Gräu­el der Ge­gen­wart ‑6/11-

(← 5/11)

Der sprin­gen­de Punkt in For­re­sters Dar­stel­lung ist das Spär­lich­wer­den der Ar­beit und der Un­wil­le der mit dem The­ma be­faß­ten In­sti­tu­tio­nen, Mas­sen­me­di­en und Po­li­ti­ker, die­se Tat­sa­che an­zu­er­ken­nen und ihr Rech­nung zu tra­gen. Lie­ber tut man so, als sei die Ar­beits­lo­sig­keit ein vor­über­ge­hen­des Pro­blem, das man mit her­kömm­li­chen Me­tho­den lö­sen kön­ne. Un­ter­des­sen su­chen die Leu­te ver­zwei­felt nach Ar­beit oder se­hen sich ge­nö­tigt, so zu tun, als such­ten sie da­nach, oder sie er­fin­den auf ih­rem an­ge­stamm­ten Po­sten ei­gent­lich un­nö­ti­ge Ar­beits­auf­ga­ben, so daß sich der Streß, ob­wohl er ab­ge­baut wer­den könn­te, noch er­höht. Doch es wird For­re­ster zu­fol­ge auch in Zu­kunft viel zu we­nig Ar­beit und im­mer we­ni­ger da­von ge­ben. We­nig Ar­beit je­den­falls im her­kömm­li­chen, auf die Zei­ten der in­du­stri­el­len Re­vo­lu­ti­on zu­rück­ge­hen­den Sinn. Auch wohl­mei­nen­de Po­li­ti­ker, de­nen das Schick­sal der über­flüs­sig Ge­wor­de­nen ein An­lie­gen ist, hal­ten an der Idee der Ar­beit fest. Ur­sa­chen die­ser Si­tua­ti­on gibt es meh­re­re. For­re­ster nennt vor al­lem die Au­to­ma­ti­sie­rung, Ro­bo­ter­i­sie­rung und Di­gi­ta­li­sie­rung – heu­te wä­ren Künst­li­che In­tel­li­genz, deep lear­ning und Re­pro­duk­ti­on in­tel­li­gen­ter Ma­schi­nen hin­zu­zu­fü­gen –, de­ren ge­sell­schaft­li­che Fol­gen man seit der Nach­kriegs­zeit hät­te vor­her­se­hen kön­nen, hät­te man die da­mals er­schie­ne­nen Schrif­ten des Ky­ber­ne­ti­kers Nor­bert Wie­ner ernst­ge­nom­men. Trotz­dem be­klagt For­re­ster das Ver­schwin­den der Ar­beit nicht grund­sätz­lich. Im Ge­gen­teil, man kön­ne und sol­le dies als Be­frei­ung vom bi­bli­schen Joch – »im Schwei­ße dei­nes An­ge­sichts« etc. – be­grü­ßen; als Chan­ce, end­lich ei­ne freie Ge­sell­schaft zu er­rich­ten.

Schon Marx und En­gels hat­ten die Ver­kür­zung des Ar­beits­tags als Vor­aus­set­zung für ech­te De­mo­kra­tie ge­nannt; erst dann hät­ten die Ar­bei­ter ge­nü­gend freie Zeit, sich um die An­ge­le­gen­hei­ten der Po­lis zu küm­mern. Denkt man For­re­sters Aus­füh­run­gen wei­ter, liegt das Heil, wenn es denn ei­nes gibt, nicht so sehr in Ar­beits­zeit­ver­kür­zun­gen, wie sie in ei­ni­gen eu­ro­päi­schen Län­dern ge­gen En­de des 20. Jahr­hun­derts tat­säch­lich durch­ge­führt wur­den (in­zwi­schen hat sich die Ten­denz frei­lich wie­der um­ge­kehrt), son­dern im be­din­gungs­lo­sen Grund­ein­kom­men für al­le, das es den Men­schen er­mög­li­chen soll, ih­re Grund­be­dürf­nis­se zu be­frie­di­gen. Es ist zwei­fel­los ei­ne Iro­nie der Ge­schich­te, daß nicht je­ne Län­der, die im 20. Jahr­hun­dert den Kom­mu­nis­mus zu ver­wirk­li­chen ver­such­ten und ihn da­bei des­avou­ier­ten, die­ser Lö­sung nä­her­ka­men, son­dern der fort­ge­schrit­te­ne, tech­no­lo­gisch hoch­ent­wickel­te Ka­pi­ta­lis­mus. »Je­der nach sei­nen Fä­hig­kei­ten, je­dem nach sei­nen Be­dürf­nis­sen.« Wer krea­tiv sein will, kann das gern tun, und wenn er Geld da­mit ver­dient, auch recht. Ein aus­rei­chend do­tier­tes Grund­ein­kom­men für al­le wür­de die Vi­si­on von Marx und En­gels in die Pra­xis um­set­zen.

