Gräu­el der Ge­gen­wart ‑9/11-

(← 8/11)

Ich weiß nicht, ob Den­ken dem Han­deln eher för­der­lich oder ab­träg­lich ist; nach mei­ner per­sön­li­chen Er­fah­rung oft letz­te­res, aber nicht im­mer, und gu­te Hand­lun­gen kom­men ganz oh­ne Nach­den­ken sel­ten zu­stan­de. Ham­let, der Prinz von Dä­ne­mark, ver­kör­pert die Tat­feind­lich­keit des Den­kens, das zu­meist ein Zwei­feln ist. Das Schwie­ri­ge, sagt ein an­de­rer Fürst der Thea­ter­ge­schich­te, Kö­nig Pri­mis­laus von Böh­men, in ei­nem Dra­ma Grill­par­zers, das Schwie­ri­ge sei nicht die Tat, son­dern der Ent­schluß, und der wird durch das Den­ken, wie Pri­mis­laus selbst durch sein Zö­gern er­weist, be­hin­dert. Den­kend kann man je­de Men­ge Hy­po­the­sen auf­stel­len, doch bei der Ver­wirk­li­chung ei­nes Vor­ha­bens gilt es, mit ei­nem Schlag »die tau­send Fä­den zu zer­rei­ßen, an de­nen Zu­fall und Ge­wohn­heit führt.« Ent­schlüs­se wer­den in der Re­gel durch Nach­den­ken vor­be­rei­tet, aber auch ver­zö­gert, und nicht sel­ten ver­hin­dert (wo­für Mu­sils Mann oh­ne Ei­gen­schaf­ten ein ein­zi­ges, viel­fäl­ti­ges Groß­bei­spiel ist).

»Nichts ist mo­bi­li­sie­ren­der als das Den­ken«: die­ser froh­ge­mu­te Satz prangt auf ei­ner Sei­te ziem­lich ge­nau in der Mit­te von Der Ter­ror der Öko­no­mie. Und gleich im näch­sten Schritt de­kla­riert For­re­ster die Iden­ti­tät von Den­ken und Han­deln. Die Dif­fe­renz ist be­sei­tigt. Das Wort »mo­bi­li­sie­ren« ak­tua­li­siert po­li­ti­sche Kon­no­ta­tio­nen1; nicht ir­gend­ein Han­deln ist ge­meint, kei­ne sport­li­che Ak­ti­vi­tät, et­wa Fuß­ball, was die zo­nards mitt­ler­wei­le bes­ser kön­nen als die pe­tits blancs, son­dern ge­sell­schaft­lich be­deut­sa­mes Han­deln. In wei­te­rer Fol­ge er­zählt For­re­ster von ei­nem Kon­greß in Graz, Öster­reich, wo an­no 1978 ein Teil­neh­mer ein State­ment ab­gab, das auf die For­de­rung hin­aus­lief, man sol­le hier nicht von Mall­ar­mé spre­chen, son­dern von Ma­schi­nen­ge­weh­ren. For­re­ster ver­tei­digt ge­gen­über die­ser Ta­bu­la-ra­sa-Hal­tung den po­li­ti­schen Sinn li­te­ra­ri­scher Bil­dung, be­an­sprucht aber zu­gleich Ef­fi­zi­enz und Ra­di­ka­li­tät für ihr An­lie­gen und ge­langt schließ­lich zu ei­nem Satz, der wie­der­um als Slo­gan die­nen kann: »Mall­ar­mé ist ein MG!«

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  1. In seinem Essay Die totale Mobilmachung phantasiert Ernst Jünger von einem "Arbeitsstaat", der die logische politische Konsequenz der generalisierten Verschmelzung von Mensch und Maschine, von Organischem und Mechanischem sei. Diese Vision verwirklicht sich heute, allerdings im Bereich der Nanotechnik, der smarten elektronisch gesteuerten Maschinen, die "der Mensch" ständig in Reichweite oder im Körper implantiert hat. Dienstleistungsanbieter und öffentlichen Institutionen verlangen von allen den Besitz eines Smartphones. Der Arbeits- bzw. Arbeiterstaat jedoch wurde Ende des 20. Jahrhunderts endgültig entsorgt. 

