»Neh­men und Le­sen«

Ludwig Hohl: Die seltsame Wendung

Lud­wig Hohl: Die selt­sa­me Wen­dung

Aus An­lass des 120. Ge­burts­tags von Lud­wig Hohl im näch­sten Jahr ver­öf­fent­licht der Suhr­kamp-Ver­lag un­ter Ku­ra­tie­rung der Lud­wig-Hohl-Stif­tung im Rah­men der Bi­blio­thek Suhr­kamp-Rei­he gleich fünf Tex­te in vier Bü­chern des 1980 ver­stor­be­nen Schwei­zer So­li­tärs. Vier da­von sind bis­her un­ver­öf­fent­lich­te Wer­ke; ei­ner er­schien 1949 vom Dich­ter im Selbst­ver­lag. Wäh­rend Die selt­sa­me Wen­dung als No­vel­le be­zeich­net wur­de, nann­te Hohl die an­de­ren vier »Be­richt«. Die For­schung ru­bri­ziert die fünf Tex­te, ent­stan­den zwi­schen 1929 und 1949, als »ge­schlos­se­ne Grup­pe«.

Lud­wig Hohl, 1904 ge­bo­ren, war, wie Pe­ter Bich­sel ein­mal sag­te, ein Schrift­stel­ler, der das Pech hat­te, zeit sei­nes Le­bens »Ge­heim­tip« zu sein. Der Va­ter war Pfar­rer, die Mut­ter ei­ne Toch­ter ei­nes Pa­pier­fa­bri­kan­ten. Im Ok­to­ber 1924 ver­ließ Hohl mit sei­ner da­ma­li­gen Freun­din fast flucht­ar­tig die als eng emp­fun­de­ne Welt des groß­bür­ger­li­chen El­tern­hau­ses und zog nach Pa­ris. Er leg­te den Vor­na­men Ar­nold – es war der sei­nes Va­ters ab – und nann­te sich fort­an »Lud­wig«. Der jun­ge Hohl ver­stand sich als Künst­ler. Kurz zu­vor wa­ren ei­ni­ge Ge­dich­te von ihm pu­bli­ziert wor­den. Nun al­so in der Me­tro­po­le der Kunst, in Pa­ris, in der Nä­he des Mont­par­nas­se. Aber Hohl fass­te schwer Fuß. Von den El­tern gab es nur un­re­gel­mä­ßig Zu­wen­dun­gen; den Le­bens­un­ter­halt ver­dien­te an­fangs die Freun­din. Er streif­te mit sei­nem No­tiz­buch durch die Bars und Ca­fés und rasch krei­ste auch die Fla­sche.

Er­folg­lo­sig­keit, Al­ko­hol, die Tren­nung von der Freun­din – in die­sem Kli­ma ent­stand Die selt­sa­me Wen­dung im Jahr 1929. Der bio­gra­phi­sche Kon­text ist deut­lich, auch wenn hier, an­ders als in den Be­rich­ten nicht in der Ich-Form, son­dern per­so­nal er­zählt wird. Haupt­fi­gur ist ein na­men­los blei­ben­den Ma­ler, der sich »im Mont­par­nas­se« nie­der­lässt. Zu­nächst wohnt er in ei­nem Ho­tel, be­kommt von ei­nem Ver­wal­ter re­gel­mä­ßig Geld zu­ge­schickt, wel­ches für ei­ne be­stimm­te Zeit rei­chen soll. Spä­ter passt er den Geld­fluss sei­nen bis­wei­len ex­zes­siv aus­ge­leb­ten Be­dürf­nis­sen an, bis schließ­lich nichts mehr vor­han­den ist.

Er malt und malt, lebt aber in der Ge­wiss­heit, ein schlech­ter Ma­ler zu sein und bleibt er­folg­los. Schließ­lich ver­lässt er den aka­de­mi­schen Stil und be­ginnt »rück­sichts­los« in ex­pres­si­ven Far­ben zu ma­len, ar­bei­tet, wie es heißt, »ins Phan­ta­sti­sche«. In ei­nem Mann na­mens Schwän­zel fin­det er ei­nen »Bil­der­händ­ler«, der ihm fort­an manch­mal klei­ne­re Sum­men für sei­ne Bil­der gibt. Im­mer stär­ker be­stimmt der Al­ko­hol sein Le­ben. Es sind Näch­te des Rauschs, des »Ir­rens und Bet­telns«. Er ver­setzt so­gar sei­ne kurz zu­vor neu ge­kauf­ten Pin­sel, die dann Schwän­zel aus­lö­sen muss, da­mit er ma­len kann. »Die See­le war auf­ge­reizt«, das Ge­wim­mel des Mont­par­nas­se wird zu ei­ner »gro­ßen Or­gel« hal­lu­zi­niert. Er ran­da­liert, wird in Aus­nüch­te­rungs­zel­len ge­steckt. Die Rat­schlä­ge, mit dem Trin­ken auf­zu­hö­ren, kon­tert er, bricht Freund­schaf­ten ab und fin­det ein Bild, um wei­ter­ma­chen zu kön­nen: »Was für ei­ne Tat ist es, dem Er­trin­ken­den, der sich an ein Holz klam­mert, zu sa­gen: ›Lass das Holz, es sind Nä­gel drin. Ich mei­ne es gut mit dir, lass das Holz, du könn­test dich ste­chen!‹«

Spä­te­stens hier muss man er­wäh­nen, dass das über­lie­fer­te Ty­po­skript (ein frü­he­res Ma­nu­skript ist ver­schol­len; wur­de ver­mut­lich ver­nich­tet) nur als Frag­ment vor­liegt. Von dem im Ori­gi­nal 75-sei­ti­gen Kor­pus wur­den von Lud­wig Hohl 14 Sei­ten teil­wei­se voll­stän­dig her­aus­ge­ris­sen; die Frag­men­te der feh­len­den Sei­ten sind im Buch an den ent­spre­chen­den Stel­len fak­si­mi­liert ein­ge­setzt wor­den. Aber selbst die­se Zer­stö­rung ver­mag es nicht, die groß­ar­ti­ge li­te­ra­ri­sche Qua­li­tät die­ses Tex­tes zu ver­nich­ten.

