Bericht von einer Schriftstellerversammlung
Es war vor vierzig Jahren, als ich das erste Mal eine Generalversammlung der GAV, der wichtigsten österreichischen Schriftstellervereinigung, besuchte. Besonders anziehend waren diese Versammlungen für mich offenbar nicht, denn ich kann mich nicht erinnern, eine weitere besucht zu haben. Dabei hatte ich damals, oder tags zuvor, ich weiß es nicht mehr genau, erinnere mich aber an die Reaktionen von Ernst Jandl, Franz Schuh und Marie-Thérèse Kerschbaumer – ich hatte einen kleinen Vortrag mit dem Titel »Realismus? Avantgarde?« (zwei Fragezeichen!) gehalten. Natürlich hatte meine Abwesenheit von der GAV auch mit meinen langen Auslandsaufenthalten zu tun.
Vierzig Jahre später, nach meiner (provisorischen) Rückkehr, war ich auf alles neugierig, sogar auf die GAV. Wie alle herkömmlichen kulturellen Milieus ist auch das Milieu der GAV überaltert. Doch immerhin sah ich eine Anzahl von jüngeren, mir unbekannten Gesichtern im Kellerraum der Alten Schmiede zu Wien. Generalversammlungen bestehen auch unter Schriftstellern aus Rechenschaftsberichten und Diskussionen über irgendein Procedere; hin und wieder scheint es aber doch zu Gesprächen zu kommen, die Inhaltliches, d. h. Literarisches, betreffen. Diesmal bedurfte es dazu eines Streits. Eines Richtungsstreits, so würde ich es nennen, hinter dem sich ein Generationenkonflikt verbirgt. Nicht mehr »Realismus? Avantgarde?« ist die Frage, sondern »Korrekt? Inkorrekt?« oder »Toleranz vs. Regulierung«, »Provokation vs. Anpassung« – ich könnte hier weitere Gegensatzpaare anführen.
Es ging um die Aufnahme eines Autors, dessen Name mir nichts sagte, in die GAV. Wie bei allen Vereinen muß der Autor, will er aufgenommen werden, dazu einen Antrag stellen. Eine Jury wertet den Antrag aus und gibt eine Empfehlung; die Generalversammlung entscheidet. In diesem Fall war die Jury gespalten, eine Stimme pro, zwei contra. Der Antrag war nicht sehr geschickt gestellt, der Autor hatte zwanzig Seiten eines zehn Jahre alten, in Buchform erschienenen Romans eingeschickt, aber keinen neueren Text. Aber darum ging es nicht und soll es auch hier nicht gehen. Die Begründung für das negative Urteil war: Rassismus. Nicht, daß man in dem betreffenden Autor einen Rassisten gesehen hätte; vielmehr wurde von der Jury mehrheitlich die Ansicht vertreten, heutzutage könne man rassistische Äußerungen, sei es auch in merklich kritischer Absicht, nicht unkommentiert in einen Roman einfügen. Als Beispiel wurde unter anderem, wenn ich mich recht entsinne, der im Text vorkommende, traditionsreiche Gastro-Begriff »Mohr im Hemd« gebracht. Heutzutage – in der Diskussion wurde dafürgehalten, vor zehn Jahren sei dies vielleicht noch akzeptabel gewesen; heute nicht mehr. Man müsse sich dem Zeitgeist anpassen: Das wurde nicht wörtlich gesagt, aber darauf lief es hinaus.
