DER 3. MÄRZ 1992, Tagebucheintrag von Peter Stephan Jungk
Erwache am Dienstag, den 3.3., Mardi Gras, um 8h, mit einem sanften Hangover. Und kann kaum fassen, was ich da ANGEZETTELT habe: ich heirate Lillian.1 Und Lillian heiratet mich. Wozu eigentlich, denke ich, beim Erwachen. Und habe zugleich das Gefühl, daß dies der richtige Schritt ist, ein Schritt vor allem, der L.’s Angst vor dem Schreckgespenst FAMILIE abzubauen mithelfen wird. Oder verlieren wir durch die HEIRAT unsere Unschuld? Unser kindähnliches In-den-Tag-hinein-Leben, mit Augen, die dem Wunder begegnen, Tag für Tag. Nehmen wir uns etwas weg von dieser Reinheit? Oder vertiefen wir durch diese äußere Tat einen Bund, der ohnehin für’s Leben andauern soll? Ich weiß die Antwort noch nicht, schreibe diese Zeilen 1 Woche nach dem Tag, am 10.3., bin noch recht verwirrt, was das Geschehene betrifft, versuche noch, damit zurecht zu kommen, zweifle manchmal daran, das Richtige getan zu haben. Und L. scheint ähnlich zu denken. (…)
Wir erwarten Sylvia2 zum Frühstück, die nach halb 10h erscheint. Butterflies in meinem Bauch –. Habe den Eltern nichts gesagt, nur einmal angedeutet, daß wir die Eheschließung planen, als ich Mutter zu ihrem Geburtstag schrieb, im letzten August. (…) Um Viertel 11h dann Ankunft von Hanna3, die uns sehr schöne weiße Blumen in einem Erdtopf, sowie eine indische Überdecke für’s Bett, für’s Ehebett, überreicht…Sehr schön ist sie zurechtgemacht – und in guter Stimmung. Wir 4 fahren mit einem durchaus vornehmen Wagen zur Mairie4, ich hatte nämlich, in Anbetracht des schlimmen Zustands von unserem alten Auto, gestern Abend einen Wagen gemietet, Renault 25, eine richtige Limousine -.
Mein neuer Anzug paßt mir sensationell, auch L. ist bildschön, und der Wagen dazu, die bürgerliche Idylle par excellence — Im Rathaus dann meine doch beträchtliche Erregung, vor allem, da Peter5, um 10 vor 11h, noch nicht da ist – stammle unentwegt: wo ist mein Zeuge? Ich hab keinen Zeugen! Der schöne Saal, in dem wir verheiratet werden sollen – und ein Huissier6, der uns begrüßt, uns fragt, ob es unbedingt der Bürgermeister des 12. Bezirks sein muß, der die Zeremonie durchführt? Sagen nein, keineswegs — Dann taucht Peter auf, ganz außer Atem, aber besonders milde gestimmt, sehr überrascht, als er Hanna sieht, hatte ihm nichts davon gesagt – als wir aufgefädelt nebeneinander sitzen, im Salle de Mariage, gesteht er mir, in H. verliebt gewesen zu sein, vor rund 20 Jahren. Wir 5 sitzen da – und warten. Und warten. Um 11h15 werde ich schon etwas unruhig — aber um 11h20 betritt ein kleines, graues Männchen (Peter sagt später: ein von der Straße rasch herbeigeholter Straßenkehrer) mit breiter, rotblauweißer Schärpe um den Bauch, den Raum, begleitet vom Huissier und der jungen Schwarzen, die meinen Akt vor allem betreut hatte. (Als sie Peters Namen sah, als Zeuge, hatte sie mir erzählt, daß ihr Deutschprofessor immer von PH gesprochen habe…es war nämlich Georges-Arthur Goldschmidt7, den sie als Deutschprofessor hatte!)
