Seit jeher haftet Tage- bzw. Notizbuchschreibern ein gewisser Stoizismus an: Unabhängig von allen Weltläufen und privaten Umgebungsgeräuschen setzen sie sich regelmäßig an einen Tisch, um zu schreiben, zu reflektieren, zu kommentieren. Früher wurden Tage- bzw. Notizbücher prominenter Autoren zumeist erst nach deren Ableben publiziert. So vermied man vor allem unangenehme Auseinandersetzungen mit Zeitgenossen. Ein Manko war, dass Nachlassverwalter je nach Gusto Änderungen oder Auslassungen vornehmen konnten, die nur selten öffentlich wurden. In der letzten Zeit hat sich diese Zurückhaltung erfreulicherweise geändert. Zum einen, weil durch eine Veröffentlichung zu Lebzeiten der Verfasser die Kontrolle über das Veröffentlichte (und damit auch das Verschwiegene) behält; intime oder pikante Stellen können nonchalant ausgeblendet werden. Dass ein Forscher später hiernach sucht, kann für sehr lange Zeit ausgeschlossen werden. Der andere Grund liegt darin, dass man losgelöst von allen (vor allem literarischen) Konventionen schreiben kann. Inwiefern dann später, vor einer Veröffentlichung, wieder ein Korsett aus Rücksichten und strategischen Berechnungen angelegt werden muss, steht auf einem anderen Blatt.
»Pollenflug der Themen«
Vielleicht beginnt Peter Sloterdijk aus diesem Grund Zeilen und Tage III, seinen dritten Band mit Notizbucheintragungen von 2013 bis 2016, mit einem kleinen Vorwort. Dabei wischt er überzeugend eventuell im Vorfeld aufkommende Einwände weg. Man erfährt von der »Tugend des Weglassens« und das damit rund zwei Drittel des verfügbaren Materials gemeint ist. Nachträgliche Einfügungen seien »gelegentlich« erfolgt, aber nur »um dem damals knapp Notierten durch zusätzliches Volumen besser gerecht zu werden.« Auch die Gefahr des Posierens wird kurz gestreift, um dann abschlägig beschieden zu werden. Persönlich wird Sloterdijk, wenn er auf den Tod des guten Freundes René Gude vom 13.3.2015 hinweist. Man kann in den entsprechenden Stellen dieses Bandes die besondere Anteilnahme und Bewunderung Sloterdijks für seinen Freund lesen.
Nach Zeilen und Tage (erschienen 2012 mit Notizen der Jahre 2008 bis 2011) und Neue Zeilen und Tage (2018; 2011 bis 2013) nun also die »Fortsetzung«. Zu Beginn der Aufzeichnungen ist Sloterdijk 66 Jahre alt. Es ist auch eine Zeit des absehbaren beruflichen Abschieds. Man bemerkt davon zunächst relativ wenig, denn das Volumen seiner (weltweit nachgefragten) Vorträge, Konferenzen, Symposien und Gastdozenturen ähnelt denen der beiden vorangegangen Bände. Erst im Laufe der Zeit wird der Abschied als Rektor der Hochschule für Gestaltung greifbarer.
Der dritte Band bietet, so Sloterdijk, ein »Pollenflug der Themen«. Es gibt nicht nur Einblick in Sloterdijks Wirken, seine mitunter privaten, fast intimen Geständnisse, sondern verschafft lauter kleine Déjà-vus wie die der Staatsfinanzkrise von Griechenland, der Besetzung der Krim nebst Destabilisierung der Ostukraine durch Russland, der Flüchtlingskrise, dem Aufkommen des »Islamischen Staates«, Terroranschlägen in Frankreich, Brexit und Trump. Es beginnt wie der zweite endete und man wird wie in einem Katapult in eine gefühlt lange vergangene Zeit zurückgeschossen. Soeben hatte Peer Steinbrück die Bundestagswahl 2013 gegen Angela Merkel verloren. Die »Lethargokratie« (P. S.) der Ära Merkel findet ihre Fortsetzung. Der Autor bleibt freundlich reserviert ob dieser Konstellation.
Den vollständigen Text »Ein ›Pollenflug der Themen‹« bei Glanz und Elend weiterlesen.