Wei­ter­le­sen ...

Gräu­el der Ge­gen­wart ‑5/11-

(← 4/11)

Tho­mas Pi­ket­ty hat neu­er­dings ei­ne Men­ge De­tails zur Ana­ly­se und Kri­tik des heu­ti­gen Ka­pi­ta­lis­mus bei­getra­gen und so die em­pi­ri­sche Grund­la­ge für Über­le­gun­gen ge­stärkt, die For­re­ster oft ein we­nig oben­hin an­stell­te.1 Mit Zu­stim­mung le­se ich bei For­re­ster die Kenn­zeich­nung des Neo­li­be­ra­lis­mus als Denk­form, oder bes­ser ge­sagt: als tro­ja­ni­sches Pferd, das sich un­merk­lich über die Jah­re hin­weg in die Ge­hir­ne, die Ge­wohn­hei­ten, die Wer­te (und den Ver­zicht auf Wer­te), das zwi­schen­mensch­li­che Ver­hal­ten ein­ge­schli­chen hat. Erst auf­grund die­ser jah­re­lan­gen, mehr oder min­der sanf­ten, ideo­lo­gie­frei­en In­dok­tri­nie­rung wur­de es mög­lich, daß Ge­stal­ten wie der Im­mo­bi­li­en­hai Do­nald Trump oder der Me­di­en­mo­gul Sil­vio Ber­lus­co­ni ans Ru­der der Staats­macht ka­men. Sie ver­kör­pern je­nes neo­li­be­ra­le Per­sön­lich­keits­mo­dell, das wei­te Tei­le der Be­völ­ke­rung hoch­ach­ten und dem sie nach­stre­ben. Die nicht de­kla­rier­te Ge­walt der neo­li­be­ra­len Ideo­lo­gie war »so ef­fi­zi­ent, daß sich die po­li­ti­sche und wirt­schaft­li­che Land­schaft vor den Au­gen al­ler, doch oh­ne ihr Wis­sen, tief­grei­fend än­der­te, oh­ne daß da­durch ih­re Auf­merk­sam­keit oder gar Sor­ge ge­weckt wor­den wä­re.« Die Re­de ist von den acht­zi­ger und frü­hen neun­zi­ger Jah­ren des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts. »Das neue pla­ne­ta­ri­sche Sche­ma«, fährt For­re­ster fort, »setz­te sich un­be­merkt durch und konn­te so un­ser Le­ben be­herr­schen, oh­ne daß dies ir­gend­je­man­dem auf­fiel, au­ßer na­tür­lich den öko­no­mi­schen Kräf­ten, die es lan­ciert hat­ten.«

Wei­ter­le­sen ...


  1. "Die Frage der Verteilung der Reichtümer ist zu wichtig, um allein den Ökonomen, Soziologen, Historikern und anderen Denkern überlassen zu werden", schreibt Piketty in der Einleitung zu Das Kapital im 21. Jahrhundert. "Sie interessiert jedermann, und das ist gut so." Diese Frage werde immer eine eminent subjektive und psychologische, politische, konfliktuelle Dimension haben, "die keine vorgeblich wissenschaftliche Analyse ruhigstellen kann. Zum Glück wird die Demokratie niemals durch die Expertenrepublik ersetzt werden." 

