»Ich kann in den Tod ge­hen«

Amina Handke: Mein Satz
Ami­na Hand­ke: Mein Satz

1966 sorg­te der da­mals 24jährige öster­rei­chi­sche Schrift­stel­ler Pe­ter Hand­ke mit dem Thea­ter­stück Pu­bli­kums­be­schimp­fung für Fu­ro­re. We­ni­ge Mo­na­te zu­vor hat­te er auf der Ta­gung der »Grup­pe 47« in sei­ner be­rühmt ge­wor­de­nen Ein­las­sung von der »Be­schrei­bungs­im­po­tenz« ei­ne kon­tro­ver­se Kri­tik am »Neu­en Rea­lis­mus« der deutsch(sprachig)en Nach­kriegs­li­te­ra­tur ge­übt, wel­che Spra­che nur be­nut­ze, »um zu be­schrei­ben, oh­ne daß aber die Spra­che sel­ber et­was rührt«. Hand­ke at­tackier­te in dem Thea­ter­stück mit po­le­misch-skur­ri­len Aus­sa­gen von vier Schau­spie­lern das gän­gi­ge, für ihn über­kom­me­ne, in Kon­ven­tio­nen fest­stecken­de Mo­dell des Dra­ma­tur­gie­thea­ters (und, ge­gen En­de, auch der Re­zep­ti­on des sich sa­tu­riert dem Kon­sum hin­ge­ben­den Pu­bli­kums). In­mit­ten der Em­pö­rung hat­te man über­se­hen, dass er das Thea­ter nicht zer­stö­ren, son­dern re­ani­mie­ren woll­te.

Zwei Jah­re spä­ter, am 11. Mai 1968, fand die Ur­auf­füh­rung von Kas­par an zwei Or­ten zu­gleich statt; ein Kom­pro­miss, um die bei­den um Hand­kes Stücke kon­kur­rie­ren­den Re­gis­seu­re Claus Pey­mann (Frank­furt) und Gün­ter Büch (Ober­hau­sen) zu­frie­den zu stel­len. Mehr als die Pu­bli­kums­be­schimp­fung ent­sprach Kas­par Hand­kes li­te­ra­ri­scher So­zia­li­sa­ti­on in der avant­gar­di­sti­schen »Gra­zer Grup­pe« (be­kannt auch als »Fo­rum Stadt­park«), in der neue li­te­ra­ri­sche For­men ge­sucht und die Spra­che der zeit­ge­nös­si­schen Li­te­ra­tur ra­di­kal be­fragt wur­de.

Trotz der weit­hin be­kann­te­ren Pu­bli­kums­be­schimp­fung dürf­te Kas­par je­nes Thea­ter­stück Hand­kes sein, wel­ches bis­her am mei­sten von Kri­ti­kern, Li­te­ra­tur- und Thea­ter­wis­sen­schaft­lern, Re­gis­seu­ren und Schau­spie­lern re­zen­siert, ge­deu­tet, ana­ly­siert, in­sze­niert und ge­spielt wur­de. Es ist da­her ein dop­pel­tes Wag­nis, wenn die Künst­le­rin Ami­na Hand­ke sich in ei­nem Film die­ses Stückes mehr als 50 Jah­re da­nach an­nimmt. Zum ei­nen ist der Au­tor ihr Va­ter und die Haupt­rol­le, die »Kas­pe­ra«, wur­de be­setzt mit ih­rer Mut­ter, der Schau­spie­le­rin Libgart Schwarz, die im Film als »Ich« auf­tritt. Und zum an­de­ren fragt man sich, wel­che neu­en Be­trach­tungs­wei­sen sich durch den Film er­ge­ben wer­den. Am En­de, so­viel sei ver­ra­ten, ist man ziem­lich über­rascht.

