Der Weg vom Ir­gend­wer zum Ge­walt­tä­ter

1

Als im Mai 2018 die­se un­gu­stiö­se Ge­schich­te mit der Öko­po­li­ti­ke­rin und dem Bier­wirt in der Wie­ner Jo­sef­stadt be­kannt wur­de, schie­nen mir der Fall und die Per­son nur ein wei­te­rer Be­leg für die Pro­ble­ma­tik der Iden­ti­täts­ver­wi­schun­gen im In­ter­net und die da­durch be­gün­stig­te mo­ra­li­sche Ver­ro­hung. Je­mand hat­te der Na­tio­nal­rats­ab­ge­ord­ne­ten der öster­rei­chi­schen Grü­nen Si­gi Mau­rer ob­szö­ne, be­lei­di­gen­de, mit se­xu­el­ler Ge­walt dro­hen­de Nach­rich­ten ge­schickt. Die jun­ge Frau ging da­mals oft in der Stroz­zi­gas­se im 8. Wie­ner Ge­mein­de­be­zirk an ei­nem Bier­lo­kal vor­bei, und vom Face­book-Ac­count die­ses Lo­kals stamm­ten die un­er­wünsch­ten Emails. Mau­rer mach­te sie öf­fent­lich, weil sie auf die­se Art von Ge­walt im In­ter­net auf­merk­sam ma­chen woll­te. Sie nann­te da­bei auch das Lo­kal und sei­nen Be­trei­ber. Der Mann be­haup­te­te, die ob­szö­nen Nach­rich­ten nicht ge­schrie­ben und ab­ge­schickt zu ha­ben; sein Com­pu­ter und der Ac­count sei­en sei­nen Kun­den zu­gäng­lich, die Emails kön­ne »ir­gend­wer« ge­schrie­ben ha­ben. Er ver­klag­te die Ab­ge­ord­ne­te we­gen Eh­ren­be­lei­di­gung, in der Fol­ge kam es zu Ge­richts­ver­hand­lun­gen, bei de­nen nun Mau­rer als Tä­te­rin da­stand. Als dem Bier­wirt die ju­ri­sti­schen Fel­le da­von­zu­schwim­men be­gan­nen, zog er sei­ne Kla­ge zu­rück. Knapp drei Jah­re spä­ter wur­de be­kannt, daß eben­die­ser Mann sei­ne Freun­din und Mut­ter sei­ner zwei min­der­jäh­ri­gen Kin­der in de­ren Woh­nung im 20. Be­zirk er­schoß. Er be­fin­det sich der­zeit (2021) in der Jo­sef­stadt in Un­ter­su­chungs­haft, nicht weit von sei­nem ehe­ma­li­gen Lo­kal.

Den Streit um die se­xi­sti­schen Emails führ­te ich 2018 in ei­nem Es­say an, der die­ser Pro­ble­ma­tik nach­spür­te und ver­such­te, ihr et­was ent­ge­gen­zu­set­zen, frei­lich im Be­wußt­sein, daß ich mit der Ein­mah­nung über­lie­fer­ter hu­ma­ni­sti­scher Wer­te auf ver­lo­re­nem Po­sten stand; ab­ge­se­hen da­von, daß ich da­mit oh­ne­hin nur ein ex­qui­si­tes Pu­bli­kum er­rei­chen konn­te, ge­nau­er, die Le­ser­schaft der Ti­ro­ler Kul­tur­zeit­schrift Quart. Der Mann oder die Frau, nicht ein­mal die ge­schlecht­li­che Iden­ti­tät schien ge­si­chert, wel­che oder wel­cher der Na­tio­nal­rats­ab­ge­ord­ne­ten Si­gi Mau­rer auf Face­book mit se­xu­el­ler Ge­walt droh­te und sie übel be­schimpf­te, er­schien mir als ar­mes Schwein, das sei­ne Ag­gres­sio­nen vir­tu­ell aus­le­ben muß, weil er sich im wirk­li­chen Le­ben nicht traut.

Die Re­dak­teu­rin der Zeit­schrift äu­ßer­te vor der Pu­bli­ka­ti­on Be­den­ken, weil sie ver­ständ­li­cher­wei­se kei­ne ge­richt­li­che Kla­ge ris­kie­ren woll­te, wie sie Mau­rer in­zwi­schen er­eilt hat­te, nach­dem sie den Ab­sen­der je­ner Ver­ba­l­ag­gres­sio­nen iden­ti­fi­ziert zu ha­ben glaub­te und öf­fent­lich be­nann­te. Der Bier­wirt, von des­sen Ac­count die Emails aus­ge­gan­gen wa­ren, be­haup­te­te da­ge­gen, sie we­der ge­schrie­ben noch ab­ge­schickt zu ha­ben, und warf Mau­rer Ver­leum­dung vor. Jetzt war er das Op­fer und ver­lang­te vor Ge­richt ei­ne Ent­schä­di­gung von 50.000 Eu­ro. Ne­ben­bei nütz­te er die Ge­schich­te als Wer­bung für sein Ge­schäft, in­dem er für den Ku­rier da­vor po­stier­te und sich ab­lich­ten ließ. Ich wun­der­te mich, war­um im Ver­lauf des Pro­zes­ses kein Lin­gu­ist zu­ra­te ge­zo­gen wur­de, denn ich war mir si­cher, daß ein Fach­mann durch ei­nen Ver­gleich der in­kri­mi­nier­ten Emails mit an­de­ren Tex­ten des Bier­wirts, die eben­falls öf­fent­lich wa­ren, auf die Iden­ti­tät des Ag­gres­sors schlie­ßen konn­te. Be­stimm­te sti­li­sti­sche und or­tho­gra­phi­sche Merk­ma­le schie­nen mir ganz klar auf sei­ne Iden­ti­tät hin­zu­wei­sen.

2

Mitt­ler­wei­le hat sich der Mann als rea­ler Ge­walt­tä­ter her­vor­ge­tan. Er hat die Sau, die of­fen­bar über Jah­re hin­weg sein In­ne­res be­herrsch­te, nicht nur im Schutz di­gi­ta­ler An­ony­mi­tät her­aus­ge­las­sen, son­dern durch kör­per­li­che Ge­walt und den Ge­brauch ei­ner Schuß­waf­fe. Zu­ge­setzt hat­te ihm vor der Tat nicht nur die Tren­nung von sei­ner nach­mals er­mor­de­ten Freun­din, son­dern auch die Nie­der­la­ge im Pro­zeß ge­gen Mau­rer. Die Ver­ba­l­ag­gres­si­on im Jahr 2018 ist nach sei­nem töd­li­chen Wü­ten drei Jah­re spä­ter se­kun­där, wenn auch nicht un­er­heb­lich. Ver­ges­sen soll­te man sie des­halb nicht, weil der Fall zeigt, daß es zur Ver­wirk­li­chung von an­onym oder pseud­onym ver­brei­te­ten Phan­ta­sien nur ein Schritt ist und die di­gi­ta­le Ver­ro­hung frü­her oder spä­ter ei­ne rea­le nach sich zieht. Daß Mau­rer den Fall da­mals pu­blik ge­macht hat, hat im­mer­hin be­wirkt, daß ei­ne Ver­bes­se­rung der Ge­set­ze zur Ahn­dung von vir­tu­el­ler Ge­walt im In­ter­net in An­griff ge­nom­men wur­de. Hier wa­ren An­pas­sun­gen über­fäl­lig.

Al­bert L., wie der Bier­wirt mit bür­ger­li­chem Na­men heißt, wur­de in ei­nem Ge­richts­gut­ach­ten nach dem be­gan­ge­nen Mord als zu­rech­nungs­fä­hig ein­ge­stuft. Er ist für sei­ne (mut­maß­li­che) Tat ver­ant­wort­lich und wird nicht wie bei den Emails von 2018 be­haup­ten kön­nen, »ir­gend­wer« ha­be sie be­gan­gen. Das Pro­blem mit di­ver­sen In­ter­net­fo­ren ist nach wie vor, daß das end­los aus­weit­ba­re Spiel mit vir­tu­el­len Iden­ti­tä­ten das Ver­ant­wor­tungs­be­wußt­sein und da­mit oft auch das Un­rechts­be­wußt­sein der Ein­zel­nen – aka User – aus­höhlt und ei­nen ver­hee­ren­den Ein­fluß auf die Per­sön­lich­keits­ent­wick­lung ha­ben kann. Das Arsch­loch, als das Mau­rer ei­nem wei­te­ren Ge­richts­be­schluß zu­fol­ge Al­bert L. be­zeich­nen durf­te, bleibt kein Arsch­loch, es wird zum selbst­herr­li­chen Ge­walt­tä­ter. Der Bier­wirt scheint so­gar »sei­ne« Rich­te­rin­nen in sei­ner Wahr­neh­mung se­xua­li­siert zu ha­ben. Be­ruf­li­che Ge­ge­ben­hei­ten, per­sön­li­che Zu­stän­dig­kei­ten und se­xu­el­le Ge­lü­ste scheint er nicht tren­nen zu kön­nen. Er mag an­ti­so­zi­al sein, wie es im Gut­ach­ten heißt, und ziem­lich ab­ge­dreht, wie man um­gangs­sprach­lich wird sa­gen dür­fen, oft auf Dro­gen (was frei­lich für gar nicht so we­ni­ge Mit­bür­ger gilt, die des­halb nicht gleich durch­dre­hen). Der Bier­wirt ver­kör­pert ei­nen Ty­pus von Mann, der nicht zu­letzt durch die so­ge­nann­ten So­zia­len Me­di­en ge­formt wur­de, sich selbst zwang­haft im Mit­tel­punkt sieht und nicht ge­willt ist, auch nur zu ver­su­chen, sich in an­de­re – gar ins an­de­re Ge­schlecht – ein­zu­füh­len. »Ich zu­erst« lau­tet sein Slo­gan. Wenn et­was nicht so läuft, wie ich es mir vor­ge­stellt ha­be, bin ich das Op­fer von Ma­chen­schaf­ten, Ver­schwö­run­gen usw. Die­se po­ten­ti­el­len Ge­walt­tä­ter sind weh­lei­dig, sie kön­nen es nicht ver­kraf­ten, bei ei­ner Aus­ein­an­der­set­zung den kür­ze­ren zu zie­hen. Ich ein Ver­lie­rer? Un­mög­lich! Da kön­nen nur an­de­re schuld sein. Und daß man das Le­ben auch an­ders auf­fas­sen kann, nicht nur als Kampf, son­dern als Zu­sam­men­wir­ken, auf die­se Idee kom­men sie über­haupt nicht.

3

Es ist nicht das­sel­be. Und doch. Der US-ame­ri­ka­ni­sche Prä­si­dent, der sich im­mer noch als »Lieb­lings­prä­si­dent« der Mas­sen sieht, hat­te wo­chen­lang den Be­trug an ihm und wie­der ihm ins (sozial-)mediale Spiel ge­bracht und die­sen Be­trug, als er nicht ge­schah, twit­ternd her­bei­be­haup­tet. Sei­ne An­hän­ger setz­ten das ver­ba­le Um-sich-Schla­gen des Prä­si­den­ten in die Tat um, in­dem sie das Ka­pi­tol, in dem das Par­la­ment zu ta­gen pflegt, stürm­ten, was für ei­ni­ge un­ter ih­nen töd­li­che Fol­gen hat­te. Der Ty­pus des po­pu­li­sti­schen Po­li­ti­kers – ag­gres­siv und zu­gleich weh­lei­dig – weist Ähn­lich­kei­ten auf mit dem Ty­pus des männ­li­chen Se­xi­sten, der in Ex­trem­fäl­len Ta­ten be­geht, die man in letz­ter Zeit als Fe­mi­zi­de be­zeich­net, weil sie ei­nem be­stimm­ten Mu­ster fol­gen, in dem der in sei­ner Ei­tel­keit ver­letz­te nar­ziß­ti­sche, für Ge­spräch und Mit­ge­fühl un­zu­gäng­li­che Mann die Haupt­rol­le spielt. Na­tür­lich sind Ge­set­ze sinn­voll und not­wen­dig, die das pri­va­te oder po­li­tisch-öf­fent­li­che Wü­ten un­ter Stra­fe stel­len. Lang­fri­stig kann aber nur ei­ne Än­de­rung ge­sell­schaft­li­cher Wert­hal­tun­gen hel­fen. Das be­trifft nicht nur das Männ­lich­keits­bild, son­dern die Per­sön­lich­keits­bil­dung un­ab­hän­gig vom Ge­schlecht, den Um­gang mit dem In­ter­net und be­son­ders in den So­zia­len Me­di­en, die Fä­hig­keit zum Ver­ste­hen und zum Ge­spräch vor je­der Selbst­dar­stel­lung. Ich fürch­te, daß das in den Schu­len und El­tern­häu­sern über Jahr­zehn­te hin­weg zu kurz ge­kom­men ist.

Das al­les sind nun kei­ne Neu­hei­ten, im Ge­gen­teil, es sind im Lauf jahr­hun­der­te­lan­ger abend­län­di­scher Ge­schich­te über­lie­fer­te, nicht erst seit der Ver­brei­tung des In­ter­nets, son­dern seit dem Sie­ges­zug des Neo­li­be­ra­lis­mus ins Hin­ter­tref­fen ge­ra­te­ne Wer­te. Die Kunst wird dar­in be­stehen, sie un­ter den heu­ti­gen Be­din­gun­gen von Di­gi­ta­li­sie­rung und Au­to­ma­ti­sie­rung zu er­neu­ern, al­so tech­no­lo­gi­sches Know-how mit hu­ma­ni­sti­schen, ver­mensch­li­chen­den Fä­hig­kei­ten zu ver­bin­den. Die vir­tu­el­len Wel­ten nicht da­zu zu miß­brau­chen, um sich als un­greif­ba­res prot­e­i­sches Ich über­all her­aus­zu­re­den und ge­ge­be­nen­falls aus dem Schat­ten zu­zu­schla­gen, son­dern um un­ser Vor­stel­lungs­ver­mö­gen mit Blick auf die Wirk­lich­keit zu schär­fen.

© Leo­pold Fe­der­mair

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  1. Ich fin­de die »Kar­rie­re« vom Has­ser im Netz zum »Mör­der« nicht schlüs­sig ab­ge­lei­tet. Er er­in­nert mich an die von mir nur noch am Ran­de er­fah­re­nen Vor­be­hal­te mei­ner Groß­mutter und de­ren Ge­ne­ra­ti­on ge­gen­über Bü­chern. Die konn­ten ja auch wahl­wei­se Kin­der, die Ju­gend oder die gan­ze Welt ver­der­ben.

    Der Text kon­stru­iert aus ei­ner Kor­re­la­ti­on ei­ne un­aus­weich­li­che Kau­sa­li­tät. Da­bei gibt es kaum rea­le Fak­ten, au­ßer das, was in den Me­di­en zu le­sen ist – und wer weiß, wie voll­stän­dig es ist. Die »Ver­ba­l­ag­gres­si­on« im Netz wird zur lo­gi­schen Vor­stu­fe zum »Mord« an sei­ner Freun­din. Dem­nach müss­te das Land über­sät sein von Tö­tun­gen.

    Nach even­tu­el­len Ur­sa­chen, »Grün­den« für die Tö­tung (die das Ge­sche­he­ne nicht bil­li­gen, son­dern ir­gend­wie er­klä­ren könn­ten), ist nicht die Re­de. Gab es vor­her Streit? Woll­te die Frau den »Bier­wirt« viel­leicht ver­las­sen? Es könn­te sich um ei­ne Af­fekt­tat ge­han­delt ha­ben. Im Text steht üb­ri­gens durch­gän­gig »Mord«. In Deutsch­land gibt es ja noch den Tot­schlag, d. h. ei­ne Tö­tung oh­ne Vor­satz bei­spiels­wei­se im Af­fekt. Wo­mit wird die Ein­stu­fung als Mord ge­recht­fer­tigt?

