Kaf­kas Dop­pel­bot­schaf­ten

In Wil­helm Mei­sters Lehr­jah­re gibt es ei­ne Sze­ne, wo der jun­ge Mann, al­so der Ti­tel­held, sei­ne Ma­nu­skrip­te ver­brennt. Die­se »dich­te­ri­schen Ver­su­che« wa­ren wäh­rend der er­sten Lie­bes­lei­den­schaft sei­nes Le­bens zu­stan­de ge­kom­men; jetzt aber, nach der Tren­nung von sei­ner Ge­lieb­ten, be­fin­det er sie für wert­los. Sein durch und durch ra­tio­nal den­ken­der Freund Wer­ner, ein Kauf­mann, kommt da­zu, er will ihn an dem Ver­nich­tungs­werk hin­dern. Wil­helm in­si­stiert, ein Ge­dicht müs­se ent­we­der vor­treff­lich sein, oder es sol­le gar nicht exi­stie­ren. Wer­ner wi­der­spricht: Wenn je­mand zu ei­ner Tä­tig­keit Ta­lent und Nei­gung ha­be, soll er sie doch aus­üben, auch wenn kei­ne voll­kom­me­nen Er­geb­nis­se zu er­war­ten sind. Der jun­ge Wil­helm ist nicht nur in die­ser Si­tua­ti­on ra­di­kal, er geht stets aufs Gan­ze. Wer­ner rät zur Mä­ßi­gung, man sol­le sich auch mit Teil­erfol­gen zu­frie­den­ge­ben.

Ei­ne ähn­li­che Kon­stel­la­ti­on be­stand zwi­schen Franz Kaf­ka und sei­nem Freund Max Brod, der als Dich­ter und di­let­tie­ren­der Mu­si­ker im­mer auch ein we­nig kauf­män­nisch dach­te. In ei­nem Ta­ge­buch­ein­trag vom Au­gust 1914, we­ni­ge Ta­ge nach Aus­bruch des er­sten Welt­kriegs, sieht Kaf­ka sich selbst zur Spit­ze ei­nes Bergs flie­gen, wäh­rend an­de­re Au­toren sich in tie­fe­ren Re­gio­nen mü­hen, frei­lich mit viel grö­ße­ren Kräf­ten als er selbst. Es fehlt ihm an Aus­dau­er, Ge­sund­heit, Kom­pro­miß­be­reit­schaft, Sinn fürs So­zia­le, um sich dau­er­haft an der Spit­ze des Olymps zu eta­blie­ren. Was er be­sitzt, ist ein »traum­haf­tes in­ne­res Le­ben« und die Fä­hig­keit, sich der In­spi­ra­ti­on zu öff­nen, die ei­ner un­sicht­ba­ren Tür zu je­nem Traum­le­ben gleicht. Die Tür ist oft, manch­mal mo­na­te­lang, ver­schlos­sen, Kaf­ka müht sich ver­ge­bens um Ein­laß. Sein Le­ben ver­läuft zwi­schen zwei Re­gio­nen, die ihm ver­wehrt sind: auf der ei­nen Sei­te die Ehe, die Fa­mi­lie, die bür­ger­li­che Exi­stenz; auf der an­de­ren Sei­te der Olymp mit sei­nen Hier­ar­chien. In bei­den Re­gio­nen ist er be­sten­falls Gast. An­de­re sind in der La­ge, bei­de zu ver­ein­ba­ren, zum Bei­spiel der ho­mo­se­xu­el­le Tho­mas Mann, der ei­ne Fa­mi­lie um sich er­rich­te­te, die ihn da­vor be­wahr­te, ein Au­ßen­sei­ter zu wer­den. Kaf­ka blieb es zeit­le­bens, über­all. Die Vi­ru­lenz sei­ner Träu­me ließ ihn nicht schla­fen, er muß­te sie zu Pa­pier brin­gen und dort wei­ter ent­fal­ten, aber oft war ihm auch dies ver­wehrt, so ver­harr­te er dann wie ge­lähmt zwi­schen dem Hier und dem Dort.

