Aus Anlass des 120. Geburtstags von Ludwig Hohl im nächsten Jahr veröffentlicht der Suhrkamp-Verlag unter Kuratierung der Ludwig-Hohl-Stiftung im Rahmen der Bibliothek Suhrkamp-Reihe gleich fünf Texte in vier Büchern des 1980 verstorbenen Schweizer Solitärs. Vier davon sind bisher unveröffentlichte Werke; einer erschien 1949 vom Dichter im Selbstverlag. Während Die seltsame Wendung als Novelle bezeichnet wurde, nannte Hohl die anderen vier »Bericht«. Die Forschung rubriziert die fünf Texte, entstanden zwischen 1929 und 1949, als »geschlossene Gruppe«.
Ludwig Hohl, 1904 geboren, war, wie Peter Bichsel einmal sagte, ein Schriftsteller, der das Pech hatte, zeit seines Lebens »Geheimtip« zu sein. Der Vater war Pfarrer, die Mutter eine Tochter eines Papierfabrikanten. Im Oktober 1924 verließ Hohl mit seiner damaligen Freundin fast fluchtartig die als eng empfundene Welt des großbürgerlichen Elternhauses und zog nach Paris. Er legte den Vornamen Arnold – es war der seines Vaters ab – und nannte sich fortan »Ludwig«. Der junge Hohl verstand sich als Künstler. Kurz zuvor waren einige Gedichte von ihm publiziert worden. Nun also in der Metropole der Kunst, in Paris, in der Nähe des Montparnasse. Aber Hohl fasste schwer Fuß. Von den Eltern gab es nur unregelmäßig Zuwendungen; den Lebensunterhalt verdiente anfangs die Freundin. Er streifte mit seinem Notizbuch durch die Bars und Cafés und rasch kreiste auch die Flasche.
Erfolglosigkeit, Alkohol, die Trennung von der Freundin – in diesem Klima entstand Die seltsame Wendung im Jahr 1929. Der biographische Kontext ist deutlich, auch wenn hier, anders als in den Berichten nicht in der Ich-Form, sondern personal erzählt wird. Hauptfigur ist ein namenlos bleibenden Maler, der sich »im Montparnasse« niederlässt. Zunächst wohnt er in einem Hotel, bekommt von einem Verwalter regelmäßig Geld zugeschickt, welches für eine bestimmte Zeit reichen soll. Später passt er den Geldfluss seinen bisweilen exzessiv ausgelebten Bedürfnissen an, bis schließlich nichts mehr vorhanden ist.
Er malt und malt, lebt aber in der Gewissheit, ein schlechter Maler zu sein und bleibt erfolglos. Schließlich verlässt er den akademischen Stil und beginnt »rücksichtslos« in expressiven Farben zu malen, arbeitet, wie es heißt, »ins Phantastische«. In einem Mann namens Schwänzel findet er einen »Bilderhändler«, der ihm fortan manchmal kleinere Summen für seine Bilder gibt. Immer stärker bestimmt der Alkohol sein Leben. Es sind Nächte des Rauschs, des »Irrens und Bettelns«. Er versetzt sogar seine kurz zuvor neu gekauften Pinsel, die dann Schwänzel auslösen muss, damit er malen kann. »Die Seele war aufgereizt«, das Gewimmel des Montparnasse wird zu einer »großen Orgel« halluziniert. Er randaliert, wird in Ausnüchterungszellen gesteckt. Die Ratschläge, mit dem Trinken aufzuhören, kontert er, bricht Freundschaften ab und findet ein Bild, um weitermachen zu können: »Was für eine Tat ist es, dem Ertrinkenden, der sich an ein Holz klammert, zu sagen: ›Lass das Holz, es sind Nägel drin. Ich meine es gut mit dir, lass das Holz, du könntest dich stechen!‹«
Spätestens hier muss man erwähnen, dass das überlieferte Typoskript (ein früheres Manuskript ist verschollen; wurde vermutlich vernichtet) nur als Fragment vorliegt. Von dem im Original 75-seitigen Korpus wurden von Ludwig Hohl 14 Seiten teilweise vollständig herausgerissen; die Fragmente der fehlenden Seiten sind im Buch an den entsprechenden Stellen faksimiliert eingesetzt worden. Aber selbst diese Zerstörung vermag es nicht, die großartige literarische Qualität dieses Textes zu vernichten.
