Hil­des­hei­mer statt Ca­net­ti

Ju­ry­sit­zun­gen und Alar­mis­men

Li­te­ra­tur­preis der Stadt Bre­men:

»[A]lle hat­ten ih­ren Kan­di­da­ten, der nie­mals Ca­net­ti ge­we­sen war, ge­nannt, als ich an die Rei­he ge­kom­men war und ›Ca­net­ti‹ sag­te. Ich war da­für, Ca­net­ti den Preis zu ge­ben für sei­ne ›Blen­dung‹, das ge­nia­le Ju­gend­werk, das ein Jahr vor die­ser Ju­ry­sit­zung wie­der neu ge­druckt wor­den war. Meh­re­re Ma­le sag­te ich das Wort ›Ca­net­ti‹ und je­des Mal hat­ten sich die Ge­sich­ter an dem lan­gen Tisch weh­lei­dig ver­zo­gen. Vie­le an dem Tisch wuss­ten gar nicht, wer Ca­net­ti war, aber un­ter den we­ni­gen, die von Ca­net­ti wuss­ten, war ei­ner, der plötz­lich, nach­dem ich wie­der Ca­net­ti ge­sagt hat­te, sag­te: aber der ist ja a u c h Ju­de. Dann hat­te es nur noch ein Ge­mur­mel ge­ge­ben und Ca­net­ti war un­ter den Tisch ge­fal­len.«

Die Dis­kus­si­on zog sich schier end­los hin, Na­men fal­len und wer­den ver­wor­fen; es muss­te ei­ne Ent­schei­dung ge­ben.

»Zu mei­ner gro­ßen Ver­blüf­fung zog plötz­lich ei­ner der Her­ren, ich weiß wie­der nicht, wel­cher, aus dem Bü­cher­hau­fen auf dem Tisch, wie mir schien wahl­los, ein Buch von Hil­des­hei­mer her­aus und sag­te in um­wer­fend nai­vem To­ne und ge­ra­de­zu schon im Auf­ste­hen zum Mit­tag­essen: ›Neh­men wir doch Hil­des­hei­mer, neh­men wir doch Hil­des­hei­mer‹ und Hil­des­hei­mer war ge­ra­de je­ner Na­me, der wäh­rend der gan­zen stun­den­lan­gen De­bat­ten über­haupt nicht ge­fal­len war […] Wer wirk­lich Hil­des­hei­mer war, wuss­ten sie wahr­schein­lich al­le nicht. Im Au­gen­blick wur­de auch schon an die Pres­se die Mit­tei­lung ge­ge­ben, Hil­des­hei­mer sei nach die­ser über zwei­stün­di­gen Sit­zung der neue Preis­trä­ger. Die Her­ren er­ho­ben sich und gin­gen hin­aus in den Spei­se­saal. Der Ju­de Hil­des­hei­mer hat­te den Preis be­kom­men. Für mich was d a s die Poin­te des Prei­ses. Ich ha­be sie nicht ver­schwei­gen kön­nen.«1

