Kürzlich erhielt ich eine Mail von einem leidlich bekannten österreichischen Publizisten und Kritiker, der mich für einen Wettbewerb des österreichischen Außenministeriums als »Widerpart« gewinnen wollte. Die Ausschreibung steht unter dem Motto: »Warum braucht Demokratie Literatur? Die Rolle der Kunst in Krisenzeiten.« Jeder teilnehmende Österreicher soll im Team mit einem Ausländer ihre jeweiligen »Projekte« über den Zusammenhang von Demokratie und Literatur vorstellen. Vermutlich sind Präsentationen, Workshops oder Seminare gemeint, die der Tendenz der (suggestiven) Frage des Wettbewerbs entsprechen.
Aus mehrfachen Gründen bin ich natürlich dafür der falsche. Zum einen habe ich überhaupt kein »Projekt«, Ich möchte kein Ziel erreichen, möchte niemanden überzeugen beispielsweise mehr zu lesen, oder, vermutlich wäre das noch besser, »das Richtige« zu lesen oder »das Falsche« zu meiden. Ich habe also keine Mission, bin, im wörtlichen Sinn, ein Idiot, ein Privatmann. Das ist der technische Einwand, der eigentlich jede weitere Diskussion beendet.
Ein zweite Einwand wäre grundsätzlicher Natur. Die Frage lautet nicht etwa »Warum braucht die Literatur Demokratie?« Das wäre auch töricht (siehe unten). Es geht um anderes. Genauer hingesehen ist »Warum braucht die Demokratie Literatur?« keine Frage, sondern impliziert bereits die Antwort. Es ist eine dogmatische Prämisse. Ein Zweifel ist nicht vorgesehen. Das löst bei mir Unbehagen aus.
»Der Eindruck, die etablierte Politik sei unfähig oder unwillig, die Probleme der Zeit zu lösen, ist eine Ursache für den Erfolg populistischer Parteien«, so schreibt Robin Alexander in seinem neuen Buch Letzte Chance auf Seite 338. Wer bis dahin gelesen hat, wundert sich. Denn dass die »etablierte Politik« – gemeint sind vor allem die Protagonisten der »Ampel«, aber auch die der letzten vier Jahre der Merkel-Regierung – größtenteils unfähig respektive unwillig zu konstruktiver Politik waren, ist nicht nur ein »Eindruck«, sondern es ist (bzw. war) handfeste Realität, wie auf nahezu allen der bis dahin zurückliegenden 337 Seiten in zum Teil ermüdend zu lesender Akribie ausgeführt wurde.
Robin Alexander: Letzte Chance
Überall stehen administrative, formale wie informelle Regularien und Regeln, die aus diversen Erwägungen heraus nicht angetastet werden (können), sachgerechten Lösungen im Wege. Das politische System nähert sich mit all seinen Ausdifferenzierungen, Ausnahmeregelungen, gegenseitigen Rücksichtnahmen bedingt durch persönliche Befindlichkeiten von sich wichtig nehmenden politischen Akteuren wie Fraktions- oder Parteivorsitzenden, Ministern, Staatssekretären, Parteiflügelvertretern und Lobbyvertretern der Dysfunktionalität. Wenn dann noch das gegenseitige, koalitionsbedingte Observieren nach dem Motto »Wer-macht-den-nächsten-Fehler?« auf den Plan tritt, wird vielleicht noch verwaltet, aber nicht mehr zukunftsfähig regiert.
Das Scheitern der sogenannten Ampel-Regierung war vorauszusehen. Die weltanschaulichen Differenzen der Parteien standen einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit von Anfang an im Wege. So hätte man dem politischen Konkurrenten seine Erfolge gönnen müssen, statt sich in krämerischem Kleinklein zu verbeißen, wie in einem wahrlich schillernden Beispiel gegen Ende der Ampel herausgearbeitet wird. Die Grünen wollten den Steuergrundfreibetrag um 312 Euro/Jahr anheben. Die FDP nun kam auf die Idee, »da die Inflation etwas höher ausfiel als prognostiziert […] den Betrag nun auf 324 Euro [zu] erhöhen.« Diesen Minimaltriumph gönnten die Grünen der FDP nicht. Und so »blockiert das FDP-Finanzministerium das Vorhaben des SPD-Arbeitsministeriums, um Druck auszuüben auf die ihrerseits blockierenden Ministerien der Grünen. Und das alles für 12 Euro Unterschied im Jahr, die man nicht versteuern muss. Regierungschaos wegen einem Euro pro Monat.« Aber Alexander schießt über das Ziel hinaus, wenn er als Gegenbeispiel Merkel anführt, die einst Dobrindt mit seiner »Ausländer-Maut«-Geschichte auflaufen ließ. »Dass diese Straßengebühr für nichtdeutsche Autofahrer am Ende vor europäischen Gerichten scheitern würde, war Merkel immer klar. Den Milliardenschaden für Steuerzahler nahm sie in Kauf. Der Koalitionsfrieden mit der CSU war ihr wichtiger.« Milliarden verschwendete Steuergelder um des lieben Friedens willen? Das kann doch nicht ernst gemeint sein, ein solches Verhalten als Blaupause für Koalitionsfrieden zu empfehlen.