Gräu­el der Ge­gen­wart ‑8/11-

(← 7/11)

Ein er­ster Zwei­fel be­schlich mich wäh­rend der Lek­tü­re an ei­ner Stel­le, wo es die Au­torin für aus­ge­macht nimmt, daß neue Tech­no­lo­gien Ar­beits­plät­ze ver­nich­ten. Könn­te es nicht sein, daß sie alt­her­ge­brach­te, oft schwe­re oder lang­wei­li­ge, geist­tö­ten­de Tä­tig­kei­ten über­flüs­sig ma­chen oder Ma­schi­nen über­ant­wor­ten, wäh­rend sie un­ter Um­stän­den an­de­re, neue, an­ge­neh­me­re Ar­beits­mög­lich­kei­ten schaf­fen? Man­che Ar­beits­so­zio­lo­gen kom­men zu die­sem Schluß, doch ob die neu­en Mög­lich­kei­ten für die ge­sam­te Ge­sell­schaft aus­rei­chend sein wer­den, dar­über ge­hen die Mei­nun­gen aus­ein­an­der (»Ma­schi­nen schaf­fen mehr Jobs als sie ver­nich­ten«, ti­tel­te die Süd­deut­sche Zei­tung un­längst). Ge­wiß, ein al­tes, nie zur vol­len Zu­frie­den­heit ein­ge­lö­stes Ver­spre­chen; im­mer­hin gibt es zahl­rei­che Bei­spie­le da­für, daß es ver­wirk­licht wer­den kann, denn schließ­lich stel­len Su­per­vi­si­on und Ent­wick­lung von Ma­schi­nen ei­ne neue Art von Ar­beit dar, die vor­erst nur von Men­schen ge­lei­stet wer­den kann.

Nach lan­gen, ge­wun­de­nen We­gen, auf de­nen For­re­ster das Ver­schwin­den der Ar­beit und des Ar­bei­ters be­klagt und gei­ßelt, aber auch be­grüßt und ein Um­den­ken for­dert, ei­ne po­li­ti­sche Ethik, de­ren Fun­da­ment eben kein Ar­beits­ethos wä­re, son­dern… (so­bald sie zur Fra­ge nach Al­ter­na­ti­ven kommt, wird ihr Dis­kurs dünn), stößt sie ein­mal auch auf die Fi­gur des Kon­su­men­ten. Der Kun­de ist Kö­nig; die schein­bar über­flüs­sig ge­wor­de­nen Men­schen ha­ben doch noch ei­ne Rol­le zu spie­len. »Kon­su­mie­ren, un­ser letz­ter Aus­weg« – ei­ne iro­ni­sche Flos­kel, not­re der­nier re­cours, mit der For­re­ster rasch zur Hand ist, oh­ne zu be­den­ken, daß der stei­gen­de Kon­sum eben auch neue Ar­beits­plät­ze schaf­fen könn­te. Sie stellt so­gar die Fra­ge, wie Ver­ar­mung und Kon­su­mis­mus denn zu­sam­men­pas­sen, geht ihr aber nicht wei­ter nach. Der Kon­su­ment ver­schwin­det als­bald wie­der aus dem Buch; sein Auf­tritt war kurz ge­we­sen (wäh­rend er in der Wirk­lich­keit der rei­chen Län­der und so­gar von et­was we­ni­ger rei­chen wie zum Bei­spiel Me­xi­ko ziem­lich dau­er­haft und all­täg­lich ist). Die sich be­reits über Jahr­zehn­te hin­zie­hen­de, nie ge­lö­ste Fra­ge, ob es bes­ser sei, den Gür­tel en­ger zu schnal­len und die Wirt­schaft zu sa­nie­ren oder die Ein­kom­men zu er­hö­hen, um den Kon­sum an­zu­kur­beln und so die Pro­duk­ti­on zu stär­ken und am En­de neue Ar­beits­plät­ze zu schaf­fen, kommt bei For­re­ster gar nicht vor. Die im­mer er­neu­ten Ant­wort­ver­su­che der Po­li­ti­ker und Öko­no­men glei­chen dem Spiel ei­ner Waa­ge, das ein end­lo­ses Aus­ta­rie­ren, ei­ne nie ganz er­folg­rei­che Su­che nach dem Gleich­ge­wicht dar­stellt. Ein ein­zi­ger Blick in die rea­len Ein­kaufs­zen­tren und die Kun­den­fo­ren des In­ter­nets sagt uns, daß ein er­heb­li­cher Teil der Leu­te im­mer noch über ziem­lich viel Geld ver­fügt und die­se vir­tu­el­len oder re­el­len Plät­ze als Er­satz für die im glo­ba­len We­sten leer ge­wor­de­nen oder ganz ver­schwun­de­nen Kult­stät­ten fun­gie­ren. Da­mit könn­te man ja auch zu­frie­den sein, oder? Je­der strebt nach sei­nem ei­ge­nen Glück, wie es das ver­nunft­ge­mä­ße Grund­ge­setz for­dert.