58 Jah­re spä­ter zu Ju­lia­ne Lie­bert und Ro­nya Oth­mann. Bei­de wa­ren 2023 in der Ju­ry zum »In­ter­na­tio­na­len Li­te­ra­tur­preis« des HKW Ber­lin. In der ZEIT be­rich­ten sie »kom­plett aus al­len Wol­ken ge­fal­len« (Per­len­tau­cher) un­ter dem Gris­ham-Ti­tel Die Ju­ry mehr als ein hal­bes Jahr spä­ter ih­re Er­leb­nis­se. Die Sa­che ist kom­pli­ziert, han­delt von Au­toren und Au­torin­nen, die auf­grund ih­rer Her­kunft, Haut­far­be und/oder Be­liebt­heit von Ju­ry­mit­glie­dern nicht auf ei­ne Short­list kom­men sol­len bzw. an­de­ren Au­torin­nen und Au­toren, die auf­grund ih­rer Her­kunft, Haut­far­be und/oder Un­be­kannt­heit auf die­se Li­ste kom­men sol­len. Es fie­len Sät­ze wie »Sor­ry, ich lie­be die Li­te­ra­tur, aber Po­li­tik ist wich­ti­ger« und selbst als man sich auf ei­nen Preis­trä­ger ge­ei­nigt hat­te, kri­ti­sier­te man noch die bei­den Über­set­zer und ob es über­haupt ge­stat­tet ist, wenn Wei­ße ei­nen Schwar­zen über­set­zen und al­ler­lei an­de­rer Un­sinn. Es ging al­so, so die Quint­essenz, we­ni­ger um li­te­ra­ri­sche Qua­li­tät als um iden­ti­täts­po­li­tisch mo­ti­vier­te Quo­ten. So weit, so we­nig über­ra­schend. Und man hät­te si­cher­lich die­sen Text nie zu le­sen be­kom­men, wenn die bei­den Au­torin­nen auch für 2024 in der Ju­ry no­mi­niert wor­den wä­ren. Wur­den sie aber nicht und nun al­so das, ei­ne gan­ze Sei­te in der ZEIT, das gibt es nicht mehr häu­fig.

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  1. Thomas Bernhard, Meine Preise, Suhrkamp, 1. Auflage 2009, S. 32-49. 

Hel­mut Böt­ti­ger: Die Ge­gen­wart durch­lö­chern

Helmut Böttiger: Die Gegenwart durchlöchern
Hel­mut Böt­ti­ger: Die Ge­gen­wart durch­lö­chern

Nach dem ge­wis­sen­haft-hi­sto­ri­schen Auf­riss über die Grup­pe 47, ei­ner eher lau­ni­gen Re­vue über die Li­te­ra­tur der 1970er Jah­re und ei­nem rei­se­re­por­ta­ge­haf­ten Band über Czer­no­witz legt der Li­te­ra­tur­kri­ti­ker Hel­mut Böt­ti­ger mit Die Ge­gen­wart durch­lö­chern Werk­por­traits über fünf­zehn Dich­ter vor, gar­niert mit sei­ner Re­de zur Li­te­ra­tur­kri­tik, die zwar auch schon mehr als zehn Jah­re zu­rück­liegt, aber nichts von ih­rer Bri­sanz ver­lo­ren hat und auf Samt­pfo­ten, aber den­noch deut­lich, den Un­ter­schied zwi­schen Li­te­ra­tur­jour­na­lis­mus und Li­te­ra­tur­kri­tik auf­zeigt.

Zwar sind zehn der fünf­zehn Au­toren Büch­nerpreis­trä­ger, den­noch fri­sten ei­ni­ge im­mer noch (bzw. wie­der) ihr Los im Ge­heim­tipp-Sta­tus. Ob­wohl auch Jo­han­nes Bobrow­ski (ge­bo­ren in Til­sit) und Paul Ce­lan (Czer­no­witz) vor­ge­stellt wer­den, kann man gu­ten Ge­wis­sens er­klä­ren, dass hier deut­sche Au­toren por­trai­tiert wer­den (Öster­rei­cher und Schwei­zer kom­men nicht vor). Böt­ti­ger weist in ei­nem kur­zen Hin­weis, ver­steckt bei den Nach­wei­sen, dar­auf hin, dass es sich nicht um den Ver­such ei­nes Ka­nons han­deln soll.

Man ent­deckt, dass sich der Kri­ti­ker teil­wei­se mehr­fach mit den ent­spre­chen­den Au­toren be­schäf­tigt hat. Die nun vor­lie­gen­den Auf­sät­ze sei­en aus be­stehen­den Tex­ten (ent­stan­den zwi­schen 1995 und 2023) »al­le­samt er­heb­lich aus­ge­wei­tet« und zu »Au­toren­por­träts aus­ge­stal­tet« wor­den, so Böt­ti­ger. Er­staun­lich, dass acht von die­sen fünf­zehn Au­toren be­reits 2004 in der bei Zsol­nay er­schie­ne­nen Text­samm­lung Nach den Uto­pien vor­ge­stellt wur­den. Auf ei­nen Ver­gleich der Tex­te wur­de ver­zich­tet.