    Die Aus­sa­ge, dass der »Bier­wirt« (auch über die­se pe­jo­ra­ti­ve Be­zeich­nung könn­te man dis­ku­tie­ren – wie­so nicht »Wirt« oder »Gast­wirt«?) durch so­ge­nann­te so­zia­le Me­di­en zum Mör­der »ge­formt wur­de«, steht oh­ne Be­leg da. Wie alt ist er? Seit wann ist er in den so­zia­len Me­di­en tä­tig? Was hat er dort ge­macht (au­ßer ei­ner grü­nen Po­li­ti­ke­rin Hass­nach­rich­ten zu schicken)? Hat er viel­leicht sonst auch her­um­ge­pö­belt? Si­cher­lich wird man sei­nen Com­pu­ter in­zwi­schen be­schlag­nahmt ha­ben. Wel­che Er­kennt­nis­se hat das ge­bracht?

    Ich glau­be üb­ri­gens, dass es durch­aus Per­sön­lich­kei­ten gibt, die sich bei­spiels­wei­se von Bal­ler­spie­len zu Mord­ta­ten »in­spi­rie­ren« las­sen kön­nen. Kön­nen. Nicht müs­sen. Hier­aus pau­scha­le Schlüs­se zu zie­hen, hiel­te ich den­noch für vor­ei­lig, zu­mal da­mit all­zu oft ei­ne Schuld­min­de­rung be­haup­tet wird. Das ak­zep­tie­re ich über­haupt nicht.

    Am Schluss wird dann wie­der der Papp­ka­me­rad »Neo­li­be­ra­lis­mus« ins Bild ge­scho­ben. Aber dar­über ha­ben wir ja schon mehr­fach dis­ku­tiert.

  2. Es lag nicht in mei­ner Ab­sicht, ei­ne strik­te Kau­sa­li­tät oder gar schick­sal­haf­te Ent­wick­lung vom Ver­ba­l­ag­gres­sor zum Re­al­ag­gres­sor zu be­haup­ten. Ich den­ke, so steht das nicht im Text. In die­ser Per­son, dem »Bier­wirt« Al­bert L., den die öster­rei­chi­schen Mas­sen­me­di­en 2018 so ge­tauft ha­ben (ich über­neh­me den Bei­na­men, der in der Tat auf ei­nen Zu­sam­men­hang zwi­schen re­gel­mä­ßig über­mä­ßi­gem Al­ko­hol­kon­sum und Ge­walt­be­reit­schaft ver­weist), gab es ei­ne Dis­po­si­ti­on zu ge­walt­tä­ti­gen Hand­lun­gen. Wie die­se ent­stan­den ist, kann ich nicht ge­nau sa­gen, der Bier­wirt ist ja nur sehr be­schränkt ei­ne öf­fent­li­che Fi­gur. Si­cher ist das po­ly­kau­sal, nicht mo­no­kau­sal. Was mich an die­sem Fall in­ter­es­siert hat, ist der sehr ver­brei­te­te, ge­wis­ser­ma­ßen »nor­ma­le«, all­täg­li­che Ge­brauch von An­ony­mi­tät und Pseud­ony­mi­tät, wie er durch die So­zia­len Me­di­en er­mög­licht wur­de. Mei­ne The­se ist, daß die­ses ver­brei­te­te Spiel mit fal­schen Na­men da­zu füh­ren kann – nicht muß -, daß Iden­ti­tät über­haupt aus­ge­höhlt wird, in­dem sich ein Sub­jekt z. B. für sei­ne Äu­ße­run­gen nicht mehr ver­ant­wort­lich fühlt. Sol­che Ver­ant­wort­lich­keit muß wie ge­sagt nicht zwangs­läu­fig zu Ge­walt füh­ren, ich den­ke aber doch, daß es die­se för­dert. Man läßt im In­ter­net, in den So­zia­len Me­di­en (= SM), in den di­ver­sen Fo­ren gern die Sau raus. Im Fall des Bier­wirts liegt ei­ne Par­al­le­li­tät zwi­schen ver­ba­ler, an­ony­mer Trie­bent­hem­mung und rea­ler Trie­bent­hem­mung vor, die im Mord gip­felt. Daß das ei­ne das an­de­re zwangs­läu­fig nach sich zieht, sa­ge ich nicht. Sehr wohl aber könn­te die be­schrie­be­ne anonyme/pseudonyme Pra­xis je­ne Dis­po­si­ti­on be­stärkt ha­ben. So sieht heu­te der all­ge­mei­ne so­zia­le, di­gi­ta­li­siert-so­zia­le Rah­men aus – mit den äl­te­ren War­nun­gen vor Lek­tü­re läßt sich das kaum ver­glei­chen.

    Was mich als Be­ob­ach­ter so­zia­ler Ent­wick­lun­gen wei­ters in­ter­es­siert, ist der im­mer mehr auf­klaf­fen­de, in den SM blü­hen­de Wi­der­spruch zwi­schen dem Sich-Ver­stecken und Sich-Ver­klei­den ei­ner­seits, dem Drang zur Selbst­dar­stel­lung, zur Ver­öf­fent­li­chung von Pri­va­tem an­de­rer­seits, manch­mal in ein und der­sel­ben Per­son. Hier könn­te man den Fall des »Dra­chen­lords« – als ex­em­pla­ri­schen Ex­trem­fall – an­füh­ren, wo Ge­walt­schar­müt­zel im Netz sich eben­falls ins Rea­le ver­la­gert ha­ben. Sa­scha Lo­bo hat sei­ne Ein­schät­zung des Falls »Dra­chen­lord« un­längst lang und breit im On­line­spie­gel aus­ge­führt (https://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/der-fall-drachenlord-ein-jahrelanges-martyrium-in-deutschland-und-niemand-haelt-es-auf-kolumne-a-91b94ce3-ab01-4ac1-9286-d85bea144928). Ich glau­be – oh­ne mich ge­nau da­mit aus­ein­an­der­ge­setzt zu ha­ben -, daß vie­les von dem dort Ge­sag­ten zu­trifft, hal­te aber gleich­zei­tig da­für, daß die Prak­ti­ken von You­Tubern die­ses Schlags selbst zur Ge­walt­tä­tig­keit nei­gen. Das dürf­te auch für den Dra­chen­lord gel­ten. You­Tuber sind vor­wie­gend Spaß­ma­cher (ne­ben den Wer­be­frit­zen und ‑frie­de­ri­ken so­wie den Ver­schwö­rungs­theo­re­ti­kern). Die Über­bie­tungs­lo­gik der SM treibt sie da­zu, im­mer grö­be­re Spä­ße zu ma­chen. Auch die ob­ses­si­ve Selbst­dar­stel­lung führt dann, wie das an­ony­me Um­her­schlei­chen, Stal­ken usw., in be­stimm­ten Fäl­len zu rea­ler Ge­walt – oh­ne Kau­sa­li­täts­lo­gik, um das noch ein­mal zu be­to­nen.

    Es lag mir nicht dar­an, die Ge­schich­te des Bier­wirts im ein­zel­nen zu er­zäh­len. Es liegt in der Na­tur der Sa­che, al­so des ano/pseudonymen Agie­rens, daß man dar­über nicht all­zu­viel weiß, wenn man nicht un­ter die In­ve­sti­ga­ti­ons­jour­na­li­sten ge­hen will. Was durch die öster­rei­chi­schen Me­di­en be­kannt wur­de: Der zu­nächst nur der Ver­ba­l­ag­gres­si­on ver­däch­tig­te Mann, heu­te 46, be­trieb ein Bier­ver­kaufs- und ‑schank­lo­kal, sei­ne Freun­din, Vor­na­me Ma­ri­ja, war die Mut­ter sei­ner bei­den Kin­der, ich glau­be, bei­de Teen­ager, leb­te aber nicht mit ihr zu­sam­men. In den Me­di­en war von »On-Off-Be­zie­hung« (ko­mi­scher Aus­druck) die Re­de. Er ging be­waff­net zur Woh­nung der Freun­din, drang in die Woh­nung ein, d. h., er über­re­de­te die 13-jäh­ri­ge Toch­ter, die vor ihm Angst hat­te wie die gan­ze Fa­mi­lie, zum Auf­sper­ren, und kurz dar­auf er­schoß er Ma­ri­ja, die sich vor­her »end­gül­tig« von ihm ge­trennt hat­te. Ein Ver­wand­ter des Bier­wirts mein­te auch, daß ihm sei­ne »Nie­der­la­ge« (so wird er das emp­fun­den ha­ben) ge­gen die Po­li­ti­ke­rin Si­gi Mau­rer, ei­ne Frau, eben­falls zu­ge­setzt hat­te. Un­mit­tel­bar nach sei­ner Tat be­trank sich der Bier­wirt schwer, vor dem Haus, in dem er Ma­ri­ja er­schos­sen hat­te. An­schei­nend woll­te er sich in ei­nen Zu­stand der Un­zu­rech­nungs­fä­hig­keit brin­gen. Aber erst nach­träg­lich; vor­her dürf­te er nicht schwer be­trun­ken ge­we­sen sein. Es deu­tet al­so vie­les auf Mord hin. Ich füh­le mich nicht durch die »Un­schulds­ver­mu­tung« ge­zwun­gen, die­se Mord­ver­mu­tung hier zu un­ter­drücken. Na­tür­lich steht das Ge­richts­ur­teil dar­über noch aus. Es gibt aber über­haupt kei­nen Zwei­fel dar­an, daß Al­bert L. der Tä­ter ist.

    In letz­ter Zeit gab es in Öster­reich vie­le Mor­de an Frau­en, die man sich als »Fe­mi­zi­de« zu be­zeich­nen an­ge­wöhnt hat. Ich weiß nicht, ob die Be­zeich­nung gut ist, aber je­den­falls ver­weist sie auf ein Phä­no­men, das durch ver­kom­me­ne Ge­schlech­ter­be­zie­hun­gen her­vor­ge­ru­fen ist. Der hier be­spro­che­ne Fall ist wohl ein Fe­mi­zid. Die Ver­ro­hung, die ich be­ob­ach­ten zu kön­nen glau­be (und bei der die Di­gi­ta­li­sie­rung mit der Pra­xis der SM ei­ne Rol­le spielt, aber kei­nes­wegs NUR die Di­gi­ta­li­sie­rung), trägt m. E. da­zu bei, daß sol­che Ver­bre­chen ge­sche­hen. (Si­cher, es gab auch frü­her Fe­mi­zi­de... Die­sen Ein­wand, der so oft kommt, ha­be ich kei­ne Lust zu dis­ku­tie­ren, er blockiert eher das Nach­den­ken, als daß er da­bei hilft.)

    Neo­li­be­ra­lis­mus: Ich sa­ge le­dig­lich, daß man mit die­sem Wort die Rah­men­be­din­gun­gen be­zeich­nen könn­te, die auf sehr vie­le Le­bens­be­rei­che wir­ken, und zwar seit den acht­zi­ger Jah­ren, vor der Digitalisierung.L

  3. Es geht mir nicht um die Un­schulds­ver­mu­tung. Dass der so­ge­nann­te »Bier­wirt« die Tat ver­übt hat, soll­te klar sein. Es geht mir dar­um, dass man sich an­maßt vom Schreib­tisch aus das Ur­teil »Mord« aus­zu­spre­chen. Selbst wenn In­di­zi­en da­für spre­chen – In­di­zi­en, die man al­ler­dings wohl nur aus Me­di­en er­hal­ten hat. Die könn­ten un­voll­stän­dig sein oder schlicht­weg falsch. Könn­ten. Ich fra­ge mich im­mer, wie man sich zu sol­chen Be­haup­tun­gen auf­schwin­gen kann.

    Der Ge­dan­ke, dass die An­ony­mi­sie­rung im In­ter­net sol­che Ta­ten in ir­gend­ei­ner Form be­schleu­ni­gen könn­ten, ist durch nichts un­ter­füt­tert. Wie ge­sagt, es gibt an­ony­me Hass-Mobs und es ist si­cher­lich leich­ter ge­wor­den als frü­her, Men­schen zu be­schimp­fen und zu stal­ken. Die ju­sti­zia­blen Mög­lich­kei­ten sind hier im­mer noch sehr schwie­rig. Aber ich kann den Zu­sam­men­hang zwi­schen ei­nem Mord oder Tot­schlag und der An­ony­mi­sie­rung im In­ter­net wirk­lich nicht er­ken­nen.

    Von der »Drachenlord«-Geschichte ken­nen wir, nein: ken­ne ich nur die­se Ver­si­on. Ich weiß nicht ob sie stimmt bzw. was weg­ge­las­sen wur­de.

    Las­sen wir un­se­re Dif­fe­ren­zen ste­hen.

    Off to­pic: Wie Sie se­hen, ist die­se Sei­te mau­se­tot, was mei­ne Lust zum Auf­hö­ren ver­stärkt. Dem­nächst mehr.

  4. Zu die­sem Text ha­be ich mir ei­ni­ge Ein­wän­de no­tiert.

    Ein­wand #1: Je­mand hat Sig­rid Mau­rer die pri­va­ten Nach­rich­ten nicht vom Face­book-Ac­count des Bier­lo­kals ge­sen­det, son­dern vom per­sön­li­chen, auf sei­nen Na­men lau­ten­den Face­book-Ac­count des Al­bert L. Screen­shots da­von sind oh­ne wei­te­res re­cher­chier­bar. Da­mit ist der »Be­leg« für die Pro­ble­ma­tik der Iden­ti­täts­ver­wi­schun­gen im In­ter­net als un­zu­tref­fend er­kenn­bar, an dem der ge­sam­te nach­fol­gen­de Text kei­nen Halt fin­den kann. Anonymität/Pseudonymität ha­ben im ge­wähl­ten Fall­bei­spiel ge­ra­de kei­ne Be­deu­tung. Den­noch spielt der Text da­mit, um sich dar­an, was re­al nicht vor­han­den ist, zu ent­wickeln und Vor­stel­lun­gen dar­auf zu pro­ji­zie­ren. Der Text ent­gleist fak­tisch be­reits zu Be­ginn un­rett­bar.

    Ein­wand #2: Sig­rid Mau­rer wur­de erst­in­stanz­lich der üb­len Nach­re­de schul­dig ge­spro­chen, da sie pri­va­te Nach­rich­ten un­ter Nen­nung der nach rich­ter­li­chen An­sicht un­be­wie­se­nen Ur­he­ber­schaft auf Face­book ver­öf­fent­licht hat­te. Be­rück­sich­tigt man dies in Ein­heit mit dem oben auf­ge­zeig­ten Ein­wand, drängt sich die Fra­ge nach der Ver­ant­wort­lich­keit für ei­nen of­fe­nen Soft­ware-Ac­count auf, der auf ei­nem frei zu­gäng­li­chen Rech­ner vor­ge­fun­den wird. Auf dem Rech­ner des Al­bert L. konn­te auch vom Ac­count ei­nes als rea­le Per­son exi­sten­ten Max Mu­ster­mann ge­po­stet wer­den, dies­falls nicht L., son­dern Max Mu­ster­mann zu be­schul­di­gen wä­re. Die­se we­sent­li­chen Zu­sam­men­hän­ge spie­len im Text kei­ne Rol­le. Auch der ver­link­te Text im Quart schei­tert (nicht nur) dar­an.

    Ein­wand #3: Der Text setzt nicht nur den Irr­tum in #1 mit dem »Schutz di­gi­ta­ler An­ony­mi­tät« fort, son­dern be­haup­tet ei­ne »her­aus­ge­las­se­ne Sau«. Da­mit schließt der Text ei­ner­seits in Un­kennt­nis der Dy­na­mik un­mit­tel­bar vor den Schuss­ab­ga­ben die Mög­lich­keit ei­nes Af­fekt­sturms aus, an­de­rer­seits un­ter­stellt der Text da­mit L. ver­deckt ein la­ten­tes Mord­be­dürf­nis.

    Ein­wand #4: Die Le­bens­ge­fähr­tin des L. be­en­de­te ei­ne fünf­zehn­jäh­ri­ge Be­zie­hung we­ni­ge Ta­ge zu­vor, nach­dem ihr Va­ter L. we­gen ver­ba­ler Un­ge­bühr­lich­kei­ten aus der Woh­nung ver­wie­sen hat­te und L. dar­auf­hin ei­ne Waf­fe auf den Va­ter ge­rich­tet hat­te. Der Vor­fall, bei dem die Freun­din zu­ge­gen war, wur­de – wohl aus Rück­sicht­nah­me – nicht an­ge­zeigt. Die­se Be­ge­ben­heit ist dem Text sicht­lich un­be­kannt.