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Gräu­el der Ge­gen­wart ‑7/11-

(← 6/11)

Un­ter der Hand ha­be ich be­gon­nen, Ei­gen­schaf­ten zu be­rüh­ren, die mich an For­re­sters Es­say stö­ren. Muß das sein? Daß ich kei­ne Re­zen­sio­nen mehr schrei­be1, soll­te mich ei­gent­lich von dem (Selbst-)Zwang er­lö­sen, an Tex­ten her­um­zu­mä­keln, die ich im gro­ßen und gan­zen ziem­lich gut fin­de. Aber viel­leicht ha­be ich das Kind mit dem Bad aus­ge­schüt­tet und es er­ge­ben sich durch der­lei »Kri­tik« ja noch ein paar pro­duk­ti­ve Ge­dan­ken.

Ça m’intrigue, wie der Fran­zo­se sagt. Dies und je­nes macht mich stut­zig. Zu­nächst mehr die Aus­drucks­form als ein­zel­ne Aus­sa­gen oder Ar­gu­men­ta­ti­ons­li­ni­en. Wird über­haupt ar­gu­men­tiert? Nein, mei­stens nicht. Viel­mehr: Die Re­de er­gießt sich. Muß man ar­gu­men­tie­ren? Nicht un­be­dingt. Der Ter­ror der Öko­no­mie ist ein sehr rhe­to­ri­sches Buch; Rhe­to­rik ver­stan­den als Nei­gung, stets den Ef­fekt des Ge­sag­ten zu su­chen. In­hal­te wer­den nicht im Text­ver­lauf ent­wickelt, sie ste­hen vor­her fest und wer­den mit gro­ßem sprach­li­chem Auf­wand for­mu­liert, wie­der­holt, va­ri­iert. Das ist der Grund, wes­halb For­re­ster syn­tak­ti­sche Po­si­tio­nen stän­dig mehr­fach be­setzt. Ei­ne sol­che Schreib­wei­se nen­ne ich »rhe­to­risch«, oder auch »ba­rock«. Die­ses Ba­rocke ent­fal­tet sich in ei­nem selt­sa­men Wi­der­spruch zur Här­te und Di­rekt­heit der vor­ran­gi­gen Aus­sa­ge­inten­ti­on, die ei­ne – ich wür­de nicht sa­gen Kri­tik, son­dern De­nun­zia­ti­on des Neo­li­be­ra­lis­mus an­strebt. Die­se De­nun­zia­ti­on wird in zahl­lo­sen An­läu­fen ver­folgt: Das Buch be­la­gert mit sprach­li­chen Mit­teln ei­ne Fe­stung, die in der Wirk­lich­keit, al­so mit po­li­ti­schen Mit­teln, un­über­wind­lich scheint.