Die Län­ge der ak­tu­el­len Bei­trä­ge va­ri­iert zwi­schen 11 und 23 Sei­ten, aber selbst in den län­ge­ren Tex­ten kämpft Böt­ti­ger zu­wei­len mit dem Ma­te­ri­al. Zum ei­nen ver­zich­tet er weit­ge­hend auf als be­kannt vor­aus­ge­setz­te Le­bens­lauf­füh­run­gen und wid­met sich statt­des­sen den ein­schnei­den­den Prä­gun­gen, und de­ren li­te­ra­ri­sche Ver­ar­bei­tung. Zum an­de­ren ist er aber im­mer wie­der ge­nö­tigt, kur­ze In­halts­an­ga­ben zu Ro­ma­nen oder Er­zäh­lun­gen ab­zu­ge­ben. Ge­löst wird letz­te­res durch die Su­che sich im­mer wie­der­keh­ren­der Mo­ti­ve, die Rück­schlüs­se und Deu­tun­gen er­mög­li­chen und Bö­gen span­nen in­ner­halb ei­nes Wer­kes. Häu­fig das Auf­zei­gen von Par­al­le­len mit an­de­ren Au­toren. Da­bei fällt auf, dass ins­be­son­de­re Franz Kaf­ka mehr­mals ge­nannt wird. Man fragt sich, ob die Tat­sa­che, dass Wolf­gang Hil­big tat­säch­lich Hei­zer war und sein Le­ben der Li­te­ra­tur auf­ging schon gleich­be­deu­tend da­mit, dass er sich an Kaf­ka ori­en­tiert?

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Pro­vo­ka­ti­on oder An­pas­sung?

Be­richt von ei­ner Schrift­stel­ler­ver­samm­lung

Es war vor vier­zig Jah­ren, als ich das er­ste Mal ei­ne Ge­ne­ral­ver­samm­lung der GAV, der wich­tig­sten öster­rei­chi­schen Schrift­stel­ler­ver­ei­ni­gung, be­such­te. Be­son­ders an­zie­hend wa­ren die­se Ver­samm­lun­gen für mich of­fen­bar nicht, denn ich kann mich nicht er­in­nern, ei­ne wei­te­re be­sucht zu ha­ben. Da­bei hat­te ich da­mals, oder tags zu­vor, ich weiß es nicht mehr ge­nau, er­in­ne­re mich aber an die Re­ak­tio­nen von Ernst Jandl, Franz Schuh und Ma­rie-Thé­rè­se Ker­sch­bau­mer – ich hat­te ei­nen klei­nen Vor­trag mit dem Ti­tel »Rea­lis­mus? Avant­gar­de?« (zwei Fra­ge­zei­chen!) ge­hal­ten. Na­tür­lich hat­te mei­ne Ab­we­sen­heit von der GAV auch mit mei­nen lan­gen Aus­lands­auf­ent­hal­ten zu tun.

Vier­zig Jah­re spä­ter, nach mei­ner (pro­vi­so­ri­schen) Rück­kehr, war ich auf al­les neu­gie­rig, so­gar auf die GAV. Wie al­le her­kömm­li­chen kul­tu­rel­len Mi­lieus ist auch das Mi­lieu der GAV über­al­tert. Doch im­mer­hin sah ich ei­ne An­zahl von jün­ge­ren, mir un­be­kann­ten Ge­sich­tern im Kel­ler­raum der Al­ten Schmie­de zu Wien. Ge­ne­ral­ver­samm­lun­gen be­stehen auch un­ter Schrift­stel­lern aus Re­chen­schafts­be­rich­ten und Dis­kus­sio­nen über ir­gend­ein Pro­ce­de­re; hin und wie­der scheint es aber doch zu Ge­sprä­chen zu kom­men, die In­halt­li­ches, d. h. Li­te­ra­ri­sches, be­tref­fen. Dies­mal be­durf­te es da­zu ei­nes Streits. Ei­nes Rich­tungs­streits, so wür­de ich es nen­nen, hin­ter dem sich ein Ge­ne­ra­tio­nen­kon­flikt ver­birgt. Nicht mehr »Rea­lis­mus? Avant­gar­de?« ist die Fra­ge, son­dern »Kor­rekt? In­kor­rekt?« oder »To­le­ranz vs. Re­gu­lie­rung«, »Pro­vo­ka­ti­on vs. An­pas­sung« – ich könn­te hier wei­te­re Ge­gen­satz­paa­re an­füh­ren.

