Die Über­wäl­ti­gung des Er­zäh­lers

Jon Fosse: Ein Leuchten

Jon Fos­se: Ein Leuch­ten

Schon seit vie­len Jah­ren galt bei den bri­ti­schen Buch­ma­chern der nor­we­gi­sche Au­tor Jon Fos­se zum er­wei­ter­ten Kreis der mög­li­chen Li­te­ra­tur­no­bel­preis­trä­ger. Im Herbst 2023 san­ken die Quo­ten im­mer deut­li­cher, so dass sich die Über­ra­schung bei der Ver­kün­dung dann in Gren­zen hielt. Fos­se hat rund 40 Thea­ter­stücke ver­fasst, schreibt Ge­dich­te, Pro­sa, Kin­der­bü­cher und Es­says. Er schreibt in Ny­n­orsk, ei­ner im 19. Jahr­hin­dert aus tra­di­tio­nel­len Dia­lek­ten kon­zi­pier­ten Spra­che, die heut­zu­ta­ge nur von ei­ner Min­der­heit von et­wa 10–15% ver­wen­det wird (die »Buch­spra­che« in Nor­we­gen ist Bok­mål). Sein Werk wur­de be­reits vor dem No­bel­preis in mehr als vier­zig Spra­chen über­setzt. Fos­se sel­ber über­setz­te zahl­rei­che Wer­ke eng­lisch- und deutsch­spra­chi­ger Au­toren, dar­un­ter Franz Kaf­ka, Tho­mas Bern­hard und Pe­ter Hand­ke ins Nor­we­gi­sche. Seit 2022 ist er Mit­glied der Deut­schen Aka­de­mie der Kün­ste in Ber­lin.

Seit mehr als zwei Jahr­zehn­ten über­setzt Hin­rich Schmidt-Hen­kel Fos­ses Bü­cher, die zu gro­ßen Tei­len im Ro­wohlt-Ver­lag er­schie­nen sind. Dort wur­de im letz­ten Jahr der letz­te Band sei­ner Hepta­lo­gie auf­ge­legt, all­ge­mein als das Opus-Ma­gnum Fos­ses be­zeich­net. Das deut­sche Feuil­le­ton scheint Fos­se al­ler­dings den No­bel­preis nicht zu ver­zei­hen. So konn­te man neu­lich le­sen, Fos­se sei ein »No­bel­preis­trä­ger mit dem Ro­sen­kranz-Tick«. Der Hang des Nor­we­gers, sei­nen ka­tho­li­schen Glau­ben in ein­zel­ne Fi­gu­ren und Hand­lun­gen ein­zu­bau­en, wird pau­schal als In­ter­pre­ta­ti­ons­ge­rüst an­ge­bo­ten. Nun ist es fast un­mög­lich im sich pro­gres­siv ge­ben­den, selbst­ge­fäl­li­gen deut­schen Li­te­ra­tur­be­trieb mit dem Eti­kett des »christ­li­chen« Au­tors auch nur an­näh­rungs­wei­se zu re­üs­sie­ren.

Mein Ein­stieg mit Jon Fos­se ist das schma­le Bänd­chen Ein Leuch­ten von noch nicht ein­mal 80 Sei­ten. Das 2023 in Nor­we­gen er­schie­ne­ne Buch trägt im Ori­gi­nal die Gen­re­bezeich­nung »Er­zäh­lung«. Par­al­lel und wo­mög­lich er­gän­zend zum Pro­sa­band hat­te Fos­se gleich­zei­tig das Thea­ter­stück Tief im schwar­zen Wald ver­fasst.

In Ein Leu­ten er­zählt ein Mann von ei­ner Au­to­fahrt, die er ab­seits der of­fi­zi­el­len Land­stra­ße fort­setzt. Er fährt ziel­los her­um, bis er im Wald an­kommt und plötz­lich das Au­to im Ge­län­de fest­steht. Er muss Hil­fe ho­len, aber wo? Erst jetzt fällt ihm auf, dass er an Häu­sern und Hö­fen vor­bei­ge­kom­men ist, die al­le­samt leer wirk­ten. Es be­ginnt zu schnei­en und die Däm­me­rung setzt ein. In el­lip­ti­schen Sät­zen ver­si­chert sich der na­men­los blei­ben­de Ich-Er­zäh­ler im­mer wie­der sei­ner La­ge. Da­bei kom­men­tiert er je­de sei­ner po­ten­ti­el­len Hand­lun­gen vor­her und nach­her. Sein Han­deln wirkt we­ni­ger über­legt, als le­thar­gisch. Schließ­lich steigt er aus dem Au­to und ver­sucht, Hil­fe zu ho­len. Aber in wel­che Rich­tung soll er ge­hen? Er ver­irrt sich im­mer mehr; ein­set­zen­der Schnee­fall und be­gin­nen­de Dun­kel­heit tun ein üb­ri­ges.