    Ein­wand #5: Der Text sagt: »Die Ver­ba­l­ag­gres­si­on im Jahr 2018 ist nach sei­nem töd­li­chen Wü­ten drei Jah­re spä­ter se­kun­där, wenn auch nicht un­er­heb­lich. Ver­ges­sen soll­te man sie des­halb nicht, weil der Fall zeigt, daß es zur Ver­wirk­li­chung von an­onym oder pseud­onym ver­brei­te­ten Phan­ta­sien nur ein Schritt ist und die di­gi­ta­le Ver­ro­hung frü­her oder spä­ter ei­ne rea­le nach sich zieht.«
    In der Ver­ba­l­ag­gres­si­on hat­te er un­ter an­de­rem ei­nen Geld­be­trag für ei­ne an ihm be­frie­di­gend vor­ge­nom­me­ne Fel­la­tio aus­ge­lobt. Mit dem Tö­tungs­de­likt an sei­ner Le­bens­ge­fähr­tin hat die ge­gen­über Mau­rer ge­äu­ßer­te Phan­ta­sie al­ler­dings ex­akt nichts zu tun – der Fall zeigt das mit­nich­ten. Schließ­lich wur­de Ls. Le­bens­ge­fähr­tin nicht durch Er­sticken in­fol­ge blockier­ter Atem­we­ge zu To­de ge­bracht und an­de­rer­seits Mau­rer nicht mit dem Er­schie­ßen be­droht. Die­ser Fehl­schluss trägt die Be­zeich­nung »non se­qui­tur« und ist al­lent­hal­ben zu fin­den in sich in­tel­lek­tu­ell her­aus­ra­gend wäh­nen­den Zir­keln, vor­nehm­lich in Chef­re­dak­tio­nen von Qua­li­täts­zei­tun­gen be­hei­ma­tet. Rund um sol­che Fehl­schlüs­se wer­den schließ­lich al­ler­lei Phan­ta­sien und Hirn­ge­spin­ste ge­pflanzt und als Leit­plan­ken für das Den­ken des ge­mei­nen Vol­kes ver­brei­tet.

    Ein­wand #6: Der Text be­haup­tet rea­le Ver­ro­hung als zwangs­läu­fi­ge Fol­ge (»frü­her oder spä­ter«) di­gi­ta­ler Ver­ro­hung, weil der Fall des L. zei­ge, »daß es zur Ver­wirk­li­chung von an­onym oder pseud­onym ver­brei­te­ten Phan­ta­sien nur ein Schritt ist«. Ab­ge­se­hen von der Fort­schrei­bung des Irr­tums in #1, wird Ur­sa­che und Wir­kung ver­kannt (Fehl­schluss »post hoc er­go prop­ter hoc«). Da­mit di­gi­ta­le Ver­ro­hung sich zei­gen kann, muss zwin­gend ei­ne Ver­ro­hung auf an­de­rer Ebe­ne – z.B. des Den­kens (Vor­ur­tei­le, etc.) – vor­lie­gen, wel­che ih­rer­seits im täg­li­chen Le­ben – z.B. in ge­sell­schaft­li­chen In­ter­ak­ti­ons­mu­stern oder in ver­öf­fent­lich­ten [Zeitungs]Texten – in Er­schei­nung tritt.

    Ein­wand #7: Der Text stellt den L. als »Ty­pus von Mann« vor, der nicht zu­letzt durch die so­zia­len Me­di­en ge­formt wer­de. Ei­ne denk­ba­re psy­cho­pa­tho­lo­gi­sche Pro­blem­stel­lung greift der Text nir­gends auf. Al­bert L. wur­de 1978 ge­bo­ren und in völ­li­ger Ab­we­sen­heit von di­gi­ta­len »so­zia­len Me­di­en« so­zia­li­siert. Es sei ins Be­wusst­sein ge­ru­fen, dass Twit­ter und Face­book erst seit 2006 bzw. 2004 on­line sind. Auch wenn man der Theo­rie von der le­bens­lan­gen Pla­sti­zi­tät psy­chi­scher Ei­gen­schaf­ten zu­neigt, wird man Ge­wicht und Be­deu­tung der psy­chi­schen Ent­wick­lung des Men­schen bis in das frü­he Er­wach­se­nen­al­ter nicht ge­ring­schät­zen kön­nen. Psy­cho­pa­tho­lo­gi­sche Auf­fäl­lig­kei­ten wer­den bei Men­schen mitt­le­ren und hö­he­ren Le­bens­al­ters ( > 40) durch so­zia­le Me­di­en nicht ge­formt, son­dern bloß für ei­ne brei­te Öf­fent­lich­keit sicht­bar. Mit der im Text vor­ge­nom­me­nen Ty­pi­sie­rung geht die Aus­blen­dung ei­ner zu­meist gut be­han­del­ba­ren psy­chi­schen Stö­rung ein­her. Sub­li­me Aus­sa­ge des Tex­tes: Die­se Ty­pen sind un­ver­än­der­bar so und zu­dem po­ten­ti­el­le Ge­walt­tä­ter.

    Ein­wand #8: Der Text spricht aus­drück­lich von Mord (»sei­ner nach­mals er­mor­de­ten Freun­din« bzw. »nach dem be­gan­ge­nen Mord«), wenn auch an ei­ner Stel­le als in Klam­mer ge­setz­te Mut­ma­ßung re­la­ti­viert. Dass dar­über ein Ge­richt zu ent­schei­den hat, ob ein Mord vor­liegt, wird in ei­ner kom­men­tie­ren­den An­mer­kung be­reits zu­ge­stan­den. Den­noch ei­ne Mord­ver­mu­tung gel­tend zu ma­chen, ist un­ter »Irr­tum“ zu sub­su­mie­ren. Da­zu im De­tail: Der Tä­ter gab zwei Schüs­se ab. Ei­ner traf ei­nen Ober­schen­kel des Op­fers, der an­de­re den Kopf. Der An­klä­ger hat un­ter an­de­rem den Tat­her­gang zu be­wei­sen. Wo wur­de das Op­fer zu­erst ge­trof­fen? Ei­ne der bei­den Va­ri­an­ten ist we­sent­lich wahr­schein­li­cher; die­se wür­de ich als Ver­tei­di­ger mit Nach­druck ver­tre­ten, weil da­mit die an­ge­klag­te Mord­ab­sicht ef­fek­tiv in Zwei­fel zu zie­hen ist.

    Als be­mer­kens­wert darf auch der per­for­ma­ti­ve Wi­der­spruch des Tex­tes gel­ten. Von über­lie­fer­ten, ins Hin­ter­tref­fen ge­ra­te­nen Wer­ten ist dar­in die Re­de, de­ren Er­neue­rung an­stün­de . Der Text bringt, wie auf­ge­zeigt, Irr­tum, Vor­ur­teil und Vor­ver­ur­tei­lung zum Aus­druck mit der ab­schlie­ßen­den Mah­nung „[...], son­dern um un­ser Vor­stel­lungs­ver­mö­gen mit Blick auf die Wirk­lich­keit zu schär­fen“. Ei­ner die­ser ins Hin­ter­tref­fen ge­ra­te­nen Wer­te wird wohl mit „Ge­rech­tig­keit“ be­zeich­net. Ein an­de­rer Wert heißt „Auf­klä­rung“, dem die im Text vor­ge­nom­me­ne Ty­pi­sie­rung zu­wi­der läuft.

    Der Text – nicht der Au­tor, wohl­ge­merkt! – steht ge­ra­de­zu ex­em­pla­risch für die in­tel­lek­tu­el­le Ver­ro­hung ei­ner ge­ho­be­nen Bil­dungs­klas­se mit ins Ex­tre­me kul­ti­vier­tem Di­stink­ti­ons­an­spruch. »Wer wirt­schaft­lich er­folg­reich ist, hat recht« – ein Man­tra neo­li­be­ral-pri­vi­le­gier­ter Selbst­ver­si­che­rung. Wer sich am Aus­druck »ge­ho­be­ne Bil­dungs­klas­se« stößt, er­set­ze ihn mit dem Aus­druck »Ab­hän­gen­de«. Wäh­rend die »Ab­ge­häng­ten« sich bis­lang ein­ge­ste­hen muss­ten, ge­sell­schaft­lich nicht mehr Schritt hal­ten zu kön­nen, for­mu­lie­ren die »Ab­hän­gen­den« mitt­ler­wei­le un­ver­hoh­len de­spek­tier­lich, dass sie mit den an­de­ren nichts zu tun ha­ben wol­len.

    Der rechts­kräf­tig an­ge­klag­te L. führ­te ei­nen klei­nen, her­un­ter­ge­kom­me­nen »Craftbeer«-Laden, den wohl auch der Au­tor (Vor­sicht: rei­ne Spe­ku­la­ti­on!) um nichts in der Welt be­tre­ten hät­te. Den neo­li­be­ral-pri­vi­le­gier­ten Ab­hän­gen­den at­te­stie­re ich nicht nur Un­wil­len, son­dern blan­kes Un­ver­mö­gen, die lang­fri­stig schlimm­sten­falls ra­di­ka­li­sie­ren­den Fol­gen ma­ni­fe­ster Ar­mut und täg­li­cher Exi­stenz­angst sich zu ver­ge­gen­wär­ti­gen und dar­aus ge­sell­schaft­lich re­le­van­te Schluss­fol­ge­run­gen zu zie­hen. Dar­über um­fas­send sich zu in­for­mie­ren und so­dann nach­zu­den­ken sei ih­nen da­her wärm­stens an­emp­foh­len.

    Zu­sam­men­ge­fasst kann ich dem ver­un­glück­ten Text nichts ab­ge­win­nen. Ich neh­me ihn als To­tal­scha­den wahr.
    (be­tref­fend ver­blie­be­ner or­tho­gra­fi­scher Auf­fäl­lig­kei­ten er­bit­te ich Nach­sicht)

  5. Im Kom­men­tar von h.z. wä­re nun auch ei­ni­ges zu be­rich­ti­gen. Ich will aber nicht klein­lich sein und vor al­lem den Wald se­hen, nicht nur die Bäu­me.

    Der Com­pu­ter und der FB-Ac­count des Al­bert L. war sei­nen Kun­den bzw. Gä­sten zu­gäng­lich, gab die­ser vor Ge­richt an. Des­halb kön­ne die in­kri­mi­nier­ten Mails »ir­gend­wer« (sprich: je­der­mann) ge­schrie­ben ha­ben, er aber sei es nicht ge­we­sen. M. E. hät­te man die Ur­he­ber­schaft durch ver­glei­chen­de Text­ana­ly­sen (Stil, Or­tho­gra­phie) leicht her­aus­be­kom­men kön­nen. 2018 wun­der­te ich mich, daß das nicht ge­schah. Der Bier­wirt woll­te sich sei­ner Ver­ant­wor­tung ent­zie­hen und die An­ony­mi­tät des Net­zes – einst als »Of­fen­heit« ge­lobt – da­für nüt­zen. Dar­um ging und geht es mir. Selbst­ver­ständ­lich gibt es bei der Per­sön­lich­keits­ent­wick­lung sehr ver­schie­de­ne Fak­to­ren. Im früh­kind­li­chen Sta­di­um ist auch heu­te der Ein­fluß So­zia­ler Me­di­en ge­ring. Ich glau­be aber sehr wohl, daß die heu­te ver­brei­te­te Form der In­ter­net­kom­mu­ni­ka­ti­on vor­han­de­ne Ten­den­zen be­stär­ken kann. Ver­wei­gern von Ver­ant­wor­tung ist na­tür­lich äl­ter als das In­ter­net. Un­ter den ge­gen­wär­ti­gen Be­din­gun­gen der Di­gi­tal­kom­mu­ni­ka­ti­on hat sich die­ses Phä­no­men nach mei­ner The­se aber ver­stärkt und ver­schärft. Das heißt nicht, daß je­der, der SM nutzt, ver­ant­wor­tungs­los ist oder wird.

    Daß Al­bert L. die Fa­mi­lie sei­ner Freun­din in de­ren Woh­nung mit ei­ner Schuß­waf­fe be­droht hat­te, war mir sehr wohl be­kannt. Es ist dies, zu­sam­men mit an­de­ren In­di­zi­en, die ich z. T. er­wäh­ne, ein wei­te­rer Grund zur An­nah­me, es ha­be sich um ei­nen Mord ge­han­delt. Wie­so dringt je­mand man mit ei­ner Schuß­waf­fe in die Woh­nung ei­ner »be­freun­de­ten« Fa­mi­lie ein? Na­tür­lich muß ein Ge­richt das al­les im De­tail klä­ren.

    Ich ver­tre­te kei­ner­lei Fa­ta­lis­mus oder De­ter­mi­nis­mus der Ent­wick­lung und des Ver­hal­tens von In­di­vi­du­en. Je­der hat die Mög­lich­keit, von ei­nem ein­ge­schla­ge­nen Weg wie­der ab­zu­ge­hen. Was mich aber in­ter­es­siert, sind die Aus­wir­kun­gen di­gi­ta­li­sier­ter und ver­netz­ter Kom­mu­ni­ka­ti­on auf die so­zi­al­psy­cho­lo­gi­schen Ver­hält­nis­se. Und ich ste­he zu mei­ner Be­haup­tung , daß die­se Aus­wir­kun­gen mas­siv sei­en und über­wie­gend nicht sehr er­freu­lich (was na­tür­lich ei­ne Fra­ge von Wer­ten und Wer­tun­gen ist). In der Bil­dungs­po­li­tik – vor al­lem Schu­len – wer­den meist nur tech­ni­sche und fi­nan­zi­el­le Aspek­te, Com­pu­ter für al­le, schnel­les In­ter­net usw., be­ach­tet. Gei­sti­ge, mensch­li­che, so­zia­le, psy­chi­sche Zu­sam­men­hän­ge – Chan­cen und Ge­fah­ren – fal­len da­bei un­ter den Tisch. Es gibt in den mei­sten Schu­len kei­nen Un­ter­richt, der das be­rück­sich­ti­gen wür­de, und zwar welt­weit. Mei­ne Über­le­gun­gen lau­fen im­mer wie­der auf die Fra­ge hin­aus, wie man Di­gi­ta­li­sie­rung und über­lie­fer­te hu­ma­ne, hu­ma­ni­sti­sche Stan­dards un­ter ei­nen Hut brin­gen kann.

    P. S. Der ge­ho­be­nen Bil­dungs­klas­se ge­hö­re ich nicht an, ich bin Au­to­di­dakt und stam­me aus klei­nen Ver­hält­nis­sen. Hin und wie­der su­che ich im­mer noch »her­un­ter­ge­kom­me­ne Lo­ka­le« auf. Wirt­schaft­lich er­folg­reich bin ich nicht, im Ge­gen­teil, ich ha­be Angst vor der sog. Al­ters­ar­mut (bin jetzt 64).

  6. @ h.z.

    Noch et­was. Der Bier­wirt hat­te sei­ne Kla­ge ge­gen Sig­rid Mau­rer zu­rück­ge­zo­gen, der Rich­ter sprach Mau­rer dar­auf­hin frei. (In­fo z. B. hier: https://www.spiegel.de/panorama/justiz/oesterreich-gruenen-politikern-sigrid-maurer-freigesprochen-a-3a4ab18d-6dd3-488f-b7db-b81243889ea9). In ei­nem wei­te­ren Pro­zeß wur­de Mau­rer in Wien be­stä­tigt, daß sie Al­bert L. auch »Arsch­loch« nen­nen durf­te. (https://futurezone.at/netzpolitik/urteil-sigi-maurer-durfte-bierwirt-arschloch-nennen/401177866) Ih­re Dar­stel­lung ist, wenn nicht mut­wil­lig ir­re­füh­rend, so zu­min­dest ten­den­zi­ös. Mau­rer ist hier nicht Tä­te­rin, sie war Op­fer. Ver­dre­hen Sie das nicht!