So wer­den zum Bei­spiel an ei­ner Satz­stel­le drei No­men ge­reiht (Ky­ber­ne­tik, Au­to­ma­ti­sie­rung, re­vo­lu­tio­nä­re Tech­no­lo­gien) und, im Prä­di­kat, zwei Ver­ben (sich da­von­steh­len, sich ver­schan­zen). In der­sel­ben Pas­sa­ge wird der Pa­ra­sit, zu dem die hand­fe­ste »Welt der Ar­beit« ge­gen­über der di­gi­tal-vir­tu­el­len Welt ge­wor­den ist, durch vier No­men cha­rak­te­ri­siert: 1. durch sein Pa­thos, 2. durch den Är­ger, den die­ser Pa­ra­sit macht, 3. durch sei­ne stö­ren­den »Ka­ta­stro­phen« und 4. durch die ir­ra­tio­na­le Hart­näckig­keit, mit der er auf sei­ner Exi­stenz be­steht, statt ein­fach zu ver­schwin­den. (Hin­ter die­ser pa­ra­si­tä­ren Ar­beits­welt ver­birgt sich »der Ar­bei­ter«, aber auch der Ar­beits­lo­se und letzt­lich – der Mensch.) Dar­auf fol­gen wei­te­re Sät­ze, die über­haupt nur noch No­men rei­hen, oh­ne prä­di­ka­ti­ve Ver­klam­me­rung: Nutz­lo­sig­keit, man­geln­de Wi­der­stands­kraft, Harm­lo­sig­keit… Und so wei­ter, ich könn­te je­de Men­ge Bei­spie­le brin­gen. Ei­ne An­zahl von un­ge­fähr gleich­be­deu­ten­den Ei­gen­schaf­ten wird wie­der­holt, um Nach­druck, Em­pö­rung, manch­mal auch Mit­ge­fühl zu er­zie­len. In wei­te­rer Fol­ge wie­der­ho­len sich dann auch die in­halt­li­chen Blöcke, die Aus­sa­ge­form wird tau­to­lo­gisch. Das Buch ist we­nig struk­tu­riert, nicht in Ka­pi­tel un­ter­teilt; was schon zu Be­ginn vor­ge­bracht wur­de, fin­det man in Va­ria­tio­nen auch in der Mit­te und am En­de.

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  1. Leopold Federmair: Kleine Ökonomie der Geschmacksbildung, in: Neue Zürcher Zeitung, 24. 6. 2016; eine längere Fassung hier unter dem Titel "Warum ich keine Literaturkritik mehr schreibe"

Gräu­el der Ge­gen­wart ‑6/11-

(← 5/11)

Der sprin­gen­de Punkt in For­re­sters Dar­stel­lung ist das Spär­lich­wer­den der Ar­beit und der Un­wil­le der mit dem The­ma be­faß­ten In­sti­tu­tio­nen, Mas­sen­me­di­en und Po­li­ti­ker, die­se Tat­sa­che an­zu­er­ken­nen und ihr Rech­nung zu tra­gen. Lie­ber tut man so, als sei die Ar­beits­lo­sig­keit ein vor­über­ge­hen­des Pro­blem, das man mit her­kömm­li­chen Me­tho­den lö­sen kön­ne. Un­ter­des­sen su­chen die Leu­te ver­zwei­felt nach Ar­beit oder se­hen sich ge­nö­tigt, so zu tun, als such­ten sie da­nach, oder sie er­fin­den auf ih­rem an­ge­stamm­ten Po­sten ei­gent­lich un­nö­ti­ge Ar­beits­auf­ga­ben, so daß sich der Streß, ob­wohl er ab­ge­baut wer­den könn­te, noch er­höht. Doch es wird For­re­ster zu­fol­ge auch in Zu­kunft viel zu we­nig Ar­beit und im­mer we­ni­ger da­von ge­ben. We­nig Ar­beit je­den­falls im her­kömm­li­chen, auf die Zei­ten der in­du­stri­el­len Re­vo­lu­ti­on zu­rück­ge­hen­den Sinn. Auch wohl­mei­nen­de Po­li­ti­ker, de­nen das Schick­sal der über­flüs­sig Ge­wor­de­nen ein An­lie­gen ist, hal­ten an der Idee der Ar­beit fest. Ur­sa­chen die­ser Si­tua­ti­on gibt es meh­re­re. For­re­ster nennt vor al­lem die Au­to­ma­ti­sie­rung, Ro­bo­ter­i­sie­rung und Di­gi­ta­li­sie­rung – heu­te wä­ren Künst­li­che In­tel­li­genz, deep lear­ning und Re­pro­duk­ti­on in­tel­li­gen­ter Ma­schi­nen hin­zu­zu­fü­gen –, de­ren ge­sell­schaft­li­che Fol­gen man seit der Nach­kriegs­zeit hät­te vor­her­se­hen kön­nen, hät­te man die da­mals er­schie­ne­nen Schrif­ten des Ky­ber­ne­ti­kers Nor­bert Wie­ner ernst­ge­nom­men. Trotz­dem be­klagt For­re­ster das Ver­schwin­den der Ar­beit nicht grund­sätz­lich. Im Ge­gen­teil, man kön­ne und sol­le dies als Be­frei­ung vom bi­bli­schen Joch – »im Schwei­ße dei­nes An­ge­sichts« etc. – be­grü­ßen; als Chan­ce, end­lich ei­ne freie Ge­sell­schaft zu er­rich­ten.

