Ko­re­as sanf­te Ra­che (2/2)

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In den Gas­sen von Mye­ong­dong er­ken­ne ich die Songs wie­der, die ge­ra­de in Mo­de sind, auch Kitsch wird schon ge­spielt, al­so Nineteen’s Kitsch, um ge­nau zu sein. Sie drin­gen durch die Ein­gän­ge der klei­ne­ren Kos­me­tik­ge­schäf­te, die ei­ni­ge Pro­duk­te bil­li­ger ver­kau­fen als die gro­ße Kos­me­tik­ket­te Oli­ve Young mit ih­ren all­ge­gen­wär­ti­gen, über die Stadt ver­streu­ten Fi­lia­len. Man­che Leu­te tun so viel von dem Zeug in den Ein­kaufs­korb, daß ich mich fra­ge, was sie denn noch al­les aus sich ma­chen wol­len – oder ob sie die Wa­re viel­leicht schmug­geln. Ge­färb­te Kon­takt­lin­sen oder sol­che, die die Pu­pil­le grö­ßer er­schei­nen las­sen, künst­li­che Haa­re, das gu­te al­te Prin­zip der Pe­rücke. Oder gleich ein chir­ur­gi­scher Ein­griff, der die Na­se, das Kinn, die Wan­gen ver­än­dert. Ist das dann noch Spiel, Cos­play? Oder wird es ernst? Im­mer noch Spiel, man kann sich ja mehr­mals um­mo­deln las­sen. Ein Stra­ßen­ver­käu­fer ge­gen­über vom Aus­gang un­se­res Ho­tels, der die Wa­re in ei­nem Wohn­wa­gen bringt und drau­ßen aus­stellt, stemmt sich der vor­herr­schen­den Kul­tur ent­ge­gen. Ein ha­ge­res Männ­chen mit zer­furch­tem Ge­sicht, die Base­ball­müt­ze ver­kehrt­her­um, un­auf­fäl­lig dun­kel­blau ge­klei­det, sitzt auf dem Tritt­brett, läßt die Bei­ne her­aus­hän­gen, ei­ne elek­tri­sche Baß­gi­tar­re im Schoß, auf der er in jahr­zehn­te­lan­ger Treue Ji­mi Hen­drix be­glei­tet, der aus den Laut­spre­chern spukt, um­ge­ben von Nip­pes, Stoff­tie­ren, Kunst­le­der­ta­schen mit Me­tall­be­schlag, bun­ten Socken. Der Sound des Al­ten, der nichts dar­stellt, wi­der­steht dau­er­haft den Mo­den des Out­fits und der Songs von Grup­pen, de­ren Le­bens­dau­er zwei Jah­re sel­ten über­steigt, weil ih­re Mit­glie­der, die Vor­zei­ge­girls und ‑boys, von der Un­ter­hal­tungs­fir­ma re­gel­mä­ßig ver­heizt wer­den.

Geht man von der Hon­gik-Uni­ver­si­tät die Hong­dae-Stra­ße hin­auf, wird es, so­fern die Son­ne un­ter­ge­gan­gen ist, noch ein­mal bun­ter. Die Leucht­zei­chen le­gen sich ins Zeug, die Men­schen­men­ge wird dich­ter, Knei­pen und Clubs ver­drän­gen die Klei­der­bou­ti­quen, und dann, ehe der Weg rich­tig steil wird, stößt man auf ei­nen Platz, des­sen Mit­te ein klei­nes Am­phi­thea­ter bil­det. Dort hat­te sich, als wir uns nä­her­ten, ein Pu­bli­kum an­ge­sam­melt, vor dem ei­ne Grup­pe jun­ger Leu­te ko­rea­ni­sche Pop­mu­sik vor­führ­te. Eher vor­führ­te als spiel­te, denn zwei der Jun­gen, dann wie­der drei oder vier Mäd­chen, ta­ten nicht mehr als mit ih­ren Stim­men hin und wie­der den Chor oder den Beat der Play­back-Mu­sik von BTS oder sonst ei­ner Band zu ver­stär­ken, wäh­rend ein Mäd­chen auf dem frei­en Platz vor ih­nen da­zu tanz­te. Die Mit­glie­der der Grup­pe ta­ten sich we­ni­ger durch ih­re Fä­hig­kei­ten als durch rot-schwarz glän­zen­de Uni­for­miert­heit her­vor und durch grell ge­färb­tes Haar, pink die Jun­gen, hell­blond die Mäd­chen. Der Ge­rech­tig­keit hal­ber soll­te ich sa­gen, daß sie sich bei den Tän­zen red­lich Mü­he ga­ben und die Vor­bil­der si­cher gut ko­pier­ten, aber sin­gen konn­ten sie nicht (in ab­ge­schwäch­ter Form gilt das ge­ne­rell für die K‑­Pop-Grup­pen, nur daß die aus­er­wähl­ten Pro­fis eben die gan­ze Di­gi­tal­tech­nik der Stu­di­os zur Ver­fü­gung ha­ben). Als wir nach ei­ner Wei­le den Steil­hang hin­auf­gin­gen, streif­te mich der Ge­dan­ke an die fa­ta­le Hal­lo­ween-Nacht und dann das Er­in­ne­rungs­bild an ei­ne Pro­vinz­sän­ge­rin in Frank­reich, die bei ei­nem Ball im Frei­en ir­gend­wo in Süd­frank­reich am Abend ei­nes 14. Ju­li mit dem Ein­satz von Leib und See­le Rouge et noir von Jean­ne Mas singt, wo­bei ich zum er­sten Mal emp­fand – was sich leicht sagt –, daß näm­lich die Ko­pie das Ori­gi­nal über­tref­fen kann.