Zu Beginn seines Buches mit dem vielsagenden Titel Unter Beobachtung stellt der deutsche Politikwissenschaftler Philip Manow eine scheinbar einfache Frage: »Hat es eigentlich vor – sagen wir – 1990 Feinde der liberalen Demokratie gegeben?« Denn man hört im politischen Diskurs immer häufiger, das die »liberale Demokratie« in Gefahr sei. Diese gehe, so Manow listig, inzwischen anscheinend »besonders oft von Wahlen aus, dem Prozess, der am engsten mit dem demokratischen System verbunden wird.« Vor allem, so möchte man ergänzen, wenn das (antizipierte) Resultat droht, das »falsche« zu sein. Verschiedentlich wird schon von der »Tyrannei der Mehrheit« gesprochen. Manow durchschaut diese Erregungen und fragt »wessen Demokratie eigentlich genau verteidigt wird, wenn ‘die’ Demokratie verteidigt wird.« Doch dazu später.
Festzustehen scheint: Rechtsstaatlichkeit, unveräußerliche Grundrechte und freie Wahlen (»elektorale Demokratie«) greifen in ihrer »Einfachheit und Statik« nicht mehr als alleinige Kriterien einer demokratischen Verfasstheit. Die Zuschreibung »liberal« speist sich aus einem »ganzen Kranz an Werten«, wie sie beispielsweise im »Global State of Democracy«-Index oder, relevanter, dem »Liberal-Democracy-Index« des »Varieties-of-Democracy«-Projekts der EU definiert sind. Letzterer wird in einem Appendix am Ende des Buches vom Autor untersucht und als ungeeignet verworfen, »sowohl um das Ausmaß der gegenwärtigen Krise der Demokratie, gerade wenn sie sich […] als Konflikt zwischen Exekutive und (Verfassungs-)Gerichtsbarkeit manifestiert, als auch um ihre Ursache zu verstehen.« Am Rande wird süffisant gefragt, warum die EU sich selber »nicht auf seinem Liberal-Democracy- oder einem Electoral-democracy-Index« bewertet habe. Und Dahrendorfs Bonmot, dass, wenn die die EU um Mitgliedschaft in der EU nachsuchte, diese »wegen ihres Mangels an demokratischer Ordnung abgewiesen« würde, findet sich immerhin in den Anmerkungen. Manows Skepsis an der demokratischen Verfasstheit der EU und deren Gründungsmythen, wird noch eine Rolle spielen.
Was ist also »liberale Demokratie«? Hilfsweise wird sie »in der Verbindung aus Parteienwettbewerb, Meinungsfreiheit, Wohlfahrtsstaatlichkeit und LGBTQ+-Rechten […] oder in Verbindung von freien Wahlen und Klimaschutz« definiert. Sie wird schließlich als »End- oder Kompromissprodukt zweier Strömungen verstanden, des Liberalismus einerseits: also Beschränkung von Herrschaft durch Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, subjektive Rechte […] und des Mehrheitsprinzips und der Volkssouveränität andererseits. […] Oder noch eine Abstraktionsstufe höher, nicht als Idee oder Ideologie, sondern als Wert: Freiheit vs. Gleichheit. Liberale Demokratie ist dann die Verbindung aus oder der Kompromiss zwischen beidem.«
Der aufklärerische Anspruch muss sein, dass die Individuen, die durch ihre Angst zu einer Masse zusammengebunden wurden, ihres Zustands einsichtig werden und die daraus erwachsenden Konsequenzen begreifen. Übermächtige Angst macht nicht nur gefügig, sie lässt die existenziellen Bindungen des Individuums als bedeutungslos erscheinen. * * * Die Angst entzieht dem Intellekt seine Kraft, sie schwächt ...
Die folgenden Einlassungen sind nicht geplant und ich vermag ihren Abschluss noch nicht abzusehen. Ich möchte an keine vorangegangene Diskussion anschließen oder eine aufwärmen, es scheint mir vielmehr so, dass ein inneres Drängen auf ein äußeren Zustand des Mangels trifft. Ich hoffe über den Anlass hinaus nachgedacht zu haben.
Nahezu alle meine Facebook-»Freunde« aus Österreich, die sich dort politisch äußern, waren und sind fast naturgemäß gegen die Regierung Kurz gewesen. Die Freude war entsprechend groß als es nun hieß, es gibt Neuwahlen. Man bezieht natürlich Position: Gegen Kurz, noch mehr gegen die FPÖ, eher neutral zur SPÖ. So weit, so bekannt.
