»Die Wahrheit der Lügen«: mit diesem vielleicht doch etwas billigen Paradox im Buchtitel faßte Mario Vargas Llosa einst seine Essays zur Literatur zusammen. Fiktion ist etwas Ähnliches wie Lügen, aber doch nicht ganz, denn der Lügner gibt vor, die Wahrheit zu sagen, der Romancier aber nicht, jedenfalls sagt er sie nicht unmittelbar mit seinen Erfindungen. Allenfalls tut er das in einem tieferen Sinn, wo immer der liegen mag. So auch Vargas Llosas in seinen eigenen Romanen, die dem Leser die Illusion »lebensnaher« Figuren und Handlungen zu vermitteln suchen, was ihnen auch hervorragend gelingt, zum Beispiel in dem großangelegten und großartigen Gespräch in der Kathedrale, wo sehr viel schwadroniert wird.
In einem wörtlicheren Sinn arbeitete der Argentinier Manuel Puig mit Lügen. Aber auch bei ihm wäre nachzufragen: Welche Art von Lügen sind das? Sehr oft keine Lügen im strengen Sinn, sondern Illusionen, Ausweichmanöver gegenüber Tatsachen, Angst vor deren Folgen, wenn man ihnen ins Auge blickt. Es sind Selbsttäuschungen, kleine Betrugsmanöver, ein Klammern an den vermeintlichen Sinn (des Lebens usw.). Und oft auch Ideologeme, mehr oder minder billige Überzeugungen, vermittelt durch Massenmedien, durch Popkultur, durch – in Argentinien – schmalzige Tangos und auch durch Literatur, vor allem durch triviale, die dem Massenpublikum seinerzeit, als es noch kein Fernsehen gab, aus dem Radio zuströmte.
Aber wie kann sich dann in Literatur Wahrheit zeigen? Zum Beispiel durch Collage, durch die Vielfalt der Stimmen, die sich begegnen und überlagern, durch die Äquidistanz des Erzählers oder des Autors, der sich nicht einmischt, sondern die Stimmen neben- und gegeneinanderstellt. Genau darin besteht seine Kunst und sein Wahrheitsanspruch. Ein sehr spezifischer, künstlerischer Wahrheitsanspruch. Puigs Roman – La traición de Rita Hayworth, zu deutsch (wenn ich nicht irre): Der schönste Tango der Welt – ist wahr, weil gut gemacht.
Die kargen Romane Patrick Modianos, aber auch die opulenteren von Kazuo Ishiguro, unterscheiden sich wesentlich von denen der Generation Flauberts, aber auch von Joyce oder Döblin, indem sie stets einen Hof des Ungesagten um das Erzählte oder Angedeutete mitführen, d. h. »konstruieren« (das aber oft ganz unmerklich). »Much is left unsaid«. Ich weiß nicht, woher mir der der englische Satz zufliegt, denke aber nicht unbedingt an Hemingway und seine Spitze-des-Eisbergs-Theorie. Es ist ein starkes Bild, das der sichtbaren Spitzen, doch passender scheint mir das einer Aura, eines »halo« (wie die Franzosen sagen). Celans »Lichthof Bedeutung«, also wie in der Lyrik. Immer nur kleine Erhellungen, dazwischen Dunkelheit. Das alles nicht im altromantischen Sinn, sondern, wenn man so sagen kann, in erzähltechnisch Hinsicht. Wie funktioniert ein Roman? Indem mit Worten ein Raum ohne Worte geschaffen wird, gleichsam sein Unbewußtes, das der Autor weiß und uns aus strategischen Gründen nicht verrät. Wir, die Leser, können, wenn wir wollen, selber herumrätseln.
Weiß er es wirklich? Sind solche Autoren »allwissend«? Verschweigen sie etwas (vieles)? Für die Autoren, die ich hier im Auge habe, gilt das eher nicht. Sie arbeiten vielmehr mit ihrer Unwissenheit. Sie gehen aus vom Nichtverstehen, wollen den Bereich des Nichtverstehens womöglich reduzieren, wissen aber auch, daß das nie vollständig gelingen wird. Sie arbeiten mit Ahnungen. Vielleicht sind sie nicht einmal wissender als der Leser. Vielleicht ist manch ein Leser wissender als der Autor des Buchs, das er liest.