Das Elend des er­folg­lo­sen Ma­lers nimmt im­mer ex­pres­si­ve­re, sur­rea­le­re For­men an; er ver­fällt phy­sisch wie psy­chisch. Er bricht mit Schwän­zel, um kurz dar­auf wie­der wei­ter­zu­ma­chen. Mal stei­gert er sich in ei­nen Mal­rausch und malt im­mer und im­mer wie­der ein­zel­ne Mo­ti­ve wie zum Bei­spiel die Trep­pe sei­nes Ho­tels, dann wie­der­um ist er le­thar­gisch. In­zwi­schen wird er als »un­ge­heu­rer Säu­fer« ein­ge­schätzt. Ein­mal ge­lingt ihm ein Pri­vat­ver­kauf, aber das Geld ist rasch zer­ron­nen, er tilg­te Schul­den und der Rest floss in Al­ko­hol.

Das En­de des Ma­lers scheint ei­ne Vor­be­stim­mung, ein Schick­sal zu ha­ben. Er wird zu­nächst von ei­nem Au­to an­ge­fah­ren, ist nicht tot, aber töd­lich ver­letzt, wie es viel­sa­gend heißt. Zwei Ta­ge liegt er noch bei Schwän­zel und auf ein­mal be­kommt er Zu­wen­dung. Ma­ler­kol­le­gen be­su­chen ihn, ma­chen ihm ih­re Auf­war­tung, Schwän­zel ver­kauft plötz­lich sei­ne Bil­der. In ei­nem letz­ten, in­brün­stig er­zähl­ten, ek­sta­ti­schen Au­gen­blick ei­ner schein­ba­ren Auf­er­ste­hung, Se­kun­den vor sei­nem Tod, wird end­lich die Künst­ler­exi­stenz ma­ni­fest. Die­sen Schluss wird man so schnell nicht ver­ges­sen kön­nen.

Spiel­te To­des­sehn­sucht bei der Nie­der­schrift ei­ne Rol­le? »Ein Zu­stand kann un­er­träg­li­cher sein als der ärg­ste Schluß« schrieb Lud­wig Hohl 1933. An­na Stüs­si sieht im Nach­wort in die­ser Aus­sa­ge ei­nen Kom­men­tar des Au­tors zu Die selt­sa­me Wen­dung. Na­tür­lich sucht man nach Al­le­go­rien. Das Schick­sal des Ma­lers Vin­cent van Gogh fällt ei­nem ein, der in die­sen Be­rich­ten wie auch den No­ti­zen ei­ne ge­wis­se Rol­le spielt. Stüs­si ent­deckt al­ler­dings ei­ne nä­her lie­gen­de Par­al­le­le zu An­dre­as Wal­ser. Auch er ein Schwei­zer Pfar­rers­sohn, 1908 ge­bo­ren, der in Pa­ris, im Mont­par­nas­se, ab 1928 (mit 20 Jah­ren) sein Glück such­te, sich mit den Sur­rea­li­sten an­freun­de­te, »ei­ne Fül­le von Bil­dern schafft und nach zwei Jah­ren an sei­nen Ex­zes­sen stirbt.« Und na­tür­lich kann man auch Ent­spre­chun­gen zu Hohls li­te­ra­ri­schem Schaf­fen und Wir­ken ent­decken.

Die, wie es in der edi­to­ri­schen No­tiz heißt, »le­ta­len De­li­ri­en« des Ma­lers der No­vel­le wer­den mit mit­leid­lo­ser In­ten­si­tät und ex­pres­siv er­zählt. Das »Pro­to­koll ei­nes Aus­nah­me­zu­stands« (Stüs­si) ge­lingt durch die per­so­na­le Er­zähl­form; Hohl kann hier ab­stra­hie­ren, sich di­stan­zie­ren. Man er­fährt aus ei­nem tran­skri­bier­ten Ge­spräch von 1978, dass sich der Au­tor die Pu­bli­ka­ti­on der No­vel­le ver­be­ten hat­te. Er ar­bei­te­te im­mer mal wie­der, fast 50 Jah­re an dem Text, um fest­zu­stel­len, dass er ihn we­der im klas­si­schen Sinn re­di­gie­ren noch ver­nich­ten kann. Die No­vel­le sei »furcht­bar schlecht ge­schrie­ben«, mein­te er. Den­noch hielt er es für not­wen­dig, das Pu­bli­kum über ein sol­ches Ma­nu­skript zu in­for­mie­ren. Das Rät­sel, war­um ein­zel­ne Sei­ten ent­fernt wur­den, wird nie auf­ge­löst wer­den.