Was er­war­te­te er sich von der Ehe? Be­ru­hi­gung, gu­ten Schlaf, ei­ne Ni­sche im Bür­ger­li­chen. Manch­mal so­gar: in Ru­he schrei­ben kön­nen, ir­gend­wo in der mitt­le­ren Zo­ne ar­bei­ten, nicht oben auf dem Olymp, son­dern im Wein­berg der Li­te­ra­tur. Aber der­lei Be­ru­hi­gun­gen lehn­te er zu­gleich ab, er hin­ter­trieb sie un­er­müd­lich. Kaf­ka konn­te nicht an­ders schrei­ben als in Wel­len, in klei­ne­ren, manch­mal nacht­lan­gen Erup­tio­nen oder – die Ro­ma­ne – in Rie­sen­wel­len, Tsu­na­mis gleich­sam, wo­bei er an­fangs dach­te, daß er kei­nen lan­gen Atem be­sit­ze und Kurz­for­men das ihm ent­spre­chen­de Gen­re sei­en. Doch der Lun­gen­kran­ke schaff­te wi­der die ei­ge­nen Wahr­schein­lich­kei­ten auch das, den gro­ßen Ro­man, ob­gleich er nie ei­nen »voll­ende­te«. Kaf­kas Ro­ma­ne sind ten­den­zi­ell un­end­lich, als sprach­li­che Ge­bil­de aber na­tur­ge­mäß end­lich: ein Wi­der­spruch, der sich nie­mals auf­he­ben läßt. Hier die kur­zen, viel­deu­ti­gen Pa­ra­beln, dort die rie­si­gen Frag­men­te. Und nichts in der Mit­te, kein ein­zi­ges wohl­kon­stru­ier­tes Werk, nur die Gip­fel­flü­ge und das Zer­schel­len am Bo­den, die an­hal­ten­de De­pres­si­on. Und da­zu die dau­ern­de Selbst­re­fle­xi­on, die Re­chen­schaft über die­se Pro­zes­se des Schrei­bens wie des Nicht­schrei­bens, und den an­de­ren Pro­zeß der ver­geb­li­chen, viel­leicht auch nur ein­ge­bil­de­ten, her­bei­ge­schrie­be­nen Lie­be zum Le­ben, zu ei­ni­gen Frau­en, von de­nen die am mei­sten um­wor­be­ne, Fe­li­ce Bau­er, über­haupt nicht zu ihm paß­te.

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Wel­ten und Zei­ten VI

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

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In der poe­to­lo­gi­schen Kor­re­spon­denz Aus der Zu­kunft des Ro­mans zwi­schen Ol­ga Mar­ty­n­o­va und mir, zu der sich dann an­de­re Au­toren ge­sell­ten und die sich über fast zwei Jah­re er­streck­te, fragt Kurt Neu­mann, das gan­ze Kon­vo­lut über­blickend, ob die Zu­kunft des Ro­mans nicht ei­ne mi­ni­ma­li­sti­sche sei. In der Tat neig­te vor al­lem Ol­ga im­mer wie­der zur Kür­ze; auch An­na Wei­den­hol­zer teil­te am En­de mit, sie wol­le künf­tig Er­zäh­lun­gen in der Art von Ray­mond Car­ver schrei­ben, und zi­tier­te He­ming­ways be­rühm­te Eis­berg-Theo­rie: »Al­les, was man eli­mi­niert, macht den Eis­berg nur noch stär­ker. Es liegt al­les an dem Teil, der un­sicht­bar bleibt.« Sich aufs We­sent­li­che kon­zen­trie­ren – so­fern man weiß, was das We­sent­li­che ist. Bei mir selbst ent­spricht die­se Ten­denz mei­ner spä­ten Ent­deckung der klei­nen Ro­ma­ne à la Mo­dia­no. Ich den­ke mir auch, daß wir auf schwe­res Ge­päck künf­tig ver­zich­ten soll­ten, und in der Wirk­lich­keit rei­se ich ge­nau so, nicht mal ei­nen Rei­se­füh­rer brau­che ich, kei­nen Com­pu­ter, nur ein Han­dy, für Ho­tel­re­ser­vie­run­gen. Und dann soll­ten wir viel­leicht aufs Rei­sen über­haupt ver­zich­ten… Zu an­stren­gend, bringt die na­tür­li­chen Le­bens­ab­läu­fe durch­ein­an­der.