Gräu­el der Ge­gen­wart ‑4/11-

(← 3/11)

Der Neo­li­be­ra­lis­mus übt im 21. Jahr­hun­dert ei­ne He­ge­mo­nie aus, die er sich nicht ein­mal er­strei­ten muß­te, weil sei­ne Po­stu­la­te auf frucht­ba­ren Bo­den fie­len, ge­ra­de so, als wä­ren nicht So­li­da­ri­tät und Ge­mein­schafts­sinn, son­dern Pro­fit­gier und Ei­gen­sinn das We­sen des Men­schen, so daß die Re­de von des­sen »Ver­mensch­li­chung« im­mer schon wi­der­sin­nig ge­we­sen wä­re. Die wirt­schaft­li­che Exi­stenz­form des Neo­li­be­ra­lis­mus hat sich mehr und mehr in glo­ba­li­sier­te vir­tu­el­le Be­rei­che ver­la­gert, die vom Le­ben der üb­ri­gen Men­schen völ­lig ab­ge­ho­ben und die­sen un­zu­gäng­lich sind. Geld »macht« man nicht mehr in er­ster Li­nie mit der Pro­duk­ti­on von Gü­tern (die in är­me­re Län­der aus­ge­la­gert wur­de), son­dern an der Bör­se im Spiel mit dem Geld, das man un­ter Um­stän­den gar nicht hat, son­dern aus­leiht, und die­ses Ma­chen voll­zieht sich in di­gi­ta­li­sier­ter Echt­zeit, man setzt an ei­nem Ort ein, zockt an ei­nem an­de­ren ab (oder ver­liert), al­les in Win­des­ei­le, »à la vi­tes­se de l’immédiat«, schwin­del­erre­gend für je­den Au­ßen­ste­hen­den.

Schon im Jahr 2000 ver­glich der In­for­ma­ti­ker Jo­seph Wei­zen­baum den Fi­nanz­ka­pi­ta­lis­mus mit ei­nem ein­zi­gen rie­si­gen Spiel­ka­si­no, wo durch Spe­ku­la­ti­on Geld­wer­te in ei­nem Um­fang an­ge­häuft wer­den, wel­che die Bud­gets der Staa­ten weit über­stei­gen: »Wir müs­sen uns ver­ge­gen­wär­ti­gen, daß die Re­gie­run­gen und Ban­ken der gro­ßen Na­tio­nen heu­te zu­sam­men we­ni­ger Geld zur Ver­fü­gung ha­ben als die in­ter­na­tio­nal ope­rie­ren­den Spe­ku­lan­ten­krei­se.« Hin­zu­zu­fü­gen wä­re, daß das Bör­sen­spiel die Ak­teu­re süch­tig macht, so daß zwangs­läu­fig im­mer grö­ße­re Ver­mö­gen an­ge­häuft wer­den und das Sy­stem sich im­mer mehr ver­fe­stigt. Es gibt kein Ent­kom­men! Gier ist kei­ne ethi­sche Ka­te­go­rie, son­dern ein we­sent­li­ches Merk­mal des Neo­li­be­ra­lis­mus, sei­ne con­di­tio si­ne qua non. Die Re­gie­run­gen, so Wei­zen­baum wei­ter, hät­ten auf die­ses Ge­sche­hen im­mer we­ni­ger Ein­fluß, die wirt­schaft­li­che Sta­bi­li­tät ein­zel­ner Län­der und, da sie al­le ver­netzt sind, der gan­zen Welt kön­ne da­her schnell ein­mal ins Tru­deln ge­ra­ten. Ge­nau das ist 2008 ge­sche­hen. Wir sind mit ei­nem blau­en Au­ge da­von­ge­kom­men, aber dem Fi­nanz­ka­pi­ta­lis­mus wirk­lich Gren­zen zu set­zen und ihn zu re­gu­lie­ren, da­vor sind die neo­li­be­ral den­ken­den Re­gie­run­gen, wel­chen po­li­ti­schen La­gers auch im­mer, zu­rück­ge­schreckt.

Wei­ter­le­sen ...

Gräu­el der Ge­gen­wart ‑3/11-

(← 2/11)

Im fol­gen­den wer­de ich ei­ne Rei­he von Punk­ten, von Fest­stel­lun­gen und Er­kennt­nis­sen an­füh­ren, de­nen ich leb­haft zu­stim­men möch­te. Und dies in der Ab­sicht, mei­ner ei­ge­nen ge­sell­schafts­be­zo­ge­nen Wahr­neh­mung Nach­druck zu ver­lei­hen, daß un­ser täg­li­ches Un­be­ha­gen nicht in er­ster Li­nie durch ei­nen un­be­re­chen­ba­ren, ex­tre­mi­sti­schen, oft re­li­gi­ös mo­ti­vier­ten, hi­sto­risch rück­wärts­ge­wand­ten Ter­ror be­dingt ist, son­dern ei­nem Ge­spinst aus selbst­ver­ständ­lich ge­wor­de­nen, sel­ten ins Be­wußt­sein drin­gen­den Gräu­eln gleich­kommt.