Kafka ist das Nonplusultra des erzählenden Schreibens im 20., vielleicht noch im 21. Jahrhundert. An diese These glauben viele, aber selten wird die Frage gestellt, was Kafka denn bewirkt hat, ob er Breschen geöffnet hat in der Literatur, oder besser: im Bereich literarischer, poetischer, imaginativer Sensibilität (an dem genauso der Leser teilhat). Eher wirkt Kafkas Werk monolithisch, seine ganze Schriftstellerexistenz ist ein besonderes, herausragendes, aber abgeschlossenes Kapitel. Bei Joyce ist das ganz anders, auf ihn kann man sich einlassen, mit seinem Werk mitgehen, wachsen, zum Fan werden, zum Spezialisten. In der New York Times stand unlängst ein Bericht über einen Lesekreis zum (prinzipiell unverständlichen) Finnegans Wake, der über Jahrzehnte ging und kürzlich zu einem glücklichen (?) Ende kam.
Transversale Reisen durch die Welt der Romane
Nichts gegen Namedropping. Man begegnet mal diesem, mal jenem, in der Literatur und Geisteswelt wie im richtigen Leben, mal flüchtiger, mal ernsthafter, es entstehen Verbindungen, Gemeinsamkeiten werden entdeckt, Verbindungen werden gelöst, neu geknüpft, oder auch nicht: Unterschiede festgestellt, Abgrenzungen vorgenommen. Freundschaften und Bekanntschaften. Und eben auch Feindschaften. Nicht alles paßt zusammen, nicht immer. Natürlich wünschen wir uns, daß mehr fällt als der Name. Vielleicht der Groschen, immer wieder einmal.
Alternative Traditionslinien aufzeigen, nicht immer dasselbe wiederkäuen. Transversale Reisen durch die Literaturgeschichte. Wie jene, die jetzt überall Frauen am Werk sehen in der Kunst, Musik etc. Freilich, das lohnt nicht immer, oft ist das ideologiegelenkt. Wie bei der »wiederentdeckten« Barocklyrikerin Sibylla Schwarz, die 17-jährig verstorben war. Nein, sie war eben kein weiblicher Rimbaud des 17. Jahrhunderts, sondern bestenfalls Mainstream, also mittelmäßig, hat halt die Regelpoetik eines Martin Opitz angewendet wie so viele andere, die man deswegen aber nicht »wiederentdecken« muß. Dichten war damals nichts anderes als eine Schulübung. Nur wenige ragen aus dem Mainstream, Gryphius, Fleming, Günther. Das alles, wirklich alles, zu lesen, war meine Beschäftigung, als ich ungefähr 23, 24 war. Sogar Sibylla Schwarz ist mir damals untergekommen, in der Herzog August-Bibliothek zu Wolfenbüttel.
Aber hier geht es um den Roman und darum, was von ihm bleibt. Transversale Blicke, Seitenblicke auf bescheidenere Werke, nicht immer nur die großspurigen, großmächtigen. Nicht der Großroman, eher die kleineren. Gaddis, Faulkner, Joyce, Proust, Musil, David Foster Wallace… all die Gewaltanstrengungen beeindrucken mich nicht mehr. Auch nicht die spielerische Gewalt eines Perec in La vie mode d‘emploi. Statt dessen die zugänglicheren Werke, etwa Le Grand Meaulnes von Alain-Fourier. Oder Patrick Modiano (na ja, ein Nobelpreisträger…).
Solche Transversalität bedeutet natürlich nicht, sich einfach eine Literaturliste zusammenzuwürfeln und dann die Bücher der Reihe nach zu lesen. Es bedeutet eher, sie »gleichzeitig« zu lesen, wobei gleichzeitig nicht im chronometrischen Sinn zu verstehen ist, sondern in einem organischen: Man liest sie alle in einem Zeit-Raum, der damit eine besondere Qualität annimmt. Es geht 1. darum, Ähnlichkeiten über historische Epochen, unterschiedliche Sprachen und Kulturen festzustellen, 2. darum, im selben Sinn Unterschiede festzustellen, 3. darum, sich Überraschungen zu öffnen und unvorhergesehene Erkenntnisse zuzulassen. Es ist also nicht das wissenschaftliche Prinzip des Aufstellens einer Hypothese, die dann bestätigt, ergänzt oder verworfen wird, und auch kein statistisch-quantitatives Prinzip, bei dem Korrelationen, Wiederholungen, Nachbarschaften berechnet werden, sondern ein qualitätsorientiertes und nur bedingt steuerbares Prinzip, das Kreativität in der Lektüre, als close reading und hermeneutischer Vorgang mit starker subjektiver Komponente verstanden, erlauben und fördern sollte.