Plötz­lich be­merkt er ei­ne leuch­ten­de Ge­stalt in kur­zer Ent­fer­nung von sich. Der Er­zäh­ler weist sich sel­ber zur Ord­nung, glaubt, ab­wech­selnd zu träu­men oder zu hal­lu­zi­nie­ren. Er hat Angst, aber »ei­ne Angst oh­ne Furcht«. Schließ­lich spricht er die Ge­stalt an, die ihm sagt »ich bin, der ich bin«, was der Er­zäh­ler glaubt, schon ein­mal ge­le­sen zu ha­ben. Eben­so rasch wie sie ge­kom­men war, löst sich die leuch­ten­de Fi­gur wie­der auf. Er hat kei­ne Ah­nung, wie er zu­rück zum Au­to kom­men soll, hat voll­stän­dig je­de Ori­en­tie­rung ver­lo­ren. Kurz dar­auf ent­deckt er sche­men­haft zwei an­de­re Fi­gu­ren, die er als sei­ne El­tern iden­ti­fi­ziert. Sie re­den mit ihm, aber den Weg aus dem Wald wis­sen auch sie nicht, sind auch nicht be­son­ders in­ter­es­siert dar­an. Als sie wie­der ver­schwin­den, ist er er­schöpft, lauscht der Stil­le, »denn in der Stil­le ist Gott zu hö­ren« (die­sen Satz ver­wen­det Fos­se in sei­ner No­bel­preis­re­de). Er ruht sich aus, er­mahnt sich je­doch, in der Käl­te nicht ein­zu­schla­fen. Schließ­lich taucht noch ei­ne bar­fü­ßi­ge Fi­gur im schwar­zen An­zug auf. Das En­de ist my­stisch: Die leuch­ten­de Ge­stalt, die El­tern und er ver­schmel­zen »hin­aus ins Nichts«.

Der Le­ser ist hin- und her­ge­ris­sen; kurz glaubt man, ei­ne UFO-Ge­schich­te zu le­sen. Dann wie­der­um fühlt man sich an Schil­de­run­gen von Nah­tod­erleb­nis­sen er­in­nert (Fos­se hat als Kind ein sol­ches Er­leb­nis ge­habt). Na­tür­lich bie­tet sich die re­li­giö­se Deu­tung an. Oder hier er­zählt ein­fach je­mand aus dem Tod zu uns her­ab (oder her­auf). Aber wie kann je­mand »Ich« er­zäh­len, der ge­stor­ben ist oder in ei­ner an­de­ren Fi­gur auf­geht?

Christian Lehnert: Das Haus und das Lamm

Chri­sti­an Leh­nert: Das Haus und das Lamm

Ei­ne Ant­wort­mög­lich­keit er­gibt sich viel­leicht aus Chri­sti­an Leh­nerts im ver­gan­ge­nen Jahr er­schie­ne­nen Buch Das Haus und das Lamm mit dem Un­ter­ti­tel »Flie­gen­de Blät­ter zur Apo­ka­lyp­se des Jo­han­nes«. Leh­nert ist Dich­ter und Theo­lo­ge; seit mehr als 25 Jah­ren schreibt er Ly­rik, Pro­sa und Es­says bei Suhr­kamp. Sei­ne un­leug­bar theo­lo­gi­sche Aus­rich­tung macht ihn zu ei­nem Rand­gän­ger des Feuil­le­tons. Im­mer­hin er­hielt er 2018 den »Deut­schen Preis für Na­tu­re Wri­ting«, was nach der Lek­tü­re bei­spiels­wei­se des obi­gen Bu­ches nicht ganz ab­we­gig er­scheint.

