Flo­ri­an L. Ar­nold: Die Zeit so still

Al­le sind ein­ge­schlos­sen. Die Tü­ren be­kommt man nicht mehr auf. Al­le zwei Ta­ge gibt es Le­bens­mit­tel­ra­tio­nen bzw. das, was man als Le­bens­mit­tel de­kla­riert. Der Grund ist ein ma­ro­die­ren­des To­des­vi­rus. Die zwei­te, drit­te, wer­weiß­wie­viel­te Wel­le. Da ist von der »gro­ßen In­ter­nie­rung« die Re­de, dem Kon­trol­lie­ren, den Vi­deo­ka­me­ras. Durch­sa­gen pras­seln in den öf­fent­li­chen Raum, »Er­mah­nung und Er­mun­te­rung«, ...

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Pe­ter Fab­jan: Ein Le­ben an der Sei­te von Tho­mas Bern­hard

Peter Fabjan: Ein Leben an der Seite von Thomas Bernhard
Pe­ter Fab­jan: Ein Le­ben an der Sei­te von Tho­mas Bern­hard

Auf Twit­ter gibt es ei­nen Teil­neh­mer, der sich »Tho­mas Bern­hard« nennt und ein Fo­to des 1989 ver­stor­be­nen Schrift­stel­lers im Pro­fil trägt. Er folgt nur drei an­de­ren Teil­neh­mern (ei­nem Twit­ter-Nach­rich­ten­por­tal zu Tho­mas Bern­hard so­wie dem Re­si­denz- und dem Suhr­kamp-Ver­lag; merk­wür­di­ger­wei­se nicht Jung und Jung) aber ihm fol­gen über 6.700 User. Der Na­me ist »dai­ly­bern­hard« und so gibt es seit Mai 2015 auch mehr oder we­ni­ger re­gel­mä­ßig ei­nen Spruch von T.B. aus ir­gend­ei­nem sei­ner Bü­cher oder den zahl­rei­chen In­ter­views. Die An­ga­be der je­wei­li­gen Quel­le un­ter­bleibt; ei­nen Kon­text gibt es da­mit na­tur­ge­mäß nicht. Von der recht­li­chen Kom­po­nen­te ein­mal ab­ge­se­hen, stellt sich vor al­lem die Fra­ge, wem da­mit ge­dient ist. Ver­mut­lich steckt da­hin­ter ein Tho­mas-Bern­hard-Schwär­mer, je­mand, der si­cher­lich zu je­der (welt-)politischen La­ge (wo­her auch im­mer) ein tref­fen­des Zi­tat sei­nes Mei­sters an­brin­gen kann. Das ist un­ter­halt­sam, kei­ne Fra­ge. Aber es re­du­ziert das Werk ei­nes Dich­ters auf das Ni­veau ei­nes Apho­ris­mus­schrei­bers, der zum Bei­spiel bis­wei­len ge­lun­gen den öster­rei­chi­schen Bun­des­kanz­ler zu ka­ri­kie­ren scheint, ob­wohl der in Wirk­lich­keit noch nicht ein­mal drei Jah­re alt war, als Tho­mas Bern­hard starb.

Egal, wer­den die Bern­hard-En­thu­sia­sten sa­gen, Haupt­sa­che, der Dich­ter bleibt prä­sent. Denn in­zwi­schen hat so ziem­lich je­der, der in sei­nem Le­ben mit Tho­mas Bern­hard (1931–1989) et­was zu tun hat­te, über ihn be­rich­tet und ent­hüllt. Da ist es nur lo­gisch, dass Bern­hards Halb­bru­der, der ehe­ma­li­ge In­ter­nist und Nach­lass­ver­wal­ter Pe­ter Fab­jan (*1938), jetzt end­lich auch sei­nen »Rap­port« ab­gibt. »Ein Le­ben an der Sei­te von Tho­mas Bern­hard« ist der Ti­tel die­ses Büch­leins, das mit zahl­rei­chen Fo­tos aus­ge­stat­tet, vor ei­ni­gen Ta­gen im Suhr­kamp-Ver­lag er­schie­nen ist.