  7. Al­so, ich le­se ei­ne kur­ze Ge­schich­te über das Tö­ten, wo an­schlie­ßend ein no­to­ri­scher US-Prä­si­dent ei­nen Gast­auf­tritt hat. Die­sen Epi­log hät­te ich weg­ge­las­sen, weil der Nar­ziss­mus von Trump zwar ex­em­pla­risch aber kei­nes­wegs be­rufs­un­ty­pisch ist. Was wir oh­ne schrä­ge Ver­glei­che auch für Si­gi Mau­rer fest­stel­len kön­nen. Es trifft ja kei­ne Un­schul­di­gen, wie der Zy­ni­ker sagt... Im Ernst, Psy­cho­ana­ly­se hat ei­nen be­grenz­ten An­wen­dungs­kreis, und ich wür­de mich von vor­ne her­ein the­ma­tisch be­schrän­ken, ent­we­der auf das durch­schnitt­li­che In­di­vi­du­um un­ter so­zia­lem Druck, oder auf die ex­or­bi­tan­ten Teil­neh­mer auf der po­li­ti­schen Büh­ne, de­ren »Per­sön­lich­keit« auf uns al­le zu­rück­wirkt.
    Ich stel­le auf der Ba­sis mei­ner Selbst­er­pro­bung über die letz­ten Jah­re hin­weg fest, dass die Dif­fe­renz zwi­schen dem Öf­fent­li­chen und dem Pri­va­ten im­mer noch sta­bil ist. Ich weiß, wo ich mich be­fin­de, und was ich mir lei­sten darf, und was nicht. Al­ler­dings schließt die­se Funk­tio­na­li­tät kei­nes­wegs die Ur­teils­si­cher­heit in po­li­ti­schen Fra­gen ein. In die­sem Be­reich er­le­be ich ei­ne stän­di­ge Ver­un­si­che­rung bzw. Fru­stra­ti­on. Dürf­ti­ge In­for­ma­ti­ons­la­ge, Sprach­ver­hun­zung, End­los-Wer­te-Dis­kus­si­on, Funk­tio­närs­dumm­heit, und Früh-Prä­po­tenz beim Nach­wuchs. Das Po­li­ti­sche wird gif­tig, wie mir scheint, je­den­falls der Do­sis nach. Den Ab­stand zu die­sen Zu­mu­tun­gen fin­det der ge­plag­te Zeit­ge­nos­se ganz si­cher im Pri­va­ten, es sei denn da geht es eben­falls drun­ter und rü­ber, dann ist wirk­lich gu­ter Rat teu­er.
    Wo­ge­gen ich mich streu­be, ist ei­ne Über­di­men­sio­nie­rung des Öf­fent­li­chen (von Öf­fent­lich­keit), wie sie die po­li­ti­sche Ak­ti­vi­tät ge­wis­ser­ma­ßen nach sich zieht. Ich wür­de das bür­ger­li­che In­di­vi­du­um eher als rand­stän­di­gen Teil­neh­mer be­grei­fen, nicht als den pro­to­ty­pi­schen »Po­li­ti­ker«. Der Klas­sen­be­griff (bour­geois) ist oh­ne­hin ob­so­let, aber ich den­ke, es macht schon ei­nen ge­wal­ti­gen Un­ter­scheid, ob ich nur ei­ne Mei­nung ha­be, zu die­sem oder je­nem The­ma, oder ob ich ak­tiv auf an­de­re zu­ge­hen, sie über­zeu­gen oder be­kämp­fen muss. Po­li­tik als Be­ruf, wie Max We­ber sag­te, ist nicht der exi­sten­zi­el­le Nor­mal­fall. Es kann (um Leo­pold ent­ge­gen zu kom­men) sein, dass der ei­ne oder an­de­re »Psy­cho« die Gren­ze zwi­schen dem teil­neh­men­den Bür­ger und dem kom­bat­tan­ten Ekel in­zwi­schen nicht mehr fin­det, aber ge­nau die­se Ent­ar­tung ha­ben wir ja schon mit dem Be­griff »Wut­bür­ger« er­fasst...

  8. @Leopold Fe­der­mair
    Wenn Sie mich an­spre­chen, er­war­te ich, dass Sie sich ar­gu­men­ta­tiv auf mei­ne Ein­las­sun­gen be­zie­hen. Auf dem Ni­veau Ih­res Nach­schla­ges #6 gibt es mit mir kei­ne Ver­stän­di­gung. Wenn Sie nen­nens­wer­te Be­rich­ti­gungs­er­for­der­nis in mei­nen dar­ge­leg­ten Ein­wän­den er­blicken, le­gen Sie Ih­re An­mer­kun­gen vor, so­dass ich mich da­mit aus­ein­an­der­set­zen kann. Auf Ih­ren als gön­ner­haf­tes Hin­weg­se­hen ca­mou­flier­ten Dis­kre­di­tie­rungs­ver­such mei­ner vor­ge­stell­ten ba­sa­len Text­ana­ly­se ver­zich­te ich. So­weit zur un­mit­tel­ba­ren at­mo­sphä­ri­schen Stand­ort­be­stim­mung.

    Mit der Be­haup­tung, Al­bert L. woll­te sich sei­ner Ver­ant­wor­tung ent­zie­hen, in­dem er auf die Mög­lich­keit des »Ir­gend­wer« als Ver­fas­ser der Mails ver­wies, ir­ren Sie aber­mals. Der An­klä­ger zieht den An­ge­klag­ten zur Ver­ant­wor­tung und nicht um­ge­kehrt. An­klä­ger: Al­bert L., An­ge­klag­te: Sig­rid Mau­rer. Die­se Form der Un­ter­stel­lung fin­det im jour­na­li­sti­schen, wie auch im po­li­ti­schen All­tag brei­te An­wen­dung. Sie wird mei­nes Wis­sens nach »Framing« ge­nannt.

    Mau­rer hat­te das Recht und die Mög­lich­keit, im Straf­pro­zess den Wahr­heits­be­weis für ih­re Be­haup­tung der Ur­he­ber­schaft Ls. zu er­brin­gen. Vor dem erst­in­stanz­li­chen Rich­ter blieb die­sem Un­ter­fan­gen der Er­folg ver­sagt, da­her ver­ant­wor­te­te sie den Vor­wurf der üb­len Nach­re­de mit Ur­teil. Die den an­ge­bo­te­nen Wahr­heits­be­weis ab­leh­nen­de Ar­gu­men­ta­ti­on Ls. (wel­cher der Rich­ter letzt­lich folg­te), »ir­gend­wer« hät­te die Mails schrei­ben kön­nen, ist aus rein lo­gi­schen Grün­den oh­ne Fra­ge zu­läs­sig und in­so­fern un­be­streit­bar, wie auch vom Be­ru­fungs­ge­richt an­er­kannt.

    Das Ur­teil ge­gen Mau­rer wur­de da­her mit der lei­ten­den Be­grün­dung auf­ge­ho­ben, dass die Lat­te für den ge­lin­gen­den Wahr­heits­be­weis vom Erst­ge­richt ge­ra­de­zu un­er­reich­bar hoch an­ge­setzt wur­de und so­mit le­bens­fremd er­schien. Im zwei­ten Rechts­gang zog L., wie Sie zu­tref­fend er­wäh­nen, sei­ne An­kla­ge schließ­lich zu­rück, wes­halb Mau­rer von ei­nem an­de­ren Rich­ter oh­ne in­halt­li­che Wür­di­gung des Klags­vor­wurfs aus for­ma­len Grün­den frei­ge­spro­chen wur­de.

    Und noch ei­ne An­mer­kung zum vor­ge­tra­ge­nen Nar­ra­tiv: Nir­gend­wo ist die In­for­ma­ti­on zu re­cher­chie­ren, dass L. Ta­ge zu­vor in die Woh­nung ein­ge­drun­gen sei, in der er den »Schwie­ger­va­ter« mit ei­ner Waf­fe be­droht hat­te. Mir drängt sich mitt­ler­wei­le der Ver­dacht auf, dass hier ein con­fir­ma­ti­on bi­as wirk­sam ist.

    Die An­ony­mi­tät des Net­zes spiel­te im ge­wähl­ten Fall über­haupt kei­ne Rol­le. Nir­gend­wo wur­de be­haup­tet, dass Ls. Face­book-Ac­count et­wa ge­knackt oder sonst in ir­gend­ei­ner Wei­se vir­tu­ell miss­braucht wor­den sei. Im­mer war die Re­de von an­we­sen­den Per­so­nen, die phy­si­schen Zu­gang zu Ls. Rech­ner hat­ten.

    Die Pro­ble­ma­tik der An­ony­mi­tät des Net­zes sei da­mit kei­nes­wegs vom Tisch ge­wischt, möch­te ich aus­drück­lich be­to­nen. Der ge­wähl­te Fall des Al­bert L. ist aber – wie be­reits aus­führ­lich ge­zeigt – denk­bar un­ge­eig­net für ei­ne an sich in­ter­es­san­te Fra­ge­stel­lung und The­sen­ent­wick­lung. Da­für ei­nen der An­sät­ze in #7 (die_kalte_Sophie), z.B. das Ver­hält­nis zwi­schen dem Öf­fent­li­chen und dem Pri­va­ten, zu wäh­len, hiel­te ich für we­sent­lich er­gie­bi­ger.

    P.S. Dass ein pro­mo­vier­ter Phi­lo­lo­ge als Au­to­di­dakt und als nicht der ge­ho­be­nen Bil­dungs­klas­se zu­ge­hö­rig sich de­fi­niert, er­staunt ei­ni­ger­ma­ßen, ist aber nicht wei­ter zu er­ör­tern.

  9. @ h.z.
    Was ich in mei­nem Kom­men­tar #6 schrei­be, be­darf kei­ner gro­ßen Er­läu­te­run­gen. Mau­rer wur­de in er­ster In­stanz we­gen üb­ler Nach­re­de schul­dig ge­spro­chen. Die­ses Ur­teil emp­fand ich wie vie­le an­de­re als skan­da­lös. M. E. hät­te man die Iden­ti­tät des Ver­fas­sers und Ab­sen­ders der Be­lei­di­gun­gen und Dro­hun­gen (= A. L.) oh­ne wei­te­res fest­stel­len kön­nen. Ten­den­zi­ös ist in Ih­rem er­sten Kom­men­tar, daß Sie mit kei­nem Wort er­wäh­nen, daß Mau­rer im März 2019 in zwei­ter In­stanz vom Ober­lan­des­ge­richt Wien frei­ge­spro­chen wur­de. Die­ses zwei­te Ur­teil, und nur die­ses, ist rechts­kräf­tig. Aber das Ent­schei­den­de da­bei ist: Mau­rer wur­de zu­nächst und aus hei­te­rem Him­mel, oh­ne daß sie ihm et­was zu­lei­de ge­tan hät­te, von je­nem Mann an­ge­grif­fen. Mau­rer ist die An­ge­grif­fe­ne, nicht A. L., der spä­te­re Mör­der oder Tot­schlä­ger – das Ge­richt wird es fest­stel­len.

  10. @ h.z.

    Noch zur Vor­ge­schich­te der Blut­tat: Jour­na­li­sten ge­gen­über »er­hob al­ler­dings der Va­ter (der ge­tö­te­ten Ex-Freun­din von Al­bert L.) schwe­re Vor­wür­fe, dass der Tat­ver­däch­ti­ge in der Wo­che vor der Tat bei ei­nem Streit be­reits Schüs­se – auch in Rich­tung des Kon­tra­hen­ten – ab­ge­ge­ben ha­be. Das be­stä­tig­te die Rechts­ver­tre­tung der Op­fer­fa­mi­lie, die An­wäl­tin Astrid Wag­ner, ge­gen­über der APA. ‘Da­zu sind aber noch Er­he­bun­gen im Gan­ge.’ Von ei­ner An­zei­ge sah die Fa­mi­lie je­doch ab.« Der Va­ter sag­te dann noch, ei­ne An­zei­ge sei nicht er­stat­tet wor­den, weil man be­fürch­tet hat­te, A. L. zu rei­zen und da­durch die Fa­mi­lie in Ge­fahr zu brin­gen. Es be­stand al­so be­reits die aku­te Ge­fahr ei­nes Fe­mi­zids. Lei­der konn­te er nicht ver­hin­dert wer­den. (https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/chronik/wien-chronik/2103542-Bierwirt-soll-eine-Woche-vor-der-Tat-Schuesse-abgegeben-haben.html)

    Ich ha­be Ih­nen nun schon ei­ni­ge Quel­len ge­nannt. Ge­nügt Ih­nen das nicht? Ich ver­su­che, mich auf Tat­sa­chen zu be­zie­hen. Daß sie be­reits durch jour­na­li­sti­sche Dar­stel­lung ge­fil­tert sind, ist un­ver­meid­lich. Trotz­dem kann sich je­der ein Bild von den Vor­fäl­len ma­chen.

  11. @Leopold Fe­der­mair
    Ich neh­me zur Kennt­nis, dass Sie mei­ne un­ter #4 for­mu­lier­ten Ein­wän­de zum vor­ge­stell­ten Text trotz An­mah­nung in #8 nicht be­han­deln wol­len. An ei­ner Ver­hand­lung der (mir durch­aus be­kann­ten) Be­richt­erstat­tung zum Kri­mi­nal­fall möch­te ich nicht mit­wir­ken.

    Wei­ters hal­te ich fest, dass ich kein In­ter­es­se dar­an ha­be, Ih­nen per­sön­lich na­he zu tre­ten, wenn ich of­fen­kun­di­ge Fehl­schlüs­se be­nen­ne. Wie zu­letzt in #10, wor­in aus den (nach der Tat) er­ho­be­nen Vor­wür­fen des Va­ters der Ge­tö­te­ten und des­sen ge­äu­ßer­ten Be­fürch­tun­gen ver­fehlt (»non se­qui­tur«) auf das Be­stehen ei­ner aku­ten Ge­fahr ei­nes Fe­mi­zids ge­schlos­sen wird. Das Tö­tungs­de­likt konn­te im Üb­ri­gen ge­ra­de aus dem Grund nicht ver­hin­dert wer­den, dass nie­mand den Vor­fall bei der Po­li­zei mel­den woll­te. Die­ser kau­sa­le Zu­sam­men­hang dürf­te nicht nur dem trau­ern­den Va­ter äu­ßerst schmerz­haft be­wusst ge­wor­den sein.

    Den un­frucht­ba­ren Aus­tausch be­trach­te ich da­mit als be­en­det – ich be­trei­be kei­ne Jagd auf Au­toren.

  12. @ so­phie, und auch h.z., und über­haupt

    Der Fall Al­bert L. ist viel­leicht nicht das be­ste Bei­spiel, um den The­men­kom­plex In­ter­net-An­ony­mi­tät-Iden­ti­tät- Ge­walt zu er­ör­tern. Das stimmt. Mich schockier­te und in­ter­es­sier­te zu­nächst die Aus­ein­an­der­set­zung zwi­schen Al­bert L. und Si­gi Mau­rer, die Art, wie mit Cy­ber­mob­bing und se­xua­li­sier­ter (Verbal-)Gewalt um­ge­gan­gen wird. Dann, drei Jah­re spä­ter, schockier­te und in­ter­es­sier­te mich der Mord­fall oder Tö­tungs­fall, wie Sie’s nen­nen woll­te, in Wien-Leo­pold­stadt, wo die­sel­be Per­son der Tä­ter war. Ich frag­te mich, ob und wel­che Zu­sam­men­hän­ge es zwi­schen bei­den Er­eig­nis­sen ge­ben könn­te. Ich glau­be, es gibt wel­che. Aber es ist rich­tig, es gibt zahl­lo­se an­de­re Fäl­le, die eben­so­gut und bes­ser die­sen The­men­kom­plex er­hel­len.

    Ich glau­be So­phie aufs Wort, daß sie (oder er) zwi­schen Öf­fent­lich und Pri­vat tren­nen kann. Und noch ei­ne Be­ob­ach­tung: In die­sem Blog äu­ßern sich mehr oder we­ni­ger al­le un­ter Pseud­onym. Ich bin wo­mög­lich der ein­zi­ge, der un­ter Klar­na­men schreibt (so daß man z. B. in Se­kun­den­schnel­le eru­ie­ren kann, ob ich ei­nen aka­de­mi­schen Ab­schluß ha­be oder nicht). Trotz­dem geht es hier sehr zi­vi­li­siert zu, auch wenn die Mei­nun­gen oft weit aus­ein­an­der­ge­hen. Was si­cher auch der Art zu dan­ken ist, wie Gre­gor Keu­sch­nig (auch ein Pseud­onym) sei­ne Rol­le als Gast­ge­ber spielt.