Ich habe keine Lust, die Facebook-Threads zu sprengen. Daher frage ich hier im Blog: Wie stellt Ihr Euch eigentlich eine neue Regierung nach den Neuwahlen vor? Vorsicht, denn die Frage ist ehrlich gemeint!
Diese einleitenden Ausführungen sollen die Thesen aus Jan-Werner Müllers Buch »Was ist Populismus?« vorstellen. Dies soll so neutral wie möglich geschehen; wo dies nicht der Fall sein sollte und voreiliges Urteil hervorschimmert, bitte ich um Nachsicht.
Jan-Werner Müller: Was ist Populismus?
Inzwischen gibt es kaum noch eine Nachrichtensendung, die ohne den Begriff des »Populismus« aufkommt; meist in der Form als »Rechtspopulismus«, etwa wenn es um die österreichische FPÖ, den französischen Front National, die ungarische oder die polnische Regierung geht. Aber was ist eigentlich Populismus? Welche Folgen hat er, könnte er haben? Jan-Werner Müller, Lehrer für politische Theorie und Ideengeschichte in Princeton, möchte mit seinem Buch »Was ist Populismus?« abseits tagespolitische Aufgeregtheiten eine »kritische Theorie des Populismus« formulieren.
Bereits auf den ersten Seiten bilanziert er seine These: Populismus sei »der Tendenz nach zweifelsohne antidemokratisch«. Populisten gefährdeten die Grundprinzipien der repräsentativen Demokratie. Populismus sei »eine ganz bestimmte Politikvorstellung, laut der einem moralisch reinen, homogenen Volk stets unmoralische, korrupte und parasitäre Eliten gegenüberstehen«. Daher engagierten sich Populisten für plebiszitäre Elemente, aber, so die These, »Populisten interessieren sich gar nicht für die Partizipation der Bürger an sich; ihre Kritik gilt nicht dem Prinzip der politischen Repräsentation als solchem … sondern den amtierenden Repräsentanten, welche die Interessen des Volkes angeblich gar nicht vertreten.«
Es gibt laut Müller zwei essentielle Identifikationsmerkmale für Populismus, die ineinander greifen. Zum einen ist er antipluralistisch (nicht per se anti-institutionell). Und zum anderen nimmt er für sich und seine politischen Thesen die alleinige moralische Vertretung in Anspruch. Und so kommt es, dass, »wer sich ihnen [den Populisten] entgegenstellt und ihren moralischen Alleinvertretungsanspruch bestreitet«, »automatisch nicht zum wahren Volk« zugeschlagen und am Ende ausgegrenzt werde. Populisten sagen: »Wir – und nur wir – repräsentieren das Volk«, und das nicht als empirische, sondern als moralische Aussage.
Versuch einer Diskussionsgrundlage zur Neudefinition des Amtes
Im Rahmen der Bundespräsidentschaftswahl 2016 wurde das Amtsverständnis des Bundespräsidenten thematisiert; es ging dabei weniger um dessen weitreichende Kompetenzen, die manche Juristen als autoritär ansehen, sondern um die tatsächlich praktizierte Amtsführung in Zusammenhang mit der Veränderung der politischen Landschaft der zweiten Republik. In Österreich entstammte der Bundespräsident (bislang) fast immer einer der beiden Großparteien (SPÖ, ÖVP) und führte sein Amt (meist) zurückhaltend »im Schatten« häufiger großer Koalitionen (Kirchschläger war der einzige parteilose Kandidat der zweiten Republik). Wer bösartig sein will, kann sagen: Das Land war ohnehin aufgeteilt und der Bundespräsident wollte dabei nicht stören. Dies führte zu der Feststellung vieler Bürger, dass man ein solch konsequenzloses Amt nicht brauche und man sich das Geld dafür sparen könne; allerdings: eine solche Amtsführung muss nicht schon per se falsch sein, sie sollte allerdings begründet werden und in irgendeiner Beziehung zu den weitreichenden Kompetenzen des Amtes stehen (braucht es diese nun oder nicht und warum wurden sie – bestehend seit 1929 – nicht längst geändert, wenn sie der politischen Realität so gar nicht entsprechen?). Hieran schlossen die Diskussion nach der Wahl an: Wozu diese weitreichenden Kompetenzen, die letztlich vom persönlichen Willen (der Autorität) des jeweiligen Bundespräsidenten abhängen und zudem kaum bis nie genutzt wurden, wie das Notverordnungsrecht, das Recht die Regierung als Ganze zu entlassen, das Recht einen Landtag oder den Nationalrat aufzulösen (die ersten drei wurden nie angewendet, das letzte ein einziges Mal von Miklas im Jahr 19301).