Ju­lia Jost: Wo der spit­zeste Zahn der Ka­ra­wan­ken...

Julia Jost: Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht

Ju­lia Jost: Wo der
spit­zeste Zahn der
Ka­ra­wan­ken in den
Him­mel hin­auf fletscht

2019 ge­wann die 1982 ge­bo­re­ne Kärnt­ne­rin Ju­lia Jost im Kla­gen­fur­ter Bach­mann­preis-Wett­be­werb für ih­re Er­zäh­lung Scha­kal­tal den Ke­lag-Preis (das war da­mals ähn­lich ei­ner Bron­ze­me­dail­le). Nor­ma­ler­wei­se wer­den der­art er­folg­rei­che Tex­te rasch in fer­ti­ge Bü­cher über­führt, aber bei Jost muss­ten po­ten­ti­el­le Le­ser fast fünf Jah­re war­ten, bis heu­er der fer­ti­ge Ro­man vor­liegt. Er trägt den zu­nächst schreck­li­chen, nach der Lek­tü­re aber kon­ge­ni­al er­schei­nen­den Ti­tel Wo der spit­zeste Zahn der Ka­ra­wan­ken in den Him­mel hin­auf fletscht.

Scha­kal­tal ist der kom­pri­mier­te Be­ginn des jet­zi­gen Ka­ra­wan­ken-Ro­mans. Die Schluss­sze­ne der elf­sei­ti­gen Er­zäh­lung fin­det sich im Buch auf Sei­te 25. Es ist ein Er­eig­nis, dass die Men­schen um den Gast­hof Gratsch­ba­cher Hof, ir­gend­wie in der Nä­he von Feld­kir­chen, Kärn­ten, »wo der spit­zeste Zahn der Ka­ra­wan­ken in den Him­mel hin­auf fletscht«, noch Jah­re spä­ter be­schäf­tigt und für ei­nen kur­zen Mo­ment kam es da­mals der Er­zäh­le­rin vor, »als wä­re die Welt auf­ge­braucht.«

Zu Be­ginn be­trach­tet die Ich-Er­zäh­le­rin, von der man nur den er­sten Buch­sta­ben des Vor­na­mens – ein J – er­fährt, ein Klas­sen­fo­to aus dem 1989. Sie war da­mals 7 Jah­re alt. Nicht auf dem Fo­to sind ih­re bei­den Brü­der Tho­mas und Jo­han, die neun bzw. vier Jah­re äl­ter sind. Da­bei war al­ler­dings der kurz zu­vor aus Ti­rol »emi­grier­te« Fran­zi Ruck, der da­bei er­wischt wur­de, wie er dem Pfar­rer in den ge­öff­ne­ten Mund hin­ein­pin­kel­te was als Grund für den Um­zug der Fa­mi­lie an­ge­ge­ben wird. Fran­zi hat es schwer in die Klas­sen­ge­mein­schaft auf­ge­nom­men und ak­zep­tiert zu wer­den, nicht zu­letzt bei J.

Ir­gend­wann fin­den die Kin­der ein Mes­ser des Groß­va­ters mit der In­schrift »Mei­ne Eh­re heißt Treue«. Beim Kni­fe-Game packt J die Angst und schleu­dert das Mes­ser in den na­hen Brun­nen. Die Al­ten wer­den to­ben, al­so muss das Mes­ser her­aus­ge­holt wer­den. Fran­zi will sich be­wei­sen und es ho­len. Man seilt ihn in den Brun­nen ab. Aber es kommt zur Ka­ta­stro­phe. Als man nichts mehr von dem Jun­gen hört, ruft man die Feu­er­wehr. Fran­zi ist tot – das Mes­ser steckt in sei­nem Bauch. Die Er­zäh­le­rin lässt im Lau­fe des Ro­mans vom Zu­stand der Lei­che über den Ob­duk­ti­ons­be­richt bis zur Be­er­di­gung im wei­ßen Bir­ken­sarg kein De­tail aus. Ein Bei­spiel für den Er­zähl­duk­tus die­ses Ro­mans: Pen­deln zwi­schen Tra­gik, Ko­mik und poe­ti­schen Mo­men­ten.

