In den Gassen von Myeongdong erkenne ich die Songs wieder, die gerade in Mode sind, auch Kitsch wird schon gespielt, also Nineteen’s Kitsch, um genau zu sein. Sie dringen durch die Eingänge der kleineren Kosmetikgeschäfte, die einige Produkte billiger verkaufen als die große Kosmetikkette Olive Young mit ihren allgegenwärtigen, über die Stadt verstreuten Filialen. Manche Leute tun so viel von dem Zeug in den Einkaufskorb, daß ich mich frage, was sie denn noch alles aus sich machen wollen – oder ob sie die Ware vielleicht schmuggeln. Gefärbte Kontaktlinsen oder solche, die die Pupille größer erscheinen lassen, künstliche Haare, das gute alte Prinzip der Perücke. Oder gleich ein chirurgischer Eingriff, der die Nase, das Kinn, die Wangen verändert. Ist das dann noch Spiel, Cosplay? Oder wird es ernst? Immer noch Spiel, man kann sich ja mehrmals ummodeln lassen. Ein Straßenverkäufer gegenüber vom Ausgang unseres Hotels, der die Ware in einem Wohnwagen bringt und draußen ausstellt, stemmt sich der vorherrschenden Kultur entgegen. Ein hageres Männchen mit zerfurchtem Gesicht, die Baseballmütze verkehrtherum, unauffällig dunkelblau gekleidet, sitzt auf dem Trittbrett, läßt die Beine heraushängen, eine elektrische Baßgitarre im Schoß, auf der er in jahrzehntelanger Treue Jimi Hendrix begleitet, der aus den Lautsprechern spukt, umgeben von Nippes, Stofftieren, Kunstledertaschen mit Metallbeschlag, bunten Socken. Der Sound des Alten, der nichts darstellt, widersteht dauerhaft den Moden des Outfits und der Songs von Gruppen, deren Lebensdauer zwei Jahre selten übersteigt, weil ihre Mitglieder, die Vorzeigegirls und ‑boys, von der Unterhaltungsfirma regelmäßig verheizt werden.
Geht man von der Hongik-Universität die Hongdae-Straße hinauf, wird es, sofern die Sonne untergegangen ist, noch einmal bunter. Die Leuchtzeichen legen sich ins Zeug, die Menschenmenge wird dichter, Kneipen und Clubs verdrängen die Kleiderboutiquen, und dann, ehe der Weg richtig steil wird, stößt man auf einen Platz, dessen Mitte ein kleines Amphitheater bildet. Dort hatte sich, als wir uns näherten, ein Publikum angesammelt, vor dem eine Gruppe junger Leute koreanische Popmusik vorführte. Eher vorführte als spielte, denn zwei der Jungen, dann wieder drei oder vier Mädchen, taten nicht mehr als mit ihren Stimmen hin und wieder den Chor oder den Beat der Playback-Musik von BTS oder sonst einer Band zu verstärken, während ein Mädchen auf dem freien Platz vor ihnen dazu tanzte. Die Mitglieder der Gruppe taten sich weniger durch ihre Fähigkeiten als durch rot-schwarz glänzende Uniformiertheit hervor und durch grell gefärbtes Haar, pink die Jungen, hellblond die Mädchen. Der Gerechtigkeit halber sollte ich sagen, daß sie sich bei den Tänzen redlich Mühe gaben und die Vorbilder sicher gut kopierten, aber singen konnten sie nicht (in abgeschwächter Form gilt das generell für die K‑Pop-Gruppen, nur daß die auserwählten Profis eben die ganze Digitaltechnik der Studios zur Verfügung haben). Als wir nach einer Weile den Steilhang hinaufgingen, streifte mich der Gedanke an die fatale Halloween-Nacht und dann das Erinnerungsbild an eine Provinzsängerin in Frankreich, die bei einem Ball im Freien irgendwo in Südfrankreich am Abend eines 14. Juli mit dem Einsatz von Leib und Seele Rouge et noir von Jeanne Mas singt, wobei ich zum ersten Mal empfand – was sich leicht sagt –, daß nämlich die Kopie das Original übertreffen kann.
Hier war es nicht der Fall. Und vielleicht war das der Grund, daß die Tänzerin, ein zaundürres Mädchen, das ein wenig zu sehr ihren Singer-Model-Vorbildern nachzueifern schien, gar so schüchtern mit ihrer umgedrehten Mütze an das Publikum herantrat, um ein paar Scheine entgegenzunehmen, von Ausländern, hatte ich den Eindruck (einer vermutlich Inder), die Einheimischen gaben nichts. Hin und wieder sieht man in japanischen Großstädten Sänger auf der Straße, meist Leute, die ihre erste oder zweite Mini-CD vorstellen und oft recht gut performen, aber abkassiert wird dabei nie, höchstens ein bißchen Eigenwerbung getrieben. Betteln gehört sich nicht, das ist hazukashii. Womöglich gehört es sich auch in Südkorea nicht, vielleicht deshalb das Zögern der Sängerin. In Paris sind diese Abkassierer, in der Métro zum Beispiel, manchmal geradezu unverschämt.