Hier war es nicht der Fall. Und viel­leicht war das der Grund, daß die Tän­ze­rin, ein zaun­dür­res Mäd­chen, das ein we­nig zu sehr ih­ren Sin­ger-Mo­del-Vor­bil­dern nach­zu­ei­fern schien, gar so schüch­tern mit ih­rer um­ge­dreh­ten Müt­ze an das Pu­bli­kum her­an­trat, um ein paar Schei­ne ent­ge­gen­zu­neh­men, von Aus­län­dern, hat­te ich den Ein­druck (ei­ner ver­mut­lich In­der), die Ein­hei­mi­schen ga­ben nichts. Hin und wie­der sieht man in ja­pa­ni­schen Groß­städ­ten Sän­ger auf der Stra­ße, meist Leu­te, die ih­re er­ste oder zwei­te Mi­ni-CD vor­stel­len und oft recht gut per­for­men, aber ab­kas­siert wird da­bei nie, höch­stens ein biß­chen Ei­gen­wer­bung ge­trie­ben. Bet­teln ge­hört sich nicht, das ist ha­zu­kas­hii. Wo­mög­lich ge­hört es sich auch in Süd­ko­rea nicht, viel­leicht des­halb das Zö­gern der Sän­ge­rin. In Pa­ris sind die­se Ab­kas­sie­rer, in der Mé­t­ro zum Bei­spiel, manch­mal ge­ra­de­zu un­ver­schämt.

Wäh­rend des zwei­ten Sin­gle-Spa­zier­gangs mei­ner Toch­ter be­such­te ich, rou­ti­nier­ter Ein­zel­gän­ger, das Seo­dae­mun-Mu­se­um, für das sie als ju­gend­li­che Ja­pa­ne­rin kein In­ter­es­se zeig­te. Nicht, daß sie die ja­pa­ni­sche Ko­lo­ni­al­herr­schaft der er­sten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts gut fän­de, aber aus der Schu­le hat sie bloß in Er­in­ne­rung, daß die Ja­pa­ner da­mals auch viel Gu­tes ge­tan ha­ben, die In­fra­struk­tur ent­wickelt, die Wirt­schaft auf Vor­der­mann ge­bracht. Das En­sem­ble der Ge­bäu­de aus ro­tem Back­stein un­weit vom Kö­nigs­pa­last läßt auf den er­sten Blick an ei­ne Fa­brik den­ken, doch es wur­de 1908 als Ge­fäng­nis er­rich­tet, und zwar von »ja­pa­ni­schen Im­pe­ria­li­sten«, wie man gleich am Ein­gang er­fährt. In Ja­pan wird die ja­pa­ni­sche Herr­schaft in Ko­rea – 1910 bis 1945, doch schon zu­vor lenk­te Ja­pan die Ge­schicke des Nach­bar­lands – oft ge­gen­tei­lig in­ter­pre­tiert, als groß­zü­gi­ge In­ve­sti­ti­on in an­ti­im­pe­ria­li­sti­schem Gei­ste, da­mit eu­ro­päi­sche Im­pe­ria­li­sten nicht noch wei­ter auf dem asia­ti­schen Kon­ti­nent vor­drin­gen. Wie auch im­mer die In­ter­pre­ta­ti­on aus­fällt, Tat­sa­che ist, daß in die­sem Ge­fäng­nis aus­schließ­lich po­li­ti­sche Ge­fan­ge­ne, al­le­samt ko­rea­ni­sche Pa­trio­ten, in­ter­niert wa­ren, ge­fol­tert wur­den und manch­mal früh­zei­tig ihr Le­ben lie­ßen. Nach dem En­de des zwei­ten Welt­kriegs wur­de das Land ge­teilt, zwi­schen dem Nor­den und dem Sü­den brach ein blu­ti­ger Krieg aus, ein­hei­mi­sche Dik­ta­to­ren ka­men an die Macht, in Süd­ko­rea bis ge­gen En­de der acht­zi­ger Jah­re, dort dien­te das Seo­dae­mun-Ge­fäng­nis wei­ter­hin als Ort zur Ver­wah­rung po­li­ti­scher Ge­fan­ge­ner (un­ter de­nen sich nicht we­ni­ge Chri­sten be­fan­den). Ein gro­ßer Pa­vil­lon stellt die Lei­den der Op­fer ein­hei­mi­scher Dik­ta­tu­ren dar, und doch hat man den Ein­druck, daß das er­ste An­lie­gen die­ses Mu­se­ums der pa­trio­ti­schen Geist und die An­kla­ge der aus­län­di­schen Be­sat­zer sind, wäh­rend man den ei­ge­nen Ver­feh­lun­gen we­ni­ger Be­deu­tung bei­mißt. Ein mensch­li­cher Zug, mag sein, der Bal­ken im Au­ge des Bru­ders…