Vor­der­grün­dig er­zählt J fünf Jah­re nach dem Fran­zi-Er­leb­nis, aus dem Jahr 1994 her­aus, als Zwölf­jäh­ri­ge, was durch das Er­zäh­len im Prä­sens un­ter­stützt wird. Tat­säch­lich schwingt aber ei­ne wei­te­re Ebe­ne mit, in dem ei­ne er­wach­se­ne Frau ih­re Er­in­ne­run­gen zu wie­der­ho­len scheint. An­ders ist die zu­wei­len an­spruchs­vol­le Wort­wahl nicht zu er­klä­ren.

Suk­zes­si­ve ent­wickeln sich die Ge­schich­ten der ein­zel­nen Prot­ago­ni­sten. Et­wa die El­tern. Der Va­ter, Carl, ist acht Jah­re äl­ter als die Mut­ter Mar­ga­re­the, für die er sich da­mals hat­te schei­den las­sen. Für Mar­ga­re­the war die Hei­rat mit 21 ein Ent­kom­men aus der Do­mi­nanz ih­rer El­tern, die sie schon mit 12 ne­ben der Schu­le in der Gast­wirt­schaft ar­bei­ten lie­ßen. Sie konn­te nach der Hei­rat stu­die­ren, wur­de aber erst mit dem SPÖ-Par­tei­buch als Leh­re­rin ein­ge­stellt. Als es um den Di­rek­tor­po­sten ging, er­klär­te man ihr, dass sie als Frau da­für nicht ge­eig­net sei, was sie in die Onio­ma­nie trieb. Sie kann von nun an nicht an­ders als al­le mög­li­chen an­ti­qua­ri­sche Mö­bel zu er­stei­gern und sich da­bei als Auk­ti­ons­sie­ge­rin zu in­sze­nie­ren.

Der Va­ter ist Au­to­händ­ler; ein Self­ma­de-Un­ter­neh­mer, der es zu Wohl­stand brach­te. Sin­ni­ger­wei­se heißt er Kö­nig mit Nach­na­men. Auf das Geld braucht man nicht zu ach­ten. Zu Be­ginn der 1990er Jah­re steigt er dann in ein Groß­ge­schäft mit 50 LKWs für Ser­bi­en ein, was schließ­lich nur den »Ver­mitt­lern« half, wie ein klei­ner, aber ein­deu­ti­ger Ne­ben­satz ver­rät. Als ein von sei­ner Frau ge­kauf­tes Mö­bel beim Spie­len von den Kin­dern be­schmutzt wur­de, prü­gel­te er mit dem Gür­tel auf die nack­ten Hin­tern sei­ner Söh­ne (dass die Toch­ter, al­so die Er­zäh­le­rin, Ver­ur­sa­che­rin des Flecks sein könn­te, kam ihm nicht in den Sinn). Die­se An­lei­he an Ha­n­ekes Das wei­ße Band wird kon­ter­ka­riert durch die Ver­zweif­lung des Va­ters über den sich durch Kauf­lust ob­ses­siv aus­ge­leb­ten Nar­ziss­mus sei­ner Frau. Jo­han und Tho­mas, die bei­den Brü­der der Ich-Er­zäh­le­rin, wer­den stark idea­li­siert, wa­ren mit ih­ren lan­gen Haa­ren und locke­ren Be­klei­dun­gen ein­fach »schön« und pro­vo­zier­ten so man­chen Dorf­be­woh­ner.