    Ich le­se eben­so­viel oder mehr fran­zö­si­sche Zei­tun­gen im In­ter­net wie deut­sche und bin da­her teil­wei­se mehr über Frank­reich in­for­miert als über Deutsch­land, Öster­reich, Schweiz. In Frank­reich wird der­zeit Cy­ber­mob­bing an Schu­len dis­ku­tiert. Die­ses scheint un­ge­heu­re Aus­ma­ße zu ha­ben und ganz all­täg­lich zu sein. Kürz­lich er­häng­te sich ei­ne Vier­zehn­jäh­ri­ge, nach­dem sie zwei Jah­re lang von Mit­schü­lern ge­mobbt wor­den war, vor al­lem im Netz – »So­zia­le Me­di­en«! -, aber auch in der Wirk­lich­keit. Den ent­schei­den­den Tipp, wie man sich er­folg­reich er­hängt, er­hielt sie üb­ri­gens auch von ei­ner In­ter­net­sei­te. Be­schimpft wur­de sie nicht nur als Les­be, weil sie of­fen­bar les­bi­sche Nei­gun­gen ent­wickelt hat­te, son­dern zu­nächst als »in­tel­lo«, weil sie ei­ne sehr gu­te Schü­le­rin war (sic! müß­te ich hier als Aka­de­mi­ker schrei­ben). Klug sein ist of­fen­bar für den Main­stream die­ser Ju­gend­li­chen schimpf­lich, denn die, die sie mobb­ten, wa­ren kei­ne Min­der­heit.

    Ich fin­de all die­se Fäl­le er­schüt­ternd. Na­tür­lich gab es Mob­bing auch vor dem In­ter­net. Und es kann sein, daß durch das All­täg­lich-und-all­ge­gen­wär­tig-Wer­den von Öf­fent­lich­kei­ten eben mehr ans Ta­ges­licht kommt. Trotz­dem scheint mir, daß die Ent­wick­lung des In­ter­nets und be­son­ders der SM da zu neu­en Di­men­sio­nen und da­mit auch zu ei­ner neu­en Qua­li­tät ge­führt hat. Na­tür­lich gilt das in er­ster Li­nie bei Di­gi­tal Na­ti­ves, bei jun­gen Leu­ten, die mit Whats­App etc. auf­wach­sen. Und si­cher gilt es nicht für al­le, auch das neh­me ich wahr.

    Zu re­den wä­re auch über den po­pu­li­sti­schen Per­sön­lich­keits­ty­pus, wenn ichs so nen­nen kann. In ei­ne Kurz­for­mel ge­bracht: Hart ge­gen die an­de­ren, weich ge­gen­über mir selbst. Stän­dig aus­tei­len, nichts ein­stecken wol­len. Ich zu­erst. Da se­he ich durch­aus Par­al­le­len zwi­schen Leu­ten wie Trump und Leu­ten wie dem Bier­wirt. Se­hen Sie sich z. B. die­sen Ar­ti­kel an, v. a. das Fo­to, wie der Bier­wirt vor sei­nem Lo­kal po­siert: https://kurier.at/chronik/wien/causa-craft-beer-den-ruf-krieg-ich-nie-wieder-weg/400143314. Ei­ner­seits be­schwert sich Al­bert L. über »Ver­leum­dung«, an­de­rer­seits ver­sucht er, wo es nur geht die ge­won­ne­ne Öf­fent­lich­keit zu nüt­zen. So wird man heu­te ein er­folg­rei­cher Ge­schäfts­mann. Bis man aus­ra­stet und al­les in die Brü­che geht.

  13. Wä­re ich im Netz oder in der Zei­tung auf ei­nen Text über ei­nen »Bier­wirt« ge­sto­ßen, der sei­ne Frau oder Freun­din um­ge­bracht hat, hät­te ich ihn nicht ge­le­sen. Meist wird das bou­le­var­desk ab­ge­han­delt mit der er­for­der­li­chen Pri­se Ac­tion. Aber war­um soll mich ein sol­cher Fall in Wien oder Los An­ge­les oder Za­greb in­ter­es­sie­ren? Wä­re der Text von Leo­pold Fe­der­mair ge­we­sen, dann hät­te ich ihn ge­le­sen, weil ich mir ei­nen Mehr­wert über die blo­ße Sen­sa­tio­na­li­sie­rung hin­aus ver­spre­chen wür­de. Tat­säch­lich ver­knüpft der Text ja ei­gent­lich zwei Straf­tat­be­stän­de, die ei­ne Per­son be­gan­gen hat und setzt sie in ei­ne Be­zie­hung zu­ein­an­der.

    Wo man frü­her bei der Schil­de­rung von Tö­tungs­ver­bre­chen und Se­ri­en­mör­dern im­mer rasch auf die Kind­heit des Schul­di­gen re­kur­riert hat, so wan­delt sich in­zwi­schen mehr und mehr das Bild hin, an­de­ren Um­stän­den, die in der Ge­sell­schaft an­ge­legt sind, Be­deu­tung zu­zu­mes­sen. Ich hal­te dies für rich­tig, weil nicht je­de Kind­heit, in der sich bei­spiels­wei­se die Part­ner ge­trennt ha­ben, psy­cho­pa­thi­sche Men­schen zu­rück­lässt, die steh­len, er­pres­sen oder mor­den. In­zwi­schen ver­sucht man die Kom­ple­xi­tät von Ent­wick­lun­gen zu­rück­zu­ver­fol­gen, nicht um die Straf­tat zu ent­schul­di­gen, son­dern um sie zu er­klä­ren. Das ge­lingt mal mehr, mal we­ni­ger.

    Der vor­lie­gen­de Text nimmt nun ei­nen Fall her­aus, der die Hy­po­the­se des Au­tors, dass die so­ge­nann­ten »so­zia­len Netz­wer­ke« mit ih­rem Hang zur »Pseud­ony­mi­sie­rung« über Ge­bühr schäd­li­che Ein­flüs­se auf die Ent­wick­lung von Men­schen in ei­ner mo­der­nen Ge­sell­schaft ha­ben, il­lu­strie­ren soll.

    Das er­in­nert nicht nur an die Erup­tio­nen in den ge­ho­be­nen Stän­den des 18. Jahr­hun­derts, als der Pö­bel mehr und mehr in die La­ge ver­setzt wur­de, sich die Welt in Zei­tun­gen und Bü­chern zu er­schlie­ßen. Die Ent­wick­lung der Po­pu­la­ri­sie­rung und um­fas­sen­den Ver­brei­tung des Ge­schrie­be­nen, der Ab­schied von den Prie­stern, die bis­her die Deu­tungs­ho­heit über gött­li­che wie welt­li­che Din­ge hat­ten, ist durch­aus mit dem, was wir heu­te Di­gi­ta­li­sie­rung nen­nen, ver­gleich­bar. Das hat bis weit in das 20. Jahr­hun­dert hin­ein Ge­ne­ra­tio­nen ge­prägt.

    Re­si­du­en sol­chen Den­kens fin­det man im­mer dann, wenn zum Bei­spiel bei Amok­läu­fern ei­ne Af­fi­ni­tät zu so­ge­nann­ten »Bal­ler­spie­len« fest­ge­stellt wird. Meist sind sie dann noch »Waf­fen­nar­ren«. Rasch ist das Kü­chen­ge­richt zum Ur­teils­spruch ge­kom­men. Dass bei man­chen Tä­tern ein Au­to­mo­bil oder so­gar nur ein Mes­ser ge­nügt und dass sie noch nie Vi­deo­spie­le ge­spielt ha­ben, kann man ge­trost aus­blen­den.

    Na­tür­lich kann Ge­druck­tes zu üb­len Ta­ten in­spi­rie­ren. Man den­ke an Goe­thes Wert­her, der ei­ne Art von Selbst­mord­wel­le aus­ge­löst ha­ben soll (man liest mal so, mal so). Und die fort­wäh­ren­de Het­ze in den Zei­tun­gen ge­gen Ju­den im Deutsch­land der 1930er Jah­re dürf­te den oh­ne­hin schwe­len­den An­ti­se­mi­tis­mus an­ge­sta­chelt ha­ben. Ak­tu­ell mo­bi­li­siert sich der in­ter­na­tio­nal ver­netz­te ra­di­ka­le Is­la­mis­mus über das Netz (hier­über hört man ver­blüf­fend we­nig). Und es ist auch nicht aus­zu­schlie­ßen, dass die ei­gent­lich als Ven­til ge­dach­ten »Ego-Shooter«-Spiele bei ei­ni­gen Prot­ago­ni­sten die Hemm­schwel­len zu ei­ner rea­len Tat ver­wi­schen oder gar ab­bau­en.

    Ich leug­ne nicht, dass die Di­gi­ta­li­sie­rung Mob­bing-Phä­no­me­ne noch ein­mal auf ei­ne an­de­re Stu­fe ge­bracht hat. Die Vor­gän­ge um je­man­den wie Toer­leß be­frem­den uns nur noch. Heu­te läuft es an­ders. Es ist auch nicht zu ver­harm­lo­sen. Aber das Pro­blem der Di­gi­ta­li­sie­rung ist die Sicht­bar­keit, die sol­che Phä­no­me­ne fast noch be­för­dert. Wie wir von Gru­ben­un­glücken in Chi­na, Bus­un­fäl­len auf Sri Lan­ka oder Flug­zeug­ab­stür­zen über dem Pa­zi­fik prak­tisch in Echt­zeit er­fah­ren, so wer­den heu­te die Fäl­le von Cy­ber­mob­bing pu­blik.

    Ich ge­ste­he, dass mich der Fall der Po­li­ti­ke­rin eher mä­ssig in­ter­es­siert. Sie hat die Mög­lich­kei­ten, ge­gen die Be­lei­di­gun­gen vor­zu­ge­hen, ge­nutzt. Das ist rich­tig. Aber es ist mei­ne (un­be­weis­ba­re) The­se, dass in ähn­li­chen Fäl­len bei an­de­ren, nicht so pro­mi­nen­ten Men­schen, die Er­mitt­lun­gen mehr oder we­ni­ger frucht­los ein­ge­stellt wor­den wä­ren. Aber Pro­mi­nenz und Prä­senz las­sen na­tür­lich die Be­hör­den er­mit­teln.

    Dass die­se ju­sti­zia­blen Be­lei­di­gun­gen in ir­gend­ei­nem Zu­sam­men­hang zu ei­ner Tö­tung ste­hen, ha­ben Sie we­der mit dem Text noch in den Kom­men­ta­ren schlüs­sig er­klä­ren kön­nen. Das ist – ich wie­der­ho­le mich da – ver­mut­lich auch gar nicht mög­lich, weil die Öf­fent­lich­keit nicht in Kennt­nis der Er­mitt­lun­gen ist. In­so­fern ist der Satz »Trotz­dem kann sich je­der ein Bild von den Vor­fäl­len ma­chen« der größ­te Trug­schluss – ge­ra­de in vor­lie­gen­dem Fall. Das »Bild« ist eben nur ein un­voll­stän­di­ges, durch Me­di­en ge­fil­tert, ja, aber, und das ist er­heb­li­cher: es feh­len ei­nem schlicht­weg ele­men­ta­re Fak­ten. Wir ha­ben ge­ra­de kein Bild des Vor­falls – wir ha­ben nur ei­nen Aus­schnitt.

    Trotz­dem wird der Bo­gen ge­spannt von der Be­lei­di­gung ei­ner Po­li­ti­ke­rin im In­ter­net zu ei­ner Tö­tung, die, weil in­zwi­schen die Pro­ble­ma­tik des »Mord«-Begriffs mit Hän­den zu grei­fen ist, mit dem Mo­de­wort »Fe­mi­zid« be­zeich­net wird. @h.z. hat in ei­ner ein­drucks­vol­len Ana­ly­se (ins­be­son­de­re Punk­te 4 bis 8) auf die Wi­der­sprüch­lich­kei­ten in der Ar­gu­men­ta­ti­on des Tex­tes hin­ge­wie­sen. Es wä­re nun sinn­voll im Rah­men ei­ner Dis­kus­si­on – falls man die­se denn wünscht – dar­auf ein­zu­ge­hen. Die Aus­sa­ge, dass es »zahl­lo­se an­de­re Bei­spie­le« gibt, ist sehr un­kon­kret. Statt­des­sen wird – ist es Ver­zweif­lung? – der »Bier­wirt« mit Trump ver­gli­chen. Und zur Un­ter­stüt­zung wird ein Link zu ei­nem Bild der in­kri­mi­nier­ten Per­son ge­po­stet (ist er es wirk­lich? ist das si­cher?), wel­ches wie­der­um nur auf be­stimm­te Vor­ur­tei­le beim Le­ser zielt (tä­to­wiert, vi­ri­le Er­schei­nung, her­un­ter­ge­kom­me­nes Lo­kal).

    In ei­nem muss ich Ih­nen al­ler­dings zu­stim­men: Es ist un­mög­lich, im In­ter­net, oder, bes­ser: in ei­ner schrift­li­chen Kom­mu­ni­ka­ti­on, kom­ple­xe Sach­ver­hal­te zu ana­ly­sie­ren, oh­ne dass es ei­nes enor­men Aus­ma­ßes an Zeit be­darf. Al­le Dis­kus­sio­nen müs­sen ab ei­nem be­stimm­ten Punkt schlicht­weg schei­tern. Man kann, an­ders als im münd­li­chen Ge­spräch, nicht nach­fas­sen, nichts ein­schie­ben. Das be­deu­tet nicht, dass münd­li­che Dis­kus­sio­nen er­gie­bi­ger sind, aber sie bie­ten ein­fach mehr Va­ria­ti­ons­mög­lich­kei­ten. Da­her sind ei­ner sol­che Web­sei­te wie Be­gleit­schrei­ben Gren­zen ge­setzt. Was noch geht, sind ein paar Small­talk-Be­mer­kun­gen, Klar­stel­lun­gen oder Er­gän­zun­gen. Das ist hier in der Ver­gan­gen­heit manch­mal sehr schön ge­lun­gen. Im­mer­hin.

  14. Zu dem ver­link­ten Ar­ti­kel aus der öster­rei­chi­schen Zei­tung Ku­rier: Na­tür­lich ist das Al­bert L. auf dem Fo­to. Er po­siert re­gel­recht, ver­such­te da­mals, 2018, noch Wer­bung für sein Lo­kal zu ma­chen, wäh­rend er sich gleich­zei­tig über die Ver­öf­fent­li­chung sei­ner Emails an Mau­rer echauf­fier­te. Die­se wi­der­sprüch­li­che Hal­tung, im­mer auf die ei­ge­nen In­ter­es­sen aus, mei­ne ich mit »po­pu­li­sti­scher Per­sön­lich­keit« (viel­leicht gibt es ei­nen bes­se­ren Aus­druck, aber die­ser Ty­pus ist im Zu­sam­men­hang der rechts­po­pu­li­sti­schen Mi­lieus oft an­zu­tref­fen, so­wohl bei »Füh­rern« wie auch bei Un­der­dogs – in Öster­reich war schon Jörg Hai­der so). Hier noch ein Link, um das al­les und auch die Iden­ti­tät des vi­sua­li­sier­ten Al­bert L. zu be­stä­ti­gen (und ich be­to­ne noch ein­mal: er woll­te SELBST in die Me­di­en): https://kurier.at/chronik/wien/mordanklage-fuer-bierwirt-in-20-jahren-will-ich-meine-kinder-sehen/401787305

    Über sei­ne Bio­gra­phie fin­de ich kaum et­was. In­ter­es­sant scheint mir auch zu sein, daß ihn der Pro­zeß ge­gen Mau­rer, den er SELBST an­ge­strengt und letzt­lich ver­lo­ren hat, »fer­tig ge­macht« hat, wenn man sei­nen Äu­ße­run­gen trau­en kann (er hat sich mehr­mals in die­sem Sinn ge­äu­ßert). Wie­der der sel­be Me­cha­nis­mus: Ich, de fac­to zu­nächst ein Tä­ter, bin das ar­me Op­fer. Ein se­xi­sti­scher Ag­gres­sor, der sich von den Frau­en ver­folgt fühlt. Hier ein Zi­tat: »Ei­ne An­rai­ne­rin des Bier­lo­kals von Al­bert L. er­zählt dem eXX­press am Frei­tag, der “Bier­wirt” hät­te die Ta­ge vor der Tat au­ßer­ge­wöhn­lich viel ge­trun­ken. Sein Le­ben war ei­ne ein­zi­ge Ab­wärts­spi­ra­le. Im­mer wie­der soll er über die let­zen Wo­chen und Mo­na­te la­men­tiert ha­ben, “die Mau­rer” hät­te sein Le­ben zer­stört. Ge­meint hat er die jet­zi­ge grü­ne Klub­che­fin Sie­grid Mau­rer und den Rechts­streit, den er ge­gen sie führ­te.« (Quel­le: https://exxpress.at/causa-bierwirt-das-letzte-kapitel-eines-verpfuschten-lebens/)

  15. Was ist denn an die­sem Fo­to kri­ti­sie­rens­wert, das es als »po­sie­ren« ab­qua­li­fi­ziert wird? Was hat es mit der Tö­tungs­tat zu tun? Ich ver­ste­he es wirk­lich nicht. Jetzt ist es nicht mehr Trump son­dern Hai­der. Bei­de ha­ben mei­nes Wis­sens nach nie­man­den di­rekt um­ge­bracht, wie bei­spiels­wei­se da­mals Jack Un­ter­we­ger, der Lieb­ling des in­tel­lek­tu­el­len Wien.