Schon Marx und En­gels hat­ten die Ver­kür­zung des Ar­beits­tags als Vor­aus­set­zung für ech­te De­mo­kra­tie ge­nannt; erst dann hät­ten die Ar­bei­ter ge­nü­gend freie Zeit, sich um die An­ge­le­gen­hei­ten der Po­lis zu küm­mern. Denkt man For­re­sters Aus­füh­run­gen wei­ter, liegt das Heil, wenn es denn ei­nes gibt, nicht so sehr in Ar­beits­zeit­ver­kür­zun­gen, wie sie in ei­ni­gen eu­ro­päi­schen Län­dern ge­gen En­de des 20. Jahr­hun­derts tat­säch­lich durch­ge­führt wur­den (in­zwi­schen hat sich die Ten­denz frei­lich wie­der um­ge­kehrt), son­dern im be­din­gungs­lo­sen Grund­ein­kom­men für al­le, das es den Men­schen er­mög­li­chen soll, ih­re Grund­be­dürf­nis­se zu be­frie­di­gen. Es ist zwei­fel­los ei­ne Iro­nie der Ge­schich­te, daß nicht je­ne Län­der, die im 20. Jahr­hun­dert den Kom­mu­nis­mus zu ver­wirk­li­chen ver­such­ten und ihn da­bei des­avou­ier­ten, die­ser Lö­sung nä­her­ka­men, son­dern der fort­ge­schrit­te­ne, tech­no­lo­gisch hoch­ent­wickel­te Ka­pi­ta­lis­mus. »Je­der nach sei­nen Fä­hig­kei­ten, je­dem nach sei­nen Be­dürf­nis­sen.« Wer krea­tiv sein will, kann das gern tun, und wenn er Geld da­mit ver­dient, auch recht. Ein aus­rei­chend do­tier­tes Grund­ein­kom­men für al­le wür­de die Vi­si­on von Marx und En­gels in die Pra­xis um­set­zen.

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Gräu­el der Ge­gen­wart ‑5/11-

(← 4/11)

Tho­mas Pi­ket­ty hat neu­er­dings ei­ne Men­ge De­tails zur Ana­ly­se und Kri­tik des heu­ti­gen Ka­pi­ta­lis­mus bei­getra­gen und so die em­pi­ri­sche Grund­la­ge für Über­le­gun­gen ge­stärkt, die For­re­ster oft ein we­nig oben­hin an­stell­te.1 Mit Zu­stim­mung le­se ich bei For­re­ster die Kenn­zeich­nung des Neo­li­be­ra­lis­mus als Denk­form, oder bes­ser ge­sagt: als tro­ja­ni­sches Pferd, das sich un­merk­lich über die Jah­re hin­weg in die Ge­hir­ne, die Ge­wohn­hei­ten, die Wer­te (und den Ver­zicht auf Wer­te), das zwi­schen­mensch­li­che Ver­hal­ten ein­ge­schli­chen hat. Erst auf­grund die­ser jah­re­lan­gen, mehr oder min­der sanf­ten, ideo­lo­gie­frei­en In­dok­tri­nie­rung wur­de es mög­lich, daß Ge­stal­ten wie der Im­mo­bi­li­en­hai Do­nald Trump oder der Me­di­en­mo­gul Sil­vio Ber­lus­co­ni ans Ru­der der Staats­macht ka­men. Sie ver­kör­pern je­nes neo­li­be­ra­le Per­sön­lich­keits­mo­dell, das wei­te Tei­le der Be­völ­ke­rung hoch­ach­ten und dem sie nach­stre­ben. Die nicht de­kla­rier­te Ge­walt der neo­li­be­ra­len Ideo­lo­gie war »so ef­fi­zi­ent, daß sich die po­li­ti­sche und wirt­schaft­li­che Land­schaft vor den Au­gen al­ler, doch oh­ne ihr Wis­sen, tief­grei­fend än­der­te, oh­ne daß da­durch ih­re Auf­merk­sam­keit oder gar Sor­ge ge­weckt wor­den wä­re.« Die Re­de ist von den acht­zi­ger und frü­hen neun­zi­ger Jah­ren des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts. »Das neue pla­ne­ta­ri­sche Sche­ma«, fährt For­re­ster fort, »setz­te sich un­be­merkt durch und konn­te so un­ser Le­ben be­herr­schen, oh­ne daß dies ir­gend­je­man­dem auf­fiel, au­ßer na­tür­lich den öko­no­mi­schen Kräf­ten, die es lan­ciert hat­ten.«