Fab­jans Buch ist al­ler­dings we­ni­ger ein Rap­port als ei­ne Text­samm­lung. Aus­führ­lich wer­den die Fa­mi­li­en­ver­hält­nis­se un­ter de­nen Bern­hard auf­wuchs ge­schil­dert. Die Mut­ter starb früh und war psy­chisch la­bil; der leib­li­che Va­ter, der die Va­ter­schaft nie an­er­kannt und eben­falls früh starb, ein Trun­ken­bold. Fab­jan wid­met je­der Per­son bis hin­ein in die Tan­ten und On­kel ei­ne skiz­zen­haf­te Le­bens­be­schrei­bung. Er kon­sta­tiert tra­gö­di­en­haf­te Zü­ge in der Fa­mi­li­en­ge­schich­te.

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Mo­ni­ka Ma­ron: Bon­nie Pro­pel­ler

Monika Maron: Bonnie Propeller
Mo­ni­ka Ma­ron:
Bon­nie Pro­pel­ler

Der Hund »Mo­mo« der 79jährigen, al­lein­le­ben­den Ich-Er­zäh­le­rin in Mo­ni­ka Ma­rons neue­ster Er­zäh­lung »Bon­nie Pro­pel­ler« ist ver­stor­ben (be­zie­hungs­wei­se: er wur­de ein­ge­schlä­fert). Da ein Le­ben oh­ne Hund für sie viel­leicht mög­lich, aber nicht er­stre­bens­wert ist, zu­mal wenn ein Hund den Tag der schrift­stel­le­risch tä­ti­gen Er­zäh­le­rin bes­ser struk­tu­riert, sucht sie ei­nen neu­en Ge­fähr­ten. Fün­dig wird sie bei ei­nem Ver­ein, der Hun­de aus Ost­eu­ro­pa her­an­holt. War­um die­se Pro­ve­ni­enz bleibt im Dun­keln. Im­mer­hin sieht der Hund auf dem Vi­deo pas­sa­bel aus. Dies­mal soll es kein Rü­de sein, son­dern ei­ne Hün­din. Ganz ein­fach ist der Kauf al­ler­dings nicht. Man muss ei­nen Fra­ge­bo­gen aus­fül­len, ob man über­haupt in der La­ge ist, ei­nen Hund art­ge­recht zu hal­ten und am En­de gibt es noch ein Ge­spräch. Ei­nen klei­nen Feh­ler macht die Er­zäh­le­rin, als sie ihr Ge­burts­jahr irr­tüm­lich, wie sie be­tont, zehn Jah­re jün­ger macht. Wer weiß, ob sie sonst den Hund be­kom­men hät­te.

Die »Lie­fe­rung« er­folgt un­ter kon­spi­ra­ti­ven und kom­pli­zier­ten Um­stän­den. Zu­nächst muss sie, in Ber­lin le­bend, früh mor­gens auf ei­nem Park­platz in Mün­chen sein. Als sie an­kommt, stellt sich her­aus, dass der Wa­gen ei­ne Pan­ne hat­te. Ein paar Wo­chen spä­ter klappt dann die Über­ga­be; dies­mal in Ber­lin, um 5 Uhr mor­gens.

Die Ent­täu­schung ist groß: »Pro­pel­ler«, so heißt sie, ist häss­lich, hat »zwei ka­mel­höcker­ähn­li­che Hüft­pol­ster, al­les über­wu­chert von ei­nem grau­schwar­zen, stump­fen Fell« und ist ver­narbt von ei­ner Ope­ra­ti­on. Ein un­för­mi­ges, dackel­ähn­li­ches Fell­ge­bil­de. Das Vi­deo war ge­schönt. Sie wägt ab, will den Hund zu­rück­ge­ben, be­hält ihn dann doch, gibt ihm den Na­men »Bon­nie« und be­ginnt sanft mit der Ab­rich­tung, wo­bei er sich als über­ra­schend ge­leh­rig zeigt. Der Na­me »Pro­pel­ler« fin­det auch ei­ne Auf­klä­rung in des­sen Freu­den­tau­mel-Vol­ten. Nach Di­ät und dem Ge­lin­gen ein­fa­cher Er­zie­hungs­maß­nah­men möch­te sie ihn nicht mehr mis­sen. »Bon­nie war nied­lich. Nied­lich, rüh­rend und ängst­lich.«

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Wal­ter E. Rich­artz: Bü­ro­ro­man