Die Abstimmung ging unentschieden aus, und da sich keine Mehrheit für den Autor ergeben hatte, wurde sein Ansuchen abgelehnt. Während der diskursiven Auseinandersetzung fand eine ältere Autorin (meine Generation!) die Argumente der antirassistischen Fraktion »unglaublich«, sprang auf und verließ den Raum. Fünf Minuten später kam sie zurück, sie hatte sich beruhigt; danach äußerte sie sich recht besonnen zum Thema. Ich selbst, eher ein Zaungast, sagte nichts, aber während der Diskussion erinnerte ich mich daran, daß ich wenige Tage zuvor in einem Reclam-Heftchen, Text von Ingeborg Bachmann, das Wort »Neger« gelesen hatte. Und daß man heutzutage Elfriede Jelinek nicht in die GAV aufnehmen würde, weil ihre Bücher voll von rassistischen und anderen Klischees sind, wenn auch in kritischer Absicht. (Die Wiedergabe von Klischees wurde von der Jury ebenfalls am Text des antragstellenden Autors beanstandet.) Auch dachte ich daran, daß der Schwarze Jim in Mark Twains Huckleberry Finn zigmal das Wort »Nigger« verwendet, um sich selbst zu bezeichnen. Aber gut, dieser Roman wurde vor 133 Jahren veröffentlicht, und die Zeiten ändern sich…
Bei der Abstimmung hob ich brav meine Hand. Am unentschiedenen Ausgang, also an der Ablehnung, änderte das nichts. In einem Salzburger Café, fiel mir noch ein, hatte ich unlängst einen »Mohr im Hemd« auf der Speisekarte gesehen. Aber den sollte man vielleicht canceln.
Der Leser hat es bemerkt: Ich bin nicht unparteiisch. Ich will euch meine Auswertung des Erlebten nicht verschweigen. Widerspiegelungstheorien sind unter Feuilletonisten und Ästhetikern verpönt; trotzdem scheint mir, daß der geschilderte GAV-Streit gegenwärtige Tendenzen in der Gesellschaft spiegelt. Eine der Lehren, die mir in den Jahren meiner Abwesenheit zuteil wurden, stammt von Albert Camus: Aufgabe des Schriftstellers sei es, dem Zeitgeist zu widerstehen. Der Schriftsteller sollte sich Skepsis gegenüber diesem Geist oder Ungeist bewahren, eventuell gegen ihn arbeiten oder sich von ihm abwenden (was nicht Camus‘ eigene Option war). Zu Camus’ Zeiten war das vielleicht noch etwas einfacher. Die Haltung und Forderung politisch-moralischer Korrektheit (PMK) ist heute nur eine Strömung neben anderen, aber ich glaube, sie ist mittlerweile hegemonial. Die zweite große Strömung ist die populistische (Verteufelung der Eliten, Abschottung nach außen…). Mitunter kreuzen und vereinen sich die beiden Mainstreams. Für Populismus sind österreichische Autoren kaum anfällig, wohl aber für die PMK.
Unterwerfung unter politische oder moralische Regeln und Verbote führt das Schreiben und die Kunst als solche letztlich ad absurdum; langfristig gesehen dankt sie auf diesem Weg ab. Wir stehen wieder einmal vor dem von Autoren selbst herbeigebeteten oder herbeigeführten »Tod des Autors«. Das war es vermutlich, was die eine Autorin dazu bewog, den Raum in der Alten Schmiede fluchtartig zu verlassen. Wenn wir uns den Regeln und Verboten der PMK unterwerfen, sägen wir am eigenen Ast. Verjüngung der kulturellen Szene, gut und schön, aber nicht um den Preis der Selbstaufgabe.
Ich habe kein so impulsives Temperament wie die Kollegin und bin sitzen geblieben. Ein Außenseiter unter Außenseitern, wollte ich mich nicht exponieren. Ob ich die nächste Generalversammlung besuchen werde? Das muß ich mir erst noch überlegen.