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Fe­lix Au­stria

Klaus Kastberger: Alle Neune
Klaus Kast­ber­ger:
Al­le Neu­ne

Klaus Kast­ber­ger, der in die­sem Jahr 60 Jah­re alt wird, be­kam un­längst (ver­dien­ter­ma­ßen) den Öster­rei­chi­sche Staats­preis für Li­te­ra­tur­kri­tik zu­ge­spro­chen. Nie­mand, der sich mit deutsch­spra­chi­ger Ge­gen­warts­li­te­ra­tur be­schäf­tigt, kann auf Dau­er dem queck­silb­ri­gen Geist Kast­ber­gers ent­kom­men. Als or­dent­li­cher Pro­fes­sor der Karl-Fran­zens-Uni­ver­si­tät in Graz steht er nicht nur am Ka­the­der, son­dern ku­ra­tiert Le­sun­gen, Dis­kus­si­ons­ver­an­stal­tun­gen und Sym­po­si­en, mo­de­riert zu­sam­men mit Da­nie­la Stri­gl ei­ne Li­te­ra­tur­show mit dem zu­kunfts­wei­sen­den Ti­tel Ro­bo­ter mit Senf, be­gibt sich in die Nie­de­run­gen der Li­te­ra­tur­kri­tik, stellt und ent­facht li­te­ra­risch-äs­the­ti­sche De­bat­ten und sitzt in di­ver­sen Ju­rys. Recht­zei­tig zur Leip­zi­ger Buch­mes­se mit ih­rem Schwer­punkt Öster­reich prä­sen­tiert der Son­der­zahl-Ver­lag in ei­nem schick de­sign­ten Buch (die Hap­tik des Co­vers!) zehn Auf­sät­ze zur öster­rei­chi­schen Li­te­ra­tur un­ter dem zünf­ti­gen Ti­tel Al­le Neu­ne. Das Pa­ra­do­xon wird rasch auf­ge­löst. Neun öster­rei­chi­sche Au­torin­nen und Au­toren wer­den werk­ge­ne­tisch skiz­ziert. Ein wei­te­rer Text wid­met sich ei­ner (in­for­mel­len) Au­toren­grup­pie­rung. Die Aus­wahl der Schrift­stel­ler ori­en­tiert sich an den For­schungs­schwer­punk­ten des Au­tors in den letz­ten Jah­ren. Er­schie­nen sind die Tex­te zwi­schen 2009 und 2021 in Bü­chern, Fest­schrif­ten oder als Sym­po­si­ums­pu­bli­ka­tio­nen. Für Al­le Neu­ne wur­den sie noch ein­mal »gründ­lich über­ar­bei­tet«, was man auch an den An­mer­kun­gen sieht, die als ro­te Mar­gi­na­li­en ge­setzt wur­den, für die in die Jah­re ge­kom­me­ne Le­ser wie ich zwar ei­ne Lu­pe be­nö­ti­gen, aber das macht nichts.

Der Band be­ginnt leb­haft mit dem »letzte[n] Mo­hi­ka­ner des sechs­fa­chen Dak­ty­lus«, An­ton Wild­gans. Die­ser sei zu Recht ver­ges­sen, so spot­tet Kast­ber­ger und am En­de des Auf­sat­zes glaubt man ihm. Man lernt, dass Wild­gans’ Kunst un­ter an­de­rem dar­in be­stand, »aus der Plat­ti­tü­de ei­ne At­ti­tü­de zu ma­chen«. Die ur­teil­stüt­zen­de Re­fe­renz auf Karl Kraus, der Wild­gans nicht moch­te, er­scheint hin­ge­gen nicht zwin­gend, denn Kraus moch­te à la longue nie­man­den (und vice ver­sa). In­ter­es­san­ter ist die Be­schäf­ti­gung mit Ri­chard Bil­lin­ger, zu dem Kast­ber­ger zu­sam­men mit Da­nie­la Stri­gl 2014 ein Sym­po­si­um ver­an­stal­te­te. Zu­nächst als ex­pres­sio­ni­sti­scher Ly­ri­ker be­gon­nen und sich im Um­feld von Carl Zuck­may­ers »Henn­dor­fer Kreis«, ent­schied er sich in den 1930er Jah­ren zum »Reichs­bau­ern­dich­ter« der Na­zis zu wer­den. Bil­lin­ger wur­de 1932 mit dem Kleist-Preis aus­ge­zeich­net und schrieb nicht nur dem Blut und Bo­den-Den­ken ver­haf­te­te, be­lieb­te Stücke son­dern auch Dreh­bü­cher, wie zum Bei­spiel für Veit Harlans Die gol­de­ne Stadt von 1942.