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Ludwig Hohl: Zehn Tage / Bericht über einen inneren Aufenthalt

Lud­wig Hohl: Zehn Ta­ge / Be­richt über ei­nen in­ne­ren Auf­ent­halt

Mit Zehn Ta­ge und Be­richt über ei­nen in­ne­ren Auf­ent­halt wer­den zwei Be­rich­te in ei­nem an­de­ren Band zu­sam­men­ge­fasst. Bei­de Tex­te sind in der Ich-Form er­zählt; es be­steht kein Zwei­fel, dass hier Lud­wig Hohl von sei­nen Er­leb­nis­sen »be­rich­tet«. Zehn Ta­ge schil­dert ei­nen Auf­ent­halt in der Kli­nik Hô­pi­tal Hen­ri Rous­sel­le in Pa­ris vom 6. bis 10. April 1930. Vor­aus­ge­gan­gen war ein nicht mehr kon­trol­lier­ba­res ag­gres­si­ves Ver­hal­ten Hohls in der Öf­fent­lich­keit, her­vor­ge­ru­fen durch über­mä­ßi­gen Al­ko­hol­kon­sum und an­schlie­ßen­der sehr ho­hen Ein­nah­me des Be­ru­hi­gungs­mit­tels »Ve­ro­nal«. Sei­ne da­ma­li­ge Freun­din und ei­ni­ge Be­kann­te ver­an­lass­ten die Ein­wei­sung in die Kli­nik, um ei­ner Fest­set­zung in Po­li­zei­ge­wahr­sam zu­vor zu kom­men und weil sie sich um den Ge­sund­heits­zu­stand sorg­ten. Tat­säch­lich war die Kli­nik da­mals so et­was wie ein Ir­ren­haus. Hohl schrieb sei­ne Er­leb­nis­se im Juni/Juli 1930 in Wien nach­träg­lich auf, stockt je­doch mit­ten im Satz und be­en­det dann erst im Ja­nu­ar 1931 die Nie­der­schrift, nicht oh­ne zu be­mer­ken, dass nun »die Er­in­ne­rung dünn ge­wor­den« sei.

Selbst wenn man be­rück­sich­tigt, dass die Vor­ge­schich­te der Ein­wei­sung am 2. April mit in den Be­richt fällt, er­staunt der Ti­tel. Die­ses Pa­ra­do­xon wird nicht auf­ge­löst. Auch sonst fin­den sich zu­wei­len klei­ne­re Un­ge­nau­ig­kei­ten (bei­spiels­wei­se ist ein­mal ei­ne Per­son 17 Jah­re alt, dann, we­nig spä­ter, 19 Jah­re) und Wi­der­sprü­che. Das mag mit dem Ma­nu­skript-Cha­rak­ter zu tun ha­ben, kann aber auch ei­ne li­te­ra­ri­sche Vol­te sein, um den leicht ver­wirr­ten Zu­stand des Ich-Er­zäh­lers zu il­lu­strie­ren.

Sich selbst sah der Ver­fas­ser zu Be­ginn in »maß­los über­reiz­ter Ver­fas­sung«, die dann, durch die Be­ru­hi­gungs­mit­tel, von »akute[r] Er­schlaf­fung« ab­ge­löst wur­de. Bei der Ein­wei­sung wur­de den Neu­an­kömm­lin­gen nicht nur Blut ab­ge­nom­men, son­dern, in be­son­ders er­nied­ri­gen­der und schmerz­haf­ter Wei­se mit ei­nem Sti­lett in das Rücken­mark ge­sto­chen und Flüs­sig­keit ent­nom­men. In den An­mer­kun­gen lernt der Le­ser, dass dies bei dem da­ma­li­gen Lei­ter der Klink, Édouard Tou­lou­se, üb­lich war. Tou­lou­se woll­te Zu­sam­men­hän­ge zwi­schen Ge­nie und Wahn­sinn un­ter­su­chen. Ne­ben den In­sas­sen der An­stalt, die zwangs­wei­se der Pro­ze­dur un­ter­zo­gen wur­den, stell­ten sich auch Gei­stes­grö­ßen wie Émi­le Zo­la, Au­gu­ste Ro­din und Ca­mil­le Saint-Saëns frei­wil­lig für For­schungs­zwecke zur Ver­fü­gung.

Bei al­ler Em­pha­se – vor al­lem in der Be­schrei­bung ei­ni­ger In­sas­sen und der ro­hen bis ge­walt­tä­ti­gen Be­hand­lung durch die Wär­ter – wirkt der Text, er­in­nernd aus der zeit­li­chen Ent­fer­nung von ei­ni­gen Mo­na­ten, eher de­skrip­tiv als an­kla­gend; ver­fasst zeit­wei­se in eher münd­li­chem Duk­tus. Ge­gen die Ärz­te gibt es iro­ni­sche bis spöt­ti­sche Vol­ten, et­wa wie sie zu Vi­si­ten mit Hef­ten auf­tau­chen, No­ti­zen mach­ten und sich kurz dar­auf »wür­de­voll ent­fern­ten, be­frie­digt über das, was sie ge­se­hen, ge­lernt oder ge­lei­stet« hat­ten. Ins­ge­samt er­kennt Hohl von den »zwan­zig bis drei­ßig Per­so­nen«, die un­ter­ge­bracht wa­ren, »drei Ver­rück­te«. Be­zeich­nend hier die Er­gän­zung in Pa­ren­the­se: »die Ärz­te nicht ge­rech­net«. Ins­ge­samt re­ka­pi­tu­liert er ge­gen En­de sei­nes Auf­ent­halts, den er aus dem nach­träg­li­chen Wis­sen her­aus be­schreibt, dass die Kli­nik ein Ort sei, »wo man ver­rückt ge­macht wird«. (Als er dies schrieb, war Fried­rich Dür­ren­matt zehn Jah­re alt.)

