Jahres- und Dekadenbücher bilden seit einiger Zeit fast schon ein eigenes Genre. Um ihre Existenz zu rechtfertigen, müssen die behandelten Zeitabschnitte nicht nur nach bestimmten Kriterien zusammengefasst, sondern auch überhöht werden. Irgendetwas muss geschehen sein, um das Jahr oder die Epoche einzigartig darzustellen. Das ist rückwirkend betrachtend umso einfacher, je weiter die entsprechende Dekade entfernt ist. Auch die Feststellung, dass damals etwas für aktuelle Gegenwart typisches ihren Anfang genommen habe, ist dann sicherer zu treffen.
2019 veröffentlichte Jens Balzer ein Buch über die 1970er Jahre. Zwei Jahre später nahm er sich die Achtziger vor. Und jetzt, 2023, mit No Limit die Neunziger. Die Siebziger nennt er das entfesselte, die Achtziger das pulsierende Jahrzehnt. Die Neunziger werden zum »Jahrzehnt der Freiheit«, oder, wie es später etwas genauer heißt, das »Zeitalter einer globalen Friedensordnung«. Passenderweise beginnt das Buch über die Neunziger mit dem Mauerfall und lässt sie mit dem 11. September 2001 ausklingen (wobei kein Ereignis zwischen 2000 und 9/11 eine Rolle spielt). Das »Jahrzehnt des Aufbruchs« endet schließlich als Zeit, in der »alte Identitäten wiederkehren und neue Identitäten entstehen.« Mit dem Einsturz der Zwillingstürme »enden die Neunzigerjahre. Es endet das Ende der Geschichte. Und es endet die Postmoderne, in der man glaubte, dass sich alle überkommenen Traditionen und Identitäten auflösen würden in einer Globalisierung, in der die gesamte Menschheit sich vereint und versöhnt – im freien Handel, im freien Austausch von Gütern, Kulturen, Ideen.«
Dazwischen referiert Balzer über einzelne Aspekte, natürlich die Wiedervereinigung mit ihrer hässlichen Fratze, dem aufkommenden deutschen Rechtsradikalismus und dem Ausblenden der Gefahren durch die damalige Bundesregierung. Auch mit den Flüchtlingswellen (nicht zuletzt die Migration der sogenannten »Russland-Deutschen«, die ja politisch durchaus gewollt war) beschäftigt sich Balzer. Das der RAF-Terrorismus ebenfalls noch aktiv war, kommt nicht vor. Die in großen Teilen desaströs verlaufene ökonomische Transformation der Ex-DDR mit den Privatisierungsanstrengungen der Treuhandanstalt nimmt er vor allem als Signal für die sinkende Popularität von Helmut Kohl wahr. Weil die DDR-Bewohner verspätet ein »Faible für die Stone- oder Moonwashed Jeans« entwickelten, werden sie als »Hinterwäldler« beschrieben; die Verachtung, die ihnen damals von den Westdeutschen entgegengebracht worden sein soll, spinnt Balzer dreißig Jahre später immer noch weiter.
Primär ist No Limit eine Kulturgeschichte mit Fokus auf die Club- und Musikszene der Neunziger (Schwerpunkt Berlin) mit ausführlichen Beschreibungen zu Techno und House. Lustig dabei, dass zu den Urvätern des Techno, der Gruppe Kraftwerk, die Apostrophierung als »Erfinder der eher langweiligen Musik« gefunden wird. Mode- und Musiktrends werden miteinander verknüpft; es bewegt sich zwischen Marusha und Kurt Cobain, also primitiver Hedonismus und Weltschmerz. Natürlich lernte das Fernsehen mit den Privatsendern ganz neu laufen, wie sich exemplarisch an Baywatch, Tutti frutti oder den täglichen Nachmittags-Talkshows zeigte, in denen unvereinbare Mentalitäten und Lebensentwürfe von Menschen aufeinanderprallten. Schließlich erklärt Balzer noch den Unterschied zwischen Schwarzwaldklinik und Emergency Room. Und natürlich wird die Importserie Die Simpsons gewürdigt, in der sich, so Balzer, der für die Zeit typische »euphorische, entfesselte Eklektizismus« zeigt. Demnach wären die Neunziger so etwas wie der Historismus des 20. Jahrhunderts. Insgesamt erschöpft sich Balzers Revue des Fernsehens in diesem Jahrzehnt weitgehend auf die Privatsender. Die Bemühungen der öffentlich-rechtlichen Sender, den Trends der Privaten etwas entgegen zu setzen (beispielsweise auf dem Gebiet der Comedy-Formate –Samstag Nacht gegen Schmidteinander) werden nur in Bezug auf die Sexfilmchen der Privaten zur Nacht behandelt. Hier gab es dann die recht erfolgreichen Kamerafahrten mit den schönsten Bahnstrecken Deutschlands.