Kast­ber­ger zi­tiert aus ei­ner »Ho­me­sto­ry« des spä­te­ren Feuil­le­ton­chefs und Chef­re­dak­teurs der Wo­chen­zei­tung Die Zeit, Jo­sef Mül­ler-Marein, der 1937 ne­ben sei­nen Tex­ten zum Völ­ki­schen Be­ob­ach­ter für ein Me­di­um mit dem Na­men Lo­kal An­zei­ger den kör­per­li­chen Hü­nen Ri­chard Bil­lin­ger be­such­te und sei­ne Dich­ter-In­sze­nie­run­gen ver­brei­te­te. Spä­te­stens mit Zuck­may­ers Ein­ord­nun­gen im so­ge­nann­ten Ge­heim­re­port, ist deut­lich, dass Bil­lin­ger ein »par­fü­mier­ter Groß­städ­ter« war, »der in sei­nem Werk den Bau­ern nur spiel­te«. Dass Bil­lin­ger bei den Na­zis re­üs­sie­ren konn­te, war ei­gent­lich un­ge­wöhn­lich. Denn er war 1935, zwei Jah­re vor Mül­ler-Mareins In­au­gu­ra­ti­on, we­gen sei­ner Ho­mo­se­xua­li­tät für meh­re­re Wo­chen in­haf­tiert und ins Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger Dach­au ver­bracht wor­den. Ei­ni­gen Funk­tio­nä­ren war er des­we­gen dau­er­haft ein Dorn im Au­ge, aber sei­ne Po­pu­la­ri­tät schüt­ze ihn und er er­hielt in den 1940er Jah­ren wei­te­re Prei­se, be­vor er dann nach dem Krieg dem Ver­ges­sen über­ge­ben wur­de.

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Gert Le­dig und das Ver­ges­sen

100. Schreibheft
100. Schreib­heft

Das Schreib­heft von Nor­bert Wehr fei­ert heu­er die 100. Aus­ga­be. Zum Ju­bi­lä­um gibt es ei­nen um­fang­rei­chen Es­say von Frank Wit­zel über »100 Ver­ges­se­ne, Ver­kann­te und Ver­schol­le­ne«. Er­in­ne­run­gen kom­men auf an Mi­cha­el Hel­mings wun­der­ba­re Rei­sen zu fünf ver­ges­se­nen ost­eu­ro­päi­schen Schrift­stel­lern und sei­ne »Kon­takt­auf­nah­me« an de­ren Grä­bern. Wit­zel be­kommt für sei­ne 100 Hin­wei­se (es sind mehr, weil zum Bei­spiel aus Le­xi­ka zi­tiert wird, die ein ähn­li­ches An­lie­gen ver­folg­ten) 128 Sei­ten. Über­wie­gend sind Schrift­stel­ler ge­meint, auch wenn es ei­ne klei­ne Ru­brik über Zeich­ner und bil­den­de Künst­ler gibt. Wit­zels Aus­wahl ist sub­jek­tiv und dar­aus macht er kei­nen Hehl. So er­klärt er auch häu­fi­ger, wie er auf die­sen oder je­ne ge­kom­men ist, fin­det fast im­mer die bio­gra­phi­schen Da­ten und es wer­den häu­fig auch (län­ge­re) Aus­schnit­te ab­ge­druckt. Es fin­det sich Ori­gi­nel­les, Kon­zep­tu­el­les und Skur­ri­les (et­wa ein Hin­weis auf ei­nen Au­tor, der Re­zen­sio­nen über nicht exi­stie­ren­de Bü­cher ver­fass­te); Ge­dich­te, Pro­sa, Dra­ma, Dia­lo­ge, In­ter­views, Col­la­gen. Man­ches Mal er­tappt man sich da­bei, dass die Ver­schol­len- und/oder Ver­bor­gen­heit gar nicht so schlecht ge­we­sen ist, aber das ist na­tür­lich eben­falls sub­jek­tiv. Viel­leicht soll­te man das Kon­vo­lut nicht in ei­nem Stück le­sen.