An­de­rer­seits schrei­ben bei wei­tem nicht al­le Ro­man­au­to­ren mi­ni­ma­li­stisch. Hin und wie­der gibt es ge­gen­ge­rich­te­te Strö­mun­gen, oder soll man sa­gen: Mo­den? »Ach­tung, die dicken Ro­ma­ne kom­men!«, kün­de­te – oder warn­te? – Paul Jandl im Som­mer 2018 in der neu­en Zür­cher Zei­tung. Of­fen­sicht­lich ein Ar­ti­kel auf der Grund­la­ge von Ver­lags­ka­ta­lo­gen, die in vie­len Fäl­len wohl die Lek­tü­re der Bü­cher er­set­zen. Am Wel­ten­rand sit­zen die Men­schen und la­chen, von Phil­ip Weiss, ist da­bei, gut 1000 Sei­ten, ei­gent­lich aber fünf Ro­ma­ne, und auch Schat­ten­froh, von Mi­cha­el Lentz, ein Buch, das ich in­zwi­schen – Som­mer 2021 – ge­le­sen ha­be, quer­ge­le­sen, um ehr­lich zu sein, der Ro­man spielt kei­nes­wegs, wie der ir­re­ge­lei­te­te Jandl meint, in Chi­na, son­dern im Kopf des Au­tors, und der ist ziem­lich weit­läu­fig, weit­läu­fi­ger als Chi­na.

Hin­zu kommt, und das ist jetzt wirk­lich pein­lich, daß ich als Au­tor trotz neu­er Vor­lie­ben als Le­ser im­mer noch so schrei­be, wie ich es vor ei­nem Vier­tel­jahr­hun­dert zu recht­fer­ti­gen such­te, in­dem ich ei­nen ma­ni­fest­ar­ti­gen Text ver­faß­te: Für ei­ne ba­rocke Li­te­ra­tur! Un­ter »ba­rock« faß­te ich Ei­gen­schaf­ten wie aus­ufernd, schwei­fend, wu­chernd, ver­schnör­kelt, viel­di­men­sio­nal, lang-wei­lig (im Adal­bert Stif­ter­schen Sinn) zu­sam­men – al­les, was die stram­me deut­sche Li­te­ra­tur­kri­tik seit dem En­de des letz­ten Welt­kriegs ver­pönt. So schrei­be ich ver­al­tet in die Zu­kunft hin­ein… Pe­ter Hand­ke hat ja auch sol­che Bü­cher ge­macht, nur hat­te er nichts mit dem Ba­rock am Hut, hat viel­mehr sei­ne Epen an fast schon prä­hi­sto­ri­sche Zei­ten an­schlie­ßen wol­len: Gott­fried von Straß­burg wur­de zum Schutz­hei­li­gen er­nannt. Bei man­chen Au­toren ist das Neo­ba­rock ei­ne Al­ters­er­schei­nung, die Kon­zen­tra­ti­ons­kraft scheint ih­nen ab­han­den­ge­kom­men, ein bio­lo­gi­scher Vor­gang. Jun­ger Au­tor = Ge­dich­te, ra­san­te Er­zäh­lun­gen; al­ter Au­tor = be­hä­big aus­ufern­de Ro­ma­ne.