Yo­ko ha­be ich nach dem Ge­fäng­nis­be­such nur we­nig er­zählt; viel­leicht geht sie spä­ter ein­mal ja al­lein hin. Län­ger ge­spro­chen ha­be ich mit dem jun­gen Mann, der an der Ho­tel­re­zep­ti­on jobbt. Er stu­diert So­zio­lo­gie, spricht gut Eng­lisch und ist von sei­nem Stu­di­um nicht mehr so ganz über­zeugt. Er be­fürch­te, sag­te er, daß Ja­pan ei­nen neu­en Krieg vor­be­rei­te. Oh­ne Zu­stim­mung der USA wer­den sie kei­nen be­gin­nen, be­schwich­ti­ge ich ihn. Das sa­gen auch die mei­sten sei­ner Be­kann­ten, meint er. Tat­sa­che ist, daß ein­fluß­rei­che Po­li­ti­ker und Re­gie­rungs­mit­glie­der in Ja­pan seit Jah­ren ver­su­chen, die pa­zi­fi­sti­sche Nach­kriegs­ver­fas­sung zu än­dern und die Selbst­ver­tei­di­gungs­ar­mee auf­zu­rü­sten. In der lan­gen Frie­dens­zeit, dar­in stim­me ich mit dem Stu­den­ten über­ein, sind die Na­tio­nal­öko­no­mien aus­ge­reizt und über­heizt wor­den, im­mer noch wird nach Er­wei­te­rung und Ver­grö­ße­rung ge­strebt, ob­wohl die Mit­tel da­zu nicht mehr da sind, die Be­völ­ke­rung schrumpft. Da se­hen man­che, hof­fent­lich nicht ir­gend­wann die Mehr­heit, ei­nen neu­en Krieg als Aus­weg. Trotz­dem, wen­de ich ein, für Süd­ko­rea ist doch der Kon­flikt mit Nord­ko­rea das vor­dring­li­che Pro­blem, und Chi­na – sie­he Tai­wan – viel­leicht eher ei­ne Be­dro­hung als Ja­pan, mit dem man ge­le­gent­lich ge­mein­sam Mi­li­tär­ma­nö­ver durch­führt. Auf der Stra­ße, im Zug, auf Bahn­hö­fen se­he ich häu­fig jun­ge Män­ner in Tarn­uni­form. Kei­ne Mo­de­er­schei­nung, es sind Sol­da­ten, meist al­lein un­ter­wegs, manch­mal zu zweit, un­auf­fäl­lig und selbst­be­wußt mit ih­ren Smart­phones, stets nur leich­tes Ge­päck, wenn über­haupt wel­ches. Sie schei­nen wie Fi­sche in der Mas­se des Volks zu schwim­men. In Süd­ko­rea dau­ert der Mi­li­tär­dienst zwei Jah­re. In Nord­ko­rea, le­se ich, um die zehn Jah­re: ei­ne mi­li­ta­ri­sier­te Ge­sell­schaft. Der Sü­den wirkt hin­ge­gen ganz und gar zi­vil, was vor­herrscht, ist der Han­del, die Mo­de, die Kul­tur­in­du­strie. Die – für west­li­che Ver­hält­nis­se – lan­ge Mi­li­tär­zeit schei­nen die jun­gen Leu­te hin­zu­neh­men. Auch Kim Seok-jin, Mit­glied von BTS, lei­stet zur Zeit sei­ne Wehr­pflicht ab; die an­de­ren Mit­glie­der der K‑­Pop-Grup­pe wer­den es dem­nächst tun, bis 2025 müs­sen die welt­be­rühm­ten Boys laut Aus­sendung ih­rer Pro­duk­ti­ons­fir­ma pau­sie­ren.