Bannmeilen – Einen Roman in Streifzügen nennt die seit vielen Jahren in Paris lebende Anne Weber ihr neues Buch. Nach dem »rückblickenden Vorspiel« folgen 18 Kapitel, in denen (bis auf eine Ausnahme) eine namenlos bleibende Ich-Erzählerin zusammen mit dem befreundeten Filmregisseur Thierry durch die Pariser Banlieues, die Vorstädte, streift. Genauer: Es ist das Départment Seine-Saint-Denis, ...
2019 gewann die 1982 geborene Kärntnerin Julia Jost im Klagenfurter Bachmannpreis-Wettbewerb für ihre Erzählung Schakaltal den Kelag-Preis (das war damals ähnlich einer Bronzemedaille). Normalerweise werden derart erfolgreiche Texte rasch in fertige Bücher überführt, aber bei Jost mussten potentielle Leser fast fünf Jahre warten, bis heuer der fertige Roman vorliegt. Er trägt den zunächst schrecklichen, nach ...
Schon seit vielen Jahren galt bei den britischen Buchmachern der norwegische Autor Jon Fosse zum erweiterten Kreis der möglichen Literaturnobelpreisträger. Im Herbst 2023 sanken die Quoten immer deutlicher, so dass sich die Überraschung bei der Verkündung dann in Grenzen hielt. Fosse hat rund 40 Theaterstücke verfasst, schreibt Gedichte, Prosa, Kinderbücher und Essays. Er schreibt in Nynorsk, einer im 19. Jahrhindert aus traditionellen Dialekten konzipierten Sprache, die heutzutage nur von einer Minderheit von etwa 10–15% verwendet wird (die »Buchsprache« in Norwegen ist Bokmål). Sein Werk wurde bereits vor dem Nobelpreis in mehr als vierzig Sprachen übersetzt. Fosse selber übersetzte zahlreiche Werke englisch- und deutschsprachiger Autoren, darunter Franz Kafka, Thomas Bernhard und Peter Handke ins Norwegische. Seit 2022 ist er Mitglied der Deutschen Akademie der Künste in Berlin.
Seit mehr als zwei Jahrzehnten übersetzt Hinrich Schmidt-Henkel Fosses Bücher, die zu großen Teilen im Rowohlt-Verlag erschienen sind. Dort wurde im letzten Jahr der letzte Band seiner Heptalogie aufgelegt, allgemein als das Opus-Magnum Fosses bezeichnet. Das deutsche Feuilleton scheint Fosse allerdings den Nobelpreis nicht zu verzeihen. So konnte man neulich lesen, Fosse sei ein »Nobelpreisträger mit dem Rosenkranz-Tick«. Der Hang des Norwegers, seinen katholischen Glauben in einzelne Figuren und Handlungen einzubauen, wird pauschal als Interpretationsgerüst angeboten. Nun ist es fast unmöglich im sich progressiv gebenden, selbstgefälligen deutschen Literaturbetrieb mit dem Etikett des »christlichen« Autors auch nur annährungsweise zu reüssieren.
Lichtspiel ist von Daniel Kehlmann, hat fast 500 Seiten und ist ein Roman, genauer: eine spezielle Form von Künstlerbiographie. Im Zentrum steht der deutsche Filmregisseur Georg Wilhelm Pabst (1885–1967), der sich irgendwann G. W. Pabst nannte. Seit den 1920er Jahren galt Pabst zusammen mit Fritz Lang, Ernst Lubitsch und Friedrich Wilhelm Murnau als einer der ...
»Nicht ich, meine Herren Richter, ein Toter spricht aus meinem Mund.« Das ist der erste Satz dieses ungewöhnlichen Buchs mit dem Titel Ich? aus dem Jahr 1926, welches dankenswerter Weise nach fast einhundert Jahren wieder neu aufgelegt wurde. Es beginnt 1918 mit dem Ende des Krieges. Der Feldwebel Wilhelm Bettuch stolperte während des Rückzugs über die Leiche eines Doktor Hans Stern, eines »Gebildeten«. Fast ein bisschen schadenfroh, dass er, der Bäcker, im Gegensatz zum Arzt den Krieg überlebt hatte, nahm er den Pass des Toten reflexhaft an sich und schlüpfte mehr zerstreut als vorsätzlich geplant in die Rolle des Toten. Und so ertappte er sich dabei, nicht nach Frankfurt zurück zu fahren, zur Bäckerei seiner Mutter, sondern nach Berlin, wo Dr. Stern als Chirurg praktizierte und mit Frau Grete, dem kleinen Sohn und Hund Nero lebte.