Es ging um die Auf­nah­me ei­nes Au­tors, des­sen Na­me mir nichts sag­te, in die GAV. Wie bei al­len Ver­ei­nen muß der Au­tor, will er auf­ge­nom­men wer­den, da­zu ei­nen An­trag stel­len. Ei­ne Ju­ry wer­tet den An­trag aus und gibt ei­ne Emp­feh­lung; die Ge­ne­ral­ver­samm­lung ent­schei­det. In die­sem Fall war die Ju­ry ge­spal­ten, ei­ne Stim­me pro, zwei con­tra. Der An­trag war nicht sehr ge­schickt ge­stellt, der Au­tor hat­te zwan­zig Sei­ten ei­nes zehn Jah­re al­ten, in Buch­form er­schie­ne­nen Ro­mans ein­ge­schickt, aber kei­nen neue­ren Text. Aber dar­um ging es nicht und soll es auch hier nicht ge­hen. Die Be­grün­dung für das ne­ga­ti­ve Ur­teil war: Ras­sis­mus. Nicht, daß man in dem be­tref­fen­den Au­tor ei­nen Ras­si­sten ge­se­hen hät­te; viel­mehr wur­de von der Ju­ry mehr­heit­lich die An­sicht ver­tre­ten, heut­zu­ta­ge kön­ne man ras­si­sti­sche Äu­ße­run­gen, sei es auch in merk­lich kri­ti­scher Ab­sicht, nicht un­kom­men­tiert in ei­nen Ro­man ein­fü­gen. Als Bei­spiel wur­de un­ter an­de­rem, wenn ich mich recht ent­sin­ne, der im Text vor­kom­men­de, tra­di­ti­ons­rei­che Ga­stro-Be­griff »Mohr im Hemd« ge­bracht. Heut­zu­ta­ge – in der Dis­kus­si­on wur­de da­für­ge­hal­ten, vor zehn Jah­ren sei dies viel­leicht noch ak­zep­ta­bel ge­we­sen; heu­te nicht mehr. Man müs­se sich dem Zeit­geist an­pas­sen: Das wur­de nicht wört­lich ge­sagt, aber dar­auf lief es hin­aus.

Die Ab­stim­mung ging un­ent­schie­den aus, und da sich kei­ne Mehr­heit für den Au­tor er­ge­ben hat­te, wur­de sein An­su­chen ab­ge­lehnt. Wäh­rend der dis­kur­si­ven Aus­ein­an­der­set­zung fand ei­ne äl­te­re Au­torin (mei­ne Ge­ne­ra­ti­on!) die Ar­gu­men­te der an­ti­ras­si­sti­schen Frak­ti­on »un­glaub­lich«, sprang auf und ver­ließ den Raum. Fünf Mi­nu­ten spä­ter kam sie zu­rück, sie hat­te sich be­ru­higt; da­nach äu­ßer­te sie sich recht be­son­nen zum The­ma. Ich selbst, eher ein Zaun­gast, sag­te nichts, aber wäh­rend der Dis­kus­si­on er­in­ner­te ich mich dar­an, daß ich we­ni­ge Ta­ge zu­vor in ei­nem Re­clam-Heft­chen, Text von In­ge­borg Bach­mann, das Wort »Ne­ger« ge­le­sen hat­te. Und daß man heut­zu­ta­ge El­frie­de Je­li­nek nicht in die GAV auf­neh­men wür­de, weil ih­re Bü­cher voll von ras­si­sti­schen und an­de­ren Kli­schees sind, wenn auch in kri­ti­scher Ab­sicht. (Die Wie­der­ga­be von Kli­schees wur­de von der Ju­ry eben­falls am Text des an­trag­stel­len­den Au­tors be­an­stan­det.) Auch dach­te ich dar­an, daß der Schwar­ze Jim in Mark Twa­ins Huck­le­ber­ry Finn zig­mal das Wort »Nig­ger« ver­wen­det, um sich selbst zu be­zeich­nen. Aber gut, die­ser Ro­man wur­de vor 133 Jah­ren ver­öf­fent­licht, und die Zei­ten än­dern sich…