Das Elend des erfolglosen Malers nimmt immer expressivere, surrealere Formen an; er verfällt physisch wie psychisch. Er bricht mit Schwänzel, um kurz darauf wieder weiterzumachen. Mal steigert er sich in einen Malrausch und malt immer und immer wieder einzelne Motive wie zum Beispiel die Treppe seines Hotels, dann wiederum ist er lethargisch. Inzwischen wird er als »ungeheurer Säufer« eingeschätzt. Einmal gelingt ihm ein Privatverkauf, aber das Geld ist rasch zerronnen, er tilgte Schulden und der Rest floss in Alkohol.
Das Ende des Malers scheint eine Vorbestimmung, ein Schicksal zu haben. Er wird zunächst von einem Auto angefahren, ist nicht tot, aber tödlich verletzt, wie es vielsagend heißt. Zwei Tage liegt er noch bei Schwänzel und auf einmal bekommt er Zuwendung. Malerkollegen besuchen ihn, machen ihm ihre Aufwartung, Schwänzel verkauft plötzlich seine Bilder. In einem letzten, inbrünstig erzählten, ekstatischen Augenblick einer scheinbaren Auferstehung, Sekunden vor seinem Tod, wird endlich die Künstlerexistenz manifest. Diesen Schluss wird man so schnell nicht vergessen können.
Spielte Todessehnsucht bei der Niederschrift eine Rolle? »Ein Zustand kann unerträglicher sein als der ärgste Schluß« schrieb Ludwig Hohl 1933. Anna Stüssi sieht im Nachwort in dieser Aussage einen Kommentar des Autors zu Die seltsame Wendung. Natürlich sucht man nach Allegorien. Das Schicksal des Malers Vincent van Gogh fällt einem ein, der in diesen Berichten wie auch den Notizen eine gewisse Rolle spielt. Stüssi entdeckt allerdings eine näher liegende Parallele zu Andreas Walser. Auch er ein Schweizer Pfarrerssohn, 1908 geboren, der in Paris, im Montparnasse, ab 1928 (mit 20 Jahren) sein Glück suchte, sich mit den Surrealisten anfreundete, »eine Fülle von Bildern schafft und nach zwei Jahren an seinen Exzessen stirbt.« Und natürlich kann man auch Entsprechungen zu Hohls literarischem Schaffen und Wirken entdecken.
Die, wie es in der editorischen Notiz heißt, »letalen Delirien« des Malers der Novelle werden mit mitleidloser Intensität und expressiv erzählt. Das »Protokoll eines Ausnahmezustands« (Stüssi) gelingt durch die personale Erzählform; Hohl kann hier abstrahieren, sich distanzieren. Man erfährt aus einem transkribierten Gespräch von 1978, dass sich der Autor die Publikation der Novelle verbeten hatte. Er arbeitete immer mal wieder, fast 50 Jahre an dem Text, um festzustellen, dass er ihn weder im klassischen Sinn redigieren noch vernichten kann. Die Novelle sei »furchtbar schlecht geschrieben«, meinte er. Dennoch hielt er es für notwendig, das Publikum über ein solches Manuskript zu informieren. Das Rätsel, warum einzelne Seiten entfernt wurden, wird nie aufgelöst werden.
Mit Zehn Tage und Bericht über einen inneren Aufenthalt werden zwei Berichte in einem anderen Band zusammengefasst. Beide Texte sind in der Ich-Form erzählt; es besteht kein Zweifel, dass hier Ludwig Hohl von seinen Erlebnissen »berichtet«. Zehn Tage schildert einen Aufenthalt in der Klinik Hôpital Henri Rousselle in Paris vom 6. bis 10. April 1930. Vorausgegangen war ein nicht mehr kontrollierbares aggressives Verhalten Hohls in der Öffentlichkeit, hervorgerufen durch übermäßigen Alkoholkonsum und anschließender sehr hohen Einnahme des Beruhigungsmittels »Veronal«. Seine damalige Freundin und einige Bekannte veranlassten die Einweisung in die Klinik, um einer Festsetzung in Polizeigewahrsam zuvor zu kommen und weil sie sich um den Gesundheitszustand sorgten. Tatsächlich war die Klinik damals so etwas wie ein Irrenhaus. Hohl schrieb seine Erlebnisse im Juni/Juli 1930 in Wien nachträglich auf, stockt jedoch mitten im Satz und beendet dann erst im Januar 1931 die Niederschrift, nicht ohne zu bemerken, dass nun »die Erinnerung dünn geworden« sei.