Der kleine, graue Mann, der offenbar der Vizebürgermeister des 12. Bezirks ist, spricht zu uns in wunderbar gepflegter Wortwahl, wir stehen auf, er nennt uns die im Code Civil festgehaltenen Gesetze der Ehe, bzw. die Pflichten der Ehepartner füreinander. Verstehe insgesamt nur das Eine: daß ich für meine Frau SORGEN muß, glaube auch verstanden zu haben, daß dies vice versa gilt. Während der »Zeremonie« stört mich maßlos, daß von draußen, vom Gang, recht viel Lärm eindringt, denke unentwegt: Ich muß den Alten unterbrechen, die Türe schließen, aber ich will ihn nicht kränken, will seinen Redefluß nicht abschneiden. Später erzählte uns Sylvia, daß sie unentwegt die Türe schließen wollte, der Huissier ihr aber ein Zeichen gab, daß das nicht in Frage komme … anschließend kam er auf S. zu und erklärte ihr: das sei natürlich ABSICHT, daß die Türe offen geblieben sei, denn die Salle de Mariage sei ein öffentlicher Ort, hier geschehe nichts im Geheimen, hinter verschlossenen Türen, jeder müsse SEHEN können, welcher offizielle Akt da gerade vonstatten gehe. /
Der kleine graue Mann fragt dann Hanna, ob sie Jüdin sei, bzw. stellt fest, daß sie sicher Jüdin sei, ihres Namens, Hanna, wegen. Und Sylvia hält er für eine Schauspielerin. Die junge Schwarze blickt nahezu konstant zu Boden, bilde mir ein, daß das mit der Tatsache zusammenhängt, daß sie sich für den kleinen grauen Mann geniert. Ich stelle ihr dann Peter vor, als L. + ich + unsere Zeugen unterschreiben, sie erzählt ihm ad ihrem Goldschmidt-Unterricht… / Während der Zeremonie bin ich kaum anwesend, sehe das Ganze an mir vorbeiziehen, wie einen Traum – merke nur, daß mir immer heißer wird. S. erzählt mir, daß L. Tränen in den Augen hatte – und das Jawort gebe ich, gibt L., wir sehen einander dabei von der Seite an, wie Lausbuben, die sich einen Streich erlauben. Und begreifen vielleicht beide nicht, welchen SCHRITT wir da getan haben?! Der kleine graue Mann ruft uns dann noch zu sich, ohne Zeugen, wünscht uns persönlich alles Gute, betont, daß wir nur dann religiös hätten heiraten dürfen, wenn wir auf jeden Fall zuvor staatlich getraut wären. Aber das sind wir doch nun ohnehin – warum betont er diesen Umstand zusätzlich? Sehr lieb, der Alte, wenn auch ein bisschen gaga.
Das Ganze wie LITERATUR, durch und durch. Peter, Hanna, Sylvia leisten ihre Zeugenunterschriften – und dann ist bereits alles vorbei -. Wir wanken hinüber, in ein gewöhnliches Café, dort lernen Peter + Sylvia einander kennen; aber P. spricht ausschließlich mit Hanna, sehe, daß die Zusammenstellung richtig war. Glaube auch, daß es sehr wichtig war, Sylvia dazu zu bitten – als Verwandte sozusagen… / Auf dem Weg vom Café zur Limousine erzählt mir Peter, daß er mit Hanna, damals, vor 20 Jahren etwa, eine Nacht verbracht habe (…). P’s Verwunderung, daß wir mit H. so gut sind und er davon garnicht wußte, dann stammelt er sogar ein Lob, wie beachtlich er finde, daß wir die Leute, die wir kennen, sozusagen für uns behalten, nicht hinausposaunen, daß wir sie kennen. (…) / Ich bin ein verheirateter Mann, begreife es kaum — / Unsere Fahrt, zu fünft, nach Meudon, sehr angenehm, ruhig, gute Stimmung im Auto. L. trank im Café einen Cognac, scheint den Schock bisher gut zu meistern… Zunächst nach Meudon, um dort, auf der Terrasse, neben dem Observatoire (wo Peter ja eine Szene der ›Linkshändigen Frau‹8 drehte), spazieren zu gehen.