Walter E. Richartz: Büroroman
Wal­ter E. Rich­artz:
Bü­ro­ro­man

Auf­merk­sam ge­wor­den auf Wal­ter E. Rich­artz wur­de ich durch Wolf­gang Welts Re­zen­si­on von »Rei­ters west­li­che Wis­sen­schaft«, dem letz­ten Ro­man des 1980 durch Frei­tod aus dem Le­ben Ge­schie­de­nen. Welt er­wähnt in sei­nem Text von 1981, den er in­ter­es­san­ter­wei­se mit dem Hand­ke-Ti­tel »Lang­sa­me Heim­kehr« über­schreibt, nur kurz den »Bü­ro­ro­man« von Rich­artz, aber da es in der (deutsch­spra­chi­gen) Li­te­ra­tur re­la­tiv we­nig Be­zü­ge zu Bü­ro­an­ge­stell­ten gibt (die häu­fig ge­nann­te »Abschaffel«-Trilogie von Wil­helm Gen­a­zi­no 1977–79 zählt ei­gent­lich nicht, weil die Haupt­fi­gur ei­ne eher in­tel­lek­tu­ell-skur­ri­le Per­sön­lich­keit dar­stellt), woll­te ich zu­nächst die­ses Buch le­sen.

Die Erst­pu­bli­ka­ti­on des »Bü­ro­ro­mans« ist von 1978; die Dio­ge­nes-Aus­ga­be von 2007 folgt die­ser auch in der al­ten Recht­schrei­bung. Er be­ginnt als lau­ni­ge Sa­ti­re im Er­zähl­stils ei­nes Con­fé­ren­ciers, der dem Pu­bli­kum wie auf ei­ner Büh­ne das 26 m² gro­ße Bü­ro­zim­mer Num­mer 1028 der (na­tür­lich fik­ti­ven) »DRAMAG« (»Deut­sche Regler‑, Ar­ma­tu­ren- und Meßgeräte‑A.G.«) in Frank­furt am Main-Ost vor­stellt. Dort sit­zen Wil­helm Kuhl­wein (23 Jah­re Be­triebs­zu­ge­hö­rig­keit), Frau Klatt (drei Jah­re we­ni­ger) und, seit drei Mo­na­ten, Fräu­lein Mau­ler. Sie ar­bei­ten im Rech­nungs­we­sen, sind be­schäf­tigt mit Ko­sten­stel­len­bu­chun­gen für die Er­mitt­lung der Ko­sten streng ge­trennt nach Ab­tei­lun­gen, die wie ei­ge­ne Fir­men be­han­delt wer­den – das, was man spä­ter »Pro­fit-Cen­ter« nen­nen soll­te. 41 Stun­den-Wo­che, Ko­sten­stel­le 68045. Drei Men­schen im Bü­ro, ei­ne Schreib­ma­schi­ne, ein Te­le­fon (auf ei­nem Te­le­fon­arm), ein Wasch­becken mit drei Hand­tü­chern, zwei Stem­peln (»EILT« und ERLEDIGT«), Schreib­tisch­un­ter­la­gen (in »SKAI«), je­de Men­ge Ak­ten­schrän­ke mit Ord­nern, Spin­den und die ob­li­ga­to­ri­sche Ur­laubs­kar­ten­wand. Sin­ni­ger­wei­se gibt es am En­de des Bu­ches ei­ne In­ven­tur­li­ste über all die Ge­gen­stän­de (vie­le aus Ba­ke­lit), die es in den 1970er Jah­ren in Bü­ros so gab, un­ter an­de­rem auch die Tin­ten­wip­pe, die man zwar schon da­mals nicht mehr brauch­te, die aber aus Tra­di­ti­on im­mer noch in den Schrän­ken auf­zu­fin­den war.