Leh­nert ver­knüpft in Das Haus und das Lamm Er­zäh­lun­gen ei­nes am Ran­de des Erz­ge­bir­ges in ei­nem al­ten Fach­werk­haus le­ben­den, sich weit­ge­hend aut­ark aus den Gar­ten­pro­duk­ten er­näh­ren­den Ich-Er­zäh­lers, und des­sen in­tel­lek­tu­el­len Aus­ein­an­der­set­zung mit der bi­bli­schen Of­fen­ba­rung des Jo­han­nes. Ein­zel­ne Pas­sa­gen aus der Of­fen­ba­rung, die land­läu­fig als »Apo­ka­lyp­se« apo­stro­phiert wird, wer­den zi­tiert und in kom­plex for­mu­lier­ten Er­klä­run­gen, die sich so­wohl jen­seits theo­lo­gi­scher wie auch ex­ege­tisch-ra­tio­na­ler Aus­le­gun­gen be­we­gen ge­deu­tet.

An ei­ni­gen Stel­len liest man die be­wusst an­thro­po­morph for­mu­lier­te Be­schwö­run­gen des Er­zäh­lers, die ihn, al­so den Men­schen, als Ob­jekt der Bio­sphä­re cha­rak­te­ri­sie­ren, wel­ches von Bäu­men, In­sek­ten oder auch nur mor­schem Tot­holz wahr­ge­nom­men und da­mit zum Gast im ei­ge­nen Haus bzw. im Wald ge­macht wird. Der Mensch ist ein »Ober­flä­chen­krie­cher«, ein­ge­bun­den in ei­nen Kos­mos, den er we­der ver­steht noch je­mals durch­drin­gen kann. Die­se bis­wei­len an die Gren­zen der Ver­stö­rung ge­hen­den Pas­sa­gen, die so­wohl klas­si­sche theo­lo­gi­sche Leh­ren wie auch ei­ne evo­lu­tio­när ba­sie­ren­de Wis­sen­schafts­gläu­big­keit in­fra­ge stel­len, sind an­re­gend und be­ein­druckend, sol­len aber hier nicht wei­ter the­ma­ti­siert wer­den.

Re­le­van­ter für die The­ma­tik, die in der Fos­se-Er­zäh­lung er­scheint (!), ist Leh­nerts Aus­ein­an­der­set­zung mit der Jo­han­nes-Of­fen­ba­rung. Er si­tu­iert den im zeit­lo­sen Prä­sens schrei­ben­den, »raf­fi­nier­ten« Ich-Er­zäh­ler Jo­han­nes als Be­ob­ach­ter »au­ßer­halb sei­ner selbst«, als je­mand der tief im Ge­sche­hen ei­nes »ins Un­end­li­che auf­ge­zo­ge­nen Vor­hangs« schaue. Hier­in liegt ei­ne ver­blüf­fen­de Par­al­le­le zum Er­zäh­ler von Fos­se. Leh­nert de­fi­niert den Be­griff der Apo­ka­lyp­se nicht nur als Un­ter­gangs­er­zäh­lung, son­dern vor al­lem als ei­ne »Bloß­le­gung« von Bö­sem wie auch Gu­tem. Leh­nert holt mit sei­nen Be­mer­kun­gen die Of­fen­ba­rung des Jo­han­nes aus der Mot­ten­ki­ste dritt­klas­si­ger Ver­schwö­rungs­akro­ba­ten. Cha­rak­te­ri­stisch in bei­den Tex­ten ist die Über­wäl­ti­gung des Er­zäh­lers, die sich im »Re­frain des Nach­spre­chen­den« zeigt, dem Er­zäh­len im »wie« – des Ver­suchs, Wahr­neh­mun­gen für den Le­ser (und sich sel­ber) zu il­lu­strie­ren, fass­bar zu ma­chen. Auch dies gleicht Fos­ses Duk­tus.

Bei­de Er­zäh­ler sind »durch­läs­sig« – neh­men ei­ne Dop­pel­po­si­ti­on als Er­zäh­ler wie auch Teil­neh­mer ein. Sie schrei­ben ei­nen Schwel­len­text und be­die­nen sich da­bei be­kann­ter Be­grif­fe und My­then. Wäh­rend Jo­han­nes ein »Ge­län­der« (Leh­nert) als »Ge­we­be bi­bli­scher Zi­ta­te« strickt, knüpft Fos­se an mo­der­ne Nar­ra­ti­ve an. Wo­mög­lich bräuch­te man das zeit­gleich ver­fass­te Thea­ter­stück Fos­ses, um ein kom­ple­xe­res, li­te­ra­risch fun­dier­tes Ur­teil an­ge­ben zu kön­nen.

Fos­se hat in ei­nem In­ter­view mit Iris Ra­disch nach der No­bel­preis­aus­zeich­nung ge­sagt, dass er so wei­ter­schrei­ben wer­de wie bis­her. Recht so.

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