Grauer, aber trockener Tag. Sehr schön dort oben, und P. + Hanna spazieren, unterhalten sich sehr innig, ich bleibe vor allem mit L. + Sylvia zusammen. / Guter Moment…ca. eine halbe Stunde spazieren wir dort. P. zeigt auf den schauerlichen Hochhaus-Ort Meudon-la-Forêt, er habe einmal einen Buschauffeur kennengelernt, der ihm erzählte, wie grauenhaft es sei, dort zu wohnen, der ihm aber auch sein Leid mit den Fahrgästen klagte: ihn ekle es so sehr vor den Fahrscheinen der Fahrgäste, die diese im Mund stecken haben, wenn sie einsteigen + ihm dann, naß von der Spucke, vorweisen… / Um ca. dreiviertel eins kommen wir zum Restaurant La Terrasse de l’Étang, L. und ich hatten uns nach ausführlicher Lokal-Suche im Osten und Westen der Stadt, vor 10 Tagen, schließlich für diesen Ort entschieden (waren bis nach Maisons-Laffitte vorgedrungen, an jenem Such-Sonntag im Februar) – ein guter Entschluß, wie ich glaube, denn die Anwesenden fühlen sich allesamt wohl -.
Das Gute an dem Tisch ist zweifellos seine Rundheit… Das Essen ist vorzüglich – und wir trinken, nicht wenig, Sancerre. Nach ca. einer dreiviertel Stunde taucht Sophie9 auf, aus Nancy zurück, sehr überrascht, Hanna zu sehen; P. erklärt ihr, auch nicht gewusst zu haben, daß H. käme. (…) Zwischen Sophie und Hanna entsteht eine Art Wettlauf um P.’s Gunst (…) doch dieser mögliche Konfliktstoff nimmt nicht überhand, und vor allem bleibt P., auch nach mehreren Gläsern Wein, durchaus friedlich, attackiert weder mich, noch die anderen Anwesenden. Bin etwas nervös, da ich weiß, daß Sylvia fort muß (…), sie wird um 16h im 8. Arrondissement bei der Firma Givenchy erwartet. (…) Um 15h wird sie von einem Taxi abgeholt. Kränke mich ein wenig. (…) Ihr Lob ad unseren Freunden, bevor sie in’s Taxi steigt, und Sophie habe ihr so BESONDERS gut gefallen. Und wie schön wir es hier hätten, in Paris… /
Danach noch eine ganze Weile im Lokal, wir 5 Verbliebenen, anschließend unternehmen wir einen Spaziergang zu der nahe gelegenen Fontaine Sainte-Marie, über die Peter in dem Gedicht »An die Dauer« geschrieben hat und das er uns schenkt, das Büchlein, sehr sinnvoll für Frischvermählte. Jedenfalls marschieren wir zu diesem Ort, ca. 1 km entfernt, und es scheint plötzlich die Sonne, und eine ganz eigene, leichte, dennoch äußerst intensive Stimmung entsteht… Warm ist’s, vorfrühlingswarm… Und ich finde es schade, daß Sylvia bei diesem Spaziergang nicht dabei war. Die FONTAINE besonders eigen, dort sitzen wir dann, wir 5, ziemlich lange sogar, neben dem Quellenaustritt, und jeder photographiert jeden, außer P. natürlich, der nicht + niemanden photographiert. Gehe dann mit Peter allein fort, wir wollen/müssen pinkeln, er würde neben mir, aber ich kann das nicht, verlasse ihn nach 200 Metern, schlage mich in die Büsche. Er geht weiter, kommt fast 10 Minuten nicht wieder, marschierte noch zu einem MENHIR, der hier in der Nähe steht. Ich spiele mit einem Marienkäfer, lasse ihn auf meiner Hand umherwandern. Als P. wiederkehrt, sage ich ihm, daß mir Sophie gefalle + daß ich sie möge… (…) L. glaubt, P. sei unendlich verliebt in Sophie… (…) Sein Vorschlag, dann, wir mögen uns doch auch abends sehen. (…)