© Leopold Federmair
Ich bin keine Schriftstellerin, aber eine Vielleserin, auch meine SchülerInnen wurden auf sogenannte Unwörter aufmerksam gemacht. Aber das ist ja eine scheinheilige Debatte. War gerade in Wien und wieder begegneten mir Straßen und Plätze, benannt nach Nazigrößen etc. Hier wäre mal anzusetzen und nicht den Mohr im Hemd zu verfolgen. So eine übertriebene Diskussion um Nebensächlichkeiten. Wer über die Realität schreibt, stößt schnell auf die wirklichen Grässlichkeiten unserer Welt. Darüber will ich auch lesen. Angesichts dessen entsetzt es mich geradezu, worum sich die Autoren*versammlung Gedanken macht. Ich bin ganz bei Camus! Bitte um Protest gegen die Aufsuche von Unwörtern in älteren Romanen etc. Sie gehören in den Kontext der jeweiligen Zeit. Weitere Bitte: Kümmert euch/AutorInnen um die drängenden Zeitprobleme. Alles andere ist Heuchelei und Zeitverschwendung!
woke – washing: Regelung von Sprach-Gebrauch durch Denk-Vorschrift. Und das ist es ja wohl, worum es heute auch offen geht. Du sollst auch in der Kunst Deine Moral optimieren! Alles darunter wird obskur. Es herrsche heute ein ‘orwellsches Klima’, hat das vor Kurzem mal jemand genannt.
Ich wurde gerade durch Umstände an die Diskussion erinnert, als das strategisch-verharmlosende Wörtchen ‘Entsorgung’ eingeführt wurde zur Ausblendung der Konsequenzen für die bis Ultimo strahlende Katastrophenproduktion der Zauberlehrlinge.
(Es gab damals ernst gemeinte Vorschläge, die Castoren in Raketen zu verladen und zu den Sternen zu schicken – als wären nicht von den Tiefen des Marianengrabens bis in den höheren Orbit nicht schon genug Gegenden vermüllt.)
Heute ist ‘Entsorgung’, dieser schüchtern-bürokratische Beginn des Greenwashings, ein gängiger, also durchgesetzter Begriff. Hat die Sprache da das Denken verbessert, gar gewandelt – oder die Verhältnisse nur ein bisschen ‘applaniert’ (wie ich es mal im Österreichischen gehört habe, das manchmal so treffend und dabei auch noch eleganter als das Deutsche ist).
Aber es wird wohl weitergehen, weil auch Verlage und Multiplikatoren mitziehen, die mit der Zeit und ihren Kunden gehen wollen: Immer mehr Literatur aus fairem Anbau für die TikTok-Generation – aber auch die wird sich aus ihrer strengen Compliance irgendwann wieder befreien (müssen).
@Jedermann
»Applaniert« passt. Sagt der Österreicher in mir.
@Herr Jedermann
Das »woke-washing« ist nicht mehr aufzuhalten. Eine schlagkräftige Minderheit wird hier ihre Schneise weiterschlagen, ähnlich denen, die früher (in entsprechenden Filmen) mit Macheten das Urwaldgestrüpp abgeschlagen haben. Sie rechnen mit der mangelnden Gegenwehr der Eingeschüchterten.
Vor ein paar Tagen schrieb der Studioleiter der ARD in »Kyiv« auf Twitter/X einen großen Thread darüber, dass die Ukrainer sich beklagen würden, dass in deutschen Medien die ukrainische Hauptstadt mit »Kiew« bezeichnet wird. Man solle, nein: müsse (so der Duktus) »Kyiv« schreiben. Denn »Kiew« sei die russische Schreibweise und insofern eben falsch und böse und ganz schnell stimmten die Guten dem auch zu, verteufelten all die »Kiew«-Schreiber und selbstverständlich »*innen« und als ein deutscher Feuilletonist dann davon schrieb, dass es ausländische Städte mit deutschen Schreibweisen gebe, wir »den Italienern« auch nicht vorschreiben würden, »statt Monaco künftig München zu sagen«, kam die übliche Rede davon, dass es die »Betroffenen« eben störe.
Interessant ist, dass diese Betroffenheit so gut wie nie empirisch belegt, sondern immer nur behauptet wird. Das heißt aber nichts – das deutsche Strebertum antizipiert die möglichen Diskriminierungen schon im Ansatz. Vorbildlich, wie immer.