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Wel­ten und Zei­ten V

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

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Liest man Huys­mans‘ rück­blicken­des Vor­wort (1903) zu A re­bours (1884), er­kennt man so­gleich die Front­stel­lun­gen, li­te­ra­ri­schen Schu­len und Kon­stel­la­tio­nen, die die Au­toren je­weils zu über­win­den trach­te­ten. Huys­mans hebt die­se Re­li­efs noch her­vor. »Ge­gen den Strich«, das heißt auch: ge­gen die Li­te­ra­tur­ge­schich­te, ge­gen be­stimm­te Strö­mun­gen. Aber da es heu­te kei­ne sol­chen epo­cha­len oder schul­mä­ßi­gen Front­stel­lun­gen mehr gibt, er­üb­ri­gen sich auch die Kämp­fe da­ge­gen. Von wem soll ich mich in mei­nem Werk denn ab­gren­zen? Von El­frie­de Je­li­nek? Von … Ich wüß­te wirk­lich nicht, von wem. In den sieb­zi­ger Jah­ren des vo­ri­gen Jahr­hun­derts, kei­ne hun­dert Jah­re nach A re­bours – wie na­he die­se Da­ten jetzt bei­ein­an­der­lie­gen, um 1980 kam mir Huys­mans tief hi­sto­risch vor – galt das noch: Ex­pe­ri­men­tel­le Li­te­ra­tur ge­gen (so­zia­li­sti­schen) Rea­lis­mus, Neue In­ner­lich­keit ge­gen bei­de Fron­ten, dann noch ein­mal Rück­kehr zur Sach­lich­keit und zu­letzt – Post­mo­der­ne, d. h. anything goes, To­le­ranz ge­gen al­le und al­les. Da ste­hen wir heu­te noch, in der Post-post­mo­der­ne. Das Prä­fix läßt sich be­lie­big oft wie­der­ho­len, wie ein Ge­stot­ter. Wenn al­les geht, gibt es nichts zu er­le­di­gen.

A re­bours, der Ti­tel wur­de – mit gu­ten Grün­den – auch mit »Wi­der die Na­tur« über­setzt (na­he­lie­gend: ge­gen den Na­tu­ra­lis­mus). Was mich an A re­bours dann wie­der ab­stößt – nein, zu scharf for­mu­liert: was mich da­von wie­der weg­zieht, ist das The­sen­haf­te. Denn A re­bours ist ein The­sen­ro­man. Der Au­tor il­lu­striert er­zäh­lend-be­schrei­bend sei­ne The­se, daß Li­te­ra­tur und Kunst ih­rer ei­ge­nen Künst­lich­keit zu fol­gen ha­ben und nicht – wie es Goe­the sei­ner­zeit for­der­te – der Na­tur. Kunst ist ei­ne Art An­ti-Na­tur, so Huys­mans. Selt­sam, aber ein ganz an­de­rer Ro­man, den ich kürz­lich ge­le­sen ha­be, So­u­mis­si­on von Mi­chel Hou­el­le­becq, ist eben­falls ein The­sen­ro­man. Gar nicht so selt­sam, wenn man be­denkt, daß die Haupt­fi­gur dar­in Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­ler ist und als sol­cher Huys­mans-Spe­zia­list. Sti­li­stisch hat Hou­el­le­becq mit Huys­mans we­nig ge­mein­sam, und sei­ne The­se ist kei­nes­wegs ge­gen die Li­te­ra­tur­ge­schich­te ge­rich­tet – in die­ser Hin­sicht ist Hou­el­le­becq mit sei­ner Bal­zac-Be­wun­de­rung ziem­lich kon­ser­va­tiv. Nein, die vom Ro­man zu il­lu­strie­ren­de The­se be­trifft die Ge­sell­schaft und hat po­li­ti­schen Cha­rak­ter: »Der Is­lam über­nimmt die kul­tu­rel­le He­ge­mo­nie«. Der ge­sam­te Text ist auf die­se The­se hin ge­trimmt. In mei­nem Ver­ständ­nis – aber da bin ich Kaf­kaianer, nicht Tho­mas Man­nia­ner, moi aus­si j’ai choi­si mon camp – in mei­nem Ver­ständ­nis soll­te man als Au­tor ge­nau die­ses Trim­men ver­mei­den, sich viel­mehr ins Un­be­kann­te trei­ben las­sen. Der Schrei­ben­de soll­te nicht zu­viel wis­sen. Am be­sten: Gar nichts wis­sen; sein Wis­sen über Bord wer­fen.