Etwas spät, die Tagebuch-Episode, gemessen an dem Tempo der Ereignisse von heute. Ich bin meiner Lese-Natur nach ein Sloterdijk-Liebhaber. Die Wortschöpfungen und die Ironie-Garantie finde ich herrlich. Professionelle Philosophen hassen ihn. Ich Laie halte ihn für einen Humoristen, einen lehrreichen Unterhalter, den perfekten Pädagogen, möglicherweise ein Missverständnis. Jedenfalls habe ich immer viel gelacht. Zizek hält ihn für einen Krypto-Kommunisten, aber der kennt ja ohnehin nur zwei Sorten Mensch. Das Tempo, wie gesagt, schaufelt schwere Lasten auf die westliche Einheitsseele, und Sloterdijk als der große neutralisierende Moderator der überspannten kritischen Philosophie droht schon wieder irrelevant zu werden. Eigentlich passt P.S. perfekt in die naive Zeit der Globalisierung (bis 2011), die kein existenzielles Risiko kannte, und Geschichtslosigkeit mit Unsterblichkeit verwechseln durfte. Von Anfang an hatte er seinen Kompass auf Selbstedukation und Zivilität ausgerichtet. Aber jetzt wird schon wieder munter geschossen, und die Unrührbarkeit, die er zweifellos zur Meisterschaft kultivierte, droht als eine esoterisch-elitäre Pose wahrgenommen zu werden. Wäre schade, aber niemand kann die Umstände des Gelesen-Werdens tatsächlich beeinflussen. ‘N bisschen zu speziell.
Sloterdijk passt gerade mit seiner anachronistisch empfundenen Erscheinung perfekt in die Gegenwart. Man müsste ihn bzw. diese Tagebücher erfinden, wenn es sie nicht geben würde. Alleine schon, um den Transformationsprozess dieser Gesellschaft deutlich zu machen.
Da er kein Ideologe ist, wird sicht- und lesbar wie der Intellektuelle fast immer an den Felsen der Realpolitik zerschellt. Anzurechnen ist ihm, dass er nie Luftschlösser gebaut hat. Das, was andere bei ihm für Pose halten, ist sein Habitus, das, was Kulturkritiker allgemein »Authentizität« nennen. Sobald sie damit derart deutlich konfrontiert werden, erkennen sie womöglich wie armselig sie selber sind. In etwa die Situation als bei Loriot die Interviewerin den Schauspieler fragt, die Maske abzunehmen. Daher wird Sloterdijk häufig mit spitzen Fingern angefasst.
Vermutlich hat Žižek sich selber gesehen, als er von PS als »Krypto-Kommunisten« sprach. Nichts könnte falscher sein. Er neigt ja noch mehr zur Geschwätzigkeit. Dabei hat er im Gegensatz zu PS nur einen Referenzpunkt (Lacan). Ich glaube, das einzige, wozu er noch nie etwas gesagt hat, sind Kochrezepte.
Gewiss ein Original, und auf jeden Fall »erfindenswert«. Aber sein Zeitverhältnis lässt sich schwer nur charakterisieren. Sie sagen ja selbst: zeitgenössisch aber diachron-stoisch. Mag sich verändern, wer möchte, »Apache bleibt gleich«... Das ist entweder genial oder Gott-gegeben. Ich bin ein wenig enttäuscht dass er uns sein Balance-Rezept nicht ganz verrät. Einesteils hat er in den »Schrecklichen Kindern der Neuzeit« noch einmal eine Ödipus-Geschichte des überforderten Bürgertums verfasst, also eine Warnung, anderenteils hat er mit seinen Exerzitien des Selbst in mehreren Anläufen die gefährlich-dramatische Ebene des abendländischen Subjekts zwischen Politik und Thymos-Ich nicht gerade auf die »allerdirekteste Art« entwickelt... Ein gutes Rezept für die Abstandsgewinnung vom »Zirkus« wäre im Moment ein Verkaufsschlager, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand seine Exerzitien als praktischen Ratgeber nutzt. Überhaupt lässt sich der neue Illiberalismus und die akademische Unkultur nicht einfach taktvoll und respektvoll einhegen, wie es wohl P.S. am besten gefallen würde. Wir kommen allmählich dahin zu begreifen, dass die Idealisation des bürgerlichen Subjekts bei weiten »Gottähnlicher« ist, als wir lange Zeit dachten. Oh, Abstand, Oh, Ewigkeit!
Sloterdijk ist 76 Jahre alt und ich glaube, dass es ihm ziemlich egal ist, ob man seine Exerzitien-Bücher als Anleitungen versteht oder nicht. In den Notizen klingt mehrmals an, dass es womöglich eher Exerzitien für den Autor selber sind, der, auch das kann man zwischen den Zeilen lesen, seine Sphären-Trilogie als sein Hauptwerk sehen dürfte.
Ich werde vermutlich die rund 2500 Seiten nicht mehr in diesem Leben angehen. Das kann ein Fehler sein.