Mir ist schon klar, dass dieser Wahn aus den USA herüberschwappt. Vermutlich stehen wir erst am Anfang. In 20 oder 30 Jahren (also einer Zeit, die ich nicht mehr erleben werde) werden große Teile der heutzutage kanonisierten Literatur gar nicht mehr relevant sein. Der Mühe, die diskriminierenden Ausdrücke alle zu entfernen, wird man sich nicht unterziehen, sondern lieber das ganze Konvolut in den Orkus schicken bzw., klüger!, ignorieren.
Ich schwanke da hin und her. Gewisse Dinge sind für immer, sie sind so stark und aufgeladen, dass wir noch ‘ewig’ von ihnen leben werden: Schultern von Riesen. Und von allem Anderen ist das Allermeiste ja irgendwann zurecht verjährt.
Und werden nicht auch die TikToker irgendwann weiter, zu den Quellen wollen? Ich selber musste erst ein Alter erreichen, um – z.B. – zu meiner Verzückung über Shakespeare zu finden. Sie werden Entdeckungen machen! Nicht zuletzt, weil wir heute alle Medienarchäologen sind, denn es ist nahezu alles verfügbar. Nur die Lesarten werden wohl andere sein.
Ich habe neulich mal meine Bookmarks (von vor 10 – 20 Jahren) zu ‘Netzliteratur’ und ‘Schreiben im Netz’ durchforstet: Was für hochmögende Theorieberge haben sich da aufgetürmt angesichts des aufregend Neuen. Aber schaue ich mir die teils ambitionierten Primärtexte an, sind sie nicht nur irrelevant, sondern oft schon unlesbar geworden – oder waren von Anfang an nur blutarmes bzw. akademisch überhöhtes Zeug.
‘Kyiy’? Nie gehört. Ich schreibe immer noch ‘Tokyo’, weil es eben eine Silbensprache ist, und ich es in Japan so gelernt habe. Will ich es besser wissen? Ich bin aber auch schon mal angeherrscht worden, weil ich in einer Diskussion ‘Zuckerberg’ gesagt hatte statt ‘SSackerbörg’ – und ein französischer Freund spricht bis heute wie selbstverständlich von Jean LeNón, und bis heute brauche ich einen Moment, um zu kapieren, wen er meint. fucking germans mit ihrer so paternalistischen wie jederzeit auszumerzen bereiten Folgsamkeit. Entweder man hat die Deutschen an der Gurgel oder zu Füßen (oder so ähnlich). (Churchill)
@Herr Jedermann
Meine These geht ja dahin, dass die übernächste Generation der TikToker Shakespeare nur noch für eine Biersorte hält. Eine Rückbesinnung impliziert die Kenntnis dessen, worauf man zurückgehen will. Wenn ich Schriftsteller X oder Malerin Y nicht kenne, kann ich schwerlich darauf zurückgreifen. Die Folianten, die mir deren Bedeutung erklären (das Netz folgt der Aufmerksakeitsökonomie), sind dann längst entsorgt oder fristen ihr trostloses So-Sein in Bibliotheksarchiven. Und die »Medienarchäologen« suchen dann eher nach den ersten TikTokern und kramen deren dann ungelenk erstellte Videos als Kulturschätze heraus.
Dass die Relevanz-Halbwertzeit einer Schreib- und Lese-Generation kurz zu veranschlagen ist, erscheint mir normal. Ich möchte nicht wissen, welche Schätze und noch mehr Grausamkeiten längst sanft entschlummert sind. Aber man glaubt eben immer noch, dass sich am Ende Qualität durchsetzt. Der Vorteil: Man wird in den meisten Fällen nicht mehr erleben, ob man richtig (oder falsch) lag. Generationen von braven Germanisten haben zum Beispiel nie etwas von Kafka gehört oder gelesen; die Höhen erreichte er erst ab den 1950er Jahren, dann jedoch mit Wucht. Ob die heute gehypten Autoren bestehen werden? Man bekommt manchmal eine Ahnung, wie schnell das Vergessen geht – etwa so mancher 47er erscheint heute bereits wie ein Exot.