    Schein­bar sind Sie taub ge­gen­über je­dem Ein­wand, was ge­gen Ih­re Kau­sa­li­täts­the­se an­ge­bracht wird. Statt­des­sen zi­tie­ren Sie Bou­le­vard-Zei­tun­gen, die man nor­ma­ler­wei­se nur mit spit­zen Fin­gern an­fasst.

  16. Wie es der Zu­fall will, le­se ich ge­ra­de »Coddling the Ame­ri­ca Mind«. Die Ana­ly­sen von Jo­na­than Haidt mit dem Fo­kus Universität/Jugendpsychiatrie ver­deut­li­chen die Tat­sa­che, dass wir es bei den SM und den bild­ba­sier­ten Me­di­en mit ei­nem emi­nen­ten Pro­blem zu tun ha­ben. Die ge­sund­heit­li­chen Schä­den sind sta­ti­stisch er­kenn­bar. Angst­stö­run­gen und De­pes­sio­nen flo­rie­ren.
    Auf der an­de­ren Sei­te der Pa­tho­lo­gie­me­dail­le (Leo­pold ist da ja sehr hart­näckig, ei­ne all­ge­mei­ne, so­zu­sa­gen »vi­ri­le Pa­tho­lo­gie« zu ent­wer­fen) ste­hen die aktiv/destruktiven Ent­glei­sun­gen bei Män­nern, von den ver­netz­ten At­ten­tä­tern bis zu den vom Au­tor sog. »po­pu­li­sti­schen Per­sön­lich­kei­ten«. Ich bin un­glück­lich mit die­ser Po­lit-psy­cho­lo­gi­schen Be­zeich­nung, wie schon ge­sagt, weil sie das Feld der Be­trach­tung ma­xi­mal über­dehnt. Psy­cho­lo­gie hilft nicht ge­gen Trump, oder wen auch im­mer. Und Ter­ro­ris­mus oder Au­to­ri­tä­re gab’s schon vor der Er­fin­dung des Ra­dio. Wir müs­sen uns in Be­schei­den­heit üben, wenn wir et­was er­klä­ren wol­len.
    Zu be­sag­ter »Per­sön­lich­keit« den­noch ei­ne An­mer­kung von Jor­dan Pe­ter­son über (ja, tat­säch­lich) Adolf Hit­ler. Wenn man sei­ne kras­se Pa­tho­lo­gie und ih­re po­li­ti­schen Fol­gen mal ab­trägt, wie die Schich­ten über ei­nem Koh­le­flöz, dann kommt ein Ty­pus zum Vor­schein, der in dem ei­nem Uni­ver­sum viel­leicht Un­ter­hal­tungs­künst­ler, in dem an­de­ren viel­leicht Mas­sen­mör­der ge­we­sen könn­te. Pe­ter­son cha­rak­te­ri­siert AH als krea­tiv-of­fe­nen aber zu­gleich ex­trem ord­nungs­sen­si­blen Men­schen, mit pa­ra­no­iden Dis­po­si­tio­nen für Hy­gie­ne und ei­nem star­ken Sinn für Loya­li­tät. Wenn man die­se An­la­gen be­sitzt, soll­te man a) sich nicht viel im In­ter­net rum­trei­ben, und b) mög­lichst die ak­ti­ve Zo­ne der Po­li­tik ver­mei­den. Auch für die Ehe­frau wird’s nicht ganz leicht...
    War­um nicht das In­ter­net?! Ganz ein­fach: es gibt dort kei­ne Mög­lich­kei­ten, sei­nen mo­ra­li­schen Gold­stan­dard den An­de­ren (der Netz­ge­mein­de) ab­zu­ver­lan­gen. Die ha­ben ei­ge­ne an­de­re Kri­te­ri­en. Oder sie wol­len nur spie­len... Das wird un­se­ren Ava­tar-Adolf auf je­den Fall auf die Pal­me brin­gen. Die man­gel­haf­te »Wirk­sam­keit« der ei­ge­nen For­de­run­gen und In­ter­ven­tio­nen macht es dann nö­tig, die Mit­tel zu ver­schär­fen, was na­tür­lich nach hin­ten los­geht. Aus Är­ger wird Wut, und aus der Wut her­aus ent­ste­hen An­schlags­plä­ne! Al­ler­dings wä­re der Mord an der Ex­frau kein po­li­ti­sches At­ten­tat »by-pro­xy«, da müs­sen wir schon et­was ge­nau­er sein, wie ge­sagt.

  17. Auf Hit­ler ha­be ich ge­war­tet, jetzt fehlt nur noch Sta­lin. Al­les Herr­schaf­ten, die auch oh­ne In­ter­net Ih­re Mas­sen­ver­bre­chen aus­üben konn­ten. Mir fällt aus jün­ge­rer Ver­gan­gen­heit noch Pol Pot ein, der aus sei­nen Stu­di­en­zei­ten in Frank­reich von Rous­se­au in­spi­riert wur­de.

    Es wur­de ja be­reits dar­auf hin­ge­wie­sen, dass im kon­kre­ten Fall ei­ne So­zia­li­sie­rung über das In­ter­net nicht statt­ge­fun­den ha­ben kann, weil der Wirt 1978 ge­bo­ren wur­de. Die näch­ste Leer­stel­le ist, ob er sich auch an­der­wei­tig im Netz pö­belnd be­tä­tigt hat. Wenn nicht, stellt sich die Fra­ge, war­um er sich die­se Po­li­ti­ke­rin aus­ge­sucht hat.

    Dass die Di­gi­ta­li­sie­rung mas­si­ve Aus­wir­kun­gen auf die men­ta­le Ver­fas­sung der heu­ti­gen Ju­gend hat, steht au­ßer Zwei­fel. Dass die­se ne­ga­ti­ver Na­tur sein kön­nen ist längst Ge­gen­stand von Un­ter­su­chun­gen. Ich wei­ge­re mich al­ler­dings im­mer den Ge­gen­stand als sol­chen ver­ant­wort­lich zu ma­chen. Ein Mes­ser ist nie Schuld. Es ist im­mer der­je­ni­ge, der da­mit zu­sticht. Wie gross die­se Schuld im ju­ri­sti­schen Sinn ist, muss dann ent­schie­den wer­den. Ei­nen De­ter­mi­nis­mus gibt es schlicht­weg nicht. Das fällt man­chen Welt­erklä­rern schwer zu glau­ben, weil es dann schnell kom­pli­ziert wird.

  18. Zu #15: Jetzt stel­len Sie sich aber dumm, wer­ter Gre­gor. Po­sie­ren ist doch nicht an sich schänd­lich, das tun vie­le Leu­te tag­täg­lich. Be­son­ders auf dem er­sten von mir zi­tier­ten Fo­to ist das Po­sie­ren des Al­bert L. of­fen­sicht­lich. Ich ha­be doch auf den Wi­der­spruch hin­ge­wie­sen, daß der Mann sich ei­ner­seits dar­über be­schwert, daß sein Na­me in die Öf­fent­lich­keit ge­bracht wird, und gleich­zei­tig die­se Öf­fent­lich­keit für sich zu nut­zen sucht. Es ist ganz of­fen­sicht­lich, daß er dem Be­richt über ihn im Ku­rier zu­ge­stimmt hat, daß er mit dem Jour­na­li­sten re­de­te und für den Fo­to­gra­fen po­sier­te. Vor dem Lo­kal, aus dem die obszönen/aggressiven Po­stings ka­men. Um die­sen Wi­der­spruch ging es mir. Das Gan­ze war 2018. Zum Mör­der oder Tot­schlä­ger wur­de der Mann drei Jah­re spä­ter. Ei­nen lo­gi­schen Kau­sal­zu­sam­men­hang be­haup­te ich nicht.

    Trump und Hai­der er­wäh­ne ich nicht als Mör­der, so et­was un­ter­stel­le ich nicht, ob­wohl Trump am 6. Ja­nu­ar 2021 fahr­läs­sig ge­han­delt hat und in der Fol­ge – kein Kau­sal­zu­sam­men­hang! – fünf Men­schen star­ben. Ich er­wäh­ne bei­de, weil sie ei­nen nar­ziß­ti­schen Per­sön­lich­keits­ty­pus ver­kör­pern, der in den ver­gan­ge­nen Jahren/Jahrzehnten po­pu­lär wur­de. War­um und wie­so, in wel­chem Kon­text, wel­che Wer­te­ver­schie­bun­gen sind da im Gan­ge: die­se Fra­gen in­ter­es­sie­ren mich, in we­ni­gen Sät­zen läßt sich das aber nicht ab­han­deln. Den Bier­wirt se­he ich in die­sem Kon­text – wo­bei ich zu­ge­be, daß ich nicht vie­le In­for­ma­tio­nen über ihn ha­be, nur die in den Mas­sen­me­di­en zu­gäng­li­chen.

    A pro­pos Bou­le­vard­zei­tun­gen: Der Va­ter des Op­fers hat sich sol­chen ge­gen­über zu der Tat ge­äu­ßert. Das ist nun mal so. War­um soll man das nicht zi­tie­ren dür­fen? An­son­sten Zi­tie­re ich Spie­gel, Stan­dard, Wie­ner Zei­tung, ORF – kein Bou­le­vard.

  19. Gre­gor kämpft ge­gen Wind­müh­len; ei­ne ge­lun­ge­ne Ana­ly­se schließt die Ver­ant­wort­lich­keit doch nicht aus, son­dern EIN. Na­tür­lich ist der Bier­wirt ein frau­en­schin­den­des Groß­maul, dem sei­ne öf­fent­li­chen In­ter­ven­tio­nen ge­gen die grü­ne Hy­per­mo­ra­li­stin aus dem Ru­der ge­lau­fen sind. Was er be­dau­ert, auf ei­ne rhe­to­risch ab­we­gi­ge, selbst­mit­lei­di­ge Art. »Sie hat mein Le­ben zer­stört...«. Dar­an macht Leo­pold dann ei­nen »un­be­greif­li­chen Selbst­wi­der­spruch« fest. Al­so bit­te­schön, mei­ne Her­ren! So my­ste­ri­ös ist der Mensch nun auch wie­der nicht.
    Die sy­ste­ma­ti­sche Fra­ge, ob das In­ter­net die Ge­walt­be­reit­schaft be­för­dert, ist auch nicht mit der Ge­ne­ra­tio­nen­be­trach­tung aus­ge­schöpft. Das In­ter­net bie­tet den Schutz durch An­ony­mi­tät und ver­stärkt durch die Ab­we­sen­heit non-ver­ba­ler Si­gna­le (evo­lu­tio­när ent­schei­den­de Kom­pe­ten­zen!) die Nei­gung zu Gra­tis-Bos­heit und nie­der­schwel­li­gen Ge­mein­hei­ten. Es be­gün­stigt... das Bö­se! Da ist der Mord, ganz klar, nicht die maß­geb­li­che Fall­hö­he. Leo­pold hat ein­fach ei­nen viel zu fet­ten Bra­ten auf­ge­tischt, po­pu­li­sti­sche Po­li­ti­ker und Gat­ten­mor­de sind (stimmt!) et­was zu viel Bou­le­vard...

  20. @Leopold Fe­der­mair
    Na­ja, wenn man stän­dig für dumm ver­kauft wird, er­staunt es nicht, wenn man sich ent­spre­chend ge­bär­det.

    Selbst­ver­ständ­lich kon­stru­ie­ren Sie ei­nen Zu­sam­men­hang. Er steckt schon der Über­schrift. Und die Aus­sa­ge »Er hat die Sau, die of­fen­bar über Jah­re hin­weg sein In­ne­res be­herrsch­te, nicht nur im Schutz di­gi­ta­ler An­ony­mi­tät her­aus­ge­las­sen, son­dern durch kör­per­li­che Ge­walt und den Ge­brauch ei­ner Schuß­waf­fe«, ist ein­deu­tig als Kau­sa­li­tät zu deu­ten.

    Wenn man über Wer­te­ver­schie­bun­gen in Ge­sell­schaf­ten dis­ku­tie­ren will, soll­te man m. E. ent­spre­chen­de Li­te­ra­tur her­an­zie­hen oder im kon­kre­ten Fall die Pro­zess­ak­ten stu­die­ren. Letz­te­res dürf­te nicht mög­lich sein; die Ver­hand­lung ist zwar öf­fent­lich, wird aber lo­kal be­grenzt blei­ben, wo­bei ich si­cher bin, dass es Ge­richts­re­por­ter gibt, die sich der Sa­che an­neh­men. Bou­le­vard-Ar­ti­kel die­nen hier kaum als be­last­ba­re Grund­la­ge. Ich ha­be auch nicht die »Bild«-Zeitung her­an­ge­zo­gen, als sie sich über den No­bel­preis von Hand­ke ge­äu­ssert hat­te.

    die_kalte_Sophie
    Das Pro­blem ist, dass ich, der Wind­müh­len­kämp­fer, kei­nen Sancho Pan­sa hat. Das macht die Sa­che, freund­lich aus­ge­drückt, an­stren­gend.

    Es geht nicht dar­um, ob der Wirt »my­ste­ri­ös« ist oder da­zu ge­macht wird. Es geht mir um die Theo­rie, dass das die Mög­lich­keit der An­ony­mi­sie­rung im In­ter­net ein Tö­tungs­de­likt her­vor­ge­bracht ha­ben soll. Es ist ein biss­chen wie mit ei­nem Bank­räu­ber, der Schuh­grö­sse 47 hat­te. Hier­aus zu schlie­ßen, dass nun al­le mit Schuh­grö­sse 47 Bank­räu­ber sind oder die Dis­po­si­ti­on da­zu in sich tra­gen – das ist doch wirk­lich ab­surd.

  21. Ich se­he hier kei­nen Kampf ge­gen Wind­müh­len. Ich er­ken­ne den durch die Blu­me ge­flü­ster­ten Ap­pell, sich be­währ­ter Dis­kurs­re­geln zu be­die­nen.

    Die im Es­say ent­wickel­te The­se des (auch nur lo­sen) Zu­sam­men­han­ges zwi­schen An­ony­mi­tät des Net­zes und Tö­tungs­de­likt ha­be ich ar­gu­men­ta­tiv sau­ber und scharf­kan­tig zu­sam­men­ge­fal­tet, wie ich mei­ne. Und da­mit mein Ur­teil be­grün­det, dass ich den Text für ei­nen – ich er­gän­ze: – in­tel­lek­tu­el­len To­tal­scha­den hal­te. Bis­her un­wi­der­spro­chen. Was, bit­te­schön, fin­det hier al­so statt?