Ja, dem 76-Jährigen kann man die Tugend der politischen Enthaltsamkeit attestieren. Die Rente, oder: der letzte Grund für Nobilität... Ich hatte folgende Phantasie: Was passiert, wenn die EU uns eine neue Verordnung schickt, wie es ja inzwischen regelmäßig geschieht... Was soll man tun?! – Habermas: Befolgt sie! – Sloterdijk: Ignoriert sie! – Inzwischen bin ich etwas kritisch mit dem großen Sentimentalisten, hauptsächlich Ressentiment, weil
die Zeitläufteeine Philosophie, die den Liberalismus zur Voraussetzung hat, aber keine Bezugspunkte für eine erfolgreiche Gesellschaftsanalyse bietet, unweigerlich autopoetisch ist. Etwas zu viel Imagination und Parallelwelt?! Von einem anglozentrischen Standpunkt aus sind das blitzgescheite Märchen, von einem deutschen Standpunkt aus ist es die Novelle des alten Anliegens, Kulturbewusstsein und Tugendathletik jenseits von Macht und Vermittelbarkeit aufzubewahren; ein Depot in einem außergeschichtlichen Nirwana. Ich glaube, die Kritiken schreiben sich fast von selbst. Sloterdijk wird aber eher ignoriert, weil er so verdammt schwer ist. Seine Versäumnisse liegen ja offen zutage. Ich will mich da gar nicht lange einlassen, das bringt ja im Prinzip nichts. – Glauben Sie wirklich, Sloterdijk hätte seine ideelen Wurzeln in Frankreich, oder sind das nur gelegentliche Bezüge?! Er wirkt immer wie eines dieser Orchideen-Luftgewächse in den Regenwäldern, die auf allen »großen Bäumen« wachsen... Eben doch ein Rhizomatiker.Streiche: die Zeitläufte
EU-Verordnungen kann man nicht ignorieren. Dabei verschafft die EU sich Legitimation durch Anordnung; die schwächste Form der Durchsetzung. Überzeugt sind nur die Verordner. Gerade hat mein »Maschinist« dieser Webseite, um der DSGVO der EU Genüge zu tun, Stunden um Stunden verbracht, um eine gewisse Rechtskonformität zu erreichen und ich selbst wurde noch zu einem Abo halbwegs genötigt, um aus 98% vielleicht 99% zu machen, nur um es einige Kommissaren Recht zu tun, die erwachsenen Menschen nicht zutrauen, zu erkennen, was Cookies sind und wie man sie von seinem eigenen Rechner wieder entfernt. Mein persönlicher Favorit ist allerdings eine Zentrale Dienstvorschrift der Bundeswehr. Als ich in den 1980er-Jahren als Wehrpflichtiger in der Vorschriftenverwaltung arbeitete, konnte man einige lustige Stilblüten entdecken. So stand dort beispielsweise sinngemäß, dass der Soldat ab einer Wassertiefe von 2 m »selbständig« (damals ohne doppeltes »st«) mit »Schwimmbewegungen« anzufangen habe.
Sloterdijk ist frankophil, spricht die Sprache perfekt. Es könnte sein, dass er in Frankreich höheres Ansehen genießt als in Deutschland. Da wäre er ja in prominenter Gesellschaft.
Die Zuweisung als Rhizomatiker würde er vermutlich akzeptieren.
Den Erfolg in Frankreich wünschen wir ihm. Übersetzungen erleben ja manchmal eine Aktivierung, die der Kritiker dann retrospektiv als »verkannt im eigenen Land« auslegen kann. Der Grund ist vielleicht gar nicht die »Dummheit«, die ja immer als Erklärung herhalten muss, sondern die kognitions-psychologische Friktion, die allzu große Spracherfinder und ‑entwender erzeugen. »Da wäre er nicht der Einzige...« Was Sloterdijk macht, ist ja mehr als unschuldig. Er entführt mit steter Absicht technokratische, wissenschaftliche und ideologische Begriffe, und neutralisiert sie durch den Gebrauch in völlig sachfremden Zusammenhängen. Also, die Medizinvokabel taucht dann beim Steuerrecht auf, die Polit-Vokabel beim Segeln, oder der Geschichtsbegriff bei der Meditation. Er macht das mit solcher Leidenschaft, dass man als Leser schon auf die Probe gestellt wird, ob man dem Autor dieses »Spielgeld« zur Verfügung stellt oder nicht. Seine Intention ist durchaus moralischer Natur, er ist kein Nihilist. Ironie ist ja eine pazifistische Technik! Und doch stößt er durch diese Kreditforderung unweigerlich auf Widerstand und Missvergnügen. Ja, die Muttersprache erzeugt eine ganz seltsame Eifersucht...