For­re­sters Buch ist nicht wis­sen­schaft­lich, es stellt auch nicht die­sen An­spruch. Es ist ein Es­say, der um ei­ne über­schau­ba­re An­zahl von The­men kreist und sich da­bei im­mer wie­der Ab­schwei­fun­gen er­laubt. Für ih­re Be­ob­ach­tun­gen und Er­klä­run­gen bringt For­re­ster we­nig kon­kre­te Be­le­ge, ih­re Ab­lei­tun­gen fol­gen kei­ner stren­gen Lo­gik und kei­nem aka­de­mi­schen Sche­ma. Trotz­dem – oder des­halb? – kann man aus heu­ti­ger Sicht sa­gen, daß sie zu­meist ins Schwar­ze trifft. Man muß kein Wirt­schafts­exper­te sein, um fest­zu­stel­len, daß der Fi­nanz­ka­pi­ta­lis­mus sich mehr und mehr von der Pro­duk­ti­on rea­ler Gü­ter ab­ge­ho­ben hat und daß dar­aus er­heb­li­che Pro­ble­me ent­ste­hen, die nicht nur die Mas­se der mehr oder we­ni­ger Be­sitz- und oft auch Ar­beits­lo­sen schwä­chen, die Rei­chen un­ver­hält­nis­mä­ßig stär­ken und zu glo­ba­len Kri­sen wie im Jahr 2008 füh­ren kön­nen. Man muß kein Fach­mann sein, um zu be­mer­ken, daß öko­no­mi­sche Pro­zes­se in den post­in­du­stri­el­len Ge­sell­schaf­ten wie Glücks­spie­le ab­lau­fen, bei de­nen ge­setzt, ge­wet­tet, ge­won­nen und ver­lo­ren wird, wo­bei die Spie­ler, die glo­bal play­ers, die Ein­fluß­fak­to­ren und Kon­tex­te selbst zu schaf­fen und zu kon­trol­lie­ren be­strebt sind (was ih­nen auf­grund der Hoch­kom­ple­xi­tät, der Un­über­schau­bar­keit, der Hoch­ge­schwin­dig­keit der Ab­läu­fe und der di­gi­ta­len Selbst­läu­fe nicht im­mer ge­lingt), so­fern sie über ge­nü­gend Macht und Geld­mit­tel ver­fü­gen. Auch auf die Ri­si­ken und un­er­wünsch­ten Ne­ben­wir­kun­gen der Di­gi­ta­li­sie­rung hat­te For­re­ster be­reits 1996 auf­merk­sam ge­macht, auch sie ha­ben in der Kri­se 2008 Be­stä­ti­gung ge­fun­den. Mas­sen­psy­cho­lo­gi­sche Fak­to­ren be­ein­flus­sen fi­nanz­wirt­schaft­li­che Ent­wick­lun­gen auf das stärk­ste. In ge­wis­sem Sinn ist »die Wirt­schaft« hal­lu­zi­na­to­risch ge­wor­den: Wäh­rend von (»wis­sen­schaft­li­chen«) Pro­gno­sen und (»kal­ku­lier­tem«) Ri­si­ko die Re­de ist »ar­bei­tet« sie mit Hoff­nun­gen und Ein­bil­dun­gen, mit Phan­ta­sien und Äng­sten. Me­dia­ti­sier­ter Sport und Pop­kul­tur, die heu­ti­gen Glanz­stücke je­ner Kul­tur­in­du­strie, de­ren An­fän­ge einst Hork­hei­mer und Ador­no be­schrie­ben, ge­hö­ren eben­so zu den be­vor­zug­ten Ein­sät­zen die­ser öko­no­mi­schen Ab­läu­fe wie die di­gi­ta­li­sier­te Por­no­gra­phie, der Han­del mit pri­va­ten Da­ten und na­tür­lich die Wer­bung, die nicht mehr nur da­zu dient, Pro­duk­te an den Mann zu brin­gen, son­dern selbst ein ab­ge­ho­be­ner Wirt­schafts­zweig ge­wor­den ist.