Nur kurz droh­te er die Fas­sung zu ver­lie­ren, weil sich die schon tags zu­vor an­ge­kün­dig­te Ent­las­sung ver­zö­ger­te: »Ein Zorn wie ein Fels, der den gan­zen Kör­per aus­füll­te, war in mir ent­stan­den…« Mit­tels ei­nes Be­kann­ten, des Phi­lo­so­phen Guy-Fé­lix Fon­te­nail­le, der ihn zu­sam­men mit sei­ner Freun­din be­such­te, be­kam er schließ­lich sei­ne Klei­dung aus­ge­hän­digt und durf­te kurz dar­auf ge­hen. In den Tri­umph mischt sich auch Mit­leid, ins­be­son­de­re mit ei­nem jun­gen Zel­len­ge­nos­sen: »Ich ging hin­aus und er ist drin­ge­blie­ben.«

Hohl ver­ließ An­fang der 1930er Jah­re Frank­reich und zog in die Nie­der­lan­de. 1937, mit ei­nem Kon­vo­lut, aus dem spä­ter sei­ne No­ti­zen her­vor­ge­hen soll­ten, kehr­te er in die Schweiz zu­rück. So leb­te er 1941 in Genf und wur­de dort ei­nes Ta­ges von ei­nem Po­li­zi­sten der Be­lei­di­gung be­schul­digt. Hohl war al­ko­ho­li­siert und konn­te sich an die Be­lei­di­gung so­wie das vor­her aus­ge­spro­che­ne Platz­ver­bot, ein Ca­fé nicht mehr zu be­tre­ten, nicht mehr er­in­nern. Er wur­de zwi­schen dem 18. und 22.4.1941 in­ter­niert; zu­nächst in Po­li­zei­ge­wahr­sam, dann je­doch in das Ge­fäng­nis St. An­toine in Genf. Vier Ta­ge nach sei­ner Frei­las­sung be­gann er mit der Nie­der­schrift der Er­eig­nis­se wäh­rend sei­nes Auf­ent­halts, die er im Au­gust 1941 (nach ei­ni­gen Un­ter­bre­chun­gen) be­en­de­te. Es ent­stand das 86seitige Ty­po­skript Be­richt über ei­nen In­ne­ren Auf­ent­halt.

Er wol­le »das Haupt­säch­li­che des Äu­ße­ren zu­rück­hal­ten des in die­sen Ta­gen Vor­ge­fal­le­nen« und nur »In­ne­res über­mit­teln«, so be­gin­nen die Auf­zeich­nun­gen. Na­tür­lich ent­hält die­ser »Be­richt« trotz­dem äu­ße­re Ein­drücke und mit et­was Phan­ta­sie könn­te man ihn auch als ei­ne Re­por­ta­ge le­sen. Akri­bisch be­müht sich der Ver­fas­ser zu­nächst um ei­ne mög­lichst lücken­lo­se, chro­no­lo­gi­sche Dar­stel­lung von der Fest­nah­me im Kom­mis­sa­ri­at über das Po­li­zei­ge­wahr­sam bis­her zur Über­füh­rung im Ge­fäng­nis und den Ta­ges­ab­läu­fen dort. Zu­nächst kam er in ei­ne Ein­zel­zel­le, was ihm ein »tie­fes, pur­pur­nes, ru­hi­ges Ge­fühl« ver­schaff­te. Kurz dar­auf je­doch er­folg­te ei­ne In­ter­nie­rung mit zu Be­ginn vier an­de­ren Per­so­nen. Es kam es zu lan­gen Ge­sprä­chen; er ließ sich die De­lik­te, die zum Teil Ba­ga­tel­len wa­ren und, wo es def­ti­ger zu­ging (bei­spiels­wei­se Un­ter­halts­strei­tig­kei­ten), von Hohl zu Ba­ga­tel­len ge­macht wur­den, schil­dern. Er ent­deck­te ei­ne »gro­ße Ähn­lich­keit zwi­schen uns al­len«; in Tom Kri­sten­sens Ro­man Ab­sturz wird ei­ne ähn­li­che Si­tua­ti­on als »das hei­li­ge Ge­fühl der Ka­me­rad­schaft« be­schrie­ben. Die Zel­len­ge­mein­schaft ei­nig­te sich oh­ne gro­ße Schwie­rig­kei­ten dar­auf, dass der Po­li­zi­sten­be­ruf von Leu­ten aus­ge­übt wird, die an­son­sten »zu nichts, aber auch gar nichts mehr fä­hig« sind. Die mei­sten In­sas­sen wa­ren Ar­bei­ter, die ei­ne ho­he Kau­ti­on für die Frei­las­sung nicht be­zah­len konn­ten und da­her im Ge­fäng­nis auf ihr Ver­fah­ren war­ten muss­ten. Der eben­falls eher pre­kär le­ben­de Schrift­stel­ler Hohl ent­wickel­te hier So­li­da­ri­sie­rungs­ge­füh­le und er­kann­te, dass der wei­te­re Le­bens­weg der für ge­rin­ge De­lik­te Ein­sit­zen­den nicht un­be­dingt po­si­tiv ver­lau­fen dürf­te. Zu­mal bei län­ge­rer Ab­senz der Ver­lust des Ar­beits­plat­zes droh­te.