Während des zweiten Single-Spaziergangs meiner Tochter besuchte ich, routinierter Einzelgänger, das Seodaemun-Museum, für das sie als jugendliche Japanerin kein Interesse zeigte. Nicht, daß sie die japanische Kolonialherrschaft der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gut fände, aber aus der Schule hat sie bloß in Erinnerung, daß die Japaner damals auch viel Gutes getan haben, die Infrastruktur entwickelt, die Wirtschaft auf Vordermann gebracht. Das Ensemble der Gebäude aus rotem Backstein unweit vom Königspalast läßt auf den ersten Blick an eine Fabrik denken, doch es wurde 1908 als Gefängnis errichtet, und zwar von »japanischen Imperialisten«, wie man gleich am Eingang erfährt. In Japan wird die japanische Herrschaft in Korea – 1910 bis 1945, doch schon zuvor lenkte Japan die Geschicke des Nachbarlands – oft gegenteilig interpretiert, als großzügige Investition in antiimperialistischem Geiste, damit europäische Imperialisten nicht noch weiter auf dem asiatischen Kontinent vordringen. Wie auch immer die Interpretation ausfällt, Tatsache ist, daß in diesem Gefängnis ausschließlich politische Gefangene, allesamt koreanische Patrioten, interniert waren, gefoltert wurden und manchmal frühzeitig ihr Leben ließen. Nach dem Ende des zweiten Weltkriegs wurde das Land geteilt, zwischen dem Norden und dem Süden brach ein blutiger Krieg aus, einheimische Diktatoren kamen an die Macht, in Südkorea bis gegen Ende der achtziger Jahre, dort diente das Seodaemun-Gefängnis weiterhin als Ort zur Verwahrung politischer Gefangener (unter denen sich nicht wenige Christen befanden). Ein großer Pavillon stellt die Leiden der Opfer einheimischer Diktaturen dar, und doch hat man den Eindruck, daß das erste Anliegen dieses Museums der patriotischen Geist und die Anklage der ausländischen Besatzer sind, während man den eigenen Verfehlungen weniger Bedeutung beimißt. Ein menschlicher Zug, mag sein, der Balken im Auge des Bruders…
Yoko habe ich nach dem Gefängnisbesuch nur wenig erzählt; vielleicht geht sie später einmal ja allein hin. Länger gesprochen habe ich mit dem jungen Mann, der an der Hotelrezeption jobbt. Er studiert Soziologie, spricht gut Englisch und ist von seinem Studium nicht mehr so ganz überzeugt. Er befürchte, sagte er, daß Japan einen neuen Krieg vorbereite. Ohne Zustimmung der USA werden sie keinen beginnen, beschwichtige ich ihn. Das sagen auch die meisten seiner Bekannten, meint er. Tatsache ist, daß einflußreiche Politiker und Regierungsmitglieder in Japan seit Jahren versuchen, die pazifistische Nachkriegsverfassung zu ändern und die Selbstverteidigungsarmee aufzurüsten. In der langen Friedenszeit, darin stimme ich mit dem Studenten überein, sind die Nationalökonomien ausgereizt und überheizt worden, immer noch wird nach Erweiterung und Vergrößerung gestrebt, obwohl die Mittel dazu nicht mehr da sind, die Bevölkerung schrumpft. Da sehen manche, hoffentlich nicht irgendwann die Mehrheit, einen neuen Krieg als Ausweg. Trotzdem, wende ich ein, für Südkorea ist doch der Konflikt mit Nordkorea das vordringliche Problem, und China – siehe Taiwan – vielleicht eher eine Bedrohung als Japan, mit dem man gelegentlich gemeinsam Militärmanöver durchführt. Auf der Straße, im Zug, auf Bahnhöfen sehe ich häufig junge Männer in Tarnuniform. Keine Modeerscheinung, es sind Soldaten, meist allein unterwegs, manchmal zu zweit, unauffällig und selbstbewußt mit ihren Smartphones, stets nur leichtes Gepäck, wenn überhaupt welches. Sie scheinen wie Fische in der Masse des Volks zu schwimmen. In Südkorea dauert der Militärdienst zwei Jahre. In Nordkorea, lese ich, um die zehn Jahre: eine militarisierte Gesellschaft. Der Süden wirkt hingegen ganz und gar zivil, was vorherrscht, ist der Handel, die Mode, die Kulturindustrie. Die – für westliche Verhältnisse – lange Militärzeit scheinen die jungen Leute hinzunehmen. Auch Kim Seok-jin, Mitglied von BTS, leistet zur Zeit seine Wehrpflicht ab; die anderen Mitglieder der K‑Pop-Gruppe werden es demnächst tun, bis 2025 müssen die weltberühmten Boys laut Aussendung ihrer Produktionsfirma pausieren.