Der al­te Bahn­hof von Seo­ul wirkt ge­duckt ne­ben dem neu­en, wo die Hoch­ge­schwin­dig­keits­zü­ge nach Bu­san und in an­de­re Städ­te ab­fah­ren. Mit dem ro­ten Back­stein und den wei­ßen Strei­fen äh­nelt dem Bahn­hof von To­kyo, nur daß er viel klei­ner ist. Er wur­de in den zwan­zi­ger wäh­rend der ja­pa­ni­schen Herr­schaft er­rich­tet. Vor dem Ein­gangs­tor ha­be ich mit Ver­wun­de­rung ei­ne gro­ße, ziem­lich klo­bi­ge Sta­tue be­merkt, ei­nen spitz­bär­ti­gen Mann im Geh­rock, der et­was in der rech­ten Hand hält, wäh­rend die lin­ke zur Faust ge­ballt ist. Das Ding in der rech­ten ist ei­ne Hand­gra­na­te, der Mann wird sie im näch­sten Au­gen­blick zün­den. Er wen­det sich ge­gen die Bü­ro- und Wohn­tür­me der Stadt, zwi­schen de­nen wei­ter hin­ten ei­ne al­te Kir­che ein­ge­zwängt ist, als woll­te er das mo­der­ne Seo­ul (und mit ihm auch das al­te) aus­lö­schen.

Ich ha­be mich erst nach­her in­for­miert: Der Hand­gra­na­ten­wer­fer ist Kang Woo-kyu, ein stu­dier­ter Me­di­zi­nier, der 1919 ei­ne Gra­na­te ge­gen den ja­pa­ni­schen Ge­ne­ral­gou­ver­neur von Ko­rea schleu­der­te, ihn aber nicht traf, son­dern ei­ni­ge Zaun­gä­ste – ver­mut­lich Ko­rea­ner? – ver­letz­te. Er wur­de ver­haf­tet, ins Seo­dae­mun-Ge­fäng­nis ge­bracht und 1920 dort hin­ge­rich­tet. Bei sei­nem Tod war er 65, so alt wie ich jetzt. So je­mand er­hält in Süd­ko­rea ein Denk­mal und gilt als Frei­heits­kämp­fer. Kang ist nicht der ein­zi­ge, der ei­ne Hand­gra­na­te warf; es gibt noch an­de­re Denk­mä­ler die­ser Art in der Stadt. Im Stadt­teil Jam­sil ist mir ein Bild­werk auf­ge­fal­len, drei nicht uni­for­mier­te Bron­ze-Män­ner, die im Kreis ei­ner über­di­men­sio­nier­ten Ziel­schei­be mit Feu­er­waf­fen in die Rich­tung des Lot­te-World-Towers zie­len, dem höch­sten Ge­bäu­de von Seo­ul. Lot­te ist ei­ne der größ­ten Han­dels­fir­men Ko­re­as, der Turm da­mit ein Sym­bol der Kom­merz­macht des Lan­des. Wer die Schie­ßen­den sind, ha­be ich nicht her­aus­ge­fun­den. Sie ste­hen auf­fäl­lig und un­be­ach­tet auf dem Strei­fen zwi­schen zwei mehr­spu­ri­gen Fahr­bah­nen ei­ner brei­ten Stra­ße.