Man erfährt einiges über die damals aufkommende Tattoo- und Piercingmode als Merkmal, mit dem man individualistischer Außenseiter und zugleich Teil in einer bestimmten Gesellschaft sein wollte. Fertige Urteile gibt es auch: Techno wird zur »wichtigsten Jugendkultur der Neunzigerjahre«, Pamela Anderson ist das »wichtigste weibliche Sexsymbol der Neunzigerjahre« und »die Spice Girls [sind] die interessanteste Band des Jahrzehnts: Sie sind zugleich postmodern-progressiv und anti-modern reaktionär.« Und natürlich ist das Wichtigste Start-up, welches in diesem Jahrzehnt entsteht Google.
Während Ereignisse und Tendenzen im Sport vollkommen unberücksichtigt bleiben, wird zumindest die Literatur gestreift. Neben Salman Rushdies Die satanischen Verse (»ein Hypertext in seiner literarisch ausgeprägtesten Form«) und der weltweiten Skandalrezeption beschäftigt er sich mit Christian Krachts Faserland. Den Autor betitelt er wortgewaltig mit dem Substantiv »Schnösel« (seine Kollegen aus dem Nachfolgebuch Tristesse Royal ebenfalls). An dieser Stelle zeigt sich die Schwäche des Buches beispielhaft, denn Kracht und die Pop-Literatur mit ihrem Markenfetischismus und Klassendünkel war nicht vom Himmel gefallen. Wie Balzer dies auf seinem Spezialgebiet Musik leistet, wäre es angebracht gewesen auch hier die Ursprünge zu beleuchten (Bret Easton Ellis etwa oder Nick Hornby; in Deutschland Rainald Goetz, Benjamin von-Stuckrad-Barre oder auch der häufig unter dem Radar wahrgenommene Wolfgang Welt), statt seiner Antipathie freien Lauf zu lassen (und das Ende von Faserland falsch zu interpretieren).
Balzer verfolgt durchaus eine Agenda. So bekommt erklärt, dass die »Political Correctness« nicht existierte. In den Neunzigern sieht er den Keim für das gelegt, was er Neoliberalismus nennt, also die Deregulierungs- und Privatisierungstendenzen in der Wirtschaft, die weit in den Alltag der Menschen eindringen. Hier mag die »geistig-politische« Wende, die schon Helmut Kohl 1982 verkündete eine Rolle gespielt haben, wobei der Sozialstaat unter Kohl eher noch ausgebaut wurde (was der Autor nicht erwähnt). Und es sind nicht nur die trivialisierten Formate des Selbstoptimierungswahns der Daily-Talks in den Privatsendern, die den Anstoß gegeben hatten, sondern – und diese Betrachtung fehlt leider – die unaufhörliche Beschallung in den politischen Sendungen und Polittalkshows der öffentlich-rechtlichen Medien (wie z. B. Sabine Christiansen). Manchmal wird Balzer ideologisch, etwa bei dem Gedanken, dass der Film Jurassic Park Menschen animiert haben soll, SUVs zu kaufen.
Den »Clash of civilization«, den Samuel Huntington in den Neunzigern schon vorhersah, verortet Balzer prophetischer bei Kenan Malik, der bereits vorher erkannte, dass die »›Kampflinien der Zukunft‹ … ›zwischen den großen Zivilisationen verlaufen‹« werden. Früh beendet war der Traum einer friedlichen (europäischen) Welt schon mit den Jugoslawien-Kriegen, die 1992 begannen. Balzer beschreibt sachlich die sich gegenseitig hochschaukelnden Nationalismen, unterlässt jedoch auch hier die Vorgeschichte – den ökonomischen Zerfall mit einer Hyperinflation und einem untauglichen IWF-Programm – zu benennen.