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  1. "Die Frage der Verteilung der Reichtümer ist zu wichtig, um allein den Ökonomen, Soziologen, Historikern und anderen Denkern überlassen zu werden", schreibt Piketty in der Einleitung zu Das Kapital im 21. Jahrhundert. "Sie interessiert jedermann, und das ist gut so." Diese Frage werde immer eine eminent subjektive und psychologische, politische, konfliktuelle Dimension haben, "die keine vorgeblich wissenschaftliche Analyse ruhigstellen kann. Zum Glück wird die Demokratie niemals durch die Expertenrepublik ersetzt werden." 

Gräu­el der Ge­gen­wart ‑3/11-

(← 2/11)

Im fol­gen­den wer­de ich ei­ne Rei­he von Punk­ten, von Fest­stel­lun­gen und Er­kennt­nis­sen an­füh­ren, de­nen ich leb­haft zu­stim­men möch­te. Und dies in der Ab­sicht, mei­ner ei­ge­nen ge­sell­schafts­be­zo­ge­nen Wahr­neh­mung Nach­druck zu ver­lei­hen, daß un­ser täg­li­ches Un­be­ha­gen nicht in er­ster Li­nie durch ei­nen un­be­re­chen­ba­ren, ex­tre­mi­sti­schen, oft re­li­gi­ös mo­ti­vier­ten, hi­sto­risch rück­wärts­ge­wand­ten Ter­ror be­dingt ist, son­dern ei­nem Ge­spinst aus selbst­ver­ständ­lich ge­wor­de­nen, sel­ten ins Be­wußt­sein drin­gen­den Gräu­eln gleich­kommt.