Friedhelm10 ist in Paris, ihn werden wir, beschließen wir, dazu bitten. (…) Langsamer Aufbruch von der Quelle – und ein ganz anderer, noch viel schönerer Weg zurück, wirklich idyllisch, bin sehr froh, daß wir diesen Ort gewählt haben, für unser Zusammensein. L.’s recht guter, wenn auch etwas müder Zustand… Abschied von P. + Sophie, Hanna bringen wir nach Hause. Sind dann um punkt 18h an der Gare de Lyon, um die Limousine wieder abzugeben… / Und dann die wirkliche Erschöpfung, legen uns zu Bett. (…) Während wir im Bett liegen, ruft Mutter an, das Telephon hab ich diesmal ausnahmsweise neben dem Bett, bin daher von einem 5‑Minuten-Schlaf noch ganz benommen, da fragt sie mich: gibt’s ‘was Neues? Woraufhin ich ihr natürlich »gestehe«, was es Neues gibt. Sie wirkt zwar ziemlich vor den Kopf gestoßen, aber im Grunde weniger entsetzt, als ich gedacht hätte…reagiert fast liebevoll und friedvoll…11 (…) Inzwischen hat P. schon 2x angerufen, L. bestellt ihn + Friedhelm Maye in’s »Européen»12, auch Hanna bitten wir dorthin… / Ab 20h30 im »Européen«, L. nun doch ziemlich mitgenommen – und Friedhelm taucht als Erster auf, wirkt eigenartig verschreckt oder mißmutig, oder beides, wir sitzen mit ihm ungefähr 25 Minuten allein, und er bringt fast kein Wort hervor —
L.’s Angst, P. nicht exakt beschrieben zu haben, wo wir sind – aber dann taucht er endlich auf, mit Sophie, beide best-gelaunt – und Hanna kommt auch, um ca. 22h, wir sind wieder eine intensive Gruppe, wenn auch Friedhelm, an den Rand gedrängt, nicht viel verlauten läßt. (…) Wieder Weißwein, Austern dazu — seltsamer Kellner, zunächst beinahe feindselig-aggressiv, im Lauf des Abends aber herzlich + freundschaftlich -. Sitzen bis ca. Mitternacht beisammen; am nächsten Morgen gehen P., Sophie, die Kamerafrau Godard13+ Friedhelm auf eine Auto- bzw. Jeep-Reise in die Pyrenäen, um erste Aufnahmen zum neuen Film zu machen. / Hanna, Sophie, L. spielen Schriften kopieren, H. die beste, aber auch Sophie nicht schlecht, und Peter rückt sogar mit seinem allerheiligsten Notebuch hervor, damit Hanna versuchen kann, seine Schrift zu fälschen. (…) Daß P. überhaupt sein Büchlein zur Verfügung stellte! (…) Mitternacht dann (oder halb Eins war’s wohl schon) die Abschiede + Umarmungen. Ich mag Sophie wirklich gerne… / Sehe mir noch Friedhelms ausgeborgten Geländejeep an, während H. + L. nach Hause vorgehen. H. noch kurz bei uns, danach sind L. + ich ALLEIN.
© Peter Stephan Jungk
Über Leben und Werk von Peter Stephan Jungk ist soeben der instruktive und ausführliche Essay-Band »Tracking Peter« herausgegeben von Martin J. Kudla im Verlag Königshausen & Neumann erschienen.
Lillian Birnbaum, Fotografin und Filmproduzentin. ↩
Sylvie Liska, Präsidentin der Freunde der Wiener Secession. ↩
Hanna Schygulla war Trauzeugin für Lillian Birnbaum. ↩
Gemeint ist das Rathaus des 12. Arrondissements von Paris. ↩
Peter Handke war Trauzeuge für PSJ. ↩
Amtsdiener ↩
Der Schriftsteller Georges-Arthur Goldschmidt ist der wichtigste Übersetzer Peter Handkes ins Französische und unterrichtete Jahrzehnte lang Deutsch an einem Pariser Gymnasium. ↩
Der Film Die linkshändige Frau, von Peter Handke, entstand 1977 in Clamart und Umgebung und hatte 1978 während der Filmfestspiele in Cannes Première. PSJ war (neben Friedhelm C. Maye) Handkes 2. Regieassistent. ↩
Gemeint ist Sophie Semin, Peter Handkes spätere Ehefrau. Sie heirateten 1995. ↩
Friedhelm C. Maye, Regieassistent, Produzent, arbeitet seit 1974 für den WDR. ↩
In der Folge sollten die Eltern von PSJ jedoch auf eine neuerliche, religiöse Hochzeit in ihrem Beisein bestehen, die im Dezember 1992 stattfand. ↩
L‘Européen, typische Pariser Brasserie neben der Gare de Lyon. ↩
Agnès Godard war 1992 Kamerafrau bei Peter Handkes Spielfilm Die Abwesenheit (‚L’Absence‘). ↩