Zu­nächst wird je­doch ein Ar­beits­tag aus die­sem Zim­mer 1028 er­zählt, von der (un­be­zahl­ten) Früh­stücks­pau­se über die Pro­ze­du­ren beim Mit­tag­essen (in der Kan­ti­ne gab es nur ein Ge­richt – die An­ge­stell­ten müs­sen in Schich­ten ge­hen) bis zum se­kun­den­ge­nau­en Auf­bruch in den Fei­er­abend nebst »In­du­strie­sum­men« nach dem lee­ren Ge­bäu­de. Man be­kommt das Wort »Mit­ar­bei­ter« er­klärt und wird in die Un­ter­schie­de zwi­schen den ein­zel­nen Be­to­nun­gen des Wor­tes »Mahl­zeit« ein­ge­weiht, be­vor die Va­ri­an­ten von Kau­rhyth­men und Schmatz­ge­räu­schen beim Kan­ti­nen­es­sen se­ziert wer­den. Köst­lich die Sze­ne­rien des an­schlie­ßen­den Mit­tag­schla­fes – ent­we­der auf dem dann nicht mehr ganz so stil­len Ört­chen oder ein­fach auf­recht sit­zend im Bü­ro. Es wird ge­raucht, aber er­staun­lich we­nig ge­trun­ken. Was­ser gilt als exo­ti­sches Ge­tränk, Kuhl­wein nimmt Nes­ca­fé, mehr aus Ge­wohn­heit.

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Durs Grün­bein: Jen­seits der Li­te­ra­tur

Durs Grünbein: Jenseits der Literatur
Durs Grün­bein:
Jen­seits der Li­te­ra­tur

Die so­ge­nann­ten Ox­ford Lec­tures am St. Anne’s Col­lege gibt es seit 1993. Es sind Ein­la­dungs­vor­le­sun­gen, in de­nen im wei­te­sten Sinn in­ter­dis­zi­pli­när über Li­te­ra­tur und de­ren Be­deu­tung re­flek­tiert wer­den soll. Fach­leu­te nen­nen das »Kom­pa­ra­ti­stik«. Ge­or­ge Stei­ner und Um­ber­to Eco ge­hör­ten zu den Vor­tra­gen­den wie auch Amos Oz, Ma­rio Var­gas Llosa und Bern­hard Schlink (der auf der Web­sei­te »Ber­nard« heißt). 2019 wur­de die­se Ein­la­dung Durs Grün­bein zu­teil. Die vier Vor­le­sun­gen lie­gen nun als Buch­form vor, was bei den Vor­le­sun­gen an­de­rer Au­toren bis­her eher sel­ten der Fall war.

Der Ti­tel »Jen­seits der Li­te­ra­tur« ist, wenn man am En­de al­les ge­le­sen hat, ein­leuch­tend. Er ist pro­gram­ma­tisch. Der in­ter­dis­zi­pli­nä­re An­satz wird von Grün­bein voll aus­ge­reizt. Zwi­schen­zeit­lich hat man eher das Ge­fühl in ei­nem Ge­schichts­se­mi­nar zu sit­zen. In der er­sten Vor­le­sung er­in­nert sich Grün­bein an die Hit­ler-Brief­mar­ken, die er einst in sei­nem Brief­mar­ken­al­bum sor­tiert hat­te. Es gab sie in vie­len Far­ben, je nach Wert. Be­reits da­mals stell­te sich ei­ne Mi­schung aus Gru­seln und Ehr­furcht ein. Er er­zählt kurz von ei­nem Made­lai­ne-Er­leb­nis, wenn er Brief­mar­ken­al­ben heu­te sieht um dann über die Mar­ke­ting- und Wer­be­stra­te­gien der Na­zis zu re­flek­tie­ren. Dann wird von ei­nem ge­wis­sen Ed­mund Kalb er­zählt, ei­nem öster­rei­chi­schen Ma­ler, er in ei­ner wil­den Mi­schung aus Que­ru­lan­ten- und Idio­ten­tum sei­nen per­sön­li­chen Wi­der­stand lei­ste­te, da­für ins Ge­fäng­nis kam und trotz­dem, wie durch ein Wun­der, über­leb­te. Kalb ist für Grün­bein ein Bart­le­by, der Schrei­ber aus Mel­vil­les No­vel­le (»I would pre­fer not to«).