Bei der Ab­stim­mung hob ich brav mei­ne Hand. Am un­ent­schie­de­nen Aus­gang, al­so an der Ab­leh­nung, än­der­te das nichts. In ei­nem Salz­bur­ger Ca­fé, fiel mir noch ein, hat­te ich un­längst ei­nen »Mohr im Hemd« auf der Spei­se­kar­te ge­se­hen. Aber den soll­te man viel­leicht can­celn.

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Mar­len Ho­brack: Schrö­din­gers Grrrl

Marlen Hobrack: Schrödingers Grrrl
Mar­len Ho­brack:
Schrö­din­gers Grrrl

Ma­ra Wolf ist zu Be­ginn von Mar­len Ho­bracks Ro­man Schrö­din­gers Grrr 23 Jah­re alt. Der Ti­tel ist Ma­ras Pseud­onym auf In­sta­gram; ih­re Fas­zi­na­ti­on zur po­pu­lä­ren Deu­tung des Quan­ten­phy­sik-Pro­blems »Schrö­din­gers Kat­ze« ist der­art, dass sie schon auf der er­sten Sei­te ih­ren Brief­ka­sten zu »Schrö­din­gers Gift­box« er­klärt – mit all den Rech­nun­gen, Mah­nun­gen und Be­hör­den­schrei­ben, die re­al sind und zu­gleich ir­re­al er­schei­nen, so­bald der Ka­sten ge­schlos­sen ist. Ma­ra Wolf ist mit 15 als Ein­ser-Schü­le­rin von der Schu­le ge­gan­gen (war­um, er­fährt der Le­ser ge­gen En­de) und ver­bringt ih­ren Tag mit ei­nem merk­wür­di­gen Ka­ter, den sie »Psy­ka­ter« nennt, in ei­ner klei­nen Woh­nung in Dres­den. Der Va­ter ist tot, ih­re Mut­ter führt ei­ne Art Mes­sie-Da­sein; ge­le­gent­li­che Be­su­che der Toch­ter er­schöp­fen sich in ge­gen­sei­ti­gem Ein­an­der­vor­bei­re­den beim Fern­seh­kon­sum und der Fest­stel­lung des Mot­ten­be­falls bei den Le­bens­mit­teln der Mut­ter. Ma­ras Le­ben ist »ein täg­li­ches Schei­tern«. Es sind Zei­chen ei­ner ve­ri­ta­blen All­tags­de­pres­si­on, die zeit­wei­se von bor­der­li­ne­ähn­li­chen Eu­pho­rien ab­ge­löst wer­den. Aber die De­pres­sio­nen sind das ein­zi­ge, was Ma­ra Wolf tat­säch­lich ge­hört, wie sie keck be­tont und da­her Hil­fe ab­lehnt.

Ihr Traum ist ei­ne In­fluen­cer­kar­rie­re bei In­sta­gram, aber vor­erst ist sie eher sel­ber Kun­din und lei­det dar­un­ter, die an­ge­sag­ten Makeups aus Geld­man­gel nicht kau­fen zu kön­nen. Die bil­li­ge­ren Sa­chen klaut sie bis­wei­len mit ei­nem cle­ve­ren Trick aus dem Su­per­markt. Alarm ist bei ihr, wenn sie sich zu ei­nem Ter­min beim Job­cen­ter ein­zu­fin­den hat, aber Frau Kra­mer ist ver­ständ­nis­voll und um­gäng­lich. Be­son­ders be­sorgt ist Ma­ra um ihr Aus­se­hen; je­de Haut­un­rein­heit stürzt sie in Re­pa­ra­tur­ar­bei­ten; Deh­nungs­fal­ten ver­set­zen sie in Schrecken. Das Kör­per­ge­wicht möch­te sie der­art re­gu­lie­ren, dass sie von Grö­ße 38 auf 36 kommt; die Becken­kno­chen zei­gen ihr ir­gend­wann an, dass das Ziel er­reicht hat und dem­nächst un­ter­schrei­ten wird.