    Und selbst­ver­ständ­lich stellt der Text, wie nach­ge­wie­sen, Kau­sa­li­tä­ten fest. Das ab­zu­strei­ten und zu mei­nen, das ge­be der Text nicht her und, noch drei­ster, es sei gar nicht Ab­sicht ge­we­sen, ei­ne strik­te Kau­sa­li­tät oder gar schick­sal­haf­te Ent­wick­lung vom Ver­ba­l­ag­gres­sor zum Re­al­ag­gres­sor zu be­haup­ten, ist grenz­wer­tig. Wer das, sei­nem ei­ge­nen Text wi­der­spre­chend, be­haup­tet, ist be­weis­pflich­tig und hat ei­ne va­li­de In­ter­pre­ta­ti­on der kri­ti­sier­ten Text­stel­len zu lie­fern. Und wer sich ele­men­ta­ren Grund­sät­zen des Dis­kurs­an­stan­des ent­zieht, büßt sei­ne Sa­tis­fak­ti­ons­fä­hig­keit ein.

    @G.K. wg. »ju­sti­zia­ble Be­lei­di­gun­gen«
    In Ih­rem Straf­recht sind die Be­lei­di­gun­gen des L. mit ei­ner Höchst­stra­fe von ei­nem Jahr Frei­heits­ent­zug be­droht, im Fal­le der öf­fent­li­chen Wahr­nehm­bar­keit so­gar mit bis zu zwei Jah­ren. Im hie­si­gen Straf­recht wa­ren (2018) die Be­lei­di­gun­gen des L. nicht straf­bar. Da­zu be­durf­te es – was eben nicht der Fall war – der öf­fent­li­chen Wahr­nehm­bar­keit oder zu­min­dest der Wahr­nehm­bar­keit für meh­re­re (we­nig­stens zwei von Tä­ter und An­ge­grif­fe­nem ver­schie­de­ne) Per­so­nen. Der ma­xi­ma­le Straf­rah­men: drei Mo­na­te Frei­heits­stra­fe.

    Der Fall Mau­rer führ­te nach dem Ab­eb­ben des Em­pö­rungs­ge­heuls wäh­rend der ri­tu­el­len Kriegs­tän­ze zu ei­ner Ge­set­zes­in­itia­ti­ve, de­ren Ver­ab­schie­dung eu­pho­risch als gro­ßer Wurf ge­fei­ert wur­de. Wä­ren die Be­lei­di­gun­gen des L. nach heu­te gül­ti­ger Ge­set­zes­la­ge an­ders zu be­ur­tei­len? Mit­nich­ten. Nach wie vor ist ei­ne wahr­neh­men­de Öf­fent­lich­keit er­for­der­lich, um ei­ne Ma­xi­mal­stra­fe von un­ver­än­dert drei Mo­na­ten aus­zu­fas­sen. Dar­in er­blicke ich ei­nen po­li­ti­schen Skan­dal, in den auch die da­zu schwei­gen­de Mau­rer ver­wickelt ist.

  22. @die_kalte_Sophie
    Er­lau­ben Sie mir, an ei­nen Ge­dan­ken in #7 an­zu­knüp­fen. Sie stel­len fest, »[...], dass die Dif­fe­renz zwi­schen dem Öf­fent­li­chen und dem Pri­va­ten im­mer noch sta­bil ist.« Das gilt wohl für vie­le, aber ge­wiss nicht für al­le. Mei­ner Be­ob­ach­tung nach gibt es Zeit­ge­nos­sen, die ih­ren »Wohn­zim­mer-Sta­te-of-Mind« über­all hin mit­neh­men. Für die­se In­di­vi­du­en exi­stiert »öf­fent­li­cher Raum« nicht. Ob dies die Miss­ach­tung ei­ner un­über­seh­ba­ren War­te­schlan­ge vor ei­nem Post­schal­ter be­trifft oder das hem­mungs­lo­se und laut­star­ke Te­le­fo­nie­ren im ÖPNV oder die ver­hal­ten­so­ri­gi­nel­le Teil­nah­me am Stra­ßen­ver­kehr oder... (usw.usf.). Lä­sti­ge Ne­ben­er­schei­nun­gen mensch­li­cher Ko­exi­stenz, möch­te man mei­nen.

    Mich in­ter­es­siert die Re­ak­ti­on des vor­han­de­nen so­zia­len Um­felds bei sol­chen Grenz­über­schrei­tun­gen. Nur sel­ten kann ich be­sten­falls ge­mur­mel­ten Pro­test wahr­neh­men. Wenn über­haupt ei­ne Re­ak­ti­on fest­zu­stel­len ist, dann miss­bil­li­gen­des Kopf­schüt­teln, ge­nerv­tes Au­gen­ver­dre­hen oder phy­si­sches Ab­rücken. Wenn ich – ent­spre­chen­de Ver­fas­sung und Lau­ne zum Ex­pe­ri­ment vor­aus­ge­setzt – ei­nen Mis­se­tä­ter deut­lich und vor Pu­bli­kum zu­recht­wei­se, er­eilt mich re­gel­mä­ßig ei­ne freund­lich-mit­füh­len­de Be­schwich­ti­gung aus der Um­ge­bung, mich doch nicht zu är­gern, das sei es doch nicht wert. Dem set­ze ich dann die Be­mer­kung ent­ge­gen, dass öf­fent­li­cher Raum und die dar­in zu be­ach­ten­den so­zia­len Nor­men ge­gen Ver­drän­gung durch in­di­vi­du­el­le Pri­vat­heit ver­tei­digt wer­den müs­se. Auf die Nach­fra­ge, ob die­se Über­le­gung ab­we­gig er­schei­ne, ha­be ich in vie­len Jah­ren nie­mals ein »Ja« be­kom­men. Kur­ze Nach­denk­lich­keit zu­meist, ge­folgt von ei­nem »Stimmt ei­gent­lich« oder ähn­li­ches. Vom zu­recht­ge­wie­se­nen In­di­vi­du­um kommt zu­meist of­fe­ne Ag­gres­si­on, sel­te­ner ist der auf­ge­setz­te Tun­nel­blick als in­ne­re Flucht­stra­te­gie zu be­ob­ach­ten. Ganz sel­ten er­le­be ich den Rück­tritt von der Norm­ver­let­zung.

    Ich he­ge den Ver­dacht, dass ein ge­sell­schaft­lich ver­an­ker­tes Kor­rek­tiv (man nennt es wohl »so­zia­le Kon­trol­le«) zu­min­dest in ur­ba­nen Bal­lungs­ge­bie­ten – ich be­we­ge mich haupt­säch­lich in Wien – nicht aus­rei­chend funk­tio­niert. Den Grund da­für ver­mu­te ich in schwin­den­dem Ver­trau­en des Ein­zel­nen in die so­zia­le Kom­pe­ten­zen sei­ner Mit­bür­ger. Das könn­te un­mit­tel­bar be­wir­ken, dass Grenz­über­schrei­ter recht rasch von der Er­pro­bungs­pha­se (vor­sich­ti­ge Auf­merk­sam­keit be­züg­lich Um­welt­re­ak­tio­nen ist noch vor­han­den, ge­paart mit Flucht­be­reit­schaft) in die Ge­wohn­heits­pha­se (Durch­set­zung mit al­ler Kon­se­quenz) sich ent­wickeln.

    Die­ser Grup­pe von Zeit­ge­nos­sen, den Grenz­über­schrei­tern eben, wür­de man viel­leicht die ei­ne oder an­de­re psy­chi­sche Auf­fäl­lig­keit at­te­stie­ren. An­ge­nom­men, sie er­rei­chen zah­len­mä­ßig ei­ne kri­ti­sche Mas­se in ei­ner Ge­sell­schaft, wür­de dann die nor­ma­ti­ve Kraft des Fak­ti­schen sich ent­fal­ten? Könn­te noch be­rech­tigt von z.B. Per­sön­lich­keits­stö­run­gen ge­spro­chen wer­den?

    Den Bo­gen nun ab­schlie­ßend noch­mals zu L. schla­gend be­haup­te ich un­be­leg­bar, dass er in ei­nem so­zia­len Bio­top leb­te, in wel­chem sein all­täg­li­ches Ver­hal­ten als un­auf­fäl­lig nor­miert war. In­so­fern, da­mit leh­ne ich mich weit aus dem Fen­ster, könn­te von der Exi­stenz rea­ler »Par­al­lel­ge­sell­schaf­ten« aus­ge­gan­gen wer­den, wel­che – wenn z.B. räum­lich stark ver­streut – auf Netz­ak­ti­vi­tä­ten für die Zu­sam­men­halts­pfle­ge zu­rück­grei­fen. Aber da­mit hat es sich auch schon wie­der mit der Wirk­mäch­tig­keit des an­ony­men Net­zes in Hin­blick auf Ge­wal­tent­fal­tung, den­ke ich.

    Dem ge­plan­ten, heim­tückisch an­ge­leg­ten Mord geht mei­ner Über­le­gung nach ei­ne jah­re­lan­ge psy­chi­sche »Trim­mung« und ein­ge­üb­te De­sen­si­bi­li­se­rung im rea­len Le­ben vor­aus, um den für die Um­set­zung des Mord­plans er­for­der­li­chen Sta­te-of-Mind ein­neh­men zu kön­nen. Sol­ches nur mit den Mit­teln des Net­zes zu er­rei­chen: das hal­te ich für aus­ge­schlos­sen.

  23. @ h.z. h.z. #22

    Selt­sam, die­sen Aus­füh­run­gen stim­me ich durch­aus zu. Ich se­he da auch kei­nen gro­ßen Wi­der­spruch zu mei­nem Es­say. Psy­chi­sche Trim­mung ist Vor­aus­set­zung für sol­che Ge­walt­ta­ten, ja. Im Fall von L. hat sich das über Jah­re – min­de­stens drei – zu­sam­men­ge­braut. In­ter­net­prak­ti­ken al­lein ge­nü­gen da­für nicht, kön­nen aber ei­nen Bei­trag lei­sten.
    Be­lä­sti­gung durch Mit­tei­lung von Pri­va­tem in der Öf­fent­lich­keit ist un­an­ge­nehm, ich ver­ste­he aber auch, daß vie­le Zeit­ge­nos­sen das nicht gar so schlimm fin­den. Schlim­mer wird es, wenn Ju­gend­li­che, Di­gi­tal Na­ti­ves, die weit­ge­hend übers Netz kom­mu­ni­zie­ren, pri­va­te In­for­ma­tio­nen (oder auch Er­fin­dun­gen, Ver­leum­dun­gen) tex­tu­el­ler oder bild­li­cher Na­tur im Netz öf­fent­lich ma­chen, wo sie dann in der Re­gel lan­ge Zeit ste­hen blei­ben (wäh­rend re­al­ver­ba­le Er­re­gun­gen ver­flie­gen), um ei­ne un­lieb­sa­me Per­son fer­tig­zu­ma­chen. Hier be­ginnt die Ge­walt im en­ge­ren Sinn. Und das mei­ne ich mit ge­sell­schaft­li­cher Ver­ro­hung, für die Ty­pen wie Al­bert L. nur ex­tre­me Bei­spie­le sind.

  24. Wenn Sie ver­ste­hen, dass vie­le Zeit­ge­nos­sen das [die Ver­drän­gung der öf­fent­li­chen Raums durch in­di­vi­du­el­le Pri­vat­heit] gar nicht so schlimm fin­den, ha­ben Sie mein Ar­gu­ment im An­satz nicht er­fasst. So kön­nen Sie auch nicht ver­ste­hen, dass Sie als Ge­sell­schafts­mit­glied letzt­lich mit­ver­ant­wort­lich sind für die Ent­wick­lung ei­nes L. Das mein­te ich mit in­tel­lek­tu­el­ler Ver­ro­hung.

  25. @h.z.
    Ich bin mit sol­chen Zu­wei­sun­gen wie Mit­ver­ant­wor­tung im­mer sehr vor­sich­tig. Mo­der­ne Ge­sell­schaf­ten, ins­be­son­de­re in Groß­städ­ten, sind da­für viel zu he­te­ro­gen.

    Ich ken­ne ei­nen Fall aus ei­nem Dorf, in dem ein Mann sich an pu­ber­tie­ren­de Mäd­chen her­an­ge­macht hat. Er hat­te wohl im ein oder an­de­ren Fall das Mäd­chen an­ge­lei­tet, sein Ge­schlechts­teil an­zu­fas­sen und zu sti­mu­lie­ren. Der Dorf­ge­mein­schaft war dies rasch be­kannt. Wer Kin­der in die­sem Al­ter hat­te, sorg­te da­für, dass sie bes­se­ren Schutz be­ka­men. Nur ei­ner stell­te ich da­ge­gen. Er woll­te ihn an­zei­gen und dies im Kon­sens mit den an­de­ren Be­trof­fe­nen (bspw. als Zeu­gen oder Klä­ger). Den gab es nicht. Al­so zeig­te er ihn sel­ber an. Die Sa­che nahm sei­nen Lauf.

    Das Bei­spiel zeigt, wo Mit­ver­ant­wor­tung mög­lich ist. In Wien, Ber­lin, Rio de Ja­nei­ro oder New York fällt das schwe­rer. Es er­in­nert mich an die The­sen aus den 1960er/70er-Jah­ren, die in lan­gen so­zio­lo­gisch be­grün­de­ten Ar­gu­men­ta­ti­ons­ket­ten am En­de ei­nen Tä­ter fast von der Schuld an ei­nem Ver­bre­chen frei­spra­chen und die »Schuld« an »die Ge­sell­schaft« wei­ter­ga­ben. Ich ver­mu­te, dass Sie das nicht so mei­nen, fin­de aber die­se Mit­ver­ant­wor­tung für frem­de Mi­lieus ziem­lich schwie­rig.

  26. Noch ein­mal an @h.z.
    Ich ha­be jetzt erst Ih­ren Kom­men­tar auf @die_kalte-Sophie ge­le­sen, in dem Sie mei­nen Ein­wand prak­tisch vor­weg neh­men.

    Ich stim­me Ih­ren Be­ob­ach­tun­gen zu. Tat­säch­lich schei­nen die »Norm­ver­let­zun­gen« im Um­feld des Wir­tes nicht mehr als sol­che wahr­ge­nom­men zu wer­den. Das kann man – wie Sie ja aus­füh­ren – häu­fig be­ob­ach­ten. Ge­sell­schaft­li­che Nor­men wer­den häu­fig, wenn über­haupt, nur noch als fa­kul­ta­tiv an­ge­se­hen oder so­fort als für sich sel­ber nicht gül­tig de­fi­niert.

    Ich er­tap­pe mich al­ler­dings sel­ber da­bei, wie ich in be­stimm­ten Fel­dern Nor­mie­run­gen bzw. sich bil­den­de Nor­men schlicht­weg igno­rie­re. Ein Bei­spiel ist das so­ge­nann­te »Gen­dern«, dem ich mich völ­lig ver­wei­ge­re. Da­bei ist es nur ei­ne Fra­ge der Zeit, wann dies so­zu­sa­gen flä­chen­deckend nor­mie­rend sein wird, oh­ne dass es in Ge­set­zes­form ge­gos­sen wird (wie die mei­sten Nor­men ja eher stil­len Ver­ein­ba­run­gen äh­neln). Ich bre­che dann ganz be­wusst ei­ne Norm (mit der Fol­ge, dass ich, der Au­ßen­sei­ter, noch mehr Au­ßen­sei­ter sein wer­de).

    In der Kunst (und so­mit auch in der Li­te­ra­tur) gilt ei­ne be­wuss­te Norm­ver­let­zung häu­fig als Aus­weis von Krea­ti­vi­tät. Im nach­hein­ein könn­te man auch die The­se auf­stel­len, dass die 68er-Be­we­gung (not­wen­dig ge­wor­de­ne) Norm­ver­schie­bun­gen in der Ge­sell­schaft be­wusst her­bei­ge­führt hat. In Wirk­lich­keit ist das na­tür­lich ein Pro­zess. Vor fünf Jah­ren wur­den lau­te Han­dy-Te­le­fo­nie­rer mehr ge­äch­tet als heu­te. Und was das Bild des Wir­tes in der Zei­tung an­geht, wird das auch ein biss­chen deut­lich: Ein der­art tä­to­wier­ter Mensch wä­re vor zwan­zig Jah­ren so­fort als so­zia­le Un­ter­schicht de­fi­niert wor­den. In­zwi­schen las­sen sich so­gar 60jährige noch tä­to­wie­ren.