Woke Eingriffe können durch das Verdrängen das Vergessen beschleunigen bzw. vertiefen. Heute dürfte übrigens der »Kaufmann von Venedig« kaum noch ohne diverse Veränderungen aufgeführt werden. Ähnliches bei »Othello«.
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Der Spruch über die Deutschen ist wirklich grandios.
‘Lieber Bier als Shakespeare’ – das war mal ein Kampagnenspruch der ehemaligen LTU für ihre Spanienflüge in den 80ern. Vielleicht ist sie auch dafür zu Recht bankrott gegangen.
Mein Vater, großer Theatergänger (ich selber war seit ... ich weiß nicht mehr wann in keinem Theater) hatte früh mal versucht mir Shakespeare nahe zu bringen, aber da funkte nichts. Ich kann es nicht mehr mit Sicherheit sagen, aber ich meine, ich bin durch Zitate, die mir während der folgenden Lesejahre immer wieder unterkamen, und zwar an den unwahrscheinlichsten Orten, bei den unwahrscheinlichsten Autoren, dann zu Shakespeare kommen, und brauchte auch keinerlei Sekundärliteratur. (Ich habe wohl keinerlei Talent irgendetwas zu performen, aber lese bis heute sehr gern immer wieder ein paar Dialoge zwischendurch laut, derart packt es mich.)
Aber wenn der Funke nicht überspringt, nutzen natürlich auch alle Medien nichts. Doch glaube ich, dass es nicht unbedingt Vorkenntnisse braucht, sich berühren zu lassen. Ich weiß also von meiner eigenen Ignoranz gegenüber den Dingen, und wie dann einmal eine Begegnung zur Begeisterung führen kann. Übrigens ebenfalls bis heute, da ich wegen der Namen älterer meiner Favoriten öfter mal als Nostalgiker gelte, bloß weil ich mehr und mehr auf dem Bewährten beharre.
An dieser Stelle erinnere ich mich an etwas, das ich, ebenfalls in den 80ern, mal hörte – ich glaube, es kam aus der amerikanischen Avant-Punk-Bewegung, Red Crayola und Pere Ubu und solchen Bands/Leuten, die proklamierten, dass jeder auch für das ungehobene kreative Potenzial in den Leuten seiner Umgebung verantwortlich sei. Letztlich also auch für deren Dummheit. – Wäre das eine positivere Haltung? Auf all den zunehmend profanen Kanälen Shakespeare (oder, oder ...) zu senden? Womöglich wird es ja längst gemacht?
Dass alle, die unaufhörlich einander ‘anstupsen’ und ihre kleinen Illuminationen posten letztlich auch ein Bewusstsein dieser eigenen Sendung und der Beweggründe dazu haben bzw. es gewinnen. Muss man nicht darauf hoffen? So sind es zuletzt eben BeGEISTerungen mittels dessen auch die TikToker leben und ihre Trends sich initiieren. Es bleibt wohl nicht viel mehr, als darauf zu setzen. Und dass der Geist weiter macht, was er will. Und dass er über uns allen sei. Amen. (Aber vielleicht bin ich auch gerade ein bisschen zu sonntäglich gestimmt.)
Ja, die Aufführungen und Aufführungspraktiken ändern sich, aber der Urtext bleibt.
Und er ist da für alle.
Wie der beobachtende Autor auf der GAV-Versammlung zwischen den Stühlen saß oder gewissermaßen aus dem Bild fiel, kann ich nachfühlen. -
Allerdings passiert es mir hier mit diesem Beitrag oder der Debatte beinahe auch. In diesem Für-Wider der »Cancel-Culture«, der alten »political correctness« und der neuen »wokeness« ist mir nicht wohl. Unmöglich mich auf eine Seite setzen zu wollen. Selbst der Verweis auf den Kulturkampf, die kaputte Debattenkultur mag mir nicht helfen: lieber keine Label, keine schon polarisierenden Schlagworte, die unsere Reiz-Reaktionsschemata triggern, dass wir Aufspringen wie Duracell-Häschen.