Wahr­schein­lich ist es, um wirt­schaft­li­che Pro­zes­se zu ver­ste­hen, so­gar bes­ser, kein Fach­mann und kei­ne Fach­frau zu sein, weil man als Au­ßen­ste­hen­der Ab­stand hat und sich nicht so leicht in die durch die Di­gi­ta­li­sie­rung ver­stärk­te und zum Dau­er­zu­stand ge­wor­de­ne Hy­ste­rie hin­ein­zie­hen läßt. Zu­mal die so­ge­nann­ten Öko­no­men, geht man nach ih­ren Kom­men­ta­ren in Ta­ges­zei­tung, oh­ne­hin nichts wis­sen. Glau­ben heißt nichts wis­sen (pfleg­te mei­ne Groß­mutter zu sa­gen); die so­ge­nann­ten Öko­no­men sind selbst nur Spe­ku­lan­ten, die an die­sem Psy­cho­spiel teil­neh­men, ob be­wußt oder un­be­wußt, vor­sätz­lich oder nicht.

Wei­ter­le­sen ...

Gräu­el der Ge­gen­wart ‑2/11-

(← 1/11) Keh­re ich zu mei­nem frü­he­ren Re­zen­sen­ten­da­sein zu­rück, wenn ich mir jetzt das Buch von Vi­via­ne For­re­ster vor­neh­me? Ich hat­te, als ich es mir bei Ama­zon – hor­ri­bi­le dic­tu, aber in der ja­pa­ni­schen Pro­vinz gibt es kaum ei­ne an­de­re Mög­lich­keit, rasch an ein aus­län­di­sches Buch zu kom­men – be­stell­te, ein paar der Le­ser­kom­men­ta­re ge­le­sen, ...

Wei­ter­le­sen ...

Gräu­el der Ge­gen­wart ‑1/11-

Als ich 1993 nach acht Jah­ren, die ich als »Lek­tor« an Uni­ver­si­tä­ten meh­re­rer Län­der ver­bracht hat­te, nach Öster­reich zu­rück­kehr­te, fand ich mich plötz­lich und zu mei­ner ei­ge­nen Über­ra­schung als Ar­beits­lo­ser wie­der: Ich ge­hör­te zum aka­de­mi­schen Sub­pro­le­ta­ri­at. Der Mann auf der Be­hör­de, die frü­her »Ar­beits­amt« hieß und mitt­ler­wei­le in »Ar­beits­markt­ser­vice« um­be­nannt wor­den war, was dem Geist der Zeit of­fen­bar bes­ser ent­sprach, warf ei­nen flüch­ti­gen Blick auf mei­ne Ak­te, um dann in der Um­gangs­spra­che mei­ner Her­kunfts­ge­gend zu be­mer­ken: »Das haut mich nicht vom Hocker.« Er mein­te da­mit mein mo­nat­li­ches Ein­kom­men, das ei­nem Be­trag von 1000 oder 1200 Eu­ro ent­spro­chen hat­te. Daß ich mich in die­sen drei Jah­ren wei­ter­ge­bil­det, drei Fremd­spra­chen er­lernt und die Grund­la­gen für mein künf­ti­ges li­te­ra­ri­sches Schaf­fen ge­legt hat­te, au­ßer­dem Bü­cher zu über­set­zen be­gon­nen hat­te, spiel­te für den Mann vom Ar­beits­markt­ser­vice kei­ne Rol­le, und auch ich wä­re in mei­ner Zer­knirscht­heit nicht auf die Idee ge­kom­men, sol­che »Lei­stun­gen« ins Tref­fen zu füh­ren. Der Mann wies mich le­dig­lich dar­auf hin, daß ich mich ernst­haft um ei­ne An­stel­lung zu be­mü­hen hät­te, und falls sich nichts er­ge­ben wür­de, was zu mei­nem »Pro­fil« paß­te, hät­te ich je­de mir vor­ge­schla­ge­ne Ar­beit an­zu­neh­men, zum Bei­spiel als Ern­te­hel­fer (25 Jah­re spä­ter wer­den Flücht­lin­ge und an­de­re Mi­gran­ten da­für ein­ge­setzt). Der Be­trag, den ich als »Ar­beits­lo­sen­geld« über­wie­sen be­kam, reich­te kaum für die Mie­te, die ich für mei­ne Frau und mich zu be­zah­len hat­te. Ich sah mich ge­zwun­gen, »Auf­trä­ge« an­zu­neh­men; Auf­trä­ge im ein­zi­gen Be­reich, in dem ich Kom­pe­ten­zen und zu­min­dest ein paar »Kon­tak­te« hat­te: Spra­che und Li­te­ra­tur.