Selbst wenn man berücksichtigt, dass die Vorgeschichte der Einweisung am 2. April mit in den Bericht fällt, erstaunt der Titel. Dieses Paradoxon wird nicht aufgelöst. Auch sonst finden sich zuweilen kleinere Ungenauigkeiten (beispielsweise ist einmal eine Person 17 Jahre alt, dann, wenig später, 19 Jahre) und Widersprüche. Das mag mit dem Manuskript-Charakter zu tun haben, kann aber auch eine literarische Volte sein, um den leicht verwirrten Zustand des Ich-Erzählers zu illustrieren.
Sich selbst sah der Verfasser zu Beginn in »maßlos überreizter Verfassung«, die dann, durch die Beruhigungsmittel, von »akute[r] Erschlaffung« abgelöst wurde. Bei der Einweisung wurde den Neuankömmlingen nicht nur Blut abgenommen, sondern, in besonders erniedrigender und schmerzhafter Weise mit einem Stilett in das Rückenmark gestochen und Flüssigkeit entnommen. In den Anmerkungen lernt der Leser, dass dies bei dem damaligen Leiter der Klink, Édouard Toulouse, üblich war. Toulouse wollte Zusammenhänge zwischen Genie und Wahnsinn untersuchen. Neben den Insassen der Anstalt, die zwangsweise der Prozedur unterzogen wurden, stellten sich auch Geistesgrößen wie Émile Zola, Auguste Rodin und Camille Saint-Saëns freiwillig für Forschungszwecke zur Verfügung.
Bei aller Emphase – vor allem in der Beschreibung einiger Insassen und der rohen bis gewalttätigen Behandlung durch die Wärter – wirkt der Text, erinnernd aus der zeitlichen Entfernung von einigen Monaten, eher deskriptiv als anklagend; verfasst zeitweise in eher mündlichem Duktus. Gegen die Ärzte gibt es ironische bis spöttische Volten, etwa wie sie zu Visiten mit Heften auftauchen, Notizen machten und sich kurz darauf »würdevoll entfernten, befriedigt über das, was sie gesehen, gelernt oder geleistet« hatten. Insgesamt erkennt Hohl von den »zwanzig bis dreißig Personen«, die untergebracht waren, »drei Verrückte«. Bezeichnend hier die Ergänzung in Parenthese: »die Ärzte nicht gerechnet«. Insgesamt rekapituliert er gegen Ende seines Aufenthalts, den er aus dem nachträglichen Wissen heraus beschreibt, dass die Klinik ein Ort sei, »wo man verrückt gemacht wird«. (Als er dies schrieb, war Friedrich Dürrenmatt zehn Jahre alt.)
Nur kurz drohte er die Fassung zu verlieren, weil sich die schon tags zuvor angekündigte Entlassung verzögerte: »Ein Zorn wie ein Fels, der den ganzen Körper ausfüllte, war in mir entstanden…« Mittels eines Bekannten, des Philosophen Guy-Félix Fontenaille, der ihn zusammen mit seiner Freundin besuchte, bekam er schließlich seine Kleidung ausgehändigt und durfte kurz darauf gehen. In den Triumph mischt sich auch Mitleid, insbesondere mit einem jungen Zellengenossen: »Ich ging hinaus und er ist dringeblieben.«
Hohl verließ Anfang der 1930er Jahre Frankreich und zog in die Niederlande. 1937, mit einem Konvolut, aus dem später seine Notizen hervorgehen sollten, kehrte er in die Schweiz zurück. So lebte er 1941 in Genf und wurde dort eines Tages von einem Polizisten der Beleidigung beschuldigt. Hohl war alkoholisiert und konnte sich an die Beleidigung sowie das vorher ausgesprochene Platzverbot, ein Café nicht mehr zu betreten, nicht mehr erinnern. Er wurde zwischen dem 18. und 22.4.1941 interniert; zunächst in Polizeigewahrsam, dann jedoch in das Gefängnis St. Antoine in Genf. Vier Tage nach seiner Freilassung begann er mit der Niederschrift der Ereignisse während seines Aufenthalts, die er im August 1941 (nach einigen Unterbrechungen) beendete. Es entstand das 86seitige Typoskript Bericht über einen Inneren Aufenthalt.