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Gu­te Tex­te

Da hat je­mand in ei­nem Zim­mer sit­zend ei­ne Fra­ge auf­ge­schrie­ben und zwei­hun­dert­acht­und­fünf­zig Men­schen be­fragt, wann sie zum letz­ten Mal »gu­te« Li­te­ra­tur ge­le­sen ha­ben und dar­über soll­ten die­se Men­schen ein, zwei Sät­ze schrei­ben (oder fünf Zei­len?) aber man­che schrei­ben mehr, ei­gent­lich al­le, so ist das eben mit den In­tel­lek­tu­el­len, sie hal­ten sich an Nichts. Da ist ...

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Schwar­ze Blu­men? Wei­ße Blu­men? Blaue Blu­men!

»Das Licht spielt auf je­der Haut an­ders; bei je­dem Men­schen, in je­dem Mo­nat und an je­dem Tag.« (Yo­ko Ta­wa­da)

1

Phil­ip Roth hat das al­les kom­men se­hen, als er ge­gen En­de des 20. Jahr­hun­derts Der mensch­li­che Ma­kel schrieb. In die­sem Ro­man, dem drit­ten Teil sei­ner »ame­ri­ka­ni­schen Tri­lo­gie«, gibt sich ein jun­ger, re­la­tiv hell­häu­ti­ger Afro-Ame­ri­ka­ner na­mens Co­le­man Silk 1944 bei der US-Ar­mee als Wei­ßer aus und bleibt bis zum En­de sei­nes Le­bens bei die­ser Lü­ge. Im ame­ri­ka­ni­schen Eng­lisch be­zeich­net man ei­nen sol­chen Schritt, der in der Wirk­lich­keit gar nicht so sel­ten vor­kam, als pas­sing. Nach sei­nem Tod im Jahr 1998 be­merkt Co­lem­ans (dun­kel­häu­ti­ge­re) Schwe­ster im Ge­spräch mit dem Er­zäh­ler, daß En­de des 20. Jahr­hun­derts »kein in­tel­li­gen­ter Ne­ger aus der Mit­tel­schicht« die ras­si­sche Selbst­zu­ord­nung wech­seln wür­de. »Heu­te ist es nicht vor­teil­haft, so et­was zu tun, so wie es da­mals eben sehr wohl vor­teil­haft war.«

Wenn schon pas­sing , dann in die an­de­re Rich­tung. Aus Weiß mach Schwarz oder ei­ne an­de­re Far­be, war­um nicht Rot – das könn­te doch vor­teil­haft sein, wenn es dar­um geht, ein Uni­ver­si­täts­sti­pen­di­um oder Wäh­ler­stim­men zu be­kom­men. So mach­ten es die de­mo­kra­ti­sche Po­li­ti­ke­rin Eliza­beth War­ren, die be­haup­te­te, in­dia­ni­sche Vor­fah­ren zu ha­ben, oder die Hi­sto­ri­ke­rin Jes­si­ca Krug, die sich un­ter an­de­rem als Afro-Pu­er­to­ri­ka­ne­rin aus­gab, oder die Künst­le­rin und Po­lit­ak­ti­vi­stin Ra­chel Do­le­zal, die mitt­ler­wei­le als Fri­sö­rin jobbt, nach­dem ihr Be­trug als »schwar­ze« Stu­den­tin an der tra­di­tio­nell afro-ame­ri­ka­ni­schen Ho­ward Uni­ver­si­ty auf­ge­flo­gen war. Wenn man es als Be­trug auf­fas­sen will, denn Do­le­zal selbst meint, ras­si­sche Zu­ge­hö­rig­keit – den Ame­ri­ka­nern geht das Wort »race« leicht über die Lip­pen – sei kei­ne bio­lo­gi­sche Fra­ge, son­dern ei­ne der per­sön­li­chen Ent­schei­dung und der So­zia­li­sie­rung.