Schließ­lich wur­de Hohl dem Un­ter­su­chungs­rich­ter vor­ge­führt. Man ver­lang­te von ihm das Ge­ständ­nis, den Po­li­zi­sten be­lei­digt zu ha­ben, was er ab­lehn­te. Ei­nen An­walt be­kam er nicht zu­ge­teilt; es war in­zwi­schen Wo­chen­en­de. Wie ein ro­ter Fa­den zieht sich Hohls Wunsch te­le­fo­nie­ren zu dür­fen, durch den Text. Dies wur­de stets ver­wei­gert. Hin­ge­gen be­kam er nach meh­re­ren Bit­ten Pa­pier und Blei­stift für Brie­fe. Er be­kam Schwie­rig­kei­ten, als er Pa­pier für drei Brie­fe an­for­der­te, aber nur zwei ab­gab. Ta­bak scheint da­mals ein Grund­nah­rungs­mit­tel ge­we­sen zu sein; hier­in hat­te er kei­nen Man­gel.

Nur kurz über­kam ihn ein »seelische[r] Zu­sam­men­bruch« in Ver­bin­dung mit ei­nem »Trau­rig­keits­an­fall«. An­son­sten ret­te­te er sich mit der ge­nau­en Be­ob­ach­tung von Sper­lin­gen um das hoch an­ge­brach­te Zel­len­fen­ster und der Be­schäf­ti­gung mit den Mit­häft­lin­gen über die Zeit. Wie schon bei sei­nem Auf­ent­halt in der psych­ia­tri­schen Kli­nik be­gann er, das rea­le kri­mi­na­li­sti­sche Po­ten­ti­al der In­haf­tier­ten ab­zu­schät­zen. Es sei­en viel­leicht »zwei oder drei oder vier« von den 45 Män­nern, die pa­tho­lo­gi­sche Ver­bre­cher sei­en, so die Schät­zung.

Die Akri­bie sei­nes Be­richts treibt zu­wei­len skur­ri­le Zü­ge. So wird der Hof­gang ex­akt ana­ly­siert und an­hand der An­zahl der Teil­neh­mer und den Ab­stän­den zwi­schen den Ge­fan­ge­nen der Kreis­weg des Ho­fes be­rech­net, der mehr­mals zu­rück­ge­legt wer­den muss­te. Da­bei kam ihm das be­rühm­te Ge­mäl­de von Vin­cent van Gogh in den Sinn.

Nach­dem er nach vier Ta­gen frei­ge­las­sen wur­de und dem Buß­geld­ver­gleich zu­stimm­te, küm­mer­te sich Hohl noch um zwei sei­ner Mit­häft­lin­ge, die kurz dar­auf eben­falls ent­las­sen wur­den. Der Be­richt bleibt hier dann plötz­lich kur­so­risch; zu ei­nem rich­ti­gen En­de der je­wei­li­gen Fäl­le kommt es nicht.

Hohl schreibt in ei­nem Epi­log, dass sein Be­richt in »künst­le­risch schlech­ter Qua­li­tät« ver­fasst sei. Ob dar­in der Grund zu su­chen ist, dass es nicht zu ei­ner Pu­bli­ka­ti­on kam? Dem Text merkt man die Ent­rü­stung über das Zu­ge­sto­ße­ne und die zum Teil ka­ta­stro­pha­len hy­gie­ni­schen Zu­stän­de, de­nen er aus­ge­setzt war, zwar an, aber ei­ne Skan­da­li­sie­rung wird auch hier nicht be­trie­ben. Am mei­sten em­pör­te ihn, dass der An­walt, den sei­ne Frau be­sorgt hat­te, schlam­pig ar­bei­te­te, am En­de nur ei­nen lust­lo­sen Ver­tre­ter schick­te und dass die Kau­ti­on nie zu­rück­ge­zahlt wur­de.

Wie schon Zehn Ta­ge ist der Be­richt über ei­nen In­ne­ren Auf­ent­halt stel­len­wei­se mit fei­ner Iro­nie ge­schrie­ben. Auf­fäl­lig ist, dass bei­de Tex­te eher we­nig li­te­ra­ri­sche Am­bi­ti­on zei­gen. Es kommt Hohl wohl mehr auf Pro­to­kol­lie­rung an, in der er sich nach­träg­lich sei­ner Zu­stän­de ver­ge­wis­sert. Dem Ge­fäng­nis-Be­richt ist ein Nach­wort von An­dre­as Lan­gen­ba­cher an­ge­hängt, der bei­de Tex­te stark idea­li­siert. Er spricht da­von, dass man nach der Lek­tü­re das Werk »in neu­em Licht« be­trach­ten müs­se. Bei­de Be­rich­te sei­en »Hohls schrift­li­cher ›Aus­hub‹ aus die­sen rea­len Ge­fäng­nis­sen und fik­ti­ven Höl­len« und »zu gu­ten Tei­len als Fun­da­ment sei­nes ›No­ti­zen-Werks‹, sei­nem Läu­te­rungs­berg« zu be­trach­ten. Die­se Eu­pho­rie ist ver­we­gen, da die No­ti­zen Jah­re vor dem Auf­ent­halt im Ge­fäng­nis ent­stan­den. Lan­gen­ba­cher weiß das na­tür­lich, aber die Ver­su­chung, ei­ne Ver­bin­dung zu kon­stru­ie­ren, ist zu groß. Und er ent­deckt in den sie­ben Jah­ren, die Hohl in Den Haag ver­brach­te, al­so zwi­schen den bei­den In­ter­nie­rungs-Tex­ten, ei­ne Ver­än­de­rung »vom In­ter­nier­ten zum Ge­fan­ge­nen sei­ner ei­ge­nen Un­ter­su­chun­gen.«