Er wolle »das Hauptsächliche des Äußeren zurückhalten des in diesen Tagen Vorgefallenen« und nur »Inneres übermitteln«, so beginnen die Aufzeichnungen. Natürlich enthält dieser »Bericht« trotzdem äußere Eindrücke und mit etwas Phantasie könnte man ihn auch als eine Reportage lesen. Akribisch bemüht sich der Verfasser zunächst um eine möglichst lückenlose, chronologische Darstellung von der Festnahme im Kommissariat über das Polizeigewahrsam bisher zur Überführung im Gefängnis und den Tagesabläufen dort. Zunächst kam er in eine Einzelzelle, was ihm ein »tiefes, purpurnes, ruhiges Gefühl« verschaffte. Kurz darauf jedoch erfolgte eine Internierung mit zu Beginn vier anderen Personen. Es kam es zu langen Gesprächen; er ließ sich die Delikte, die zum Teil Bagatellen waren und, wo es deftiger zuging (beispielsweise Unterhaltsstreitigkeiten), von Hohl zu Bagatellen gemacht wurden, schildern. Er entdeckte eine »große Ähnlichkeit zwischen uns allen«; in Tom Kristensens Roman Absturz wird eine ähnliche Situation als »das heilige Gefühl der Kameradschaft« beschrieben. Die Zellengemeinschaft einigte sich ohne große Schwierigkeiten darauf, dass der Polizistenberuf von Leuten ausgeübt wird, die ansonsten »zu nichts, aber auch gar nichts mehr fähig« sind. Die meisten Insassen waren Arbeiter, die eine hohe Kaution für die Freilassung nicht bezahlen konnten und daher im Gefängnis auf ihr Verfahren warten mussten. Der ebenfalls eher prekär lebende Schriftsteller Hohl entwickelte hier Solidarisierungsgefühle und erkannte, dass der weitere Lebensweg der für geringe Delikte Einsitzenden nicht unbedingt positiv verlaufen dürfte. Zumal bei längerer Absenz der Verlust des Arbeitsplatzes drohte.
Schließlich wurde Hohl dem Untersuchungsrichter vorgeführt. Man verlangte von ihm das Geständnis, den Polizisten beleidigt zu haben, was er ablehnte. Einen Anwalt bekam er nicht zugeteilt; es war inzwischen Wochenende. Wie ein roter Faden zieht sich Hohls Wunsch telefonieren zu dürfen, durch den Text. Dies wurde stets verweigert. Hingegen bekam er nach mehreren Bitten Papier und Bleistift für Briefe. Er bekam Schwierigkeiten, als er Papier für drei Briefe anforderte, aber nur zwei abgab. Tabak scheint damals ein Grundnahrungsmittel gewesen zu sein; hierin hatte er keinen Mangel.
Nur kurz überkam ihn ein »seelische[r] Zusammenbruch« in Verbindung mit einem »Traurigkeitsanfall«. Ansonsten rettete er sich mit der genauen Beobachtung von Sperlingen um das hoch angebrachte Zellenfenster und der Beschäftigung mit den Mithäftlingen über die Zeit. Wie schon bei seinem Aufenthalt in der psychiatrischen Klinik begann er, das reale kriminalistische Potential der Inhaftierten abzuschätzen. Es seien vielleicht »zwei oder drei oder vier« von den 45 Männern, die pathologische Verbrecher seien, so die Schätzung.
Die Akribie seines Berichts treibt zuweilen skurrile Züge. So wird der Hofgang exakt analysiert und anhand der Anzahl der Teilnehmer und den Abständen zwischen den Gefangenen der Kreisweg des Hofes berechnet, der mehrmals zurückgelegt werden musste. Dabei kam ihm das berühmte Gemälde von Vincent van Gogh in den Sinn.
Nachdem er nach vier Tagen freigelassen wurde und dem Bußgeldvergleich zustimmte, kümmerte sich Hohl noch um zwei seiner Mithäftlinge, die kurz darauf ebenfalls entlassen wurden. Der Bericht bleibt hier dann plötzlich kursorisch; zu einem richtigen Ende der jeweiligen Fälle kommt es nicht.