Der Ma­ler ver­such­te mit sei­ner Fa­mi­lie aut­ark zu le­ben, vom An­bau in sei­nem Gar­ten, ver­edel­te er­folg­reich Bäu­me. Er ge­noss das Ge­fäng­nis, so­lan­ge er sei­ne Ru­he hat­te. Nach dem Krieg än­der­te er sich nicht. Grün­bein liest sei­ne Ta­ge­buch­auf­zeich­nun­gen: »Ein­mal auf dem tief­sten Grund der Ir­ri­ta­ti­on, hält er den Ge­dan­ken fest: daß die viel­fäl­ti­gen Ge­füh­le, die ei­nem beim Wahr­neh­men der Welt be­glei­ten, nie im Wor­ten aus­zu­drucken sind – son­dern al­len­falls, hin und wie­der mit et­was Glück, mit Hil­fe von Zeich­nun­gen.« Ge­fühls­er­leb­nis­se sei­en, so Grün­bein Kalb zi­tie­rend, nicht an an­de­re »zu über­tra­gen und auf­zu­be­wah­ren.« Sie sei­en jen­seits der Li­te­ra­tur. Da­mit sind die Ko­or­di­na­ten für die wei­te­ren Tex­te vor­ge­ge­ben.

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Ge­or­ges Si­me­non: Tro­pen­kol­ler

Georges Simenon: Tropenkoller
Ge­or­ges Si­me­non:
Tro­pen­kol­ler

Im Ori­gi­nal heißt der Ro­man ei­gent­lich »Le coup de lu­ne«, al­so un­ge­fähr »Mond­stich« – im Deut­schen hin­ge­gen zu­nächst »Tro­pen­fie­ber«, dann »Tro­pen­kol­ler«. Viel­leicht wür­de man das Buch an­ders le­sen, wenn der eher my­sti­sche Ori­gi­nal­ti­tel prä­zi­se über­setzt ge­wor­den wä­re. Aber die mit dem deut­schen Ti­tel ver­bun­de­ne Ent­my­sti­fi­zie­rung ist ei­gent­lich ganz gut.

Si­me­non hat­te den Ro­man bin­nen kur­zer Zeit – al­so wie im­mer – 1932 nach ei­ner Rei­se durch das ko­lo­nia­le Afri­ka für ein fran­zö­si­sches Ma­ga­zin ge­schrie­ben. Der schot­ti­sche Schrift­stel­ler Wil­liam Boyd weist in sei­nem kun­di­gen Nach­wort zu Recht dar­auf hin, dass man die­ses ha­sti­ge Ent­ste­hen dem Ro­man an­merkt. Es gibt Ab­schwei­fun­gen von der Ge­schich­te, die ins Nichts ver­lau­fen und bis­wei­len ei­ne stark dra­ma­ti­sie­ren­de Spra­che. Am stärk­sten hat mich die Un­ge­reimt­heit ge­stört, dass ge­gen En­de die Haupt­fi­gur Jo­seph Ti­mar plötz­lich ei­nen Re­vol­ver in der Ta­sche hat und nie­mand ge­nau weiß, wie der da her­ge­kom­men ist.

»Tro­pen­kol­ler« ist aber nicht nur in die­sem Punkt ein ty­pi­scher »ro­man durs« von Ge­or­ges Si­me­non, al­so ein Ro­man oh­ne sei­nen le­gen­dä­ren Kom­mis­sar Mai­gret. Ei­ne Tä­ter­jagd gibt es nicht; um Span­nung zu er­zeu­gen braucht es kei­ne Who­dun­nit-Kon­struk­ti­on. Der Tat­her­gang des Mor­des an ei­nen Schwar­zen ist schnell mehr oder we­ni­ger klar; das Mo­tiv wird früh prä­sen­tiert. Boyd weist dar­auf hin, dass die »Sto­ry« sel­ber nicht das mit­rei­ßen­de ist. Da­für be­sitzt der Ro­man ei­ne enor­me at­mo­sphä­ri­sche Ver­dich­tung der Stim­mung im ko­lo­nia­len Ga­bun der 1930er Jah­re, die enor­me Hit­ze, die Ge­rü­che, die Ein­tö­nig­keit des Le­bens dort, die Le­thar­gie der Prot­ago­ni­sten. Und vor al­lem geht es Si­me­non um die Aus­ge­stal­tung der Psy­che (und der Phy­sis) des 23jährigen Jo­seph. Er stammt aus wohl­ha­ben­dem Hau­se und wur­de von sei­nem On­kel nach Li­bre­ville, Ga­bun, ge­schickt. Dort soll er in ei­nem Un­ter­neh­men an­fan­gen, aber man weiß dort von ihm nichts (ein Sze­na­rio ähn­lich wie in »Die Schwar­ze von Pa­na­ma«, ein paar Jah­re spä­ter ge­schrie­ben). Die so­for­ti­ge Rück­rei­se nach Frank­reich ist nicht mög­lich (oder nicht ge­wollt, das bleibt un­klar).