Ich er­in­ne­re mich, wie Hand­ke vor vie­len Jah­ren ein­mal zu mir sag­te: »Sie wis­sen zu­viel.« Ich er­schrak, fühl­te mich plötz­lich wie in ei­nem Kri­mi. Ei­nen Mo­ment lang lau­te­te die Bot­schaft an mich: Wir müs­sen Sie be­sei­ti­gen. Das wer­den sie doch ver­ste­hen.

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The in­ward spi­ral I

Kas­san­dra – muss­te die Lek­tü­re ab­bre­chen. Die­se Sät­ze fuh­ren mir durch Mark und Bein: »Wer wird, und wann die Spra­che wie­der­fin­den. Ei­ner, dem ein Schmerz den Schä­del spal­tet, wird es sein [..]«. Die­se Sät­ze sind tief in mir, nur ver­schütt’ ge­gan­gen: ich hat­te ganz ver­ges­sen, dass sie von dort stamm­ten. Fah­rig blät­ter­te ich noch et­was ...

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Wel­ten und Zei­ten IV

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

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»I play bo­th si­des against the midd­le«, ein Satz, der mir von Bob Dy­lan her im Ohr klingt. Im Eng­li­schen al­ler­dings nur – »nur« – ei­ne ge­bräuch­li­che Re­de­wen­dung, die of­fen­bar ei­ne Hal­tung wie Op­por­tu­nis­mus be­zeich­net. Bei mir weckt der Satz ganz an­de­re As­so­zia­tio­nen, er lie­fert ei­ne gu­te Be­schrei­bung des­sen, was ich seit vie­len Jah­ren als Span­nung wert­schät­ze. Das Wort »Span­nung« hat ver­schie­de­ne Be­deu­tungs­nu­an­cen und wird recht un­ter­schied­lich ge­braucht. In letz­ter In­stanz ver­weist das Wort für mich auf den Le­bens­bo­gen, den ein je­der zu be­schrei­ben hat und zu be­schrei­ben sucht, und die­ser wie­der­um ver­bin­det sich mit dem, was Heid­eg­ger »Ent­wurf« nennt: Ent­wurf und Ge­schick, per­sön­li­che Ent­schei­dun­gen und äu­ße­re Be­din­gun­gen er­ge­ben im Zu­sam­men- und Wi­der­spiel den Le­bens­bo­gen. Ro­ma­ne und grö­ße­re Er­zäh­lun­gen ha­ben die­sen Bo­gen im Blick oder als Ho­ri­zont, auch dann, wenn über­haupt nicht von An­fang und En­de die Re­de ist. Im ge­wöhn­li­chen Le­ben ver­lie­ren wir den Ho­ri­zont oft aus den Au­gen; es be­steht auch gar nicht die Not­wen­dig­keit, ihn dau­ernd zu be­den­ken, aber hin und wie­der tut es doch gut.

Bei­de Sei­ten ge­gen die Mit­te spie­len. Die Ex­tre­me in Be­zie­hung set­zen, in Be­zie­hung hal­ten. Das ist doch das Ge­gen­teil vom gol­de­nen Mit­tel­weg, auf dem ei­ner sich durchs Le­ben schwin­delt. So ei­nen Satz zu äu­ßern, be­deu­tet, die Span­nung zu su­chen und In­ten­si­tä­ten zu le­ben. Hat Dy­lan es so ge­meint? Kei­ne Ah­nung. Die Songs des al­ten, nun­mehr über Acht­zig­jäh­ri­gen zeh­ren im­mer häu­fi­ger von Rück­blicken (üb­ri­gens auch die Bü­cher von Pe­ter Hand­ke). Das ist nur na­tür­lich, wir sind, vor al­lem, wenn wir nicht nur äl­ter, son­dern alt wer­den, was wir er­in­nern, und wie wir es er­in­nern (und ob). In Key West (Phi­lo­so­pher Pi­ra­te) nennt Dy­lan drei Dich­ter der Beat­nik-Ge­ne­ra­ti­on, die ihn be­ein­flußt oder zu­min­dest, als er jung war, be­ein­druckt ha­ben: Al­len Gins­berg, Gre­go­ry Cor­so, Jack Ke­rouac (okay, Ke­rouac war ein Er­zäh­ler).