Wie selbstverständlich wurde Wilhelm von Grete als Hans freudig empfangen und »ein blauer Strahl von unsäglicher Zärtlichkeit glänzte aus ihren Augen, und während Träne auf Träne unaufhaltsam über die Wange tropfte, öffneten sich die Lippen feucht und weich zu unlöslichem Kuss.« Er kann sein Glück nicht fassen, »es war alles Traum, ein Glück wie in der Luft, das gab es, man durfte nicht aufwachen, man musste sehr leise sein«. Er, der in der Schule unter seinem Namen gelitten hatte (»…in der Pause standen sie um mich, zogen mich an der Hose, an der Jacke, am Hemd. Bettuch, Tüchlein!«), gibt sich dieser wunderbaren Frau hin, die ihn liebt, »ich kann doch nichts dafür, dass ich schwach bin, dass ich sie liebe, ja, damals schon, sofort, ich sah ihr Gesicht und liebte sie und hatte keine Kraft, ihr zu sagen, dass ich es ja gar nicht war, dass sie einen anderen meinte mit ihren Küssen, einen andern liebte, einen andern, einen andern!«
Auch der stille Verehrer Gretes, Staatsanwalt Sven Borges, und die Freundin der Familie, Bussy Sandor, bemerkten nicht, dass ihnen ein anderer gegenüber stand. Nur der Hund biss ihn zur Begrüßung ins Bein. Insgesamt fügt sich Wilhelm problemlos ein. Nur manchmal kommt er sich wie Kaspar Hauser vor, »aus einem dunklen Keller, ich sehe Licht zum ersten Mal, zum ersten Mal einen Baum, eine Wolke, einen Stein, einen anderen Menschen, eine Frau, meine Frau, die Erinnerung kommt ganz langsam, man muss mir sehr viel Zeit lassen, ich bin wie krank, ich sehe alles ganz neu, ich erlebe alles zum ersten Mal.« In Bezug auf Grete entwickelt er, wie er erfährt, eine ähnliche Eifersucht wie Hans. Und er entdeckt »hinter der weißen Stirn« seiner Frau ihre »kleine Seele, krank«, sie »blutet aus tausend Wunden.« Groß die Überraschung als Bussy ihn in einem stillen Augenblick heimlich zu sich bestellte: Der Herr Doktor hatte ein Verhältnis mit ihr.
Auch als Arzt kam Wilhelm überraschend gut zurecht. Er nahm nach seiner Rückkehr die Arbeit sofort wieder auf, führte sogar eine Blinddarmoperation durch, freilich nicht ohne darüber nachzudenken, warum es diesen unnützen Appendix überhaupt gibt. Man setzt ihn als Gerichtsgutachter ein, schickt eine Blutprobe. Es soll untersucht werden, ob das Blut von der Angeklagten stammt oder, wie diese behauptet, von einem Hund. Mord oder Unfall? Eine einfache Untersuchung; er weiß sofort, was zu tun ist. Und das Ergebnis ist eindeutig.
Als er den Gerichtssaal betrat, staunte er nicht schlecht: Die Angeklagte war Emma Bettuch, seine Schwester, auch sie erkannte ihn, seinen Bruder, nicht und dieser hörte ihre Geschichte, ihre Reise nach Berlin, um Geld für die kranke Mutter zu verdienen, die Anstellung als Dienstmagd, die Aussicht, noch mehr als den Lohn zu erhalten, wenn sie sich dem Gutsherren hingeben sollte, was sie tat, »sie war beschmutzt, entehrt«, aber »es gab kein Geld«, und dann ihre Geschichte von diesem Hund, der den Mann in die Kehle gebissen hätte. Wilhelm/Hans wusste es besser, er wusste, es war Mord, aber er sagt etwas anderes, der Staatsanwalt, Sven Borges, der sich als Freund eingeschmeichelt hatte, gerät in Rage, aber »es ist alles gut, das Mädchen ist frei, sie geht schwankend hinaus, Emmchen, im Vorbeigleiten sehe ich ihre Züge, sie blickt mich an, sieht sie mich, mich, mich selbst?«