Ich war mit ei­ner eben­falls aka­de­misch ge­bil­de­ten Aus­län­de­rin ver­hei­ra­tet, und die Be­hör­den, mit de­nen wir zu tun hat­ten, um ei­ne Auf­ent­halts­ge­neh­mi­gung für sie zu er­hal­ten, wa­ren ähn­lich ab­wei­send wie der Mann beim Ar­beits­markt­ser­vice. Es ging im­mer und aus­schließ­lich um die Hö­he mei­nes Ein­kom­mens (mei­ne Frau, die da­mals kaum Deutsch konn­te, ar­bei­te­te nur spo­ra­disch). Als ich auf die mitt­ler­wei­le an­ge­wach­se­ne Zahl mei­ner Bü­cher und Über­set­zun­gen hin­wies und ein paar da­von auf den be­hörd­li­chen Schreib­tisch leg­te, zeig­te sich ein eher ver­ächt­li­ches als mil­des Lä­cheln auf dem Ge­sicht des Be­am­ten.

Wei­ter­le­sen ...

Der Wil­le zum Nicht­wis­sen, Post­skrip­tum

Vor zwei Jah­ren ha­be ich in die­sem Blog un­ter dem Ti­tel Der Wil­le zum Nicht­wis­sen An­mer­kun­gen zu ei­ner Rei­he von mehr oder we­ni­ger be­rühm­ten Sät­zen zum The­ma »Wahr­heit«, oder zu­min­dest in Zu­sam­men­hang mit die­sem Be­griff, ver­öf­fent­licht. Es liegt auf der Hand, daß sich die­se Rei­he fort­set­zen lie­ße, sie ist wohl un­ab­schließ­bar, die Will­kür setzt ei­nen Schluß­punkt. Trotz­dem, si­cher auch be­dingt durch ei­ni­ge Ein­wän­de ge­gen das von mir Vor­ge­brach­te, die ich dort und da las oder hör­te, ha­be ich mich wei­ter da­mit aus­ein­an­der­ge­setzt. Be­son­ders die oft ver­gnüg­li­che, vom »epi­ste­mi­schen« Stand­punkt na­tür­lich nicht im­mer be­frie­di­gen­de Lek­tü­re von Bü­chern Ri­chard Ror­tys hat mich da­zu be­wo­gen, der Se­rie noch ein Stück hin­zu­zu­fü­gen.

*

Truth is what one’s peers, ce­te­ris pa­ri­bus, let one get away wi­th say­ing.