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Ludwig Hohl: Die vorletzte Station. Die Chronik Digny

Lud­wig Hohl: Die vor­letz­te Sta­ti­on. Die Chro­nik Di­gny

Die vor­letz­te Sta­ti­on. Die Chro­nik Din­gy be­ginnt im April 1931, »in ei­ner Zeit gro­ßer Er­schüt­te­run­gen, ma­te­ri­el­len Man­gels und to­ta­ler Iso­la­ti­on, in ei­ner er­sten Stil­le auch nach dem Hö­he­punkt der Er­schüt­te­run­gen und in wach­sen­der ma­te­ri­el­ler Son­nen­hit­ze.« Der Ich-Er­zäh­ler, der auch hier mit dem Ver­fas­ser iden­tisch zu sein scheint, be­fin­det sich in Anne­cy und trifft dort zu­fäl­lig den ihm aus Mont­par­nas­se-Zei­ten be­kann­ten Ma­ler Ge­or­ges Mer­gault. Die­ser wohn­te ei­ni­ge Ki­lo­me­ter ent­fernt in der Nä­he des Ört­chens Din­gy-Saint-Clair in ei­ner Pen­si­on. Hohl lässt sich durch Mer­gault, dem es nach Ge­sell­schaft dür­stet, ani­mie­ren, zu ihm zu zie­hen, was nach Klä­rung ei­ni­ger Din­ge auch Mit­te Mai ge­schieht.

Wie nicht an­ders zu er­war­ten war, sprach Mer­gault dem Al­ko­hol ger­ne und häu­fig zu. Hohl schloss sich bis­wei­len an; be­rüch­tigt das Ge­schrei der bei­den, wenn es nach durch­zech­ter Nacht nach Hau­se ging. Das Le­ben und die zeit­li­chen Ab­fol­gen in der Pen­si­on wer­den ak­ku­rat be­schrie­ben. Da ist die Wir­tin Mè­re Mar­ti­nod, das »Haus­mäd­chen« Ma­rie, die von ei­nem Bau­ern­jun­gen ver­ehrt wird und, zum Mit­tag­essen mon­tags bis frei­tags, die In­ha­be­rin der Tex­til­fa­brik des Or­tes. Mer­gault war lun­gen­krank, muss­te zwei Mal die Wo­che nach Anne­cy zur Be­hand­lung. Der Al­ko­hol hielt ihn auf­recht, be­stimm­te aber auch sein schwan­ken­des Tem­pe­ra­ment.

Zei­ten ab­so­lu­ter Eu­pho­rie wech­sel­ten mit Le­thar­gie, in der sich Mer­gault im Bett ver­kroch. Bis­wei­len ver­fiel er in »sa­ty­ri­sche« Be­schimp­fun­gen; egal, wen er dann vor sich hat­te. Mer­gault woll­te Hohls Er­zäh­lung Das Blatt ins fran­zö­si­sche über­set­zen. Aber er konn­te kein deutsch, über­setz­te un­ge­lenk. Als Hohl dies be­merk­te und ein­zel­ne Pas­sa­gen der Über­set­zung kor­ri­gier­te, kam es zu ei­nem hef­ti­gen Streit. Die bei­den nä­her­ten sich ei­ner Hass­lie­be. Zum Ar­bei­ten kam der Dich­ter kaum. Hohl be­schreibt Mer­gault schließ­lich als »Sau« – er spuck­te auf den Bo­den, auf die Wän­de, uri­nier­te nachts im Bett, über­gab sich wahl­los und wenn er ro­he Ei­er ge­ges­sen hat­te, ran­nen ihm Fä­den wie bei ei­nem Wie­der­käu­er aus dem Mund. Nie­mand konn­te die­ses Ver­hal­ten bän­di­gen.

Fast noch schlim­mer war Mer­gaults »Mi­lieu­di­plo­ma­tie«. Der Ma­ler schmei­chel­te sich bei Dorf­strei­tig­kei­ten mal bei ei­nem, mal beim an­de­ren ein, ver­stärk­te und in­iti­ier­te In­tri­gen. Für ei­nen Li­ter Wein re­de­te er je­dem nach dem Mund. Als sich sei­ne Re­den zu­se­hends ge­gen Hohl rich­te­ten, ver­ließ die­ser am 1. Ju­li, knapp sechs Wo­chen nach dem Ein­zug, die Pen­si­on und den Ort Rich­tung Pa­ris. Er ver­ab­schie­de­te sich nicht ein­mal von Mer­gault. Aber schon ei­ni­ge Mo­na­te spä­ter be­geg­ne­ten sich die bei­den wie­der auf dem Mont­par­nas­se. Man trank so­gar et­was zu­sam­men. Im Ok­to­ber 1932 zog Hohl dann in die Nie­der­lan­de. Dort er­fuhr er ver­spä­tet vom Tod des Ma­lers. Nach den ihm über­mit­tel­ten Be­rich­ten blieb Mer­gault ei­ne An­er­ken­nung wie dem Ma­ler aus Die selt­sa­me Wen­dung ver­wehrt.