Dabei muss ich mich ja auch irgendwie dazu verhalten. Das Gendern z.B. finde ich immer noch ungelenk bis hässlich. Im Gesprochenen holprig als glottal stop mitten im Wort, und vorm inneren Ohr auch im Geschriebenen. Könnte auch einfach Sache der Gewöhnung sein. Als mein Sohn im Deutschunterricht bei einem Brief wie natürlich genderte, da war bei mir beinahe Erleichterung und Schulterzucken. Zeiten ändern sich. Auch zum Glück.
Da mögen wir in den Blogkommentarspalten in Vielem den geistigen Untergang wittern, das menschliche Bewusstsein muss sich aber ändern und entwickeln. Hegel hätte sich für den Weltgeist sicherlich etwas anderes gewünscht als Katzenvideos, und... ich bin bei vielem auch nur noch be- oder entfremdet. Bei Tik-Tok, Insta und Twitch bin ich raus. Hier und da versuch ich’s mal, aber insgesamt ist mir meine Lebenszeit dafür zu schade und ich kill mir meine letzten Gehirnzellen eben weiter mit YouTube. – Hoffe aber immer noch offen zu sein wie @Herr jedermann, also von Kunst, in welchem Medium und welcher Form auch immer sie mir dann über den Weg laufen mag, noch berührt werden zu können.
Albert Camus, Aufgabe des Schriftstellers sei es, dem Zeitgeist zu widerstehen... Tatsächlich denkt man oft, es wird früher leichter gewesen sein. Aber das kommt nur, weil man sich an den Früchten des Widerstands erfreut, und die Anstrengung nicht bemerkt, die solchem Schaffen zugrunde liegt. Ich habe diese Sätze immer zweimal gelesen, bergauf und bergab sozusagen. Was ist der Zeitgeist schon, vermutlich nur eine Einladung zur Bequemlichkeit, die auf Kosten der Wahrheit und Genauigkeit geht... Faulheit. Ich habe einen sehr ungünstigen Eindruck gewonnen, von allen Funktionären und moralischen Großgrundbesitzern, die die Sprache insgesamt (nicht die Meinung im Einzelnen) einer Kontrolle unterziehen zu wollen. Es ist ein totalitärer Ansatz, der vorallem das Wesen der Sprache als Produkt, also im Falle der Literatur als bestmöglichen Text im Rahmen des Gestaltungsprozesses leugnet. Rotstift.
@Phorkyas
Wenn man die heutige Jugend auf den Glottisschlag hin ausrichtet, so mag dies als Marginalie und/oder als zeit(geist)gemäß durchgehen. Mir graust vor solchen Phänomenen immer etwas, zumal sie Ansprüche stellen, zum Beispiel an Literatur. Rasch sollen irgendwelche Worte oder Handlungsstränge verbannt werden. Das ist nie frei von politisch-gesellschaftlich motivierten Einflüssen, die auf die Literatur übergestülpt werden soll. Nahezu alle Rundschreiben und Programme der Verlage beispielsweise frönen dem Genderstern oder anderen Hässlichkeiten. Sogar in den Übersetzungen aus dem Englischen übernimmt man so etwas inzwischen. Dass man heutzutage nicht mehr im Duktus der 1920er Jahre schreibt – geschenkt.
Ich weiß, dass man rasch als Kulturpessimist abgetan wird, wenn einem so etwas nicht gefällt. Das ist womöglich zwingend, um das Gegenüber nicht abstrusen Restaurationswünschen zu überlassen. Letzteres droht bei mir eher nicht. Dafür hat man schon zu viele Trends sterben sehen. Dennoch ist der Abfall kultureller Bildung mit Händen zu greifen. Die Leute sind auch noch stolz darauf. Auch das ist kein Problem; Literatur (und Kunst) wird wieder auf das reduziert, was es einst war: eine Nische.