J ver­birgt sich am Er­zähl­tag im Som­mer 1994, wäh­rend die Fa­mi­lie mit ei­nem mon­strö­sen Um­zugs mit fünf oder sechs LKWs vom Gratsch­ba­cher Hof, den man an Ber­li­ner ver­kauft hat­te, nach Klo­ster­berg (die Orts­an­ga­ben im Ro­man sind mal fik­tiv, mal re­al) be­schäf­tigt ist. Der Grund für den Um­zug liegt nicht zu­letzt dar­in, dass al­le Ge­bäu­de von den ge­kauf­ten Mö­beln über­quol­len und ei­nes Ta­ges der Va­ter ei­nen Ner­ven­zu­sam­men­bruch er­litt und sei­nen Mer­ce­des wol­lü­stig zer­stör­te, weil die­ser über Nacht von ei­nem Mö­bel­hau­fen be­gra­ben wor­den war. Zu­nächst liegt J un­ter ei­nem LKW, spä­ter sitzt sie für al­le un­be­merkt in ei­ner LKW-Fah­rer­ka­bi­ne. Hier hört sie das lang­sa­me Her­un­ter­zäh­len von ein­hun­dert auf null ih­rer be­sten Freun­din Lu­ca, die 1991 mit ih­rer Fa­mi­lie aus Bos­ni­en nach Kärn­ten kam.

Vor­der­grün­dig er­zählt ei­ne toll­küh­ne 12jährige mit be­tont kur­zen Haa­ren und ei­ner All­er­gie auf Kleid­chen über sich und ih­re Freund­schaft mit Lu­ca, dem kecken Emi­gran­ten­kind, dem man »Öster­rei­chisch« bei­gebracht hat­te. Man tauscht Küs­se und über­prüft das, was man in ei­nem »Sex­heft« sah. Die bei­den ha­ben ge­hei­me Rück­zugs­or­te, spie­len mit Holz­ge­weh­ren, in­sze­nie­ren Os­kar-Ver­lei­hun­gen.

Josts Buch er­scheint zu­nächst als Dorf­ro­man, der mit be­kann­ten Mo­ti­ven auf­war­tet. Na­tür­lich bau­melt je­mand am Strick, es gibt ei­nen un­ge­klär­ten Groß­va­ter-To­des­fall (die vier mög­li­chen To­des­va­ri­an­ten wer­den aus­ge­führt), Kat­zen wer­den in ei­nem Fluss er­tränkt, NS-De­vo­tio­na­li­en wie sa­kra­le Ge­gen­stän­de be­han­delt und der träu­me­ri­sche Jo­han wird von der »Land­ju­gend« ein­mal als »Schwuchtl« ver­or­tet, dem man ein­fach mal die Haa­re mit dem Tep­pich­mes­ser ab­schnei­det. Der Un­fall­tod Fran­zis ist ein kur­zer Wink­ler-Mo­ment, aber J ist ro­bust, nicht zu­letzt durch Lu­ca. Zur Ab­wechs­lung kom­men die Groß­el­tern ein­mal nicht so gut weg. Schließ­lich sympathisier(t)en die­se noch Jahr­zehn­te spä­ter mit der Na­zi-Zeit (und ein Opa las im­mer wie­der Sein und Zeit).

Im­mer­hin wer­den im Lau­fe des Ro­mans ei­ni­ge die­ser satt­sam be­kann­ten Bil­der de­mon­tiert und so manch ei­ne Fi­gur ist nicht das, was sie zu­nächst scheint. Da ist zum Bei­spiel Jo­sef Brug­ger, der »Focknhocker«-Bauer, ei­ne ver­wahr­lo­ste, ent­stell­te Ge­stalt, »dau­er­rau­schig«, et­was zwi­schen Dorf­idi­ot und Gru­sel­clown. So ist sein Ge­sicht die »er­ste Er­in­ne­rung über­haupt« der Er­zäh­le­rin. Die Pup­pe, die sie einst von ihm ge­schenkt be­kam, er­tränk­te J im »Katzl­teich«. Aber auf ih­rem er­sten und ein­zi­gen Aus­flug mit ih­rem Bru­der Tho­mas in den Gail­ta­ler Al­pen, zur win­di­schen Ka­pel­le auf dem Do­bratsch, der in ei­ner wun­der­ba­ren, poe­ti­sie­ren­den Stim­mung er­zählt wird, wird die Le­bens­ge­schich­te des Fock­nhockers er­zählt. Wie die­ser vom ver­hass­ten Va­ter, der ihn im­mer wie­der ver­prü­gel­te, aus­riss und halb ver­zwei­felt, halb mu­tig zu den slo­we­ni­schen Par­ti­sa­nen ging. Aus Jo­sef wur­de Lo­j­ze, der für sei­ne Ka­me­ra­den Le­bens­mit­tel stahl und für sie koch­te. Kämp­fen las­sen woll­te man ihn nicht, weil der Va­ter ihm schon ei­nen Fin­ger ab­ge­schnit­ten hat­te. Als er 1943 er­wischt wur­de, kam er ins KZ, grü­ner Win­kel, Zwangs­ar­beit am Ka­ra­wan­ken­tun­nel. Als al­les zu­sam­men­brach, kam er frei, wä­re fast noch von an­de­ren Par­ti­sa­nen er­schos­sen wor­den, ging zu­rück zu sei­nem Va­ter und er­mor­de­te ihn. Ein Le­ben, das man so schnell nicht ver­gisst.