For­re­sters Buch ist nicht wis­sen­schaft­lich, es stellt auch nicht die­sen An­spruch. Es ist ein Es­say, der um ei­ne über­schau­ba­re An­zahl von The­men kreist und sich da­bei im­mer wie­der Ab­schwei­fun­gen er­laubt. Für ih­re Be­ob­ach­tun­gen und Er­klä­run­gen bringt For­re­ster we­nig kon­kre­te Be­le­ge, ih­re Ab­lei­tun­gen fol­gen kei­ner stren­gen Lo­gik und kei­nem aka­de­mi­schen Sche­ma. Trotz­dem – oder des­halb? – kann man aus heu­ti­ger Sicht sa­gen, daß sie zu­meist ins Schwar­ze trifft. Man muß kein Wirt­schafts­exper­te sein, um fest­zu­stel­len, daß der Fi­nanz­ka­pi­ta­lis­mus sich mehr und mehr von der Pro­duk­ti­on rea­ler Gü­ter ab­ge­ho­ben hat und daß dar­aus er­heb­li­che Pro­ble­me ent­ste­hen, die nicht nur die Mas­se der mehr oder we­ni­ger Be­sitz- und oft auch Ar­beits­lo­sen schwä­chen, die Rei­chen un­ver­hält­nis­mä­ßig stär­ken und zu glo­ba­len Kri­sen wie im Jahr 2008 füh­ren kön­nen. Man muß kein Fach­mann sein, um zu be­mer­ken, daß öko­no­mi­sche Pro­zes­se in den post­in­du­stri­el­len Ge­sell­schaf­ten wie Glücks­spie­le ab­lau­fen, bei de­nen ge­setzt, ge­wet­tet, ge­won­nen und ver­lo­ren wird, wo­bei die Spie­ler, die glo­bal play­ers, die Ein­fluß­fak­to­ren und Kon­tex­te selbst zu schaf­fen und zu kon­trol­lie­ren be­strebt sind (was ih­nen auf­grund der Hoch­kom­ple­xi­tät, der Un­über­schau­bar­keit, der Hoch­ge­schwin­dig­keit der Ab­läu­fe und der di­gi­ta­len Selbst­läu­fe nicht im­mer ge­lingt), so­fern sie über ge­nü­gend Macht und Geld­mit­tel ver­fü­gen. Auch auf die Ri­si­ken und un­er­wünsch­ten Ne­ben­wir­kun­gen der Di­gi­ta­li­sie­rung hat­te For­re­ster be­reits 1996 auf­merk­sam ge­macht, auch sie ha­ben in der Kri­se 2008 Be­stä­ti­gung ge­fun­den. Mas­sen­psy­cho­lo­gi­sche Fak­to­ren be­ein­flus­sen fi­nanz­wirt­schaft­li­che Ent­wick­lun­gen auf das stärk­ste. In ge­wis­sem Sinn ist »die Wirt­schaft« hal­lu­zi­na­to­risch ge­wor­den: Wäh­rend von (»wis­sen­schaft­li­chen«) Pro­gno­sen und (»kal­ku­lier­tem«) Ri­si­ko die Re­de ist »ar­bei­tet« sie mit Hoff­nun­gen und Ein­bil­dun­gen, mit Phan­ta­sien und Äng­sten. Me­dia­ti­sier­ter Sport und Pop­kul­tur, die heu­ti­gen Glanz­stücke je­ner Kul­tur­in­du­strie, de­ren An­fän­ge einst Hork­hei­mer und Ador­no be­schrie­ben, ge­hö­ren eben­so zu den be­vor­zug­ten Ein­sät­zen die­ser öko­no­mi­schen Ab­läu­fe wie die di­gi­ta­li­sier­te Por­no­gra­phie, der Han­del mit pri­va­ten Da­ten und na­tür­lich die Wer­bung, die nicht mehr nur da­zu dient, Pro­duk­te an den Mann zu brin­gen, son­dern selbst ein ab­ge­ho­be­ner Wirt­schafts­zweig ge­wor­den ist.

Wahr­schein­lich ist es, um wirt­schaft­li­che Pro­zes­se zu ver­ste­hen, so­gar bes­ser, kein Fach­mann und kei­ne Fach­frau zu sein, weil man als Au­ßen­ste­hen­der Ab­stand hat und sich nicht so leicht in die durch die Di­gi­ta­li­sie­rung ver­stärk­te und zum Dau­er­zu­stand ge­wor­de­ne Hy­ste­rie hin­ein­zie­hen läßt. Zu­mal die so­ge­nann­ten Öko­no­men, geht man nach ih­ren Kom­men­ta­ren in Ta­ges­zei­tung, oh­ne­hin nichts wis­sen. Glau­ben heißt nichts wis­sen (pfleg­te mei­ne Groß­mutter zu sa­gen); die so­ge­nann­ten Öko­no­men sind selbst nur Spe­ku­lan­ten, die an die­sem Psy­cho­spiel teil­neh­men, ob be­wußt oder un­be­wußt, vor­sätz­lich oder nicht.

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Gräu­el der Ge­gen­wart ‑2/11-

(← 1/11) Keh­re ich zu mei­nem frü­he­ren Re­zen­sen­ten­da­sein zu­rück, wenn ich mir jetzt das Buch von Vi­via­ne For­re­ster vor­neh­me? Ich hat­te, als ich es mir bei Ama­zon – hor­ri­bi­le dic­tu, aber in der ja­pa­ni­schen Pro­vinz gibt es kaum ei­ne an­de­re Mög­lich­keit, rasch an ein aus­län­di­sches Buch zu kom­men – be­stell­te, ein paar der Le­ser­kom­men­ta­re ge­le­sen, ...