Hohl schreibt in einem Epilog, dass sein Bericht in »künstlerisch schlechter Qualität« verfasst sei. Ob darin der Grund zu suchen ist, dass es nicht zu einer Publikation kam? Dem Text merkt man die Entrüstung über das Zugestoßene und die zum Teil katastrophalen hygienischen Zustände, denen er ausgesetzt war, zwar an, aber eine Skandalisierung wird auch hier nicht betrieben. Am meisten empörte ihn, dass der Anwalt, den seine Frau besorgt hatte, schlampig arbeitete, am Ende nur einen lustlosen Vertreter schickte und dass die Kaution nie zurückgezahlt wurde.
Wie schon Zehn Tage ist der Bericht über einen Inneren Aufenthalt stellenweise mit feiner Ironie geschrieben. Auffällig ist, dass beide Texte eher wenig literarische Ambition zeigen. Es kommt Hohl wohl mehr auf Protokollierung an, in der er sich nachträglich seiner Zustände vergewissert. Dem Gefängnis-Bericht ist ein Nachwort von Andreas Langenbacher angehängt, der beide Texte stark idealisiert. Er spricht davon, dass man nach der Lektüre das Werk »in neuem Licht« betrachten müsse. Beide Berichte seien »Hohls schriftlicher ›Aushub‹ aus diesen realen Gefängnissen und fiktiven Höllen« und »zu guten Teilen als Fundament seines ›Notizen-Werks‹, seinem Läuterungsberg« zu betrachten. Diese Euphorie ist verwegen, da die Notizen Jahre vor dem Aufenthalt im Gefängnis entstanden. Langenbacher weiß das natürlich, aber die Versuchung, eine Verbindung zu konstruieren, ist zu groß. Und er entdeckt in den sieben Jahren, die Hohl in Den Haag verbrachte, also zwischen den beiden Internierungs-Texten, eine Veränderung »vom Internierten zum Gefangenen seiner eigenen Untersuchungen.«
Die vorletzte Station. Die Chronik Dingy beginnt im April 1931, »in einer Zeit großer Erschütterungen, materiellen Mangels und totaler Isolation, in einer ersten Stille auch nach dem Höhepunkt der Erschütterungen und in wachsender materieller Sonnenhitze.« Der Ich-Erzähler, der auch hier mit dem Verfasser identisch zu sein scheint, befindet sich in Annecy und trifft dort zufällig den ihm aus Montparnasse-Zeiten bekannten Maler Georges Mergault. Dieser wohnte einige Kilometer entfernt in der Nähe des Örtchens Dingy-Saint-Clair in einer Pension. Hohl lässt sich durch Mergault, dem es nach Gesellschaft dürstet, animieren, zu ihm zu ziehen, was nach Klärung einiger Dinge auch Mitte Mai geschieht.
Wie nicht anders zu erwarten war, sprach Mergault dem Alkohol gerne und häufig zu. Hohl schloss sich bisweilen an; berüchtigt das Geschrei der beiden, wenn es nach durchzechter Nacht nach Hause ging. Das Leben und die zeitlichen Abfolgen in der Pension werden akkurat beschrieben. Da ist die Wirtin Mère Martinod, das »Hausmädchen« Marie, die von einem Bauernjungen verehrt wird und, zum Mittagessen montags bis freitags, die Inhaberin der Textilfabrik des Ortes. Mergault war lungenkrank, musste zwei Mal die Woche nach Annecy zur Behandlung. Der Alkohol hielt ihn aufrecht, bestimmte aber auch sein schwankendes Temperament.
Zeiten absoluter Euphorie wechselten mit Lethargie, in der sich Mergault im Bett verkroch. Bisweilen verfiel er in »satyrische« Beschimpfungen; egal, wen er dann vor sich hatte. Mergault wollte Hohls Erzählung Das Blatt ins französische übersetzen. Aber er konnte kein deutsch, übersetzte ungelenk. Als Hohl dies bemerkte und einzelne Passagen der Übersetzung korrigierte, kam es zu einem heftigen Streit. Die beiden näherten sich einer Hassliebe. Zum Arbeiten kam der Dichter kaum. Hohl beschreibt Mergault schließlich als »Sau« – er spuckte auf den Boden, auf die Wände, urinierte nachts im Bett, übergab sich wahllos und wenn er rohe Eier gegessen hatte, rannen ihm Fäden wie bei einem Wiederkäuer aus dem Mund. Niemand konnte dieses Verhalten bändigen.