Aber ich kann diesem Hoffnungssprech leider nicht folgen. Als man in den 1980er Jahren das Privatfernsehen einführte, hat dies das Gesamtprogramm nicht verbessert. Von der sogenannten »Netzrevolution«, die hier und da ausgerufen wurde, will ich lieber erst gar nicht anfangen. An einen besseren Geschmack eines Weines durch Zugabe von Wasser glauben nur Homöopathen.
Nur damit mich niemand falsch versteht: Ich halte es für vollkommen verrückt, eine Mitgliedschaft in einer Autorenvereinigung durch eine Jury anzustreben. Diese Art von Exklusivität ist natürlich großbürgerlich und erinnert an englische Clubs. Muss man sich um diejenigen, die auf der Mitgliederliste fehlen, Sorgen machen? Der Unterschied bei der GAV liegt darin, dass aus der »Grazer Autorenversammlung« inzwischen eine »Grazer Autorinnen Autorenversammlung« geworden ist – mit Sitz in Wien! Alleine wegen des Wortungetüms würde ich jede Mitgliedschaft ablehnen.
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YouTube ist übrigens eine sehr anregende Plattform. Hier habe ich beispielsweise neulich etliche der Gespräche von Günter Gaus mit Schriftstellern, Philosophen und Politikern entdeckt. Diese Reihe wird ja nicht mehr im linearen Fernsehen wiederholt. Und anderes »Bildungsfernsehen« findet sich dort auch zahlreich.
@die_kalte_Sophie
Camus widerstand ja dem Zeitgeist (Sartre) und nahm die Komplikationen, die sich hieraus ergaben, in Kauf. Auch damals heulten sie mit den Wölfen, um bei den Alphatieren am Tisch sitzen zu dürfen. Heute ist der Literaturbetrieb durchmonetarisiert, es gibt Preise, Stipendien und Fördergelder, die man nach bestimmten Schemata und vor allem mit einer gehörigen Portion »Vitamin B« abrufen kann. Hierin liegt eine der tieferen Ursachen für die sinkende Bedeutung von Literatur im öffentlichen Raum.
@Herr Jedermann
Ich erinnere mich an ein Gespräch mit dem großen George Tabori. Er wurde nach der Zukunft des Theaters gefragt. Tabori war damals bereits Mitte oder Ende 80 und blickte den Frager fast lächelnd an. Sinngemäss sagte er dann, dass, wenn alle Theater geschlossen wären und niemand mehr die alten Stücke kennen würde – dann käme es doch wieder irgendwann dazu, dass sich Menschen auf einer Bühne treffen und beginnen würden, etwas zu spielen. Das ist weniger Hoffnung denn Trost.
@Gregor K.
Nur kurz zur GAV: Dieser Verein hat eine inzwischen schon ziemlich lange Geschichte. Er wurde in Graz gegründet, die Stadt galt damals, Anfang der siebziger Jahre, als Hauptstadt der dt.sprachigen Literatur. Seit ich mit der GAV in Berührung kam, finde ich es problematisch, zugleich gewerkschaftliche (Interessensvereinigung möglichst aller Autoren), literarisch-qualitative und auch politische Ansprüche zu vertreten. Das hat immer wieder zu Spannungen geführt. Literatenvereine wurden immer wieder mal gegründet, in Deutschland das bekannteste Beispiel ist die Gruppe 47, deren Geschichte ebenfalls friktionsgeladen war. Den PEN-Club will ich gar nicht erwähnen – die GAV verstand sich einst als Gegengruppe dazu. Ich glaube, in der GAV hat man sich früher mehr mit der Literatur selbst beschäftigt. Inzwischen ist das ausgelagert, einzelne Mitglieder lassen sich immer wieder »Projekte« finanzieren, zu denen dann GAV-Autoren eingeladen werden.