Die Fra­ge, die Wit­zel sich und den Le­ser im­mer wie­der stellt: War­um wur­de je­mand mit ei­ner zu­wei­len in sei­ner Zeit durch­aus be­acht­li­chen Pu­bli­ka­ti­ons­tie­fe ir­gend­wann schlicht­weg ver­ges­sen? Die Grün­de kön­nen vie­le Ur­sa­chen ha­ben. Tex­te wie der von Wit­zel (aber auch Hel­ming) sol­len zei­gen, dass sie nichts oder nur sehr we­nig mit der Qua­li­tät des je­wei­li­gen Werks zu tun ha­ben. Häu­fig fin­det Wit­zel den Feh­ler beim je­wei­li­gen Au­tor, et­wa wenn es sich um über­trie­be­ne Per­fek­tio­ni­sten han­delt, die nie­mals fer­tig wer­den. Oder sie ver­lie­ren nach den er­sten Miss­erfol­gen schlicht­weg die Lust (ein­her geht da­mit zu­meist auch der Ver­lust des Ver­lags).

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Schwar­ze Blu­men? Wei­ße Blu­men? Blaue Blu­men!

»Das Licht spielt auf je­der Haut an­ders; bei je­dem Men­schen, in je­dem Mo­nat und an je­dem Tag.« (Yo­ko Ta­wa­da)

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Phil­ip Roth hat das al­les kom­men se­hen, als er ge­gen En­de des 20. Jahr­hun­derts Der mensch­li­che Ma­kel schrieb. In die­sem Ro­man, dem drit­ten Teil sei­ner »ame­ri­ka­ni­schen Tri­lo­gie«, gibt sich ein jun­ger, re­la­tiv hell­häu­ti­ger Afro-Ame­ri­ka­ner na­mens Co­le­man Silk 1944 bei der US-Ar­mee als Wei­ßer aus und bleibt bis zum En­de sei­nes Le­bens bei die­ser Lü­ge. Im ame­ri­ka­ni­schen Eng­lisch be­zeich­net man ei­nen sol­chen Schritt, der in der Wirk­lich­keit gar nicht so sel­ten vor­kam, als pas­sing. Nach sei­nem Tod im Jahr 1998 be­merkt Co­lem­ans (dun­kel­häu­ti­ge­re) Schwe­ster im Ge­spräch mit dem Er­zäh­ler, daß En­de des 20. Jahr­hun­derts »kein in­tel­li­gen­ter Ne­ger aus der Mit­tel­schicht« die ras­si­sche Selbst­zu­ord­nung wech­seln wür­de. »Heu­te ist es nicht vor­teil­haft, so et­was zu tun, so wie es da­mals eben sehr wohl vor­teil­haft war.«