Fast noch schlimmer war Mergaults »Milieudiplomatie«. Der Maler schmeichelte sich bei Dorfstreitigkeiten mal bei einem, mal beim anderen ein, verstärkte und initiierte Intrigen. Für einen Liter Wein redete er jedem nach dem Mund. Als sich seine Reden zusehends gegen Hohl richteten, verließ dieser am 1. Juli, knapp sechs Wochen nach dem Einzug, die Pension und den Ort Richtung Paris. Er verabschiedete sich nicht einmal von Mergault. Aber schon einige Monate später begegneten sich die beiden wieder auf dem Montparnasse. Man trank sogar etwas zusammen. Im Oktober 1932 zog Hohl dann in die Niederlande. Dort erfuhr er verspätet vom Tod des Malers. Nach den ihm übermittelten Berichten blieb Mergault eine Anerkennung wie dem Maler aus Die seltsame Wendung verwehrt.
Ulrike Draesner erkennt in Die Chronik Dingy Parallelen zu W. G. Sebalds Austerlitz und analysiert die Bedeutung des im Original-Typoskript zweiten Teil des Titels Die vorletzte Station. Unverkennbar seien die »auffallend stilistische Schwankungen« des Textes, insbesondere gegen Ende hin. Hohl hatte die Aufzeichnungen Ende November 1932 aufgenommen, kam rasch voran, stockte dann jedoch wie schon bei den anderen Berichten, bevor er im Mai 1933 zum Ende kam.
So wechseln die Motive zeitweise sprunghaft: Mal steht die Topographie der Umgebung nebst Wander- und Spazierlebnissen im Vordergrund, mal das sozialen Gefüge des Mikrokosmos um die Pension nebst dem unberechenbaren Verhalten des Malers. Dann wieder werden Ereignisse episodenhaft zusammengefasst; mitunter haben diese Passagen, wie Draesner feststellt, etwas Schwankhaftes. So beispielsweise eine kurze, beißende Persiflage auf »Kurhausinsassen« oder der schrullige Versuch der Rekonstruktion eines nächtlichen Sturzes des Malers im Gelände anhand von Grasflecken auf seinem Hemd.
Ruhe findet Hohl vom menschenverbrauchenden Berserker nur in der Natur. Diese Stellen werden im Nachwort etwas kühn als »nature writing« interpretiert. Tatsächlich taucht der Erzähler bisweilen in die Natur ein und lässt diese für kurze Momente scheinbar aus sich heraus erzählen. Einmal ist er euphorisiert, empfindet »einer der größten Natureindrücke« seines »ganzen Lebens«. Die Parallele zu Ludwig Hohls meisterlicher Erzählung Bergfahrt, begonnen in den 1940er Jahren, mehrmals umgeschrieben und erst 1975 erstmals veröffentlicht, sticht ins Auge. Hier versuchen zwei Männer unterschiedlichen Phlegmas die Besteigung eines Gipfels. Da ist Johann, eher träge, täppisch im Gelände und der stürmische, aktive Ull. Die dritte »Figur«, die im Laufe der Erzählung immer dominanter wird, ist die Natur. Als Johann auf halbem Weg in einer Hütte sitzend kapituliert, beschließt Ull wütend auf den müden Kameraden alleine den Aufstieg. Er weiß, dass er ohne Hilfe kaum den Aufstieg schaffen wird, macht es dennoch, verliert seinen Pickel und ist den Wetterkapriolen trotz seiner Erfahrung und seines topografischen Intellekts ausgeliefert. Am Ende wird die Erzählung zur Parabel, die Temperamente der beiden Figuren kehren sich in ihrem Tod um und die Natur bleibt, pathetisch gesprochen, übermächtig.