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Gräu­el der Ge­gen­wart ‑1/11-

Als ich 1993 nach acht Jah­ren, die ich als »Lek­tor« an Uni­ver­si­tä­ten meh­re­rer Län­der ver­bracht hat­te, nach Öster­reich zu­rück­kehr­te, fand ich mich plötz­lich und zu mei­ner ei­ge­nen Über­ra­schung als Ar­beits­lo­ser wie­der: Ich ge­hör­te zum aka­de­mi­schen Sub­pro­le­ta­ri­at. Der Mann auf der Be­hör­de, die frü­her »Ar­beits­amt« hieß und mitt­ler­wei­le in »Ar­beits­markt­ser­vice« um­be­nannt wor­den war, was dem Geist der Zeit of­fen­bar bes­ser ent­sprach, warf ei­nen flüch­ti­gen Blick auf mei­ne Ak­te, um dann in der Um­gangs­spra­che mei­ner Her­kunfts­ge­gend zu be­mer­ken: »Das haut mich nicht vom Hocker.« Er mein­te da­mit mein mo­nat­li­ches Ein­kom­men, das ei­nem Be­trag von 1000 oder 1200 Eu­ro ent­spro­chen hat­te. Daß ich mich in die­sen drei Jah­ren wei­ter­ge­bil­det, drei Fremd­spra­chen er­lernt und die Grund­la­gen für mein künf­ti­ges li­te­ra­ri­sches Schaf­fen ge­legt hat­te, au­ßer­dem Bü­cher zu über­set­zen be­gon­nen hat­te, spiel­te für den Mann vom Ar­beits­markt­ser­vice kei­ne Rol­le, und auch ich wä­re in mei­ner Zer­knirscht­heit nicht auf die Idee ge­kom­men, sol­che »Lei­stun­gen« ins Tref­fen zu füh­ren. Der Mann wies mich le­dig­lich dar­auf hin, daß ich mich ernst­haft um ei­ne An­stel­lung zu be­mü­hen hät­te, und falls sich nichts er­ge­ben wür­de, was zu mei­nem »Pro­fil« paß­te, hät­te ich je­de mir vor­ge­schla­ge­ne Ar­beit an­zu­neh­men, zum Bei­spiel als Ern­te­hel­fer (25 Jah­re spä­ter wer­den Flücht­lin­ge und an­de­re Mi­gran­ten da­für ein­ge­setzt). Der Be­trag, den ich als »Ar­beits­lo­sen­geld« über­wie­sen be­kam, reich­te kaum für die Mie­te, die ich für mei­ne Frau und mich zu be­zah­len hat­te. Ich sah mich ge­zwun­gen, »Auf­trä­ge« an­zu­neh­men; Auf­trä­ge im ein­zi­gen Be­reich, in dem ich Kom­pe­ten­zen und zu­min­dest ein paar »Kon­tak­te« hat­te: Spra­che und Li­te­ra­tur.

Ich war mit ei­ner eben­falls aka­de­misch ge­bil­de­ten Aus­län­de­rin ver­hei­ra­tet, und die Be­hör­den, mit de­nen wir zu tun hat­ten, um ei­ne Auf­ent­halts­ge­neh­mi­gung für sie zu er­hal­ten, wa­ren ähn­lich ab­wei­send wie der Mann beim Ar­beits­markt­ser­vice. Es ging im­mer und aus­schließ­lich um die Hö­he mei­nes Ein­kom­mens (mei­ne Frau, die da­mals kaum Deutsch konn­te, ar­bei­te­te nur spo­ra­disch). Als ich auf die mitt­ler­wei­le an­ge­wach­se­ne Zahl mei­ner Bü­cher und Über­set­zun­gen hin­wies und ein paar da­von auf den be­hörd­li­chen Schreib­tisch leg­te, zeig­te sich ein eher ver­ächt­li­ches als mil­des Lä­cheln auf dem Ge­sicht des Be­am­ten.

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