Ul­ri­ke Draes­ner er­kennt in Die Chro­nik Din­gy Par­al­le­len zu W. G. Se­balds Au­ster­litz und ana­ly­siert die Be­deu­tung des im Ori­gi­nal-Ty­po­skript zwei­ten Teil des Ti­tels Die vor­letz­te Sta­ti­on. Un­ver­kenn­bar sei­en die »auf­fal­lend sti­li­sti­sche Schwan­kun­gen« des Tex­tes, ins­be­son­de­re ge­gen En­de hin. Hohl hat­te die Auf­zeich­nun­gen En­de No­vem­ber 1932 auf­ge­nom­men, kam rasch vor­an, stock­te dann je­doch wie schon bei den an­de­ren Be­rich­ten, be­vor er im Mai 1933 zum En­de kam.

So wech­seln die Mo­ti­ve zeit­wei­se sprung­haft: Mal steht die To­po­gra­phie der Um­ge­bung nebst Wan­der- und Spa­zi­er­leb­nis­sen im Vor­der­grund, mal das so­zia­len Ge­fü­ge des Mi­kro­kos­mos um die Pen­si­on nebst dem un­be­re­chen­ba­ren Ver­hal­ten des Ma­lers. Dann wie­der wer­den Er­eig­nis­se epi­so­den­haft zu­sam­men­ge­fasst; mit­un­ter ha­ben die­se Pas­sa­gen, wie Draes­ner fest­stellt, et­was Schwank­haf­tes. So bei­spiels­wei­se ei­ne kur­ze, bei­ßen­de Per­si­fla­ge auf »Kur­haus­in­sas­sen« oder der schrul­li­ge Ver­such der Re­kon­struk­ti­on ei­nes nächt­li­chen Stur­zes des Ma­lers im Ge­län­de an­hand von Gras­flecken auf sei­nem Hemd.

Ru­he fin­det Hohl vom men­schen­ver­brau­chen­den Ber­ser­ker nur in der Na­tur. Die­se Stel­len wer­den im Nach­wort et­was kühn als »na­tu­re wri­ting« in­ter­pre­tiert. Tat­säch­lich taucht der Er­zäh­ler bis­wei­len in die Na­tur ein und lässt die­se für kur­ze Mo­men­te schein­bar aus sich her­aus er­zäh­len. Ein­mal ist er eu­pho­ri­siert, emp­fin­det »ei­ner der größ­ten Na­tur­e­in­drücke« sei­nes »gan­zen Le­bens«. Die Par­al­le­le zu Lud­wig Hohls mei­ster­li­cher Er­zäh­lung Berg­fahrt, be­gon­nen in den 1940er Jah­ren, mehr­mals um­ge­schrie­ben und erst 1975 erst­mals ver­öf­fent­licht, sticht ins Au­ge. Hier ver­su­chen zwei Män­ner un­ter­schied­li­chen Phleg­mas die Be­stei­gung ei­nes Gip­fels. Da ist Jo­hann, eher trä­ge, täp­pisch im Ge­län­de und der stür­mi­sche, ak­ti­ve Ull. Die drit­te »Fi­gur«, die im Lau­fe der Er­zäh­lung im­mer do­mi­nan­ter wird, ist die Na­tur. Als Jo­hann auf hal­bem Weg in ei­ner Hüt­te sit­zend ka­pi­tu­liert, be­schließt Ull wü­tend auf den mü­den Ka­me­ra­den al­lei­ne den Auf­stieg. Er weiß, dass er oh­ne Hil­fe kaum den Auf­stieg schaf­fen wird, macht es den­noch, ver­liert sei­nen Pickel und ist den Wet­ter­ka­prio­len trotz sei­ner Er­fah­rung und sei­nes to­po­gra­fi­schen In­tel­lekts aus­ge­lie­fert. Am En­de wird die Er­zäh­lung zur Pa­ra­bel, die Tem­pe­ra­men­te der bei­den Fi­gu­ren keh­ren sich in ih­rem Tod um und die Na­tur bleibt, pa­the­tisch ge­spro­chen, über­mäch­tig.

Noch ei­ne an­de­re As­so­zia­ti­on kommt ei­nem für die bei­den Din­gy-Be­woh­ner in den Sinn. Zu­wei­len er­schei­nen sie wie ei­ne Ein-selt­sa­mes-Paar-Va­ri­an­te des »Ate­liers des Sü­dens«, dem »gel­ben Haus« in Arles, in dem Vin­cent van Gogh und Paul Gau­gu­in 1888 für knapp zwei Mo­na­te zu­sam­men­leb­ten, ‑strit­ten, und ‑kämpf­ten. Frei­lich er­reicht Ge­or­ges Mer­gault, der tat­säch­lich exi­stier­te, nie auch nur an­näh­rungs­wei­se ei­ne Be­kannt­heit. Goog­le ver­zeich­net kein ein­zi­ges Ge­mäl­de von ihm und kennt ihn le­dig­lich als Rug­by­spie­ler (Hohl er­wähn­te dies nicht; es ist un­klar, ob er es wuss­te). 1885 ge­bo­ren, war er fast zwan­zig Jah­re äl­ter als Hohl. Das kur­ze Zu­sam­men­le­ben der bei­den ist ver­bürgt; im Bild­teil ist auch die Pen­si­on, in der bei­de lo­gier­ten, ab­ge­bil­det. Es ist eher un­wahr­schein­lich, dass viel­leicht Mer­gault das Vor­bild für den Ma­ler aus Die selt­sa­me Wen­dung war. Wä­re er es, hät­te Hohl in der No­vel­le von 1929 des­sen Tod drei Jah­re spä­ter vor­weg­ge­nom­men.