Etliches wird in diesem Buch angerissen, aber nicht vertieft, was immerhin für einen Smalltalk auf Stehpartys genügen dürfte, mehr aber nicht. Einiges ist leidlich interessant, etwa die Ausführungen über den »Bedeutungswandel des Kaffeetrinkens«, der in den Neunzigern einsetzte. Oder die Feststellung, dass der Umwelt- und Naturschutzgedanke praktisch zum Stillstand kam; etwas sekundäres wurde. Auch die Beschreibung des »dialektischen Umschlags«, den das Internet von einem anarchischen hin zu einem Tech-Konzern-beherrschten Medium binnen dieses Jahrzehnts machte, wird angeteasert. Überhaupt bekommt man bei der Lektüre den Eindruck, dass die Neunziger Jahre selbst in zwei Teile zerfallen. Deutlich zeigt sich dies mit dem Ende der Ära Kohl 1998 und dem Kanzlerwechsel auf Schröder nebst der womöglich wichtigsten politischen Figur des Jahrzehnts in Deutschland, Joschka Fischer.
Wenig überraschend, dass das Erbe dieser Zeit »in der sich unaufhörlich ausbreitenden Kultur der Digitalisierung und der digitalen Vernetzung« liegt. Der andere Gedanke ist origineller: »Es breitet sich nun auch das Gefühl aus«, so Balzer als Bilanz nach 9/11, »dass aus einer immer stärker vernetzten und hybrider werdenden Welt jenes ›Eigene‹ verschwindet, in dem man Sicherheit und Identität findet.« Hierin liegt die Ursache für das Wiedererstarken von Religionen (nicht nur der Zulauf, den der Islam erfährt, sondern auch die Evangelikalen beispielsweise in den USA) und Nationalismus. Aber vielleicht steht das dann in zwei Jahren im Buch über die »Nullerjahre«, denn wenn Balzer so weiter macht, würde er 2029 die Gegenwart ein- und teilweise überholen.
Die Neunziger habe ich ebenfalls als Jahrzehnt des Liberalismus in Erinnerung, sprich die Freiheit wurde als ungefährlich und »verfügbar« wahrgenommen. Das ist eine Signatur der Zivilgesellschaft, würde ich meinen, die sich aus der Harmlosigkeit von Politik und interaktiven Erfahrungen speist. Kulturell, finde ich dafür wenig Anhaltspunkte, das kommt mir ein wenig konstruiert vor. Das kann man natürlich umbuchen, aber dabei werden Ursache und Wirkung vertauscht..
Das ganze Buch steht ein bisschen auf reaktionären Füßen, oder?! Nach dem liberalen Interim kam der »War on Terror«, die Erweiterung der EU incl. postdemokratische Ermächtigung, Auslandseinsätze, Klima-Ideologie, Cancel Culture, Trivial-Journalismus, Rechtspopulismus, etc. – Wie ist es Balzer möglich, sich so unbefangen in ein Damals zurückzuversetzen, ohne die nachfolgende Verschlechterung mitzudenken?! Da stimmt etwas nicht. Es ist ja nicht »tendenziell« schlechter geworden, sondern massiv schlechter. Nein, das geht nur, wenn man (Balzer) immer noch »fein« ist mit den neuen Verhältnissen.
Ich finde es schon gut, wenn ein Autor, der eine Dekade beschreibt, dabei bleibt. Die Ausflüge der Folgen der Ereignisse gibt es ja sehr wohl. Oft ist meist das Gegenteil der Fall: Da werden bestimmte Ereignisse hochgejazzt bis in die Gegenwart. »Reaktionär« ist er auch nicht: Es wird mindestens 80 x gegendert (Paarform).
Mich hat gestört, dass da jemand seine persönliche Agenda als repräsentativ für die Neunziger ausgegeben hat. Inwiefern die Beschreibungen für Balzers Steckenpferd, die Musik, korrekt sind, vermag ich nicht zu sagen. Aber bei Literatur, Kunst und vor allem auch in der Politik hat das Buch Unzulänglichkeiten und Schlagseiten. Insofern erinnert es an die zahlreichen Fernsehformate, in denen ähnliches versucht wird. Da plappern dann meist noch B‑Promis und Journalisten über Original-Schnipsel aus der Zeit herum.