Die ko­rea­ni­sche Pop-Kul­tur wur­de ur­sprüng­lich durch die Un­ter­hal­tungs­in­du­strie des J‑Pops in­spi­riert, hat sich aber im Lauf der Jah­re ver­selb­stän­digt und ei­ge­ne For­men ent­wickelt. Für Ju­gend­li­che wie mei­ne Toch­ter ist es, von Ja­pan aus be­trach­tet, der bes­se­re, in­ter­es­san­te­re, in­no­va­ti­ve­re Pop, zu­wei­len auch mensch­li­cher, nicht so asep­tisch – ob­wohl auch die ko­rea­ni­schen Idols vom Pu­bli­kum ab­ge­schot­tet wer­den und we­nig Frei­heit ha­ben. Wenn ich wie­der mal ge­nug da­von ha­be, be­zeich­ne ich sie als Ar­beits­skla­ven im Kin­des­al­ter. Das ist na­tür­lich un­ge­recht. Sagt Yo­ko.

Kul­tur­in­du­stri­el­ler Ex­port, zu­nächst im ost­asia­ti­schen Raum, das war seit den sieb­zi­ger Jah­ren die De­vi­se ja­pa­ni­scher Stra­te­gen in Wirt­schaft und Po­li­tik. Man­gas, Ani­me-Fil­me, Ver­mark­tung von Sym­bo­len, Fi­gu­ren, Mas­kott­chen. Pop­mu­sik. Auf den fried­li­chen We­gen des Han­dels und der me­dia­len Aus­strah­lung nahm der Ex­port sol­cher Pro­duk­te die Stel­le des al­ten mi­li­tä­ri­schen und schwer­indu­stri­el­len Im­pe­ria­lis­mus ein. Die­se Stra­te­gie hat sich nicht gänz­lich er­schöpft, sie ist aber in die Jah­re ge­kom­men. Wenn Hun­dert­tau­sen­de Ja­pa­ner heu­te ko­rea­ni­sche Pop­mu­sik, Mo­de und Kos­me­tik kon­su­mie­ren und zu Fans der Ido­le die­ser Kul­tur wer­den, zeugt das von ei­nem Rück­stoß, ei­ner fried­li­chen Ra­che für das hand­fe­ste Un­recht, das den Ko­rea­nern jahr­zehn­te­lang zu­ge­fügt wur­de. Auf die­se Wei­se pro­fi­tiert man zeit­ver­scho­ben von den ja­pa­ni­schen Ex­por­ten und In­ve­sti­tio­nen; man eig­net sich an und trans­for­miert, was frü­her als Im­pe­ria­lis­mus de­nun­ziert wur­de. »Han­del statt Krieg« lau­tet die De­vi­se. Ge­nau­er, im fort­ge­schrit­te­nen 21. Jahr­hun­dert: »Kul­tur­in­du­strie statt Krieg!« Er­obe­rung, nicht un­be­dingt Knech­tung, der Her­zen und Ge­hir­ne über ko­rea­ni­sche Gren­zen hin­aus.

Als wir in Ko­rea wa­ren, gab es wie­der ein­mal me­dia­le Er­re­gung we­gen ei­ner Stel­le in ei­nem ja­pa­ni­schen Ge­schich­te-Lehr­buch für Schü­ler, wo die Zwangs­ar­beit ko­rea­ni­scher Bür­ger im Dienst der ja­pa­ni­schen Kriegs­in­du­strie wäh­rend der vier­zi­ger Jah­re nicht aus­drück­lich als sol­che be­zeich­net wird. So be­rech­tigt die Kri­tik ist, so­sehr ent­steht hier der Ein­druck ei­nes po­li­tisch mo­ti­vier­ten, be­wußt­seins­lo­sen Re­fle­xes, der ei­ne in­zwi­schen fern­ge­rück­te Epo­che, ein längst ver­gan­ge­nes Op­fer­da­sein warm­hal­ten soll. Ich weiß nicht, ob sich al­le Ja­pa­ner im fin­ste­ren 20. Jahr­hun­dert freu­dig an der Kriegs­pro­duk­ti­on be­tei­ligt ha­ben. Wenn Krieg herrscht, will es die Pro­pa­gan­da so, das hat sich bis heu­te nicht ge­än­dert. Span­nen­der, in­tel­li­gen­ter und mensch­li­cher als das Rin­gen um For­mu­lie­run­gen in Ge­schichts­bü­chern ist al­le­mal der Kon­kur­renz­kampf um kul­tu­rel­le He­ge­mo­nien in der Ge­gen­wart. Der kann un­se­ret­we­gen noch lan­ge hin und her wo­gen. Wir ma­chen – mehr oder we­ni­ger – freu­dig mit.

© Text und Bil­der: Leo­pold Fe­der­mair