Wenn schon pas­sing , dann in die an­de­re Rich­tung. Aus Weiß mach Schwarz oder ei­ne an­de­re Far­be, war­um nicht Rot – das könn­te doch vor­teil­haft sein, wenn es dar­um geht, ein Uni­ver­si­täts­sti­pen­di­um oder Wäh­ler­stim­men zu be­kom­men. So mach­ten es die de­mo­kra­ti­sche Po­li­ti­ke­rin Eliza­beth War­ren, die be­haup­te­te, in­dia­ni­sche Vor­fah­ren zu ha­ben, oder die Hi­sto­ri­ke­rin Jes­si­ca Krug, die sich un­ter an­de­rem als Afro-Pu­er­to­ri­ka­ne­rin aus­gab, oder die Künst­le­rin und Po­lit­ak­ti­vi­stin Ra­chel Do­le­zal, die mitt­ler­wei­le als Fri­sö­rin jobbt, nach­dem ihr Be­trug als »schwar­ze« Stu­den­tin an der tra­di­tio­nell afro-ame­ri­ka­ni­schen Ho­ward Uni­ver­si­ty auf­ge­flo­gen war. Wenn man es als Be­trug auf­fas­sen will, denn Do­le­zal selbst meint, ras­si­sche Zu­ge­hö­rig­keit – den Ame­ri­ka­nern geht das Wort »race« leicht über die Lip­pen – sei kei­ne bio­lo­gi­sche Fra­ge, son­dern ei­ne der per­sön­li­chen Ent­schei­dung und der So­zia­li­sie­rung.

Do­le­zal ist üb­ri­gens jü­di­scher Her­kunft. In Eu­ro­pa, be­son­ders in Deutsch­land und Öster­reich, wur­den Ju­den aus ras­si­schen Grün­den ver­folgt und schließ­lich er­mor­det. In den USA gel­ten sie als »weiß«, und sie selbst se­hen sich wohl mei­stens auch so. Co­le­man Silk, der Held in Phil­ip Roths Ro­man, gibt sich nicht als ir­gend­ein Wei­ßer aus, son­dern als Ju­de. Und zu­fäl­lig hat auch er an der Ho­ward Uni­ver­si­ty stu­diert, wenn­gleich nur ei­ne Wo­che lang, vor sei­nem Ein­tritt in die Na­vy. Er hielt den Ras­sis­mus im da­ma­li­gen Wa­shing­ton D. C. nicht aus und ent­zog sich dem bren­nen­den Wunsch sei­nes Va­ters, ei­nes »be­ken­nen­den« Schwar­zen, an die­ser Uni­ver­si­tät zu stu­die­ren. In sei­nen letz­ten Le­bens­jah­ren wird Co­le­man auf pa­ra­do­xe Wei­se von sei­ner Her­kunft ein­ge­holt. Nach­dem er lan­ge Zeit De­kan ei­ner klei­ne­ren Uni­ver­si­tät ge­we­sen ist, wird ihm der Vor­wurf des Ras­sis­mus ge­macht, und dar­über ver­liert er sei­ne (jü­di­sche) Frau und sei­ne Stel­lung am Col­lege. Iro­nie des Schick­sals, Iro­nie der ame­ri­ka­ni­schen Ge­schich­te. Der sy­ste­mi­sche An­ti­ras­sis­mus ist ras­si­stisch ge­wor­den und bringt ei­nen Mann mit afro-ame­ri­ka­ni­schen Wur­zeln zu Fall.

Who­o­pi Gold­berg, die dun­kel­häu­ti­ge Schau­spie­le­rin, ist nicht ras­si­stisch, sie ist nur et­was na­iv und viel­leicht, im Un­ter­schied zu Co­le­man Silk, nicht sehr ge­bil­det. Die Ver­fol­gung der Ju­den durch die Na­zis sei ein Pro­blem un­ter Wei­ßen ge­we­sen, sag­te sie An­fang 2022 in ih­rer TV-Show. Nun ja, vie­le Ju­den ha­ben ei­ne eher hel­le Haut­far­be – und für Gold­berg ist »Ras­se« gleich­be­deu­tend mit Haut­far­be. Ihr Fa­mi­li­en­na­me klingt deutsch-jü­disch, doch ih­re Vor­fah­ren, so­weit man et­was über sie weiß, wa­ren Afro-Ame­ri­ka­ner. Fünf Jah­re zu­vor ko­ket­tier­te sie in ei­nem In­ter­view mit ih­rem Jü­disch-Sein; sie spre­che oft zu Gott, sag­te sie, ließ aber of­fen, zu wel­chem.