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Schreib­fa­bri­ken und Sti­pen­dia­ten­pro­sa

Ei­ni­ge un­mass­geb­li­che Be­mer­kun­gen zu Tho­mas Meaneys The­sen über die Be­deu­tungs­lo­sig­keit der zeit­ge­nös­si­schen deut­schen Li­te­ra­tur

Man horcht auf. Schließ­lich ist von ei­nem un­aus­ge­spro­che­nen Skan­dal die Re­de. »Das wirt­schaft­lich be­deu­tend­ste Land des Kon­ti­nents lei­det so­wohl an man­geln­dem li­te­ra­ri­schem Ehr­geiz als auch an man­geln­der Prä­senz. Je­der weiß, dass die Er­ben der Spra­che von Kaf­ka, Brecht und Mann heu­te so we­nig ge­le­sen wer­den wie seit Jahr­zehn­ten nicht mehr.»1

Tho­mas Meaney liest im Vor­wort der ak­tu­el­len Aus­ga­be des bri­ti­schen »Granta«-Magazins der deut­schen Li­te­ra­tur die Le­vi­ten. »Der letz­te deut­sche Schrift­stel­ler, der ei­nen grö­ße­ren in­ter­na­tio­na­len Durch­bruch schaff­te, war WG Se­bald, der zwan­zig Mei­len von der öster­rei­chi­schen Gren­ze ent­fernt auf­wuchs, die mei­ste Zeit sei­nes Le­bens in Eng­land leb­te und sich selbst als Schü­ler von Pe­ter Hand­ke be­trach­te­te.« Wie kann es sein, dass aus Öster­reich, der Schweiz und Ru­mä­ni­en (!)2 bes­se­re deut­sche re­spek­ti­ve deutsch­spra­chi­ge Li­te­ra­tur ge­schrie­ben wur­de? Meaney er­klärt es da­hin­ge­hend, dass die »füh­ren­den Per­sön­lich­kei­ten« der öster­rei­chi­schen Nach­kriegs­li­te­ra­tur »In­ge­borg Bach­mann, Tho­mas Bern­hard, Pe­ter Hand­ke, Mar­len Haus­ho­fer, Frie­de­ri­ke May­röcker, El­frie­de Je­li­nek« sich nicht von ih­ren Vor­läu­fern der Mo­der­ne (Kaf­ka, Mu­sil, Do­de­rer, Broch) ab­ge­schnit­ten hät­ten wie die Deut­schen. »Als Böll nach dem Krieg be­gann, Ro­ma­ne zu ver­öf­fent­li­chen«, war es, so Meaney, »als hät­te es die Mo­der­ne nie ge­ge­ben.«

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  1. Die nachfolgenden Übersetzungen des englischen Textes wurden mit DeepL und einem kleineren Eigenanteil erstellt. 

  2. Das Ausrufezeichen ist von mir. Ich nehme an, Meaney bezieht sich vor allem auf die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller. 

Pro­vo­ka­ti­on oder An­pas­sung?