Noch eine andere Assoziation kommt einem für die beiden Dingy-Bewohner in den Sinn. Zuweilen erscheinen sie wie eine Ein-seltsames-Paar-Variante des »Ateliers des Südens«, dem »gelben Haus« in Arles, in dem Vincent van Gogh und Paul Gauguin 1888 für knapp zwei Monate zusammenlebten, ‑stritten, und ‑kämpften. Freilich erreicht Georges Mergault, der tatsächlich existierte, nie auch nur annährungsweise eine Bekanntheit. Google verzeichnet kein einziges Gemälde von ihm und kennt ihn lediglich als Rugbyspieler (Hohl erwähnte dies nicht; es ist unklar, ob er es wusste). 1885 geboren, war er fast zwanzig Jahre älter als Hohl. Das kurze Zusammenleben der beiden ist verbürgt; im Bildteil ist auch die Pension, in der beide logierten, abgebildet. Es ist eher unwahrscheinlich, dass vielleicht Mergault das Vorbild für den Maler aus Die seltsame Wendung war. Wäre er es, hätte Hohl in der Novelle von 1929 dessen Tod drei Jahre später vorweggenommen.
Wie Die seltsame Wendung räumt auch Die vorletzte Station. Die Chronik Dingy mit den idealisierten Darstellungen von Künstlern und deren freiem Leben drastisch auf. Während die Novelle durch die personale Erzählform eine ernste, nahezu tragische Note erhält, herrscht im Dingy-Bericht trotz der Todesnachricht am Ende fast durchgängig ein eher heiterer Ton vor. So sind beide Texte nebeneinander als Antipoden lesbar.
Der fünfte der neu erscheinenden Texte, Bericht über Artemis, erschien von Ludwig Hohl 1949 im Selbstverlag und beschäftigt sich mit den Tücken des Literaturbetriebs. Nachdem beim Morgarten-Verlag, der den ersten Teil seiner Notizen publiziert hatte, zwei wichtige Mitarbeiter zum Artemis-Verlag wechselten, überredeten diese auch Hohl zu einem solchen Wechsel. Aber trotz eines entsprechenden Vertrags veröffentlichte man den zweiten Teil des Notizen-Werks nicht. Als Grund wurde Unverkäuflichkeit genannt, wobei die Frage unbeantwortet blieb, warum man denn Hohl abgeworben hatte. Hohl strengte ein juristisches Verfahren an, was viele Jahre dauerte. Er gewann den Prozess und die Notizen wurden 1954 bei Artemis veröffentlicht. Aber erst als Siegfried Unseld sich dem Werk von Ludwig Hohl annahm, wurde der Autor in den 1970er Jahren einem größeren Publikum bekannt und bekam endlich die ihm zustehende Würdigung. Und prompt monierte Hohl im Rahmen des Typoskripts um Die seltsame Wendung – fast dreißig Jahre nach dem Text über das Fiasko mit Artemis -, dass Verleger (gemeint war Siegfried Unseld) immer auf Veröffentlichung drängten.
Die vier neuen Bände sind von den jeweiligen Herausgebern (Magnus Wieland und Bettina Mosca-Rau) hervorragend ediert. Neben den Texten gibt einen knappen, aber ausreichenden Anmerkungsapparat, der dort wo es notwendig ist, Verknüpfungen zu anderen Hohl-Texten vermerkt. Im Bildteil werden die jeweiligen Schauplätze gezeigt sowie Ausschnitte aus den Typoskripten.
Denjenigen, die jetzt mit der Entdeckung dieses Schweizer Solitärs beginnen wollen, seien natürlich Die Notizen oder Von der unvoreiligen Versöhnung empfohlen, verfasst zwischen 1934 und 1936. Dieses Buch kann als das Kernstück des Werkes von Ludwig Hohl angesehen werden. Die Form dieser Notate ist ungewöhnlich. Statt einer chronologischen, tagebuchähnlichen Form wählte er eine thematische Anordnung, schon um der Gefahr zu begegnen, die einzelnen Notizen könnten als bloße Aphorismen angesehen werden. Hohl verstand die Notizen als eine einzig große, aufeinander Bezug nehmende Erzählung. Im übrigen gilt heute noch das, was Peter Handke in seiner Laudatio auf Ludwig Hohl anlässlich der Vergabe des Petrarca-Preises 1980, wenige Monate vor dem Tod des Dichters, sagte: »Ludwig Hohls Werk…läßt sich, ohne Voraussetzung oder Übereinkunft, nehmen und lesen. Es ist so unerhört wie selbstverständlich. Es…steht frei zur Lektüre, wie eine in die Natur gehörende und diese erst beseelende Menschenschrift.« Es ist angerichtet.