  27. In der Tat, @G.K., das mei­ne ich nicht in dem Sin­ne, dass Tä­ter bei­na­he frei­zu­ar­gu­men­tie­ren wä­ren durch Über­wäl­zung von »Schuld« auf »die Ge­sell­schaft«. In­so­fern: ha­ben Sie vie­len Dank da­für, dass Sie den denk­ba­ren Ein­druck klä­rend an­spre­chen.

    Ich bin le­dig­lich ex­trem fru­striert und ge­nervt. My bad.

  28. In der Tat gibt es ver­schie­de­ne Spiel­fel­der des Öf­fent­li­chen Le­bens, die Groß­stadt ver­langt mehr Igno­ranz von den Teil­neh­mern, das kann ich nach­voll­zie­hen. Die Trenn­schär­fe zwi­schen öf­fent­li­chen und pri­va­ten Ver­hal­tens­pa­ra­dig­men ist aber nicht aus­schließ­lich nach dem Ur­ba­ni­sie­rungs-/Bar­ba­ri­sie­rungs­grad zu be­mes­sen. Öf­fent­lich, heißt vor­al­lem die Prä­gung durch den Be­ruf, oder wenn man die jun­gen Leu­te da­zu­nimmt, die Aus­bil­dungs­ver­hält­nis­se. Den Zu­stand an den Uni­ver­si­tä­ten (um auf Haidt zu­rück­zu­kom­men) merkst du na­tür­lich auch in der U‑Bahn. Ich stel­le fest, dass die ha­bi­tu­el­le Fi­xie­rung auf das Smart­phone sehr gut zum Igno­ranz-Axi­om passt, al­so die groß­städ­ti­sche An­pas­sung un­ter­stützt. Au­ßer­dem er­löst das Smart­phone die Mensch­heit wohl von ei­ner Jahr­tau­sen­de al­ten Zu­mu­tung, näm­lich der Idee dass die »ver­hal­ten­so­ri­gi­nel­len Son­der­lin­ge« rings um uns her un­se­re »Mit­men­schen« wä­ren. Je­der hat sei­ne klei­ne In­group an der Hand, um de­ren Wohl und We­he per­ma­nent die Ge­dan­ken krei­sen. Ei­ne wün­schens­wer­te Nor­mie­rung des öf­fent­li­chen Ver­hal­tens als Er­geb­nis ei­nes In­ter­ak­ti­ons­ge­sche­hens (sich Ein­mi­schen!) setzt na­tür­lich ge­wöhn­li­che »Acht­sam­keit« vor­aus, al­so die kom­mu­ni­ka­ti­ons­be­rei­te und wahr­neh­mungs­schar­fe Auf­fas­sung der Um­ge­bung. Rich­tig, so­weit, das wird wohl ge­ra­de ab­trai­niert, sprich die jun­gen Leu­te sind blank, wenn das ir­gend­wann mal wie­der »ak­tu­ell wird«...

  29. @ h.z. #25
    Mei­nen Sie, daß ich wie al­le Ge­sell­schafts­mit­glie­der mit­ver­ant­wort­lich bin für die Ent­wick­lung ei­nes L.? Oder daß ich per­sön­lich mit­ver­ant­wort­lich bin?

  30. Das En­de vom Bier­wirt-Lied

    Am 22. De­zem­ber wur­de Al­bert L., der so­ge­nann­te Bier­wirt, von ei­nem Ge­schwo­re­nen­ge­richt in Wien we­gen Mor­des an sei­ner ehe­ma­li­gen Le­bens­ge­fähr­tin zu le­bens­lan­ger Haft ver­ur­teilt. Der Ver­ur­teil­te nahm das Ur­teil an, es ist da­mit rechts­kräf­tig.

    Wäh­rend der Ge­richts­ver­hand­lung ging es un­ter an­de­rem um die Zu­rech­nungs­fä­hig­keit des Tä­ters zum Tat­zeit­punkt. Al­bert L. hat­te zu­nächst be­haup­tet, sich we­gen Trun­ken­heit an nichts er­in­nern zu kön­nen. Die Ge­richts­gut­ach­ter ka­men zu ei­nem an­de­ren Er­geb­nis, und zu­letzt ge­stand der Tä­ter ein, es ha­be sich bei sei­ner frü­he­ren Aus­sa­ge um ei­ne »Schutz­be­haup­tung« ge­han­delt. Am letz­ten Ver­hand­lungs­tag nahm er die Tat­schuld dann aus­drück­lich auf sich: »Ich ge­ste­he al­les. Ich über­neh­me die Ver­ant­wor­tung für den Tod mei­ner Frau. Ich will selbst nicht wahr­ha­ben, daß ich so ei­ne mie­se Tat be­gan­gen ha­be.«

    Mich – als sehr fer­nen, un­be­tei­lig­ten Be­ob­ach­ter – ließ die­se Aus­sa­ge auf­hor­chen. In sei­ner letz­ten (ver­ba­len) Hand­lung, die von die­sem Mann vor­aus­sicht­lich in die Öf­fent­lich­keit ge­langt sein wird, hat er sich zum er­sten Mal mann­haft ge­zeigt. Ich wäh­le die­ses Bei­wort be­wußt, wohl wis­send, daß es alt­backen ist und miß­ver­stan­den wer­den könn­te. Mann­haft und mensch­lich ist es, die Ver­ant­wor­tung für sei­ne Ta­ten zu über­neh­men, für Feh­ler und Mis­se­ta­ten ge­ra­de­zu­ste­hen. Was na­tür­lich nicht im­mer ein­fach ist – viel­leicht des­halb drängt sich mir je­nes al­ter­tüm­li­che Bei­wort auf. In der Ge­schich­te des Bier­wirts, so weit sie in die Öf­fent­lich­keit drang, zieht sich das Um­ge­hen und die Ver­wei­ge­rung von Ver­ant­wor­tung wie ein ro­ter Fa­den durch, so­wohl im Fall der zwei­fel­los von ihm ge­tä­tig­ten ver­ba­len Be­dro­hung von Frau Mau­rer, der Na­tio­nal­rats­ab­ge­ord­ne­ten, als auch im Fall des Mor­des an sei­ner Le­bens­ge­fähr­tin.

    Bei­spie­le für fei­ges Aus­wei­chen vor Ver­ant­wor­tung gibt es nicht erst im di­gi­ta­len Zeit­al­ter, es ge­hört zu den Schwä­chen des Mensch­seins, und we­ni­ge sind da­vor gänz­lich ge­feit. Wor­an ich mich im Zu­sam­men­hang der er­sten Bier­wirt­cau­sa im Jahr 2018 ge­mahnt fühl­te, war, daß die üb­li­chen Prak­ti­ken in den So­zia­len Me­di­en er­stens da­zu füh­ren kön­nen, Iden­ti­tä­ten un­sicht­bar zu ma­chen und even­tu­ell zu plu­ra­li­sie­ren oder gar auf­zu­lö­sen, zu zer­stäu­ben; und zwei­tens, daß hin­ter dem Schirm der Pseud­ony­mi­tät, al­so im Sta­tus ei­ner Schein­iden­ti­tät, ver­ba­le bzw. vir­tu­el­le Ta­ten be­gan­gen wer­den kön­nen, für die kein Sub­jekt Ver­ant­wor­tung über­nimmt. Das mei­ne ich, wenn ich sa­ge, im In­ter­net las­sen die »User« gern die Sau raus, ver­mut­lich hef­ti­ger und öf­ter als im rea­len Le­ben. Das Über-Ich, das bei den mei­sten Men­schen im rea­len Le­ben in­takt ist, läßt sich dort leich­ter aus­schal­ten. Nai­ve Ge­mü­ter ver­ges­sen da­bei manch­mal, ih­re Spu­ren zu ver­wi­schen, und noch we­ni­ger be­den­ken sie, daß die Spu­ren bei ei­ner straf­ba­ren Hand­lung trotz al­ler An­ony­mi­tät aus­ge­forscht wer­den kön­nen (im Fall des Bier­wirts hät­te man das durch lin­gu­isti­sche Ver­gleichs­ana­ly­sen sei­ner Tex­te sehr leicht tun kön­nen).

    Für ei­nen Mord, ei­nen Fe­mi­zid wie den von Al­bert L. be­gan­ge­nen gibt es si­cher nicht nur ei­ne ein­zi­ge Ur­sa­che. Die Tat steht am En­de ei­ner lan­gen, mehr oder min­der kom­plex ver­lau­fe­nen Ge­schich­te. Wer ag­gres­si­ve Emails schreibt und ver­öf­fent­licht, wird in den al­ler­mei­sten Fäl­len nicht zum Mör­der. Im Fall des Bier­wirts wür­de ich die Face­book-Pö­be­lei­en re­tro­spek­tiv nicht als Ur­sa­che, eher als Zei­chen se­hen für das, was ge­sche­hen könn­te – und dann lei­der ein­ge­tre­ten ist. Aber im nach­hin­ein ist man im­mer klü­ger. Ein Le­ser ei­nes Zei­tungs­be­richts über die Ver­ur­tei­lung des Bier­wirts als Mör­der mein­te im di­gi­ta­len Fo­rum, der Fall sei ein Bei­spiel da­für da­für, »dass ver­ba­le se­xu­el­le Be­lä­sti­gung eben nicht harm­los ist, son­dern den Nähr­bo­den, die Vor­stu­fe für Ge­walt an Frau­en dar­stellt. Wir ver­hin­dern Ge­walt an Frau­en da, wo wir als Män­ner ver­ba­ler Be­lä­sti­gung ent­ge­gen­tre­ten.« So­zia­le Me­di­en wie Face­book sind nicht »schuld« an sol­cher Ge­walt, doch de­ren Ver­faßt­heit und tag­täg­li­cher Ge­brauch tra­gen da­zu bei, daß wir, die wir un­se­re Ta­ge und Näch­te vor­wie­gend im In­ter­net ver­brin­gen, all­zu leicht ge­gen die Wir­kun­gen sol­cher Ge­walt ab­stump­fen, sie nicht mehr wahr­neh­men und die Hemm­schwel­len im­mer tie­fer sin­ken las­sen. Das, glau­be ich, ist die Klam­mer zwi­schen den bei­den Bier­wirt-Epi­so­den, der vir­tu­el­len und der rea­len, wie auch zwi­schen den bei­den Ge­richts­ver­fah­ren (das er­ste vom Bier­wirt an­ge­strengt, das zwei­te ge­gen ihn).

    Im Zu­ge des zwei­ten Ver­fah­rens wur­den ein paar Din­ge über den Wer­de­gang des Al­bert L. be­kannt.* Der Va­ter war an­schei­nend Al­ko­ho­li­ker, in der Fa­mi­lie war Ge­walt an der Ta­ges­ord­nung, sei­nen ei­ge­nen An­ga­ben zu­fol­ge wuchs Al­bert L. seit sei­nem neun­ten Le­bens­jahr in ei­nem Kin­der­heim auf, wo es rauh zu­ge­gan­gen sein soll. Er scheint sich spä­ter zeit­wei­se im Rot­licht­mi­lieu auf­ge­hal­ten und nicht nur mit Bier ge­han­delt zu ha­ben – bei sei­ner Ver­haf­tung wur­den 7,5 Ki­lo Ma­ri­hua­na si­cher­ge­stellt. We­gen ver­schie­de­ner De­lik­te hat er ein er­heb­li­ches Straf­re­gi­ster. Sei­ne Le­bens­ge­fähr­tin, die zwei Kin­der von ihm ge­bar (das äl­te­re, ein drei­zehn­jäh­ri­ges Mäd­chen, brach­te er am Mord­tag da­zu, die Woh­nungs­tür auf­zu­sper­ren), hat­te sich mehr­mals von ihm ge­trennt. Er war im Be­sitz ei­ner Schuß­waf­fe, ob­wohl ihm dies be­hörd­lich un­ter­sagt war, und hat­te ei­ne Wo­che vor dem Mord auf den Va­ter der Ge­tö­te­ten ge­schos­sen, der ihn aus Angst, da­mit al­les noch schlim­mer zu ma­chen, nicht an­zeig­te. Zwi­schen die­sen Tat­sa­chen und Er­eig­nis­sen wür­de ich kei­nen kau­sal­lo­gi­schen Zu­sam­men­hang se­hen, wohl aber da­für­hal­ten, daß je­des Sub­jekt ei­ner Ent­wick­lung un­ter­liegt, bei der vie­le Fak­to­ren ei­ne Rol­le spie­len. Ei­ne Art Fa­ta­li­tät, ei­ne Un­aus­weich­lich­keit kann, muß da­bei aber nicht ent­ste­hen. Je­des Sub­jekt ver­fügt über Wil­lens- und Hand­lungs­frei­heit, auch wenn es von den Ver­hält­nis­sen, in de­nen es lebt, bis zu ei­nem ge­wis­sen Grad kon­di­tio­niert wird. Daß man mit sei­ner Frei­heit ver­ant­wor­tungs­be­wußt um­zu­ge­hen hat, scheint der Bier­wirt am En­de doch noch ein­ge­se­hen zu ha­ben. Frei­lich ist es jetzt zu spät, für sein Op­fer und auch für ihn selbst.

    Vor Ge­richt mach­te Al­bert L. gel­tend, die Nie­der­la­ge – so emp­fand er es of­fen­bar – im Pro­zeß ge­gen Si­gi Mau­rer ha­be ihn aus der Bahn ge­wor­fen. Der Ge­richts­psych­ia­ter sprach in die­sem Zu­sam­men­hang von nar­ziß­ti­scher Krän­kung. Die Zu­rück­wei­sung durch sei­ne ehe­ma­li­ge Le­bens­ge­fähr­tin und Mut­ter sei­ner Kin­der war für L. ei­ne wei­te­re Krän­kung die­ser Art. Mut­ma­ßen wird man dür­fen, daß Al­bert L. ein Ver­tre­ter des nar­ziß­ti­schen Per­sön­lich­keits­ty­pus ist. Mut­ma­ßen möch­te ich wei­ters, daß die­ser Ty­pus durch das ge­nährt wird, was ich als neo­li­be­ra­le Le­bens­phi­lo­so­phie be­zeich­nen wür­de. Er fin­det sich auf­fal­lend häu­fig un­ter rechts­po­pu­li­sti­schen Po­li­ti­kern (Do­nald Trump, Jörg Hai­der in Öster­reich, auch Sil­vio Ber­lus­co­ni wies sol­che Zü­ge auf) und gilt heu­te in wei­ten Krei­sen als an­stre­bens­wer­tes Mo­dell, be­son­ders un­ter Wäh­lern der ent­spre­chen­den Par­tei­en. Auch wenn das sel­ten of­fen zu­ge­ge­ben wird. Mut­ma­ßen möch­te ich schließ­lich, daß die­ser Per­sön­lich­keits­ty­pus eben­falls und gleich­zei­tig durch den ex­zes­si­ven Ge­brauch »so­zia­ler« In­ter­net­me­di­en ge­nährt wird. Ein we­sent­li­ches Ver­hal­tens­mu­ster nar­ziß­ti­scher Per­so­nen be­steht dar­in, an­de­ren ge­gen­über un­nach­gie­big und, wenn nö­tig, bru­tal zu sein, wäh­rend man sich so­fort als Op­fer dar­stellt (und viel­leicht wirk­lich fühlt), so­bald ei­nem – nicht sel­ten durch ei­ge­nes Ver­schul­den – et­was ge­gen den Strich geht.

    Der ar­me Ver­folg­te… So sah sich auch der Bier­wirt, nach­dem ihm die jun­ge Po­li­ti­ke­rin sei­ne Pö­be­lei­en nicht hat­te durch­ge­hen las­sen. So sah er sich wo­mög­lich noch ge­gen­über sei­ner Ex-Freun­din, be­vor er sie er­schoß.

    *Ein ziem­lich um­fang­rei­ches und in­for­ma­ti­ves Por­trät von Al­bert L. ha­ben Ro­bert Treich­ler und Chri­sta Zöch­ling für die Wo­chen­zei­tung pro­fil zu­sam­men­ge­stellt: Le­bens­lan­ge Haft: Wer ist der Bier­wirt?