Ich zi­tie­re Ri­chard Ror­ty hier auf eng­lisch, weil ich mit der deut­schen Über­set­zung die­ses Sat­zes in sei­nem Buch Der Spie­gel der Na­tur mei­ne Schwie­rig­kei­ten ha­be. Wie so oft ist ei­ne wich­ti­ge Äu­ße­rung Ror­tys in Dis­kus­si­on und Kri­tik, d. h. in ein ver­wickel­tes Hin und Her ver­packt. In­di­rekt ver­steht man im dort ge­ge­be­nen Kon­text, daß Ror­ty die Auf­fas­sung ver­tritt, Wahr­heit sei nicht mehr als »ge­recht­fer­tig­te Be­haupt­bar­keit« (ein Aus­druck, den er von John Dew­ey über­nimmt). Der Satz in Der Spie­gel der Na­tur lau­tet so: »Wahr­heit ist nicht mehr als der Um­stand, daß un­se­re Mit­men­schen ei­ne Aus­sa­ge – ce­te­ris pa­ri­bus – gel­ten las­sen wer­den.« Ich wür­de ihn lie­ber so über­set­zen, auch auf die Ge­fahr hin, daß ich den sprach­li­chen Aus­druck da­bei ver­bes­se­re: »Wahr sind sol­che Aus­sa­gen, die dei­ne Ge­sprächs­part­ner als wahr gel­ten las­sen.« Peers sind na­tür­lich die Fach­kol­le­gen, aber da Ror­ty in die­sem Buch und auch sonst gro­ßen Wert auf das nicht ab­rei­ßen­de Ge­spräch un­ter ver­nünf­ti­gen, gleich­be­rech­tig­ten Ge­sprächs­part­ner legt und sei­ne Aus­sa­gen ge­wöhn­lich nicht nur auf den aka­de­mi­schen Kon­text be­schränkt wis­sen will, scheint mir die­ses Wort für die Über­set­zung bes­ser zu pas­sen. Ver­stün­de man un­ter »peers« al­le Mit­men­schen oder die Mit­bür­ger ei­nes Lan­des, so wä­re Wahr­heit in je­dem ein­zel­nen Fall das Er­geb­nis ei­nes Ple­bis­zits, oder heut­zu­ta­ge: ei­ner di­gi­ta­len Er­mitt­lung, sie wür­de durch ein Ran­king ge­kürt. Wahr ist, was po­pu­lär ist.

Wei­ter­le­sen ...

Si­sy­phos auf dem Pla­teau ‑8/8-

Ein­blicke in die Aben­teu­er ei­nes be­frei­ten Le­sers

(← 7/8)

An ei­nem der schö­nen Ta­ge, an de­nen ich mit die­sem Heft im Ruck­sack ab­wech­selnd her­um­fla­nier­te und her­um­saß, zog es mich wie­der ein­mal nach Aras­hi­ya­ma, aber dies­mal ging ich nicht das rech­te, son­dern das lin­ke Fluß­ufer ent­lang, das die mei­ste Zeit des Ta­ges im Schat­ten liegt. Nach ei­ner Wei­le be­geg­ne­te ich ei­nem Mann, der dort auf ei­ner Bank saß, ei­ne Hau­be auf dem Kopf und mit ei­nem Lä­cheln be­gabt, das sein Ge­sicht wohl dau­er­haft zeigt, und mich oh­ne Um­schwei­fe an­sprach: Whe­re are you from?

Oh my god, dach­te ich zu­erst (im Deutsch mei­ner Toch­ter), gab dann aber doch ei­ne brauch­ba­re Ant­wort. Es stell­te sich her­aus, daß er flie­ßend eng­lisch sprach, die­ser hei­te­re, im­mer noch neu­gie­ri­ge, le­bens­be­gie­ri­ge Mann von sieb­zig Jah­ren, der eben­so un­er­schüt­ter­lich wie ge­schmei­dig ei­ne Denk­wei­se pflegt, die sich in der Zeit, als er jung war, ei­ner Zeit des Auf­bruchs, der Öff­nun­gen, des Al­les-ist-mög­lich aus­ge­bil­det ha­ben muß. (Und ich, Starr­kopf, hier am tri­sten Com­pu­ter, re­de von Ab­brü­chen!) In jun­gen Jah­ren war er als Ma­the­ma­tik­leh­rer an ei­ner Ober­schu­le tä­tig ge­we­sen, die Ar­beit hat­te ihn zu lang­wei­len be­gon­nen, so ver­such­te er sich als Blu­men­händ­ler, grün­de­te bald ei­nen ei­ge­nen Be­trieb, zog sich nach vie­len Jah­ren auch von die­sem zu­rück; jetzt ist er Ma­na­ger in ei­nem Trans­port­un­ter­neh­men. Er wohnt nicht weit von mei­ner Schwie­ger­mut­ter ent­fernt, al­so in mei­ner Nä­he, wenn ich in Osa­ka bin, Nord-Osa­ka, um ge­nau zu sein, Iba­ra­ki-shi, und kommt oft nach Aras­hi­ya­ma, we­gen der Schön­heit und Ru­he des Orts, hier wei­ter oben im Tal, sitzt auf der Bank, liest in ei­nem Buch, plau­dert mit Pas­san­ten – schon nach we­ni­gen Mi­nu­ten kam ein Be­kann­ter von ihm vor­über.

Wei­ter­le­sen ...