Auch die Lo­kal­po­li­tik der 1990er fin­det Ein­lass, in Per­son ei­nes ge­wis­sen Ger­not Pfandl, einst bei der Frei­wil­li­gen Feu­er­wehr, dann Ge­mein­de­bür­ger­mei­ster und, wenn man es rich­tig ver­stan­den hat, spä­ter Par­tei­chef. Die Par­tei und auch die Fi­gur wei­sen hier und da Zü­ge der FPÖ bzw. von Jörg Hai­der (oder wo­mög­lich ei­nem an­de­ren »blau­en« Po­li­ti­ker) auf. Aber selbst er, der Spezl-Po­li­ti­ker und Strip­pen­zie­her, wird in ei­nem Mo­ment lei­dend ge­zeigt, als er sich an den to­ten Fran­zi schau­dernd er­in­nert, den er Jah­re zu­vor ge­bor­gen hat­te.

Bis­wei­len wird (si­cher­lich ab­sich­tig) die Schwel­le zum Kla­mauk über­schrit­ten, et­wa wenn öf­fent­lich Beich­ten am Stamm­tisch beim Pfar­rer Don Mar­co ge­hal­ten wer­den. Auch die Jagd­ge­sell­schaft, die sich zwei Mal im Jahr in der Gast­wirt­schaft traf, be­kommt ka­ri­ka­tures­ke Zü­ge. Bei der Bür­ger­mei­ster­wahl gibt es ein gro­ßes Rät­sel­ra­ten, wer die ei­ne Stim­me für die Kom­mu­ni­sten ab­ge­ge­ben hat – der Kan­di­dat sel­ber war es, wie man er­fährt, nicht. Bleibt ei­gent­lich nur der Fock­nhocker.

Merk­wür­dig, wie die­se he­te­ro­ge­ne Ge­sell­schaft am Schluss un­ter frei­em Him­mel ein fried­li­ches Fest für die ab­rei­sen­de Fa­mi­lie fei­ert. In den Mo­men­ten des Ab­schieds ge­lingt für kur­ze Zeit so et­was wie ei­ne Ge­mein­schaft jen­seits al­ler Dif­fe­ren­zen. Der Ro­man en­det mit der Ab­fahrt des Kon­vois und John­ny Cashs One Pie­ce At A Time. Der Prot­ago­ni­stin ge­mäß wird die Tren­nung der Freun­din­nen oh­ne Sen­ti­men­ta­li­tät er­zählt.

Viel­leicht ist der Ro­man ei­ne Spur zu süf­fig ge­schrie­ben, im­mer blit­zen sze­nen­wei­se groß­ar­ti­ge, poe­ti­sche Mo­men­te auf. Der Ver­lag wirbt mit dem häss­li­chen Wort vom »Coming-of-age«-Roman. El­frie­de Je­li­nek, bei der sich Ju­lia Jost be­dankt, spricht von »hei­te­rer Bös­ar­tig­keit«, was At­mo­sphä­re und Stil tref­fen­der be­schreibt. Die Au­torin kann dem Zeit­geist nicht wi­der­ste­hen und outet ih­re Prot­ago­ni­stin als »que­er«. Who ca­res? Und ja, ich möch­te so­fort wis­sen, wie es wei­ter­geht.

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