Do­le­zal ist üb­ri­gens jü­di­scher Her­kunft. In Eu­ro­pa, be­son­ders in Deutsch­land und Öster­reich, wur­den Ju­den aus ras­si­schen Grün­den ver­folgt und schließ­lich er­mor­det. In den USA gel­ten sie als »weiß«, und sie selbst se­hen sich wohl mei­stens auch so. Co­le­man Silk, der Held in Phil­ip Roths Ro­man, gibt sich nicht als ir­gend­ein Wei­ßer aus, son­dern als Ju­de. Und zu­fäl­lig hat auch er an der Ho­ward Uni­ver­si­ty stu­diert, wenn­gleich nur ei­ne Wo­che lang, vor sei­nem Ein­tritt in die Na­vy. Er hielt den Ras­sis­mus im da­ma­li­gen Wa­shing­ton D. C. nicht aus und ent­zog sich dem bren­nen­den Wunsch sei­nes Va­ters, ei­nes »be­ken­nen­den« Schwar­zen, an die­ser Uni­ver­si­tät zu stu­die­ren. In sei­nen letz­ten Le­bens­jah­ren wird Co­le­man auf pa­ra­do­xe Wei­se von sei­ner Her­kunft ein­ge­holt. Nach­dem er lan­ge Zeit De­kan ei­ner klei­ne­ren Uni­ver­si­tät ge­we­sen ist, wird ihm der Vor­wurf des Ras­sis­mus ge­macht, und dar­über ver­liert er sei­ne (jü­di­sche) Frau und sei­ne Stel­lung am Col­lege. Iro­nie des Schick­sals, Iro­nie der ame­ri­ka­ni­schen Ge­schich­te. Der sy­ste­mi­sche An­ti­ras­sis­mus ist ras­si­stisch ge­wor­den und bringt ei­nen Mann mit afro-ame­ri­ka­ni­schen Wur­zeln zu Fall.

Who­o­pi Gold­berg, die dun­kel­häu­ti­ge Schau­spie­le­rin, ist nicht ras­si­stisch, sie ist nur et­was na­iv und viel­leicht, im Un­ter­schied zu Co­le­man Silk, nicht sehr ge­bil­det. Die Ver­fol­gung der Ju­den durch die Na­zis sei ein Pro­blem un­ter Wei­ßen ge­we­sen, sag­te sie An­fang 2022 in ih­rer TV-Show. Nun ja, vie­le Ju­den ha­ben ei­ne eher hel­le Haut­far­be – und für Gold­berg ist »Ras­se« gleich­be­deu­tend mit Haut­far­be. Ihr Fa­mi­li­en­na­me klingt deutsch-jü­disch, doch ih­re Vor­fah­ren, so­weit man et­was über sie weiß, wa­ren Afro-Ame­ri­ka­ner. Fünf Jah­re zu­vor ko­ket­tier­te sie in ei­nem In­ter­view mit ih­rem Jü­disch-Sein; sie spre­che oft zu Gott, sag­te sie, ließ aber of­fen, zu wel­chem.

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Li­te­ra­tur fur­niert

Über­le­gun­gen zu Ten­den­zen ge­gen­wär­ti­ger Li­te­ra­tur Nach der Lek­tü­re von Hel­mut Böt­ti­gers »Die Jah­re der wah­ren Emp­fin­dung« möch­te man Hans Ma­gnus En­zens­ber­gers Text über den »Tod der Li­te­ra­tur« vom Kurs­buch 1968 in Gän­ze le­sen. Mög­lich ist es u. a. im Sam­mel­band »Pa­la­ver – Po­li­ti­sche Über­le­gun­gen 1967–1973«, der 1974 er­schie­nen war. Der Text trägt den et­was kryp­ti­schen ...