Der alte Bahnhof von Seoul wirkt geduckt neben dem neuen, wo die Hochgeschwindigkeitszüge nach Busan und in andere Städte abfahren. Mit dem roten Backstein und den weißen Streifen ähnelt dem Bahnhof von Tokyo, nur daß er viel kleiner ist. Er wurde in den zwanziger während der japanischen Herrschaft errichtet. Vor dem Eingangstor habe ich mit Verwunderung eine große, ziemlich klobige Statue bemerkt, einen spitzbärtigen Mann im Gehrock, der etwas in der rechten Hand hält, während die linke zur Faust geballt ist. Das Ding in der rechten ist eine Handgranate, der Mann wird sie im nächsten Augenblick zünden. Er wendet sich gegen die Büro- und Wohntürme der Stadt, zwischen denen weiter hinten eine alte Kirche eingezwängt ist, als wollte er das moderne Seoul (und mit ihm auch das alte) auslöschen.
Ich habe mich erst nachher informiert: Der Handgranatenwerfer ist Kang Woo-kyu, ein studierter Medizinier, der 1919 eine Granate gegen den japanischen Generalgouverneur von Korea schleuderte, ihn aber nicht traf, sondern einige Zaungäste – vermutlich Koreaner? – verletzte. Er wurde verhaftet, ins Seodaemun-Gefängnis gebracht und 1920 dort hingerichtet. Bei seinem Tod war er 65, so alt wie ich jetzt. So jemand erhält in Südkorea ein Denkmal und gilt als Freiheitskämpfer. Kang ist nicht der einzige, der eine Handgranate warf; es gibt noch andere Denkmäler dieser Art in der Stadt. Im Stadtteil Jamsil ist mir ein Bildwerk aufgefallen, drei nicht uniformierte Bronze-Männer, die im Kreis einer überdimensionierten Zielscheibe mit Feuerwaffen in die Richtung des Lotte-World-Towers zielen, dem höchsten Gebäude von Seoul. Lotte ist eine der größten Handelsfirmen Koreas, der Turm damit ein Symbol der Kommerzmacht des Landes. Wer die Schießenden sind, habe ich nicht herausgefunden. Sie stehen auffällig und unbeachtet auf dem Streifen zwischen zwei mehrspurigen Fahrbahnen einer breiten Straße.
Die koreanische Pop-Kultur wurde ursprünglich durch die Unterhaltungsindustrie des J‑Pops inspiriert, hat sich aber im Lauf der Jahre verselbständigt und eigene Formen entwickelt. Für Jugendliche wie meine Tochter ist es, von Japan aus betrachtet, der bessere, interessantere, innovativere Pop, zuweilen auch menschlicher, nicht so aseptisch – obwohl auch die koreanischen Idols vom Publikum abgeschottet werden und wenig Freiheit haben. Wenn ich wieder mal genug davon habe, bezeichne ich sie als Arbeitssklaven im Kindesalter. Das ist natürlich ungerecht. Sagt Yoko.
Kulturindustrieller Export, zunächst im ostasiatischen Raum, das war seit den siebziger Jahren die Devise japanischer Strategen in Wirtschaft und Politik. Mangas, Anime-Filme, Vermarktung von Symbolen, Figuren, Maskottchen. Popmusik. Auf den friedlichen Wegen des Handels und der medialen Ausstrahlung nahm der Export solcher Produkte die Stelle des alten militärischen und schwerindustriellen Imperialismus ein. Diese Strategie hat sich nicht gänzlich erschöpft, sie ist aber in die Jahre gekommen. Wenn Hunderttausende Japaner heute koreanische Popmusik, Mode und Kosmetik konsumieren und zu Fans der Idole dieser Kultur werden, zeugt das von einem Rückstoß, einer friedlichen Rache für das handfeste Unrecht, das den Koreanern jahrzehntelang zugefügt wurde. Auf diese Weise profitiert man zeitverschoben von den japanischen Exporten und Investitionen; man eignet sich an und transformiert, was früher als Imperialismus denunziert wurde. »Handel statt Krieg« lautet die Devise. Genauer, im fortgeschrittenen 21. Jahrhundert: »Kulturindustrie statt Krieg!« Eroberung, nicht unbedingt Knechtung, der Herzen und Gehirne über koreanische Grenzen hinaus.
Als wir in Korea waren, gab es wieder einmal mediale Erregung wegen einer Stelle in einem japanischen Geschichte-Lehrbuch für Schüler, wo die Zwangsarbeit koreanischer Bürger im Dienst der japanischen Kriegsindustrie während der vierziger Jahre nicht ausdrücklich als solche bezeichnet wird. So berechtigt die Kritik ist, sosehr entsteht hier der Eindruck eines politisch motivierten, bewußtseinslosen Reflexes, der eine inzwischen ferngerückte Epoche, ein längst vergangenes Opferdasein warmhalten soll. Ich weiß nicht, ob sich alle Japaner im finsteren 20. Jahrhundert freudig an der Kriegsproduktion beteiligt haben. Wenn Krieg herrscht, will es die Propaganda so, das hat sich bis heute nicht geändert. Spannender, intelligenter und menschlicher als das Ringen um Formulierungen in Geschichtsbüchern ist allemal der Konkurrenzkampf um kulturelle Hegemonien in der Gegenwart. Der kann unseretwegen noch lange hin und her wogen. Wir machen – mehr oder weniger – freudig mit.
© Text und Bilder: Leopold Federmair