@Leopold Federmair
Die Gruppe 47 war, wenn überhaupt, eine Art informelle Zusammenkunft; nie ein Verein. Hier gab es nur einen »Herrscher«, das war Hans Werner Richter. Der verschickte einmal, später mehrmals im Jahr Postkarten und lud Autoren ein, ihre im stillen Kämmerlein verfassten Texte vorzulesen. Spätestens Ende der 1950er Jahre kaperten Verlage und Kritiker die Veranstaltungen. Die Verlage gingen auf Talentsuche (Richter ließ sich von ihnen »briefen«, wen er einladen sollte), die Kritiker entdeckten das ursprünglich als Werkstattgespräch konzipierte Ambiente als Bühne.
In Deutschland gibt es ja seit 2022 sogar einen Gegen-PEN. Der »klassische« PEN wurde damals von einem der Gründer als »Bratwurstbude« bezeichnet. Inzwischen gibt es im neuen PEN – um im Bild zu bleiben – ebenfalls eine Menge heiße Würstchen.
@G.K.
Wenn ich an gewisse geniale und aufwühlende Aufführungen denke – ich habe, z.B., noch Minetti in »Macht der Gewohnheit« gesehen – und also weiß, welch Gewinn ein Theaterabend sein kann, muss es wohl an mir selbst liegen. Andererseits: Kann ein Thomas Bernhard-Stück auch heute noch ein Bernhard-Stück sein – oder wäre es ein weiteres von Zeit und Betrieb nivelliertes unter vielen? Gern hätte ich manchmal meine unverbildete Freude zurück. Denn Entdeckungen in solch einem reichlich vorhandenen und alimentierten Bereich müssten unbedingt möglich sein.
Hier wurde gerade, nach seiner Renovierung, ein wunderbares kleines Kino, dazu praktisch bei mir um die Ecke, neu eröffnet, und ich hatte mir in Gedanken einen Besuch auch schon vorgenommen ... als der TV-Bericht extra die kindereimergroßen Portionen Popcorn herausstrich und eine bestimmte Sorte Tortilla-Chips im Angebot. Mit der Aussicht, mir das Vertilgen dieser Mengen durch ein semi-regressives Publikum anhören zu müssen, das beim Schauen kauen und verschlingen muss und verlernt hat 90 Minuten ruhig zu sitzen, habe ich mein Vorhaben wieder aufgegeben.
Ich bemühe mich, diesen Aspekt – meine Erschöpfung an den Dingen – bei meinen Urteilen über sie immer mitzubedenken, fürchte aber, sie fließen mit ein. Es gibt Sättigungsgrade (no pun intended but welcome). Ab da muss man sich die Lust an dem, was man einmal liebte wohl selber zurückerobern.
Gern hätte ich manchmal meine unverbildete Freude zurück.
Ich glaube, das trifft ins Schwarze. Noch einmal Kafka wie beim ersten Mal lesen. Oder die Lust, den »Theatermacher« von Bernhard im Stadttheater von Mönchengladbach gesehen zu haben (und danach nie mehr das gleiche empfunden). Vielleicht wissen die Regisseure instinktiv, dass sie die großen Inszenierungen der Klassiker ästhetisch nie erreichen werden. Daher zertrümmern sie sukzessive die Stücke (die kopulierenden Schauspieler bei »Woyzeck« in den 2000er Jahren [?] in Düsseldorf habe ich, glaube ich, mehrmals erwähnt) und streuen reichlich ihre Gewürze über die Ruinen, die sie da erzeugt haben.
Sicher, ich habe auf VHS noch wunderbare Theaterinszenierungen, die einst im öffentlich-rechtlichen Fernsehen noch gezeigt wurden (Peymann, Langhoff, Bondy, Zadek [»Kaufmann von Venedig«]). Das Videoabspielgerät habe ich neulich wiederbelebt, als es um einen Film ging. Die Qualität ist altersgemäss (teilweise 25 Jahre alt), aber noch vertretbar. Dies als Reserve, wenn die Literatur nicht mehr greift.