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»Im­mer vor­an«

Wolf­gang Welt (1952 bis 2016) be­saß vie­le Ta­len­te. Er hat­te ein pho­to­gra­phi­sches Ge­dächt­nis, er­in­ner­te sich Jahr­zehn­te spä­ter noch ge­nau, wann er was mit wem ge­macht (oder nicht ge­macht) hat­te, konn­te wil­de As­so­zia­ti­ons­ket­ten kon­stru­ie­ren, ent­deck­te Ver­bin­dun­gen von Mu­si­kern, Pro­du­zen­ten, Sän­gern, Men­to­ren, wuss­te wer mit wem wel­chen Song auf­ge­nom­men, ge­sam­pelt oder auch nur in­ter­pre­tiert hat wer im ...

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Ri­chard Ford: Iri­sche Pas­sa­gie­re

Richard Ford: Irische Passagiere
Ri­chard Ford:
Iri­sche Pas­sa­gie­re

Der neue Er­zäh­lungs­band von Ri­chard Ford heißt im Ori­gi­nal »Sor­ry For Your Trou­ble«, was man mit »Ent­schul­di­gung für Ih­re Pro­ble­me« über­set­zen könn­te. Frank Hei­bert, der seit 2006 Ri­chard Ford ins Deut­sche über­setzt, und dem der Au­tor am En­de die­ses Ban­des ex­pli­zit für sei­ne »scharf­sin­ni­gen« Text­vor­schlä­ge dankt (ob da­zu auch die Über­tra­gung von »pia­no stu­dents« als »Kla­vier­schü­ler und ‑schü­le­rin­nen« zählt, weiß man nicht), wähl­te hin­ge­gen »Iri­sche Pas­sa­gie­re« als Ti­tel für die ins­ge­samt neun Er­zäh­lun­gen.

Tat­säch­lich spielt das Iri­sche in na­he­zu al­len Er­zäh­lun­gen ei­ne Rol­le. Zwei Mal wird Ir­land so­gar zum Schau­platz. Ir­gend­wann sucht man re­gel­recht die­ses Mo­tiv wie ein Ge­würz, das nicht im­mer do­mi­niert, aber (fast) im­mer be­merk­bar ist. So lernt man ei­ni­ges, be­kommt »iri­sche Zwil­lin­ge« er­klärt (Ge­schwi­ster, die auf den Tag neun Mo­na­te aus­ein­an­der lie­gen) und ein biss­chen was zur an­geb­li­chen iri­schen Phy­sio­gno­mie (»leicht un­voll­stän­di­ges Kinn«, »plum­pe Hän­de«, »seelenunruhiges…Starren«). Da gibt es iri­sche Emi­gran­ten, die wie­der zu­rück­fah­ren, weil sie nicht klar­kom­men. Oder ein Ehe­part­ner iri­scher Ab­stam­mung, der nach der Schei­dung von New York nach Dun­quin ge­zo­gen ist und dort in ei­ner »schwe­ren Woll­strick­jacke« Ar­chi­tek­tur­pro­jek­te ent­wirft. An­ders­wo ein irisch­stäm­mi­ger Zahn­arzt mit ei­nem Fai­ble für eu­ro­päi­sche Li­te­ra­tur. Und ei­ne Frau aus ei­nem klei­nen Kaff in Nord­ir­land, die in Dub­lin ein paar Mal im Jahr ei­ne Af­fä­re kul­ti­viert und für die die Stadt die gro­ße Welt ist.

Schau­plät­ze sind ne­ben eu­ro­päi­schen Städ­ten wie Dub­lin und Pa­ris (aus ei­ner ame­ri­ka­ni­schen Bar, bei Re­sul­ta­ten zur Prä­si­dent­schafts­wahl 1992) na­tür­lich New York, vor al­lem dies­mal New Or­leans und bis­wei­len die ame­ri­ka­ni­sche Pro­vinz (Maine!), die zu Re­fu­gi­en vom All­tag wer­den (sel­te­ner zu Be­dro­hun­gen).

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