Be­richt von ei­ner Schrift­stel­ler­ver­samm­lung

Es war vor vier­zig Jah­ren, als ich das er­ste Mal ei­ne Ge­ne­ral­ver­samm­lung der GAV, der wich­tig­sten öster­rei­chi­schen Schrift­stel­ler­ver­ei­ni­gung, be­such­te. Be­son­ders an­zie­hend wa­ren die­se Ver­samm­lun­gen für mich of­fen­bar nicht, denn ich kann mich nicht er­in­nern, ei­ne wei­te­re be­sucht zu ha­ben. Da­bei hat­te ich da­mals, oder tags zu­vor, ich weiß es nicht mehr ge­nau, er­in­ne­re mich aber an die Re­ak­tio­nen von Ernst Jandl, Franz Schuh und Ma­rie-Thé­rè­se Ker­sch­bau­mer – ich hat­te ei­nen klei­nen Vor­trag mit dem Ti­tel »Rea­lis­mus? Avant­gar­de?« (zwei Fra­ge­zei­chen!) ge­hal­ten. Na­tür­lich hat­te mei­ne Ab­we­sen­heit von der GAV auch mit mei­nen lan­gen Aus­lands­auf­ent­hal­ten zu tun.

Vier­zig Jah­re spä­ter, nach mei­ner (pro­vi­so­ri­schen) Rück­kehr, war ich auf al­les neu­gie­rig, so­gar auf die GAV. Wie al­le her­kömm­li­chen kul­tu­rel­len Mi­lieus ist auch das Mi­lieu der GAV über­al­tert. Doch im­mer­hin sah ich ei­ne An­zahl von jün­ge­ren, mir un­be­kann­ten Ge­sich­tern im Kel­ler­raum der Al­ten Schmie­de zu Wien. Ge­ne­ral­ver­samm­lun­gen be­stehen auch un­ter Schrift­stel­lern aus Re­chen­schafts­be­rich­ten und Dis­kus­sio­nen über ir­gend­ein Pro­ce­de­re; hin und wie­der scheint es aber doch zu Ge­sprä­chen zu kom­men, die In­halt­li­ches, d. h. Li­te­ra­ri­sches, be­tref­fen. Dies­mal be­durf­te es da­zu ei­nes Streits. Ei­nes Rich­tungs­streits, so wür­de ich es nen­nen, hin­ter dem sich ein Ge­ne­ra­tio­nen­kon­flikt ver­birgt. Nicht mehr »Rea­lis­mus? Avant­gar­de?« ist die Fra­ge, son­dern »Kor­rekt? In­kor­rekt?« oder »To­le­ranz vs. Re­gu­lie­rung«, »Pro­vo­ka­ti­on vs. An­pas­sung« – ich könn­te hier wei­te­re Ge­gen­satz­paa­re an­füh­ren.

Es ging um die Auf­nah­me ei­nes Au­tors, des­sen Na­me mir nichts sag­te, in die GAV. Wie bei al­len Ver­ei­nen muß der Au­tor, will er auf­ge­nom­men wer­den, da­zu ei­nen An­trag stel­len. Ei­ne Ju­ry wer­tet den An­trag aus und gibt ei­ne Emp­feh­lung; die Ge­ne­ral­ver­samm­lung ent­schei­det. In die­sem Fall war die Ju­ry ge­spal­ten, ei­ne Stim­me pro, zwei con­tra. Der An­trag war nicht sehr ge­schickt ge­stellt, der Au­tor hat­te zwan­zig Sei­ten ei­nes zehn Jah­re al­ten, in Buch­form er­schie­ne­nen Ro­mans ein­ge­schickt, aber kei­nen neue­ren Text. Aber dar­um ging es nicht und soll es auch hier nicht ge­hen. Die Be­grün­dung für das ne­ga­ti­ve Ur­teil war: Ras­sis­mus. Nicht, daß man in dem be­tref­fen­den Au­tor ei­nen Ras­si­sten ge­se­hen hät­te; viel­mehr wur­de von der Ju­ry mehr­heit­lich die An­sicht ver­tre­ten, heut­zu­ta­ge kön­ne man ras­si­sti­sche Äu­ße­run­gen, sei es auch in merk­lich kri­ti­scher Ab­sicht, nicht un­kom­men­tiert in ei­nen Ro­man ein­fü­gen. Als Bei­spiel wur­de un­ter an­de­rem, wenn ich mich recht ent­sin­ne, der im Text vor­kom­men­de, tra­di­ti­ons­rei­che Ga­stro-Be­griff »Mohr im Hemd« ge­bracht. Heut­zu­ta­ge – in der Dis­kus­si­on wur­de da­für­ge­hal­ten, vor zehn Jah­ren sei dies viel­leicht noch ak­zep­ta­bel ge­we­sen; heu­te nicht mehr. Man müs­se sich dem Zeit­geist an­pas­sen: Das wur­de nicht wört­lich ge­sagt, aber dar­auf lief es hin­aus.