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Va­ga­bund der Li­te­ra­tur

Knut Ham­sun, sei­ne We­ge und Ab­we­ge. Ei­ne Sich­tung zu sei­nem 70 To­des­tag am 19.02.2022 »Er hat die Lust am Le­ben ver­lo­ren« schrieb Ma­rie Ham­sun, ge­bo­re­ne An­der­sen, am 22. Au­gust 1951 an ih­re Toch­ter Ce­ci­lia, die in Dä­ne­mark leb­te. We­ni­ge Ta­ge spä­ter heiß es, dass auch sein Geist sich mehr und mehr ver­dun­ke­le. Es fol­gen bis­wei­len ...

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Der Weg vom Ir­gend­wer zum Ge­walt­tä­ter

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Als im Mai 2018 die­se un­gu­stiö­se Ge­schich­te mit der Öko­po­li­ti­ke­rin und dem Bier­wirt in der Wie­ner Jo­sef­stadt be­kannt wur­de, schie­nen mir der Fall und die Per­son nur ein wei­te­rer Be­leg für die Pro­ble­ma­tik der Iden­ti­täts­ver­wi­schun­gen im In­ter­net und die da­durch be­gün­stig­te mo­ra­li­sche Ver­ro­hung. Je­mand hat­te der Na­tio­nal­rats­ab­ge­ord­ne­ten der öster­rei­chi­schen Grü­nen Si­gi Mau­rer ob­szö­ne, be­lei­di­gen­de, mit se­xu­el­ler Ge­walt dro­hen­de Nach­rich­ten ge­schickt. Die jun­ge Frau ging da­mals oft in der Stroz­zi­gas­se im 8. Wie­ner Ge­mein­de­be­zirk an ei­nem Bier­lo­kal vor­bei, und vom Face­book-Ac­count die­ses Lo­kals stamm­ten die un­er­wünsch­ten Emails. Mau­rer mach­te sie öf­fent­lich, weil sie auf die­se Art von Ge­walt im In­ter­net auf­merk­sam ma­chen woll­te. Sie nann­te da­bei auch das Lo­kal und sei­nen Be­trei­ber. Der Mann be­haup­te­te, die ob­szö­nen Nach­rich­ten nicht ge­schrie­ben und ab­ge­schickt zu ha­ben; sein Com­pu­ter und der Ac­count sei­en sei­nen Kun­den zu­gäng­lich, die Emails kön­ne »ir­gend­wer« ge­schrie­ben ha­ben. Er ver­klag­te die Ab­ge­ord­ne­te we­gen Eh­ren­be­lei­di­gung, in der Fol­ge kam es zu Ge­richts­ver­hand­lun­gen, bei de­nen nun Mau­rer als Tä­te­rin da­stand. Als dem Bier­wirt die ju­ri­sti­schen Fel­le da­von­zu­schwim­men be­gan­nen, zog er sei­ne Kla­ge zu­rück. Knapp drei Jah­re spä­ter wur­de be­kannt, daß eben­die­ser Mann sei­ne Freun­din und Mut­ter sei­ner zwei min­der­jäh­ri­gen Kin­der in de­ren Woh­nung im 20. Be­zirk er­schoß. Er be­fin­det sich der­zeit (2021) in der Jo­sef­stadt in Un­ter­su­chungs­haft, nicht weit von sei­nem ehe­ma­li­gen Lo­kal.

