TAGEBUCHEINTRAGUNGEN JULI 1984
Salzburg, 6.7., Freitag...Treffe um ½ 3h P.H.1 in der Bar vom Hotel Bristol. Seine große Müdigkeit – und Freundschaftlichkeit zugleich. Er schenkt mir ein Buch von René Char, das er übersetzt hat, im letzten Sommer2. Wir sprechen ein wenig ad Talmud, er liest seit einiger Zeit Berakhot in einer Goldmann-Ausgabe – scheint davon sehr beeindruckt zu sein, von den Attacken auf Jesus abgesehen. Erzähle ein wenig ad meiner Arbeit3 – auch meine Sorgen erwähnend. Nachdem ich ihn um Rat gefragt habe, sagt er: »Das ist dein Problem, damit kann ich nichts anfangen, hab ja auch noch nie so etwas gemacht.« (So etwas wie eine Biografie...) Daß ich noch so lange brauchen werde, bis zur Fertigstellung, sieht er nicht ein.
Er ist ganz in Weiß gekleidet – zieht die Schuhe aus, legt die nackten Füße auf die bunt überzogene Bar-Couch.
In 2 Jahren vielleicht wieder ein Film: Wallfahrt von Kärnten nach Fatima. Aber zur Zeit arbeitet er nichts Eigenes, übersetzt eigentlich nur.
Sein Jammern, immer wieder, so müde zu sein. Allerdings um 6h aufgestanden – und jetzt, um 3h, trinken wir Wein in Litermengen-. PH’s Freude über ein Geschenk, das ich ihm mache. Rät lange, die Form abtastend – ich hatte in der Steingasse ein kleines Ding gefunden, mit dem man Entfernungen auf Landkarten abmessen kann. Ideales PH-Geschenk. Und als er’s nicht erraten hat (ist wütend auf sich, deswegen, obwohl es ja kaum erratbar ist – schimpft auf sich [...]) ist dann seine Freude still, aber sichtlich groß. Lieb auch, wie er das Objekt berührt, mit dem Meßrädchen spielt, etc.
Ad Marie4 ein wenig, glaube, daß da jetzt doch »Etwas« geschieht. Obwohl er keineswegs von ihr begeistert ist – und unter ihrer Intensität leidet. Zur Zeit ist sie in Berlin, Hellers5 morgigem Feuerwerk wegen. (...) Er wird im Sommer in Frankreich sein – und in London, mit Amina6.
Irgendwann dann ins Tageslicht, PH muss nach Leopoldskron, zur Frau Steinwendtner7, dort Abschiedsfest für Ilse Aichinger, die nach dem Tod ihrer Mutter von Großgmain nach London übersiedelt. Er will sich davor drücken, geht aber doch. PH’s Bemerkung, menschliche Schicksale interessierten ihn eigentlich überhaupt nicht mehr. Und er wolle nicht MITLEID empfinden, mit Schicksalen, die ihm erzählt werden – (nachdem ich ihm sagte, Ilse Aichingers Mutter sei im Krieg in Wien ein »U‑Boot« gewesen).
Streunen noch gemeinsam durch die Stadt – glaube, er ist etwas ausgelaugt, zur Zeit. Machst du mit Marie Spaziergänge?, frage ich. Unausdenkbar. Doch, 1x, 1 Stunde lang, da redete sie ununterbrochen und sah NICHTS – »ja, Menschen sind schon sehr verschieden...«, sagt er.
Seine Sucht, Leberkäse oder Essigwurst zu essen – wie lässt sich das mit der Talmudlektüre vereinbaren?
In der Nonntaler Hauptstraße dann Abschied, vor einem Fleischhauer. Kurz zuvor, bei einem Brunnen, läßt er das Kaltwasser auf sein Handgelenk rinnen, wo der Puls klopft – und spritzt den spuckenden Brunnenkopf so verspielt und traurig an – sagt ach, wie schön es wäre, nicht mehr zu leben. Beschimpfe ihn, dieses Satzes wegen...er bleibt dabei, nimmt ihn dann beim Abschied wieder zurück, ich solle das alles nicht so ernst nehmen, was er spreche. Weiterlesen