Die Ab­stim­mung ging un­ent­schie­den aus, und da sich kei­ne Mehr­heit für den Au­tor er­ge­ben hat­te, wur­de sein An­su­chen ab­ge­lehnt. Wäh­rend der dis­kur­si­ven Aus­ein­an­der­set­zung fand ei­ne äl­te­re Au­torin (mei­ne Ge­ne­ra­ti­on!) die Ar­gu­men­te der an­ti­ras­si­sti­schen Frak­ti­on »un­glaub­lich«, sprang auf und ver­ließ den Raum. Fünf Mi­nu­ten spä­ter kam sie zu­rück, sie hat­te sich be­ru­higt; da­nach äu­ßer­te sie sich recht be­son­nen zum The­ma. Ich selbst, eher ein Zaun­gast, sag­te nichts, aber wäh­rend der Dis­kus­si­on er­in­ner­te ich mich dar­an, daß ich we­ni­ge Ta­ge zu­vor in ei­nem Re­clam-Heft­chen, Text von In­ge­borg Bach­mann, das Wort »Ne­ger« ge­le­sen hat­te. Und daß man heut­zu­ta­ge El­frie­de Je­li­nek nicht in die GAV auf­neh­men wür­de, weil ih­re Bü­cher voll von ras­si­sti­schen und an­de­ren Kli­schees sind, wenn auch in kri­ti­scher Ab­sicht. (Die Wie­der­ga­be von Kli­schees wur­de von der Ju­ry eben­falls am Text des an­trag­stel­len­den Au­tors be­an­stan­det.) Auch dach­te ich dar­an, daß der Schwar­ze Jim in Mark Twa­ins Huck­le­ber­ry Finn zig­mal das Wort »Nig­ger« ver­wen­det, um sich selbst zu be­zeich­nen. Aber gut, die­ser Ro­man wur­de vor 133 Jah­ren ver­öf­fent­licht, und die Zei­ten än­dern sich…

Bei der Ab­stim­mung hob ich brav mei­ne Hand. Am un­ent­schie­de­nen Aus­gang, al­so an der Ab­leh­nung, än­der­te das nichts. In ei­nem Salz­bur­ger Ca­fé, fiel mir noch ein, hat­te ich un­längst ei­nen »Mohr im Hemd« auf der Spei­se­kar­te ge­se­hen. Aber den soll­te man viel­leicht can­celn.

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Pe­ter Slo­ter­di­jk: Zei­len und Ta­ge III

Seit je­her haf­tet Ta­­ge- bzw. No­tiz­buch­schrei­bern ein ge­wis­ser Stoi­zis­mus an: Un­ab­hän­gig von al­len Welt­läu­fen und pri­va­ten Um­ge­bungs­ge­räu­schen set­zen sie sich re­gel­mä­ßig an ei­nen Tisch, um zu schrei­ben, zu re­flek­tie­ren, zu kom­men­tie­ren. Frü­her wur­den Ta­­ge- bzw. No­tiz­bü­cher pro­mi­nen­ter Au­toren zu­meist erst nach de­ren Ab­le­ben pu­bli­ziert. So ver­mied man vor al­lem un­an­ge­neh­me Aus­ein­an­der­set­zun­gen mit Zeit­ge­nos­sen. Ein Man­ko ...

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