Wie Die selt­sa­me Wen­dung räumt auch Die vor­letz­te Sta­ti­on. Die Chro­nik Din­gy mit den idea­li­sier­ten Dar­stel­lun­gen von Künst­lern und de­ren frei­em Le­ben dra­stisch auf. Wäh­rend die No­vel­le durch die per­so­na­le Er­zähl­form ei­ne ern­ste, na­he­zu tra­gi­sche No­te er­hält, herrscht im Din­gy-Be­richt trotz der To­des­nach­richt am En­de fast durch­gän­gig ein eher hei­te­rer Ton vor. So sind bei­de Tex­te ne­ben­ein­an­der als An­ti­po­den les­bar.

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Der fünf­te der neu er­schei­nen­den Tex­te, Be­richt über Ar­te­mis, er­schien von Lud­wig Hohl 1949 im Selbst­ver­lag und be­schäf­tigt sich mit den Tücken des Li­te­ra­tur­be­triebs. Nach­dem beim Mor­gar­ten-Ver­lag, der den er­sten Teil sei­ner No­ti­zen pu­bli­ziert hat­te, zwei wich­ti­ge Mit­ar­bei­ter zum Ar­te­mis-Ver­lag wech­sel­ten, über­re­de­ten die­se auch Hohl zu ei­nem sol­chen Wech­sel. Aber trotz ei­nes ent­spre­chen­den Ver­trags ver­öf­fent­lich­te man den zwei­ten Teil des No­ti­zen-Werks nicht. Als Grund wur­de Un­ver­käuf­lich­keit ge­nannt, wo­bei die Fra­ge un­be­ant­wor­tet blieb, war­um man denn Hohl ab­ge­wor­ben hat­te. Hohl streng­te ein ju­ri­sti­sches Ver­fah­ren an, was vie­le Jah­re dau­er­te. Er ge­wann den Pro­zess und die No­ti­zen wur­den 1954 bei Ar­te­mis ver­öf­fent­licht. Aber erst als Sieg­fried Un­seld sich dem Werk von Lud­wig Hohl an­nahm, wur­de der Au­tor in den 1970er Jah­ren ei­nem grö­ße­ren Pu­bli­kum be­kannt und be­kam end­lich die ihm zu­ste­hen­de Wür­di­gung. Und prompt mo­nier­te Hohl im Rah­men des Ty­po­skripts um Die selt­sa­me Wen­dung – fast drei­ßig Jah­re nach dem Text über das Fi­as­ko mit Ar­te­mis -, dass Ver­le­ger (ge­meint war Sieg­fried Un­seld) im­mer auf Ver­öf­fent­li­chung dräng­ten.

Die vier neu­en Bän­de sind von den je­wei­li­gen Her­aus­ge­bern (Ma­gnus Wie­land und Bet­ti­na Mos­ca-Rau) her­vor­ra­gend ediert. Ne­ben den Tex­ten gibt ei­nen knap­pen, aber aus­rei­chen­den An­mer­kungs­ap­pa­rat, der dort wo es not­wen­dig ist, Ver­knüp­fun­gen zu an­de­ren Hohl-Tex­ten ver­merkt. Im Bild­teil wer­den die je­wei­li­gen Schau­plät­ze ge­zeigt so­wie Aus­schnit­te aus den Ty­po­skrip­ten.

Den­je­ni­gen, die jetzt mit der Ent­deckung die­ses Schwei­zer So­li­tärs be­gin­nen wol­len, sei­en na­tür­lich Die No­ti­zen oder Von der un­vor­ei­li­gen Ver­söh­nung emp­foh­len, ver­fasst zwi­schen 1934 und 1936. Die­ses Buch kann als das Kern­stück des Wer­kes von Lud­wig Hohl an­ge­se­hen wer­den. Die Form die­ser No­ta­te ist un­ge­wöhn­lich. Statt ei­ner chro­no­lo­gi­schen, ta­ge­buch­ähn­li­chen Form wähl­te er ei­ne the­ma­ti­sche An­ord­nung, schon um der Ge­fahr zu be­geg­nen, die ein­zel­nen No­ti­zen könn­ten als blo­ße Apho­ris­men an­ge­se­hen wer­den. Hohl ver­stand die No­ti­zen als ei­ne ein­zig gro­ße, auf­ein­an­der Be­zug neh­men­de Er­zäh­lung. Im üb­ri­gen gilt heu­te noch das, was Pe­ter Hand­ke in sei­ner Lau­da­tio auf Lud­wig Hohl an­läss­lich der Ver­ga­be des Pe­trar­ca-Prei­ses 1980, we­ni­ge Mo­na­te vor dem Tod des Dich­ters, sag­te: »Lud­wig Hohls Werk…läßt sich, oh­ne Vor­aus­set­zung oder Über­ein­kunft, neh­men und le­sen. Es ist so un­er­hört wie selbst­ver­ständ­lich. Es…steht frei zur Lek­tü­re, wie ei­ne in die Na­tur ge­hö­ren­de und die­se erst be­see­len­de Men­schen­schrift.« Es ist an­ge­rich­tet.