auf als be­kannt vor­aus­ge­setz­te Le­bens­lauf­füh­run­gen und wid­met sich statt­des­sen den ein­schnei­den­den Prä­gun­gen, und de­ren li­te­ra­ri­sche Ver­ar­bei­tung. Zum an­de­ren ist er aber im­mer wie­der ge­nö­tigt, kur­ze In­halts­an­ga­ben zu Ro­ma­nen oder Er­zäh­lun­gen ab­zu­ge­ben. Ge­löst wird letz­te­res durch die Su­che sich im­mer wie­der­keh­ren­der Mo­ti­ve, die Rück­schlüs­se und Deu­tun­gen er­mög­li­chen und Bö­gen span­nen in­ner­halb ei­nes Wer­kes. Häu­fig das Auf­zei­gen von Par­al­le­len mit an­de­ren Au­toren. Da­bei fällt auf, dass ins­be­son­de­re Franz Kaf­ka mehr­mals ge­nannt wird. Man fragt sich, ob die Tat­sa­che, dass Wolf­gang Hil­big tat­säch­lich Hei­zer war und sein Le­ben der Li­te­ra­tur auf­ging schon gleich­be­deu­tend da­mit, dass er sich an Kaf­ka ori­en­tiert?

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B. Tra­ven: Das To­ten­schiff

B. Traven: Das Totenschiff

B. Tra­ven: Das To­ten­schiff

Zum er­sten Mal er­schien B. Tra­vens Das To­ten­schiff 1926 im Rah­men der Bü­cher­gil­de Gu­ten­berg, ei­nem »ge­werk­schaft­li­chen Buch­club« (Vol­ker Kut­scher). Es wur­de ein Rie­sen­er­folg für ei­nen Au­tor, des­sen Iden­ti­tät nie­mand kann­te, der je­doch zu­vor be­reits im so­zi­al­de­mo­kra­ti­schen Vor­wärts mit dem Fort­set­zungs­ro­man Der Baum­woll­pflücker für Auf­se­hen ge­sorgt hat­te. Die Fra­ge, wer die­ser B. Tra­ven war, ist bis heu­te nicht ein­deu­tig ge­klärt. Es ist wohl­tu­end, dass Vol­ker Kut­scher in sei­nem Nach­wort zur ak­tu­el­len Neu­auf­la­ge die­ses Ro­mans nicht die un­ter­schied­li­chen Ver­sio­nen der Iden­ti­tät auf­drö­selt. Mehr­heit­lich glaubt man, dass es sich um den An­ar­chi­sten und Schau­spie­ler Ret Ma­rut ge­han­delt ha­be, der in den 1920er Jah­ren nach Me­xi­ko ge­flo­hen oder, freund­li­cher for­mu­liert, emi­griert war. Ma­rut soll wie­der­um ein Pseud­onym für den Ge­werk­schafts­se­kre­tär Ot­to Fei­ge ge­we­sen sein. Der Ein­fach­heit hal­ber wer­den nun mehr­heit­lich die Le­bens­da­ten die­ses Ot­to Fei­ge für B. Tra­ven ver­wen­det.

Tra­vens Ge­dan­ke war, dass der Au­tor nicht zu viel Auf­merk­sam­keit be­kom­men soll­te. Tat­säch­lich trat das Ge­gen­teil ein. Es ist er­staun­lich, wie be­reits in den 1920er Jah­ren die Un­si­cher­heit der Au­toren­iden­ti­tät bzw. die Ab­we­sen­heit des Au­tors die Öf­fent­lich­keit der­art auf­wüh­len konn­te. Dar­an hat sich we­nig ge­än­dert. Vor ei­ni­gen Jah­ren brü­ste­ten sich Pseud­onym-In­spek­teu­re mit per­ver­sem Stolz, Ele­na Ferran­te ent­tarnt zu ha­ben – als wür­de sich da­mit der Blick auf das Werk ent­schei­dend än­dern.

Nicht zu­letzt durch ei­ni­ge Ver­fil­mun­gen sei­ner Bü­cher haf­tet B. Tra­ven das Eti­kett des Aben­teu­er­schrift­stel­lers an. Aber be­reits zu Be­ginn stellt der See­mann Ga­les, der Ich-Er­zäh­ler aus Das To­ten­schiff, klar: »Die Ro­man­tik der See­ge­schich­ten ist längst vor­bei.« Kut­scher führt zu recht aus, dass Das To­ten­schiff kein klas­si­scher Aben­teu­er­ro­man sei und mit ei­ner Idea­li­sie­rung des See­fahr­erle­bens nichts zu tun ha­be. Auf den rund 400 Sei­ten be­tritt Ga­les erst auf Sei­te 142 die »Yo­rik­ke«, je­nes »To­ten­schiff«, das oh­ne Na­tio­na­li­tä­ten­flag­ge un­ter an­de­rem falsch de­kla­rier­te Wa­ren (Waf­fen in Schmug­gel­gut) ver­frach­tet. Dort ar­bei­ten nur See­män­ner, die un­ter ei­nem »Schiffs­not­ge­setz« ste­hen. Sie ha­ben kei­ne oder nur ob­sku­re Pa­pie­re, mit de­nen sie auf kei­nem se­riö­sen Schiff an­heu­ern kön­nen. Zu den Not­män­nern ge­hört jetzt auch der ame­ri­ka­ni­sche »Deck­ar­bei­ter« Ga­les. Als er nach ei­nem Land­gang in Ant­wer­pen zu­rück­kommt, ist sein Schiff oh­ne ihn ab­ge­fah­ren. Un­glück­li­cher­wei­se blie­ben See­manns­kar­te und Pass an Bord. Von nun an ist er ein Nie­mand. »Pa­pie­re ha­ben et­was Un­mensch­li­ches«, kon­sta­tiert Ga­les, der ein ähn­li­ches Schick­sal durch­macht wie Zuck­may­ers Schu­ster Voigt. Oh­ne Pa­pie­re kann er nicht auf den »Ei­mern« an­heu­ern. Und oh­ne Heu­er kann er ei­gent­lich nicht le­ben.

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