Den Streit um die se­xi­sti­schen Emails führ­te ich 2018 in ei­nem Es­say an, der die­ser Pro­ble­ma­tik nach­spür­te und ver­such­te, ihr et­was ent­ge­gen­zu­set­zen, frei­lich im Be­wußt­sein, daß ich mit der Ein­mah­nung über­lie­fer­ter hu­ma­ni­sti­scher Wer­te auf ver­lo­re­nem Po­sten stand; ab­ge­se­hen da­von, daß ich da­mit oh­ne­hin nur ein ex­qui­si­tes Pu­bli­kum er­rei­chen konn­te, ge­nau­er, die Le­ser­schaft der Ti­ro­ler Kul­tur­zeit­schrift Quart. Der Mann oder die Frau, nicht ein­mal die ge­schlecht­li­che Iden­ti­tät schien ge­si­chert, wel­che oder wel­cher der Na­tio­nal­rats­ab­ge­ord­ne­ten Si­gi Mau­rer auf Face­book mit se­xu­el­ler Ge­walt droh­te und sie übel be­schimpf­te, er­schien mir als ar­mes Schwein, das sei­ne Ag­gres­sio­nen vir­tu­ell aus­le­ben muß, weil er sich im wirk­li­chen Le­ben nicht traut.

Die Re­dak­teu­rin der Zeit­schrift äu­ßer­te vor der Pu­bli­ka­ti­on Be­den­ken, weil sie ver­ständ­li­cher­wei­se kei­ne ge­richt­li­che Kla­ge ris­kie­ren woll­te, wie sie Mau­rer in­zwi­schen er­eilt hat­te, nach­dem sie den Ab­sen­der je­ner Ver­ba­l­ag­gres­sio­nen iden­ti­fi­ziert zu ha­ben glaub­te und öf­fent­lich be­nann­te. Der Bier­wirt, von des­sen Ac­count die Emails aus­ge­gan­gen wa­ren, be­haup­te­te da­ge­gen, sie we­der ge­schrie­ben noch ab­ge­schickt zu ha­ben, und warf Mau­rer Ver­leum­dung vor. Jetzt war er das Op­fer und ver­lang­te vor Ge­richt ei­ne Ent­schä­di­gung von 50.000 Eu­ro. Ne­ben­bei nütz­te er die Ge­schich­te als Wer­bung für sein Ge­schäft, in­dem er für den Ku­rier da­vor po­stier­te und sich ab­lich­ten ließ. Ich wun­der­te mich, war­um im Ver­lauf des Pro­zes­ses kein Lin­gu­ist zu­ra­te ge­zo­gen wur­de, denn ich war mir si­cher, daß ein Fach­mann durch ei­nen Ver­gleich der in­kri­mi­nier­ten Emails mit an­de­ren Tex­ten des Bier­wirts, die eben­falls öf­fent­lich wa­ren, auf die Iden­ti­tät des Ag­gres­sors schlie­ßen konn­te. Be­stimm­te sti­li­sti­sche und or­tho­gra­phi­sche Merk­ma­le schie­nen mir ganz klar auf sei­ne Iden­ti­tät hin­zu­wei­sen.

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Jür­gen Bro­koff: Li­te­ra­tur­streit und Bocks­ge­sang

Im Rah­men der Rei­he »Klei­ne Schrif­ten zur li­te­ra­ri­schen Äs­the­tik und Her­me­neu­tik« im Wal­l­­stein-Ver­­lag ist als Band 7 Jür­gen Bro­koffs Stu­die »Li­te­ra­tur­streit und Bocks­ge­sang« er­schie­nen. Zu­nächst ist man ob des Ti­tels ver­blüfft, um dann rasch fest­zu­stel­len, dass es tat­säch­lich um zwei Er­eig­nis­se der Li­te­ra­tur­re­zep­ti­on der Bun­des­re­pu­blik han­delt, die in­zwi­schen fast 30 Jah­re zu­rück­lie­gen. Ana­ly­siert wird zum ...