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Diet­mar Dath: Steh­satz

Dietmar Dath: Stehsatz
Diet­mar Dath: Steh­satz

Diet­mar Dath nennt sei­ne Poe­tik­vor­le­sun­gen, ge­hal­ten En­de Ja­nu­ar 2020, »Schreib­leh­re«. Sei­ne Ka­pi­tel hei­ßen »Vor­satz«, »An­satz«, »Ein­satz« und »Ge­gen­satz«. Zum Teil Be­grif­fe aus dem Buch­druck, al­so aus ver­gan­ge­nen Zei­ten. Das spannt den Bo­gen: Man kann »Steh­satz« als ei­ne Art vor­läu­fi­ger Bi­lanz sei­nes 35jährigen Schrei­bens le­sen – be­gon­nen im ana­lo­gen Zeit­al­ter.

Dath zi­tiert zu Be­ginn fast lust­voll aus Feuil­le­ton-Ver­ris­sen über sei­ne Bü­cher. »Bil­dungs­ge­prot­ze« und »An­ge­ber­tum« wer­den ihm da at­te­stiert. Er macht da­mit aus sei­ner »Schreib­leh­re« – ge­wollt oder nicht – ei­ne Recht­fer­ti­gung. Ob­wohl ihn, wie er spä­ter zu­gibt, die an­de­ren (des Be­triebs) nicht in­ter­es­sie­ren. Be­zie­hungs­wei­se in­ter­es­sie­ren sie ihn als Geg­ner, als Rei­bungs­flä­che.

Das li­te­ra­ri­sche Schrei­ben, wie Dath es ver­steht, ver­mit­telt »nicht vor­ran­gig In­for­ma­tio­nen über die wirk­li­che Welt« son­dern ei­ne »Hal­tung zu ihr«. Al­les hängt so­mit an der De­fi­ni­ti­on des Hal­tungs­be­griffs: »Ei­ne Hal­tung ist mir nicht ein­fach ei­ne Mei­nung, die sagt, dies oder das sei so oder so zu be­wer­ten. Ei­ne Hal­tung ist für mich ei­ne be­wuss­te Dis­po­si­ti­on zu Hand­lun­gen oder Un­ter­las­sun­gen.«

Ich ge­ste­he, dass mich die­se Er­läu­te­rung nicht zu­frie­den­stellt. Zum ei­nen ist sie deut­lich, ja lo­gisch. Aber ich er­ken­ne da­hin­ter kein Schreib­prin­zip, es sei denn, man ver­wen­det die leicht ab­ge­grif­fe­ne Vo­ka­bel des »en­ga­gier­ten Schrei­bens« als Ma­xi­me. Ir­gend­wann, als man Daths Hal­tung-De­fi­ni­ti­on fast schon ver­ges­sen hat­te, kommt er dar­auf zu­rück und prä­zi­siert: »Es geht bei Bal­zac um Hal­tun­gen zu Reich­tum, Lie­be oder Kar­rie­re, bei Tol­stoi um Hal­tun­gen zu Schick­sal, Ge­walt, Po­li­tik oder Ge­schich­te, bei bei­den kaum um Na­men und Da­ten, die nur im je­wei­li­gen Ro­man ste­hen, da­mit die Hal­tun­gen nicht in der Luft hän­gen, kei­ne blei­chen All­ge­mein­plät­ze sind, son­dern mit Er­leb­nis­qua­li­tä­ten elek­tri­siert und ma­gne­ti­siert.« Und Dath? Er schreibt das, was man ge­mein­hin Sci­ence Fic­tion nennt. Die Welt sei dar­zu­stel­len, wie sie sein könn­te, po­stu­liert er ein­mal. Wie geht das zu­sam­men? Rächt sich hier, dass ich von ihm kein fik­tio­na­les Werk ge­le­sen ha­be?

Wei­ter­le­sen ...