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Kom­po­nie­ren­de Com­pu­ter

Kön­nen wir in Zu­kunft auf künst­le­ri­sche Krea­ti­vi­tät ver­zich­ten?

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Der 1979 in Pa­ris ge­bo­re­ne Brat­schist An­toine Ta­me­stit, der ein wei­tes Re­per­toire von Bach und Mo­zart bis Schnitt­ke und Neu­wirth be­herrscht, hat­te sei­ne er­sten grö­ße­ren Auf­trit­te im Al­ter von zwan­zig Jah­ren. Seit­dem hat sich vie­les ver­än­dert, der Stel­len­wert von Vi­de­os und so­zia­len Netz­wer­ken prä­ge längst auch die Klas­si­sche Mu­sik. »Je­der möch­te be­rühmt sein, schnell be­rühmt vor al­lem. Ich den­ke, es ist wich­tig, zu der klas­si­schen Mu­sik an sich zu­rück­zu­kom­men«, sag­te er un­längst im In­ter­view mit der Pots­da­mer Zei­tung. Da­für müs­se man sich ih­re Ge­schich­te an­schau­en, als es kei­ne Vi­de­os und kei­ne Elek­tri­zi­tät gab. Wich­tig sei, sich Zeit zu neh­men. »Ich ver­su­che das, in­dem ich Bü­cher le­se oder manch­mal ei­nen ge­sam­ten Tag da­mit ver­brin­ge, ei­ne ein­zi­ge Par­ti­tur zu stu­die­ren. Ich ge­he in dem Punkt ei­nen ent­ge­gen­ge­setz­ten Weg, was nicht be­deu­tet, dass ich nicht auch Teil mei­ner Zeit sein muss. Aber um Kunst zu pro­du­zie­ren, mußt du ir­gend­wie ein biß­chen lang­sa­mer sein und ein Ge­hirn ha­ben, das nicht über­schwemmt von ir­rele­van­ten In­for­ma­tio­nen ist.«

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Hier ei­ne ganz an­de­re Stim­me, sie ge­hört dem 1976 in Is­ra­el ge­bo­re­nen Hi­sto­ri­ker und Best­sel­ler­au­tor Yu­val No­ah Ha­ra­ri. In sei­nem Buch Ho­mo De­us stellt er dem Le­ser Da­vid Cope vor, ei­nen – in­zwi­schen eme­ri­tier­ten – Mu­si­ko­lo­gie­pro­fes­sor von der Uni­ver­si­ty of Ca­li­for­nia. Cope hat Com­pu­ter­pro­gram­me zur Er­stel­lung von Kla­vier­kon­zer­ten und Cho­rä­len, Sym­pho­nien und Opern ge­schrie­ben. Sein er­stes Werk zur Er­zeu­gung sol­cher Wer­ke war der EMI (Ex­pe­ri­ments in Mu­si­cal In­tel­li­gence), der auf Mu­sik in der Ma­nier von Jo­hann Se­ba­sti­an Bach spe­zia­li­siert war. »Es dau­er­te sie­ben Jah­re«, schreibt der en­thu­si­as­mier­te Ha­ra­ri, »doch als Cope da­mit fer­tig war, kom­po­nier­te EMI 5.000 Cho­rä­le à la Bach in ei­nem ein­zi­gen Tag. En­thu­sia­sti­sche Zu­hö­rer prie­sen die mit­rei­ßen­de Vor­füh­rung und er­klär­ten er­regt, wie sehr die Mu­sik ihr in­ner­stes We­sen be­rührt hät­te. Sie wuß­ten nicht, daß sie mehr von EMI als von Bach ge­schaf­fen wor­den war, und als man ih­nen die Wahr­heit ent­hüll­te, re­agier­ten die ei­nen mit ver­drieß­li­chem Schwei­gen, wäh­rend die an­de­ren sich laut­stark er­ei­fer­ten.«

Wei­ter­le­sen ...